Romana Weihnachten Band 22

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SÜSSE WINTERTRÄUME IN DER KLEINEN FRIESISCHEN TEESTUBE von LILLI WIEMERS
Mutig wagt Insa in ihrer alten Heimat einen Neuanfang. Als der smarte Mattes Oldeboom überraschend oft in ihrer kleinen Teestube auftaucht, träumt sie sogar von einem zweiten Glück – bis sie kurz vor Weihnachten erfährt, was der hanseatische Unternehmer wirklich von ihr will!

MIT DIR WIRD UNSER WEIHNACHTSWUNDER WAHR von EMMA WINTERBERG
Adrian von Hohenstein verbringt die Festtage mit seinen Töchtern am mondänen Arlberg. Viel zu lange hat er sich kaum um die beiden gekümmert. Doch erst als er die liebenswerte Skilehrerin Nina kennenlernt, begreift der verwitwete Bankier, dass man mit Geld nicht alles kaufen kann …

24 BRIEFE VON EINEM ENGEL? von MIRA SCHNEEWEISS
Nach einem Schicksalsschlag ist Anna überzeugt: Die große Liebe gibt es nur einmal. Da findet sie an einer verschneiten Tanne eine geheime Botschaft. Ein reger Briefwechsel beginnt. Wie kann es sein, dass ein Fremder sie so berührt? Oder ist es vielleicht gar kein Unbekannter?


  • Erscheinungstag 07.10.2022
  • Bandnummer 22
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510721
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lilli Wiemers, Emma Winterberg, Mira Schneeweiss

ROMANA WEIHNACHTEN BAND 22

PROLOG

Lautlos rieselte der Schnee vom Himmel und legte sich über das Land. Er bedeckte die Wiesen und Felder, den Deich und die Dünen, bis nur noch Büschel von Seegras und ein paar Steine und Hügel darunter hervorschauten. Die farbenfrohen Fischerboote mit ihren an den Masten angebrachten Schleppnetzen für den Fisch- und Krabbenfang lagen im Hafen und wippten sanft in der Dünung.

Es war ein herrlicher Winterabend in Greetsiel, einem kleinen Hafenort, der in der malerischen Leybucht an der ostfriesischen Nordseeküste lag. Im historischen Stadtkern waren in den Giebelhäusern zahlreiche kleine Läden angesiedelt, in denen man von Kunsthandwerk über Bekleidung bis hin zu Kinderspielzeug alles kaufen konnte, was das Herz begehrte.

In einem dieser Häuser, in unmittelbarer Nähe zum Hafen, befand sich in einem hübschen zweistöckigen Backsteinhaus mit Stufengiebel eine kleine Teestube mit dem schönen Namen Kluntje un Rohm. Trotz der fortgeschrittenen Stunde brannte darin noch Licht, dabei hing an der Eingangstür neben dem Strohkranz ein Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“.

Man musste eine traditionelle Teestube nicht betreten, um zu wissen, dass es sich dabei um einen warmen, gemütlichen Ort handelte. Das war schon beim ersten Blick durch die dekorierten Schaufenster zu erkennen. Und hier war jemand mit einem besonderen Händchen für Dekorationen, mit viel Liebe und einem Auge fürs Detail am Werk gewesen. Es spiegelte sich in den blau-weißen Tischdecken und Vorhängen ebenso wider wie in den Windlichtgläsern, deren Böden mit Dünensand gefüllt und mit Seesternen und Muscheln dekoriert waren.

An den Wänden hingen altmodische Ölgemälde, die Szenen aus der Umgebung darstellten: Fischerboote, die aus dem Hafen ausliefen, ein Wintersturm über dem Wattenmeer und Pferde, die auf dem Deich grasten. Es gab keinen direkten roten Faden, und doch bildete alles zusammen ein harmonisches Miteinander, in dem man sich einfach wohlfühlen musste.

Neben dem Eingang zur Teestube befand sich eine zweite, etwas weniger auffällige, dunkelgrün gestrichene Tür, an der auf einem kleinen Schild aus weißer, mit blauen Schnörkeln verzierter Emaille der Name „Carstiens“ stand.

Trat man durch diese Tür, gelangte man auf direktem Wege in einen schmalen Korridor, von dem aus zwei weitere Türen abgingen, ebenso wie eine Treppe, welche geradewegs ins erste Stockwerk führte. Folgte man der Treppe nach oben, gelangte man ins Schlafzimmer. Es war der größte Raum im ganzen Haus und gemütlich mit einem riesigen, niedrigen Bett eingerichtet, das von einem Meer von Kissen bedeckt war.

Das zweite Obergeschoss war im Grunde genommen der Speicher des Hauses. Jemand hatte irgendwann begonnen, ihn auszubauen, aber die Arbeiten nie wirklich abgeschlossen. Und so war eine Hälfte mit rustikalem Fichtenholz verkleidet, während die andere sich noch in ihrem ursprünglichen Zustand befand: offenliegende Balken und angefüllt mit einem Sammelsurium von Dingen, die niemand mehr brauchte, die aber zu schade waren, um sie wegzuwerfen.

Genau deshalb hatten es sich Insa Carstiens und ihre Großtante Mareen an diesem Winterabend zur Aufgabe gemacht, das Nützliche von Kram und Krempel zu trennen.

Auf dem staubigen Dielenboden des Speichers hatten sie dazu drei Stapel gebildet. Einen für jene Gegenstände, die sie auf jeden Fall behalten wollten, darunter eine alte Hutschachtel, gefüllt mit Schwarz-Weiß-Fotografien, die Insa in der Teestube aufhängen wollte, eine Sammlung noch gut erhaltener Langspielplatten sowie einige Sammlerpuppen, liebevoll in Seidenpapier eingeschlagen. Andere Dinge landeten auf dem Haufen für den Müll. Und dann gab es noch einen kleinen, stetig anwachsenden Stapel mit den Sachen, bei denen sie sich noch nicht sicher waren, zu welcher Kategorie sie gehörten.

Im Augenblick war ihre Aufmerksamkeit auf eine große Truhe gerichtet. Sie erinnerte an einen Überseekoffer, nur dass sie aus dunklem, mit Schnitzereien versehenem Holz bestand.

„Und du bist sicher, dass hier nicht noch irgendwo ein Schlüssel herumliegt, Tante Mareen?“ Die jüngere Frau fuhr sich seufzend durchs Haar. „Ich wüsste schon gern, was da drin versteckt ist.“

„Das müsstest du besser wissen als ich, Insa“, entgegnete die zweite Frau lächelnd. „Seit du hier wohnst, hat sich so viel verändert. Nicht, dass ich mich darüber beschweren will, ganz und gar nicht. Für mich ist das Treppensteigen inzwischen ohnehin zu beschwerlich, außerdem liebe ich, was du aus dem Haus gemacht hast. Und es ist doch im Grunde nur praktisch, nachdem du auch die Teestube von mir übernommen hast.“

Die jüngere Frau – Insa – nickte. „Das ist es wirklich. Ich kann dir gar nicht genug danken, dass du mir dein Haus samt Ladenlokal überlassen hast. Und auch für alles andere danke ich dir. Ich wüsste nicht, wo ich ohne dich jetzt wäre.“

„Nun, zumindest nicht in Greetsiel“, entgegnete Mareen lachend. „Aber ich bin mir sicher, dass du überall auf der Welt erfolgreich sein könntest, nicht nur hier in Ostfriesland. Auch wenn es nur meine eigene, bescheidene Meinung ist, dass es nirgends auf der Welt schöner ist als hier bei uns am Wattenmeer.“

„Da kann ich dir nur zustimmen. Aber das hilft uns jetzt leider nicht weiter. Ich fürchte, ohne Schlüssel werden wir die Truhe nicht so leicht aufbekommen.“

„Da ist vermutlich ohnehin nur nutzloser Tand drin.“ Mareen winkte ab. „Und was den Schlüssel betrifft: Ich glaube nicht, dass es den noch gibt. Schon meine Mutter hat erfolglos danach gesucht, und das, obwohl Vater mehrfach angeboten hat, das Schloss kurzerhand aufzuhebeln.“

„Aber das wollte sie nicht?“

Mareen schüttelte den Kopf, was ihre kurzen, dunkelblonden Locken, in die sich schon mehr als nur ein paar silbergraue Strähnen gemischt hatten, hüpfen ließ. „Meine Mutter war in manchen Dingen ein bisschen eigen. Sie fand, dass ein gewaltsames Öffnen so etwas wie ein Eindringen in die Privatsphäre der Person wäre, der die Truhe einmal gehörte.“

„Und ihr habt euch nie dafür interessiert, was sich darin befindet?“

„Als Kinder sicher. Da haben wir viel Zeit hier oben verbracht und uns ausgemalt, welche Schätze wohl in den alten Kisten und Schrankkoffern verborgen sein mochten. Doch heute weiß ich, dass es sich bei solchen Schätzen vor allem um Staubmäuse und alte mottenzerfressene Kleider handelt. Und ich wette, beim Inhalt dieser Kiste sieht es auch nicht viel anders aus.“

Insa fuhr sich durch ihr glattes, schulterlanges Haar, das selbst im schummrigen Licht, das von der ausgebauten Seite des Dachbodens herüberdrang, golden schimmerte.

„Ich würde es trotzdem gern sehen.“ Nachdenklich verzog sie die Stirn. „Mit zwei Schraubenziehern, von denen man einen als Hebel verwendet, sollte es eigentlich funktionieren.“

„Ich finde es wirklich bewundernswert, wie du immer alle Probleme so analytisch angehst. Das ist wirklich ein Talent.“

„Eines, das mir im Leben bisher nicht immer geholfen hat“, entgegnete Insa, in deren Stimme plötzlich mehr als nur eine Spur Bitterkeit mitschwang. „Aber mein besonderes Talent hat mich auch zu der gemacht, die ich heute bin.“ Sie lächelte. „Und ich glaube, so ganz verkehrt geraten bin ich dann doch nicht.“

„Definitiv nicht.“ Mareen legte ihre Hand auf Insas schmale Schultern. „Du bist ein ganz wunderbarer Mensch und eine Bereicherung für Greetsiel im Allgemeinen und für mich im Besonderen. Du hast frischen Wind in mein Leben gebracht und mir gezeigt, dass ich noch nicht ganz zum alten Eisen gehöre.“

„Du und alt?“ Insa grinste, was sie jünger wirken ließ, als ihre vierundzwanzig Jahre vermuten ließen. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Du bist doch keinen Tag älter als fünfundsechzig.“

Mareen lachte auf. „Du Schmeichlerin! Aber mach ruhig weiter, solche Komplimente gehen mir runter wie Öl. Und zurück zu unserem kleinen Problem: Mindestens einen Schraubenzieher habe ich vorhin da hinten im Regal gesehen.“ Sie deutete zu den Einbauschränken, die eine Seite des Dachbodens einnahmen. „Da drüben, in dem blauen Plastikbehälter.“

Insa stand auf und kehrte kurz darauf mit einem großen Schraubenzieher zurück. „Ist zwar nur einer“, bemerkte sie, „aber es müsste trotzdem funktionieren.“

Sie setzte den Schraubenzieher an, drehte ihn und stieß einen Laut des Triumphs aus, als das Schloss mit einem Knacken aufbrach. „Na, wer sagt’s denn!“

Ihre Großtante klatschte in die Hände. „Jetzt bin ich aber doch aufgeregt, das muss ich zugeben. Komm, machen wir die Truhe auf.“

Eine Staubwolke stieg auf, als sie den schweren Deckel nach hinten fallen ließen. Einen Moment lang waren sie vor allem mit Husten und Keuchen beschäftigt. Danach begannen sie sich mit dem Inhalt der Kiste zu befassen.

Und der schien auf den ersten Blick nicht besonders spektakulär zu sein. Ein paar alte Kleidungsstücke, ausgeblichen und vom Alter vergilbt, alte Tischdecken, Handtücher, die mit Monogrammen bestickt waren, und, zu Insas und Mareens Überraschung, feines Porzellangeschirr.

„Könnte es sein, dass wir es hier mit einer Aussteuertruhe zu tun haben?“, fragte Mareen, nahm einen Teller heraus und betrachtete ihn im Dämmerlicht. „Sowas gab es früher häufiger. Junge Mädchen bekamen diese Dinge zu Geburts- und Feiertagen geschenkt, damit sie einen Grundstock für ihren ersten Haushalt besaßen, wenn sie heirateten. Ein Brauch, der, wenn auch nicht völlig sinnfrei, heutzutage doch ein bisschen aus der Mode gekommen ist.“

Insa verschränkte die Arme vor der Brust. „Es wäre ja auch noch schöner, wenn wir Frauen allein für solche Sachen verantwortlich wären und die Herren der Schöpfung sich mal wieder aus allem heraushalten könnten.“

„Da spricht die moderne Frau“, meinte Mareen. „Du hast natürlich vollkommen recht. Aber damals waren es eben andere Zeiten, und die jungen Frauen sammelten eifrig, um für ihre Aussteuer alles zusammenzubekommen. Ich habe das zwar nicht mehr selbst erlebt, aber bei meiner Mutter war es durchaus noch üblich. Und wie es scheint, ist diese Truhe hier sogar noch ein ganzes Stückchen älter.“ Sie drehte den Porzellanteller so, dass sie die feinen blauen Muster auf der Glasur besser erkennen konnte. „Das Geschirr ist wirklich wunderschön. Vielleicht kannst du es ja im Laden benutzen. Wobei es dafür vielleicht fast ein bisschen zu schade ist.“

„Ja, das finde ich auch“, stimmte Insa zu und streckte gerade die Hand nach dem verschnörkelten Griff einer Tasse aus, als sie etwas bemerkte, das sich ganz in der äußersten Ecke der Truhe verbarg, halb versteckt unter dem Tuch, mit dem das Innere der Truhe ausgeschlagen war.

Sie runzelte die Stirn. „Was ist denn das?“

Es handelte sich um ein Buch mit braunem Ledereinband, dessen Rücken an manchen Stellen bereits gerissen und ausgefranst war. Der Einband war so brüchig, dass Insa einen Moment zögerte, es aufzuschlagen, weil sie fürchtete, es könne einfach auseinanderfallen.

„Sieht aus wie ein Notizbuch“, sagte Tante Mareen, die sich neugierig über die Schulter ihrer Nichte beugte. „Worauf wartest du? Mach es auf.“

Behutsam klappte Insa den Buchdeckel um und strich das Deckblatt glatt, auf dem etwas mit Tinte auf das vergilbte Papier geschrieben stand.

Fraukes Tagebuch

„Sagt dir der Name Frauke etwas, Mareen?“, fragte Insa.

Nachdenklich neigte ihre Großtante den Kopf. „Wenn ich mich nicht sehr täusche, hieß die Schwester meiner Urgroßmutter so. Aber es könnte auch ihre Nichte oder Cousine gewesen sein, so ganz sicher bin ich mir da nicht.“

„Wie aufregend!“ Insa blätterte vorsichtig um und war sofort fasziniert von den Aufzeichnungen ihrer Vorfahrin, die sie jedoch nur schwer entziffern konnte, da sie in altdeutscher Sütterlinschrift verfasst waren.

„Kannst du das hier lesen?“, fragte Insa und hielt ihrer Tante das Buch hin, sodass sie besser sehen konnte. Anders als bei den meisten Einträgen, in denen es vorrangig um das tägliche Leben in Greetsiel ging, sah dieser hier eher aus wie eine Liste – oder wie ein Rezept.

Mareen kniff konzentriert die Brauen zusammen. „Ich glaube, das ist eine Teemischung? Ja, hier, schwarzer Tee, Zimt und getrocknete Orangenschalen und … was heißt das? Ach herrje, das ist wirklich schwer zu entziffern. Hast du etwas dagegen, wenn ich das mit nach Hause nehme und mich in Ruhe daranmache, es ins Reine zu schreiben?“

„Nein“, sagte Insa aufgeregt, „natürlich habe ich nichts dagegen. Hat das Teerezept denn einen Namen? Kannst du das erkennen?“

„Ja.“ Mareen nickte. „Warte mal, da steht … Oostfreeske Wintertied.“

Insa strahlte. „Ostfriesische Winterzeit? Das klingt fantastisch. Ich kann gar nicht abwarten, es auszuprobieren. Ein Rezept, das eine unserer Vorfahrinnen aufgezeichnet hat, ist das nicht spannend?“

„Zwar habe ich mich nie besonders für Ahnenforschung interessiert, aber das hier klingt wirklich vielversprechend. Vielleicht kannst du den Tee ja sogar bei dir im Kluntje un Rohm anbieten? Das wäre doch was, oder? Und Oostfreeske Wintertied, allein der Name ist doch schon pure Magie, findest du nicht?“

„Magie, ja.“ Insa nickte enthusiastisch. „Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.“

1. KAPITEL

Ein Jahr später.

Seit zwei Tagen schon schneite es ununterbrochen. Der Schnee lag auf dem Dach der Windmühle am Ortsrand, deren Flügel sich träge im Westwind drehten, den Dächern der gedrungenen Gulfhäuser und den Bürgerhäusern rings um den Hafen.

Eine friedvolle Stimmung lag über dem ganzen Ort. Die Fenster waren erleuchtet, viele bereits weihnachtlich mit Kerzen, Tannengrün und Strohsternen geschmückt. Aus den Häusern drangen Klänge weihnachtlicher Musik, und die Kinder auf ihren Zimmern freuten sich auf wilde Schneeballschlachten am nächsten Morgen.

Doch an all dem konnte Mattes Oldeboom, der sich mit seinem schnittigen schwarzen Sportwagen die spiegelglatte Greetsieler Straße hinaufquälte, keine Freude finden. Ganz im Gegenteil, als aus dem Autoradio die ersten Klänge eines beliebten Weihnachts-Popsongs erklangen, verzog er angewidert das Gesicht und schaltete das Gerät ab, sodass nur noch das Ritsch-Ratsch der Scheibenwischer und das Geräusch der auf Hochtouren arbeitenden Lüftung zu hören war.

Verflixter Winter!

Er konnte es gar nicht abwarten, bis der Schnee endlich wieder abgetaut sein und die Blätter an den Bäumen erneut zu sprießen beginnen würden. Der ganze Zirkus, der um Weihnachten gemacht wurde, ging ihm mächtig auf die Nerven.

Was war Weihnachten denn heutzutage noch? Endloser Stress und Konsumterror. Die meisten Menschen hatten längst vergessen, worum es eigentlich ging, für sie drehte es sich lediglich um Geschenke und das Festessen zu den Feiertagen. Besinnlichkeit und Nächstenliebe waren nur noch in kitschigen Weihnachtsliedern ein Thema.

Und dann dieser verdammte Schnee. Als kleiner Junge hatte er ihn geliebt, sicher. Aber welches Kind tat das nicht? Doch im Laufe der Jahre fing man an, die Dinge ein wenig anders zu sehen, nüchterner und, wie Mattes fand, vernünftiger. Schließlich glaubte er auch nicht mehr an den Weihnachtsmann.

Er umklammerte das Lenkrad fester, als die Vorderreifen auf dem vereisten Kopfsteinpflaster ins Rutschen gerieten, und es gelang ihm, den Wagen auf der Spur zu halten.

Und dann erreichte er endlich sein Ziel: eine kleine Teestube in einem der Bürgerhäuser unmittelbar am Hafen von Greetsiel.

Noch immer rieselten dicke Flocken vom Himmel herab, als er aus seinem Wagen stieg. Sie blieben auf den Schultern seines dunkelgrauen Wollmantels liegen und verfingen sich in seinen schwarzbraunen Locken; Letzteres fühlte er, als er sich mit der rechten Hand durchs Haar fuhr.

Na wunderbar! Wenn der Schnee schmolz, würde er aussehen wie ein begossener Pudel. Das Kluntje un Rohm war nun schon die zweite Teestube, die er heute besuchte, und in den vergangenen Tagen waren es mindestens noch fünf andere gewesen. Er wusste, was ihm bevorstand: nicht enden wollende Stunden in einem kleinen Lokal, in dem es nach Mottenkugeln und Lavendelsäckchen roch und wo das Durchschnittsalter der Gäste sich im Rentenalter ansiedelte.

Das Kluntje un Rohm bildete da gewiss keine Ausnahme, auch wenn die Besitzerin, eine gewisse Insa Carstiens, sich bemüht hatte, einen ansprechenden Internetauftritt für ihre Teestube zu gestalten. Das war definitiv mehr, als man von den meisten ihrer Mitwettbewerber sagen konnte.

Von der Website wusste Mattes auch, dass Frau Carstiens einmal im Monat ein Teeseminar veranstaltete – was immer man sich darunter vorstellen durfte. Laut Beschreibung ging es darum, den Teilnehmern die Geschichte des Tees in Friesland näherzubringen und ihnen bei einer sogenannten Teezeremonie die korrekte Zubereitung des glorifizierten heißen Wassers zu zeigen.

Nichts anderes war Tee doch letzten Endes: ein paar getrocknete Blätter, die ein kurzes Bad in kochendem Wasser nahmen. Weshalb viele Menschen darum so ein Gewese machten, war ihm schleierhaft. Er selbst hatte schon immer Kaffee bevorzugt, aber als Inhaber einer eigenen Teehauskette war das keine Tatsache, mit der er öffentlich hausieren ging, denn das wäre dem Image seines Unternehmens alles andere als zuträglich gewesen.

Und wenn er sich unter den gegebenen Umständen eines nicht leisten konnte, dann war es eine schlechte Publicity. Er hatte nämlich vor, das Hamburger Teekontor – der unglaublich kreative Name stammte noch aus der Feder seines Vaters – zu verkaufen. Einen Interessenten gab es schon, nur war der noch nicht so ganz überzeugt; vorrangig, weil es dem Hamburger Teekontor an Charakter fehlte.

Dem konnte Mattes bedauerlicherweise nicht widersprechen. Man konnte sogar noch weitergehen und die Teehauskette als seelenlos bezeichnen. Eine Filiale sah aus wie die andere: schlicht und nüchtern eingerichtet, mit viel Glas und Hochglanzoberflächen in Braun und Beige. Das Menü war überall das gleiche, und die Mitarbeiter trugen eine Uniform mit genormten Namensschildchen. Abgesehen vom Tee, den sie mittlerweile von einem Zulieferer aus Holland bezogen, gab es einfaches Gebäck wie Marmorkuchen und Gugelhupf, der von einer Großbäckerei in Hamburg-Wandsbek für sie produziert wurde.

Zu den Gästen zählten hauptsächlich Geschäftsleute, die das ruhige Ambiente zu schätzen wussten, weswegen sich die Filialen meistens dort befanden, wo viele Büros und Geschäfte angesiedelt waren. Laufkundschaft, die sich eher zufällig in einen der Läden verirrte, gab es natürlich auch. Aber so etwas wie Stammkunden eher nicht.

Darauf zielte das Konzept des Teekontors allerdings auch gar nicht ab. Das Ganze war die Idee seines Vaters gewesen, ihm hatte die Firma alles bedeutet. Er war stolz darauf gewesen, dass seine Vorfahren als hanseatische Händler mit Tees aus Indien und China ein Vermögen gemacht hatten. Es war für ihn der Anlass gewesen, in den frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Teekontor ins Leben zu rufen.

Eine Art Verherrlichung der ach so glorreichen Familiengeschichte.

Apropos Familie: Die hatte für seinen Vater immer erst an zweiter oder dritter Stelle gestanden. Wenn Mattes zurückdachte, konnte er sich an keinen Geburtstag, keine Feiertage und keine Ferien erinnern, die sein Vater mit ihm verbracht hatte. Und natürlich auch kein Weihnachtsfest …

Er schüttelte den Gedanken ab. Er brauchte unbedingt eine zündende Idee, um das Teekontor interessanter und ansprechender zu machen, genau deshalb war er heute Nachmittag nach Greetsiel gekommen und hatte am Vormittag schon ein kleines Teehaus in Emden besucht sowie gestern eines in Leer und ein weiteres in Wilhelmshaven. Um sich inspirieren zu lassen. Denn sosehr er sich in seinem stillen Kämmerchen auch das Hirn zermarterte, ihm kam dort einfach keine geniale Idee.

Dummerweise war das Projekt „Inspiration“ bisher alles andere als erfolgreich verlaufen. Die kleinen Teehäuser, in die er eingekehrt war, waren zwar allesamt hübsch und gemütlich gewesen, aber er hatte nichts gesehen, was sich irgendwie dazu verwenden ließ, das Teekontor seinem potenziellen amerikanischen Käufer schmackhafter zu machen.

Und wenn er ganz ehrlich war, hatte er auch jetzt keine große Hoffnung, dass der Besuch im Kluntje un Rohm ein anderes Ergebnis hervorbringen würde.

Aber nun war er schon einmal hier. Mattes stieß die gläserne Eingangstür auf und trat aus der eisigen Kälte in die wohlige Wärme des Ladenlokals. Ein Glöckchen klingelte leise. Unmittelbar darauf erklang aus dem Hinterzimmer eine weibliche Stimme.

„Einen kleinen Moment bitte. Ich bin gleich für Sie da.“

Mattes nutzte die Gelegenheit, sich in der Teestube umzusehen. Zu seiner Überraschung musste er zugeben, dass ihm das, was er sah, durchaus gefiel. Und das, obwohl die Einrichtung wild aus verschiedenen Stilen und Epochen zusammengewürfelt schien. Keine zwei Stühle passten zueinander. Einige sahen wie echte Antiquitäten aus, andere … weniger. Beim Kachelofen und am Fenster standen mehrere Polstersessel, einige davon mit altmodischen Blümchenmustern, andere klassisch friesisch blau und weiß gestreift. Dasselbe Farbschema spiegelte sich in den karierten Tischdecken und den Vorhängen wider, ebenso in der weihnachtlich-maritimen Dekoration auf den Tischen, die aus Kerzen, glänzenden Christbaumkugeln und Netzen mit Muscheln bestand.

Für ihn kam weihnachtliche Deko allerdings nicht infrage; er wich Weihnachten aus, wo immer er nur konnte. Auch in den Filialen vom Teekontor gab es nur eine äußerst sparsame saisonale Deko, und auch nur, weil es das war, was die Kunden erwarteten. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er auf diesen ganzen Kitsch verzichtet, aber die meisten Leute liebten nun einmal Strohsterne, Nussknacker & Co, sogar die Geschäftsleute, die einen Großteil der Kundschaft des Teekontor ausmachten.

Bei Weihnachtsmusik hörte der Spaß allerdings endgültig auf, ‚Jingle Bells‘ und ‚O du Fröhliche‘ kamen ihm definitiv nichts ins Haus, ganz gleich, wie oft der PR-Berater es ihm noch vorschlagen würde. Am liebsten war es Mattes ohnehin, wenn er einfach vergessen konnte, dass die Feiertage mal wieder kurz bevorstanden.

Hier, im Kluntje un Rohm, schien jedenfalls ein echter Weihnachtsfan am Werk gewesen zu sein. An der Tür hing ein mit Schleifen und Kugeln verzierter Kranz, und die Fenster waren mit Lichterketten und selbstgebastelten Girlanden mit Tannenzapfen, gehäkelten Wollsternen und Holzanhängern in Form von Rentieren, Tannenbäumen und Schneeflocken verziert.

Soweit es Mattes betraf, war das alles too much. Aber objektiv betrachtet musste er zugeben, dass es zumindest harmonisch und einladend wirkte, wenn auch ein wenig überladen. Was die übrige Einrichtung betraf, so war sie eher rustikal, vielleicht sogar altmodisch, jedenfalls im Vergleich zum Teekontor, wo modernes und minimalistisches Design zum guten Ton gehörte.

Minimalistisch war hier höchstens die Speisekarte, die – handgeschrieben auf einer Schiefertafel – an der Wand hinter dem Tresen hing. Darauf stand neben einem breiten Sortiment von Tees ganz unten noch ein Tagesangebot: Klassischer Friesentee mit frisch gebackenen Schmaltnöt. Bei Letzterem handelte es sich wohl um die eher unscheinbaren runden Kekse, die in einem großen Glasbehälter auf der Theke standen.

Was war das denn für eine Produktpalette: kein Kuchen, keine Torten, keine Trüffel oder Pralinen? Damit hätte man in Hamburg keinen Hund hinterm Ofen hervorlocken können. Apropos Ofen: In dem dunkelblauen Kachelofen, neben dem Holzscheite aufgestapelt waren, prasselte ein wärmendes Feuer, und an den Wänden hingen gerahmte Ölgemälde, eines zeigte die rote Zwillingsmühle, ein anderes einen Krabbenkutter.

Alles in allem war das hier ziemlich altbacken, aber auf eine gewisse Art und Weise auch charmant, sodass man sich unwillkürlich wohlfühlte.

„So, da bin ich“, erklang die weibliche Stimme hinter ihm. „Was kann ich für Sie tun?“

Er drehte sich um. Die Frau, die hinter einem Vorhang hervorgetreten war, war nicht das, was man von einem Laden wie dem Kluntje un Rohm erwartete. Zum einen war sie mindestens dreißig Jahre jünger als die Durchschnitts-Teehausbesitzerinnen, mit denen er es in den vergangenen Tagen zu tun gehabt hatte. Mindestens. Und sie war auch hübscher, aber das fiel ihm erst im Nachgang auf.

„Frau Carstiens?“

Sie neigte den Kopf ein Stück zur Seite und schenkte ihm ein Lächeln, das sein Herz absurderweise schneller schlagen ließ.

„Ja, ich bin Insa Carstiens. Entschuldigung, aber kennen wir uns?“

„Nein, wir sind uns noch nicht begegnet“, entgegnete er rasch. „Ich habe mich nur vorher über Ihr Teehaus erkundigt. Ihre Website ist übrigens recht gut gelungen. Wenn auch das Foto von Ihnen etwas klein ausgefallen ist.“

„Vielen Dank. Aber auf der Website geht es ja auch vorrangig um das Teehaus. Ich als Besitzerin will mich da gar nicht so in den Vordergrund stellen.“

Etwas an ihrem Lächeln war unglaublich attraktiv. Dabei war sie sonst nicht unbedingt der Typ Frau, nach dem sich die Männer auf der Straße umdrehten, zumindest nicht auf den ersten Blick. Sie trug kein Make-up, und ihre weiße Bluse sowie die ebenfalls weiße, mit Rüschen besetzte Schürze ließen sie noch blasser wirken, als sie es ohnehin war. Und sie war so hellhäutig, dass man die Adern darunter schimmern sehen konnte, wenn man genau hinsah.

Was Mattes tat – sehr zu seinem eigenen Erstaunen.

Die hellblonden Haare trug sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengefasst, trotzdem waren sie lang genug, um ihr den haben Rücken hinunterzureichen. Beinahe völlig glatt, fingen sie erst im unteren Drittel an, sich wellig ineinander zu verschlingen.

„Sie haben sich also über das Kluntje un Rohm erkundigt?“, fragte sie und riss ihn aus seinen Gedanken. „Darf ich fragen, aus welchem Grund?“

Er räusperte sich, als er merkte, dass er sie angestarrt hatte.

Reiß dich zusammen, Mattes! Vergiss nicht, warum du hier bist!

„Ich bin eine Art Tee-Experte“, erklärte er und drehte seinen unfehlbaren Charme, dem noch nie eine Frau hatte widerstehen können, bis zum Anschlag auf. „Und im Moment klappere ich auf der Suche nach Inspiration zahlreiche kleine Teehäuser in der Region ab.“

„Sind Sie so was wie ein Reporter? Für ein Food-Magazin vielleicht?“, fragte sie zurück, und er konnte förmlich sehen, wie ihr Lächeln verblasste. Offenbar war sie kein großer Fan von Journalisten. Unwillkürlich fragte er sich, in welchem Zusammenhang sie wohl Schwierigkeiten mit der Presse gehabt haben mochte.

„Nein, nein.“ Beschwichtigend hob er die Hände. „Mein Name ist Mattes Oldeboom, und nein, ich bin definitiv kein Reporter. Es ist mehr eine Recherche in eigener Sache. Ich bin auf der Suche nach außergewöhnlichen Teekreationen. Haben Sie da vielleicht etwas im Angebot?“

Insa musterte den Fremden, der sich in ihr kleines Teehaus verirrt hatte, skeptisch. Er war zwar ausgesucht freundlich, aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Vielleicht lag es daran, dass er zu freundlich war.

Nun, zumindest war er kein Journalist. Für einen kurzen Moment hatte sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt gefühlt und … Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Das war Schnee von gestern, danach krähte heute kein Hahn mehr.

Hoffentlich.

Sie straffte die Schultern und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Mattes Oldeboom zurück. Dass er der Ansicht war, Gottes Geschenk an die Frauen zu sein, hatte sie ihm schon auf den ersten Blick angesehen.

„In eigener Sache also, soso“, sagte sie und hob eine Braue. „Andererseits, was besondere Tees betrifft, sind Sie hier tatsächlich an der richtigen Adresse. Einige der Rezepte stammen aus der Feder meiner Tante, andere sind noch viel älter, aber etwas Besonderes sind sie allesamt.“

„Schon klar, dass Sie das jetzt sagen. Immerhin sind Sie die Inhaberin. Aber es muss schon etwas wirklich Außergewöhnliches sein, um mich zu überzeugen.“

Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenständer neben der Eingangstür. Darunter trug er schwarze Jeans, dazu ein schmal geschnittenes anthrazitfarbenes Hemd, das sich über den Schultern und dem Bizeps deutlich spannte, was seinen sportlich-durchtrainierten Körperbau betonte. Die schwarzen Lederstiefel wirkten allerdings mehr stylisch als praktisch, Insa konnte sich nicht vorstellen, dass sie bei der aktuellen Witterung besonders warmhielten. Und die Sohlen sahen so glatt aus, dass es schwer sein durfte, auf dem gefrorenen Boden guten Halt zu finden.

Als er sich wieder zu ihr umdrehte, hatte sein Lächeln noch an Intensität zugenommen. „Also dann: Überraschen Sie mich.“

Insa schluckte den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, herunter. Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein? Überraschen Sie mich? Na, der würde sein blaues Wunder erleben. Wenn er wirklich etwas Außergewöhnliches wollte – das konnte er haben!

Mit einem knappen Nicken wandte sie sich ab und kehrte hinter den Tresen zurück. Sie hatte einer Herausforderung noch nie widerstehen können. Ihr Vater sagte immer, dass genau diese Eigenschaft sie so erfolgreich in allem machte, was sie tat; ganz gleich, ob es sich um höhere Mathematik handelte oder eben um die Zubereitung von verflixt gutem Tee.

Als sie vor nunmehr fast zwei Jahren mit einem Koffer und einer alten Reisetasche vor der Tür ihrer Großtante Mareen angelangt war, hatte sie keinen blassen Schimmer von Tee gehabt. Daheim in Boston, wo sie aufgewachsen war, hatte sie immer nur Kaffee getrunken, schwarz und mit viel Zucker für den Extra-Koffeinkick. Letzteren hatte sie auch ständig nötig gehabt, weil sie praktisch rund um die Uhr mit irgendeinem Projekt beschäftigt gewesen war: für die Schule, für die Uni und für ihre eigenen Forschungen und wissenschaftlichen Arbeiten.

Tee hatte sie allenfalls einmal getrunken, wenn Zeit genug gewesen war, es sich an einem verregneten Winterabend mit einem Buch auf der Couch gemütlich zu machen. Mit anderen Worten: so gut wie nie. Und selbst dann hatte sie zu einem Teebeutel mit aromatisiertem Früchtetee gegriffen, der meist um einiges besser roch als schmeckte, und eine alte, am Rand gesprungene Tasse benutzt.

Heute wusste sie es besser. Und das hatte sie niemand anderem als der Tante ihrer Mutter zu verdanken, die für sie immer schon ‚Tante Mareen‘ gewesen war.

Dabei war sie zunächst alles andere als begeistert gewesen vom Vorschlag ihrer Mutter, Mareen in Deutschland zu besuchen, um ein wenig zur Ruhe zu kommen, wie ihre Mutter meinte. Tatsächlich hatte Insa damals am Rand des Zusammenbruchs gestanden, viel hatte jedenfalls nicht mehr gefehlt. Aber darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken.

Sie schüttelte den Gedanken ab und zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Dennoch zitterten ihre Hände leicht, als sie damit glättend über den gestärkten Stoff ihrer Schürze strich. Einen außergewöhnlichen Tee …

Sie ließ den Blick über die Blechdosen und Glasbehälter schweifen, die säuberlich beschriftet im Regal an der Wand standen. Keiner ihrer Tees war Fabrikware oder kam fertig gemischt zu ihr in den Laden. Wenn sie eines von Mareen gelernt hatte, dann, dass man eine hervorragende Teemischung nicht im Supermarkt bekam. Und auch nicht beim Großhändler oder Importeur. Nein, eine hervorragende Teemischung erforderte viel Geduld und Liebe zum Detail, aber diese Mühe wussten die Leute hier in Ostfriesland auch zu schätzen. Nicht umsonst war der Pro-Kopf-Verbrauch hier rund zehn Mal so hoch wie im Rest des Landes.

Inzwischen verbrachte Insa oft ganze Abende damit, die richtige Zusammensetzung zu finden, um einem Tee das gewisse Etwas zu verleihen. Und sie war gut in dem, was sie tat – zumindest, wenn man den Erfolg ihrer Tees an den Kunden des Kluntje und Rohm maß.

„Wirklich viel los ist hier aber nicht gerade“, erklang die Stimme hinter ihr, als sie gerade nach einer der Blechdosen greifen wollte: Grüner Tee mit Jasmin – neben den schwarzen Tees einer ihrer absoluten Verkaufsschlager. Lässig lehnte Mattes Oldeboom am Tresen, die Arme auf das auf Hochglanz polierte Holz gestützt, und lächelte. „Liegt es am Wetter, oder haben Sie immer so wenig zu tun?“

„Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht“, entgegnete sie, inzwischen leicht gereizt, „aber ich kann mich nicht über mangelnde Auslastung beklagen, im Gegenteil. Das hier ist mehr oder weniger ein Eine-Frau-Betrieb. Meine Tante springt zwar gerne ein, aber ich versuche, allein zurechtzukommen. Warum wollen Sie das eigentlich überhaupt wissen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich interessiere mich halt für meine Mitmenschen.“ Dann nickte er in Richtung der Teedose. „Grünen Tee finde ich übrigens nicht so wahnsinnig spannend.“

Sie ließ die Hand sinken. „Und was finden Sie spannend?“

„Keine Ahnung. Jedenfalls keinen Grüntee. Vielleicht lieber etwas Regionales? Wie wäre es mit einem schönen Friesentee?“

„Ihnen ist aber schon klar, dass Friesentee nur so genannt wird, weil er traditionell hier getrunken wird? Die Teeblätter selbst stammen aus allen möglichen Anbaugebieten der Welt, vorrangig aus Indien. Und das würde ich jetzt nicht unbedingt als regional bezeichnen. Sie etwa?“

Als sie zu Ende gesprochen hatte, presste sie die Lippen zusammen. Wieder einmal war das Temperament mit ihr durchgegangen. Früher war ihr das ständig passiert. Mit sechzehn, als andere Gleichaltrige die High School besuchten, hatte sie am MIT – dem angesehenen Massachusetts Institute of Technology – bereits an ihrer ersten Doktorarbeit gesessen. Sie hatte unter enormem Druck gestanden, den sie sich zum Teil selbst gemacht hatte, denn ihre Erwartungen an sich selbst waren immer besonders hoch gewesen. Dabei hatten ihre Eltern sie nie gedrängt. Ihr Vater war selbst Lehrer gewesen und hatte schnell erkannt, dass die eigene Tochter ein klein wenig anders war als ihre Altersgenossen.

Sie hatte früher angefangen, sprechen und sogar lesen zu lernen, und war bereits mit vier Jahren eingeschult worden. Ihre eigene Kindheit hatte sie praktisch im Zeitraffer erlebt: Höher, schneller, weiter. Dass es unter diesen Umständen schwierig gewesen war, Anschluss zu finden, verstand sich von selbst. Und nicht wenige ihrer Lehrer hatten ein Problem damit gehabt, dass Insa mitunter besser über den Stoff ihres Fachgebiets Bescheid wusste als sie selbst. Tag für Tag hatte Insa es mit gehässigen Bemerkungen und schnippischen Kommentaren zu tun gehabt, dabei hatte sie sich wirklich bemüht, alles von sich abprallen zu lassen. Doch irgendwann war der Frust zu groß geworden, und es war aus ihr herausgeplatzt.

Aber inzwischen hatte sie sich besser im Griff. Nur manchmal … Seufzend fuhr sie sich durchs Haar.

„Es soll also ein schwarzer Tee sein, ja?“

Er nickte. „Genau. Und Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Ihnen ein bisschen über die Schulter blicke, oder?“

Allerdings hatte sie etwas dagegen. Aber sie würde den Teufel tun, es einzugestehen. Mit einem weiteren – diesmal unterdrücken – Seufzen öffnete sie den großen Glasbehälter mit der Friesenmischung und machte sich daran, den Tee zuzubereiten. Dazu spülte sie eine Kanne aus feinem Porzellan mit heißem Wasser aus, bevor sie zuerst die losen Teeblätter hineingab und sie dann zu einem Drittel mit frischem sprudelndem Wasser füllte.

Die nächste Zutat war für die Zubereitung eines perfekten Tees absolut unersetzbar: Zeit. Drei Minuten lang musste der Teeansatz ziehen, dann füllte Insa den Rest der Kanne mit dem inzwischen etwas abgekühlten Wasser auf und stellte die fertige Mischung auf ein Tablett mit einem Stövchen. Zu dem Stövchen gesellten sich eine kleine Kristallschale mit weißem Kandiszucker, den sogenannten Kluntjes, und ein silbernes Sahnekännchen mit Löffel sowie eine Porzellantasse samt Untertasse.

„Sehr schön machen Sie das“, kommentierte Mattes Oldeboom, als sie ihm das Tablett hinstellte.

„Danke“, entgegnete sie trocken. „Einem Tee-Experten muss ich wohl nicht erklären, wie man einen solchen Tee trinkt, oder?“

Bevor er antworten konnte, erklang erneut das Glöckchen über der Tür, und zusammen mit einer eisigen Windbö und ein paar Schneeflocken kam ein älterer Herr herein.

Moin moin, Herr Fedderson“, begrüßte Insa ihren Stammkunden, einen pensionierter Krabbenfischer, der das Ruder (samt Boot) an seinen Sohn Arne weitergegeben hatte. „Dasselbe wie immer?“

„Heb ik jemaals annerswat bestellt, mien Deern?“

Noch vor einem Jahr hatte Insa das Freesk Platt des älteren Herrn vor eine echte Herausforderung gestellt. Doch inzwischen verstand sie fast alles und sprach sogar selbst ein bisschen Plattdeutsch.

„Seker nich“, antwortete sie daher. „Dat kummt gliek, Herr Fedderson. Setten se sük al mal hen.“

Der Mann nickte, setzte sich wie üblich an den Tisch direkt neben dem Kachelofen und rief: „Un de Schmaltnöt nich vergeten, mien Deern!“

Insa lachte. „Op keen Fall.“

„Was war das denn?“, fragte Mattes Oldeboom und gab mit der silbernen Zange etwas Kandis in seine Tasse, den er anschließend mit Tee übergoss, sodass der Zucker zu knistern begann.

„Das ist Eike Fedderson“, erklärte Insa ihm mit einem kleinen Lächeln. „Er ist einer meiner ältesten Stammkunden und spricht mit Vorliebe Freeks Platt – also friesisches Platt.“

„Und Sie ebenfalls?“ Mattes Oldeboom neigte den Kopf ein Stück. „Sie verzeihen mir hoffentlich meine Neugier, aber mir ist aufgefallen, dass Sie einen leichten Akzent haben. Deutsch ist nicht Ihre Muttersprache, oder?“

„Ja – und nein“, antwortete sie kryptisch. „Meine Eltern sind beide Deutsche, und ich bin auch in Deutschland geboren, war aber erst acht Monate alt, als sie mit mir nach Amerika ausgewandert sind. Ich bin in den Staaten, genauer gesagt, in Boston aufgewachsen, aber mein Vater hat großen Wert darauf gelegt, dass bei uns zu Hause Deutsch gesprochen wurde.“ Sie zuckte die Achseln. „Ansonsten hatte ich leider nicht besonders viel Gelegenheit, meine Sprache zu nutzen. Daher war mein Deutsch vermutlich ein bisschen eingerostet, als ich vor fast zwei Jahren hier ankam.“

Er nickte und ließ behutsam ein Löffelchen Sahne am Rand der Tasse entlang in den Tee fließen, sodass sich das charakteristische Wulkje – Wölkchen – bildete.

„Verstehe. Und was hat Sie nach all den Jahren wieder nach Deutschland verschlagen? Hatten Sie den American Way of Life satt?“

Sie runzelte die Stirn. Eigentlich ging ihn das nichts an.

„Genau genommen war es eine Idee meiner Mutter. Ihre Tante, meine Großtante Mareen, lebt hier in Greetsiel. Sie dachte, dass es ganz nett für mich wäre, sie mal zu besuchen, tja, und irgendwie bin ich dann hier hängengeblieben.“

Er nippte vorsichtig an seinem Tee. „Hatten Sie denn keine Verpflichtungen drüben? Einen Job? Familie?“

Insa holte tief Luft. „Zu dem Zeitpunkt hing ich offen gestanden ein bisschen in den Seilen“, entgegnete sie ausweichend.

Und das war sehr milde ausgedrückt. Sie hatte damals gerade ihr Start-up – eine App, die den mühelosen Austausch von Daten zwischen mehreren Smartphones oder Computern ermöglichte – verkauft, weil sie nach dem Tod ihrer besten Freundin Linda nicht mehr in der Lage gewesen war zu arbeiten.

Nein, nicht nur zu arbeiten. Sie hatte überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen können und wäre fast an der Trauer und dem Druck, der auf ihr lastete, zerbrochen. Es stimmte, dass ihre Mutter ihr geraten hatte, sich eine Auszeit zu nehmen und einfach einmal alles hinter sich zu lassen. Auch die Idee, Mareen zu besuchen, war von ihr gewesen, und dafür war Insa ihr bis heute dankbar. Sie hatte einfach Abstand gebraucht, um wieder ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Auch wenn die Sache mit Linda sie noch immer jede Nacht bis in ihre Träume verfolgte.

Doch all das ging den Fremden nichts an. Und ihr selbst tat es auch nicht gut, jetzt darüber nachzudenken. Mareen jedenfalls hatte sich damals gerade nach einem Nachfolger für das Café umgesehen, und so hatte Insa nicht lange gezögert. Es war ihr wie ein Wink des Himmels erschienen, und sie bereute bis heute nicht, dass sie die Chance ergriffen hatte.

„Schmeckt er Ihnen?“, fragte sie, um das Thema wieder in eine andere – unverfänglichere – Richtung zu lenken. Als Mattes Oldeboom sie nur verständnislos ansah, nickte sie in Richtung seiner Tasse. „Der Tee?“

„Oh ja, natürlich. Er ist wirklich vorzüglich. Allerdings muss ich sagen, dass ich mir etwas anderes erhofft hatte.“

Sie hob eine Braue. „Etwas anderes?“, wiederholte sie trocken. „Aber Sie wollten doch einen Friesentee. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, haben Sie nicht. Aber ich sagte auch, dass ich auf der Suche nach etwas Außergewöhnlichem bin. Und dieser Tee hier ist zwar wirklich hervorragend, mehr aber auch nicht.“

Ärgerlich wandte sie sich ab und begann, den Tee und ein kleines Schälchen mit Schmaltnöt – im Rest des Landes besser als Schmalznüsse bekannte Plätzchen, die typisch für die Weihnachtszeit im hohen Norden waren – für Herrn Fedderson vorzubereiten. Sie war dankbar für die Ablenkung, denn so langsam fing sie an, sich über diesen arroganten Wichtigtuer zu ärgern. Und so würdigte sie ihn auch weiterhin keines Blickes, sondern brachte Herrn Feddersons Bestellung an den Tisch und snackte noch ein paar Minuten mit ihm.

Als sie wieder zurückkehrte, stellte sie zu ihrer Genugtuung fest, dass Mattes Oldeboom sich bereits nachschenkte. Außergewöhnlich mochte ihr Friesentee also vielleicht nicht sein, aber verflixt lecker allemal.

„Also“, sagte er, während er sich aus dem Kännchen nachgoss, „haben Sie vielleicht noch einen Tee, der mich so richtig aus den Socken haut? Einen, der irgendwie anders ist?“

Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu dem Buch, das im Regal zwischen ein paar Rezeptbüchern stand. Es war das Buch, das sie im vergangenen Winter zusammen mit ihrer Tante Mareen auf dem Dachboden entdeckt hatte, mit allerhand Anekdoten aus dem Alltag in Greetsiel von anno dazumal und dem Rezept zur Herstellung einer Teemischung, die den klangvollen Namen „Oostfreeske Wintertied“ besaß.

Sie hatte die Mischung natürlich sofort ausprobiert und sie auch schon probeweise im Kluntje un Rohm serviert. Die Reaktionen ihrer Kunden waren durchweg positiv gewesen, was Insa nicht verwunderte. Die Wintertied schmeckte einfach fantastisch. Ein bisschen wie Weihnachten: nach Zimt und Orangenschalen, Nelken und verschiedenen anderen Gewürzen sowie getrockneten Früchten. Sie liebte den Duft einfach, so wie sie auch die Adventszeit und Weihnachten liebte.

Wenn dieser Oldeboom etwas wollte, was ihn aus den Socken haute – nun, das konnte er kriegen. Das einzige Problem war, dass sie die notwendigen Zutaten nicht mehr alle auf Lager hatte.

„Ich habe da in der Tat etwas für Sie“, entgegnete sie mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Allerdings benötige ich zur Zubereitung noch ein paar Dinge. Aber morgen ist hier Ruhetag, und ich wollte ohnehin Besorgungen machen …“

„Wunderbar. Dann werde ich Sie begleiten.“

„Was?“ Insa blinzelte überrascht. „Nein, das … Das ist wirklich nicht notwendig. Kommen Sie doch einfach übermorgen wieder.“

„Hören Sie, Frau Carstiens, ich bin ein viel beschäftigter Mann. Ich kann unmöglich bis übermorgen in Greetsiel bleiben, nur auf die vage Chance hin, dass Ihr Tee wirklich hält, was er verspricht. Von daher mache ich Ihnen folgenden Vorschlag: Ich helfe Ihnen bei Ihren Einkäufen, nehme Ihnen das schwere Schleppen ab, und im Gegenzug bereiten Sie mir nach unserer Rückkehr Ihren Supertee zu.“ Erwartungsvoll schaute er sie an. „Na, was sagen Sie?“

Sie presste die Lippen zusammen. Sie wusste, sie sollte ablehnen. Was kümmerte es sie, ob er blieb oder ging? Die Wintertied war eine fantastische Teemischung, dazu brauchte sie seine Meinung nicht. Zudem war er ein komischer Kauz. Dass er wegen persönlicher Recherchen in der Region unterwegs war, kaufte sie ihm jedenfalls nicht ab.

Was er wirklich wollte, konnte sie sich, ganz ohne weitere Indizien, aber auch nicht erklären. Ein normaler Kunde war er jedenfalls nicht. Und irgendwie war es ihm gelungen, sie bei ihrem Stolz zu packen. Also sagte sie Ja, bevor ihr wirklich klar war, was sie da tat.

„Fantastisch“, rief er aus und stellte seine Tasse mit einem leisen Klirren auf der Untertasse ab. „Dann stehe ich morgen früh wieder bei Ihnen auf der Matte. Ist Ihnen acht Uhr recht?“

Insa schluckte. Jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

„Okay“, sagte sie schließlich. „Aber seien Sie pünktlich. Ich werde nicht auf Sie warten.“

„Keine Sorge“, erwiderte er und besaß die Dreistigkeit, ihr zuzuzwinkern, ehe er aufstand und seinen Mantel vom Garderobenständer nahm. „Ach, und setzen Sie mir den Tee bitte auf meinen Deckel. Ich zahle dann bei meiner Abreise alles zusammen.“

Damit war er auch schon aus dem Lokal, bevor sie ihm mitteilen konnte, dass es so etwas wie Anschreiben bei ihr nicht gab. Worauf hatte sie sich hier bloß eingelassen!

2. KAPITEL

„Ja, Frau Dornheim, ich weiß, dass es nicht ideal ist, die Termine so kurzfristig noch einmal zu verschieben, aber es lässt sich nun mal nicht ändern. Ich werde mindestens noch einen weiteren Tag hier in Greetsiel festsitzen. Vermutlich wäre es besser, alles auf Anfang nächster Woche zu verschieben … Ja, genau … Exakt, Frau Dornheim, so machen wir es. Ich melde mich regelmäßig, versprochen.“

Mattes beendete das Telefonat und legte sein Handy neben sich auf den Tisch im Frühstücksraum der Pension Friesenperle, in der er am vergangenen Abend zu später Stunde und der scheußlichen Witterung zum Trotz noch ein Zimmer bekommen hatte. Es war zwar für seine Verhältnisse mehr als spartanisch eingerichtet – ein Bett, ein Schrank, ein Nachttisch und ein Stuhl –, aber er brauchte es ja auch nur zum Schlafen. Dass sich das Bad auf dem Flur befand, war ein weiteres Manko, mit dem er notfalls für ein paar Tage leben konnte, denn dafür war das Frühstück, das ihm die Pensionswirtin serviert hatte, wirklich sehr gut.

Er häufte etwas von dem Bauernfrühstück, bestehend aus gebratenen Pellkartoffeln mit Zwiebeln, Speck und Eiern, dazu Essiggurken, auf die Gabel, verspeiste den Bissen mit großem Genuss und nahm einen großen Schluck Kaffee dazu. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und erhob sich. Es war jetzt viertel vor acht, wenn er pünktlich beim Kluntje un Rohm sein wollte, musste er sich langsam auf den Weg machen. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass Insa Carstiens ihre Drohung wahrmachen und ohne ihn aufbrechen würde, wenn er zu spät kam. Besser also, er riskierte es gar nicht erst.

Als er kurz darauf aus der Pension trat, die keine fünfhundert Meter vom Teehaus entfernt lag, schneite es noch immer. Doch aus den dicken Flocken vom vergangenen Abend war ein Nieselschnee geworden, der ihm wie kleine eisige Nadelstiche im Gesicht brannte.

Er klappte den Kragen seines Mantels gegen den Wind hoch und zog die Schultern zusammen. Was für ein elendes Mistwetter! Unter normalen Umständen würde er jetzt gerade mit einer dampfenden Tasse Kaffee in seinem Büro sitzen und schon dem Augenblick entgegenfiebern, in dem er endlich wieder seine Sachen zusammenpacken und sich auf den Weg nach Hause machen konnte, wo seine finnische Sauna auf ihn wartete. Um am nächsten Morgen einen weiteren Tag in der Tretmühle, zu der sich sein Arbeitsalltag entwickelt hatte, zu meistern.

Für viele war es absolut unverständlich, wenn er so über seinen Beruf redete. Und irgendwie konnte er das nachvollziehen, immerhin hatte er etwas, das so mancher als einen echten Traumjob bezeichnen würde: Er leitete ein erfolgreiches Unternehmen, verdiente gut, lebte in einer Villa am Stadtrand von Hamburg und fuhr ein teures Auto. Das Problem war ganz einfach, dass das Teekontor nie wirklich sein Traum gewesen war. Sondern der seines Vaters.

Hinnark Oldeboom war von der Firma besessen gewesen. Als kleiner Junge hatten Mattes und sein Bruder ihren Vater kaum zu Gesicht bekommen. Ihre Mutter hatte sehr darunter gelitten und versucht, die mangelnde Zuneigung ihres Mannes durch exzessives Einkaufen zu kompensieren. Nicht selten hatten Lasse und er spät abends wach in ihrem Zimmer gelegen, während ihre Eltern sich im Wohnzimmer anschrien. Der Vater hatte geschrien, weil er nichts mehr hasste, als unnötig Geld zu verschwenden, und die Mutter, weil sie sich von ihm vernachlässigt fühlte. Und beide Jungs hatten alles mitbekommen.

Damals waren Lasse und er noch wie Pech und Schwefel gewesen, nichts und niemand hatte sie auseinanderkriegen können, alles hätten sie füreinander getan. Oder zumindest hätte Mattes alles für seinen Bruder getan. Dass die Sache bei Lasse ein bisschen anders aussah … tja, das hatte Mattes damals noch nicht geahnt.

Aber nein, die Firma lag ihm definitiv nicht am Herzen, was auch ein Grund dafür war, dass er sie unbedingt verkaufen wollte. Und zwar so schnell wie möglich. Sein Vater war vor etwas mehr als einem halben Jahr gestorben, und seitdem war Mattes, der seit seinem BWL-Abschluss in der Firma arbeitete, zum alleinigen Geschäftsführer des Teekontors geworden.

Der Herzinfarkt des Vaters war für Mattes nicht ganz überraschend gekommen, denn sein Vater war ein Choleriker gewesen, der Raubbau am eigenen Körper betrieb. Dennoch war es ein schwerer Schlag gewesen, ihn zu verlieren, denn Mattes hatte seinen Vater trotz allem geliebt. Aber sein Tod hatte in auch befreit, denn jetzt drängte ihn niemand mehr in eine Rolle, die er nicht einnehmen wollte. Seine Mutter hatte schon vor Jahren die Scheidung eingereicht und lebte jetzt mit ihrem zweiten Ehemann, einem Privatier, auf Ibiza. Hin und wieder bekam Mattes eine Ansichtskarte von ihr. Was aber aus der Firma wurde, interessierte sie ganz sicher nicht, ebenso wenig wie Lasse.

Mattes schüttelte den Gedanken an seine Familie ab und beschleunigte seine Schritte. Als er das Kluntje un Rohm erreichte, stand Insa Carstiens gerade am offenen Kofferraum eines weißen Kleintransporters.

„Moin“, grüßte er, und sie wirbelte herum.

„Ach, Sie sind das“, sagte sie mit einem solchen Mangel an Enthusiasmus, dass er es fast schon als Beleidigung betrachtete. „Ich hatte nicht mehr mit Ihnen gerechnet.“

Er blickte auf seine Armbanduhr und hob eine Braue. „Es ist zehn vor acht. Ich würde doch meinen, das ist mehr als pünktlich.“

Sie seufzte. „Da war bei mir wohl mehr der Wunsch der Vater des Gedankens.“

Fast gegen seinen Willen lachte er auf. „Na, Sie sind ja heute Morgen charmant. Sind Sie mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden oder einfach nur ein Morgenmuffel?“

„Ich bin ganz gewiss kein Morgenmuffel! Falls es Sie interessiert: Ich stehe jeden Tag spätestens um halb sechs auf; meist sogar noch eher, wenn ich frische Plätzchen für den Laden backe.“

„Sie backen selbst?“, fragte er überrascht.

„Natürlich. Ich biete meinen Kunden doch keine Massenware aus der Fabrik an.“ Sie klang richtig empört. „Wer so etwas verkauft, der hat noch nie frisch gebackene Plätzchen probiert.“

Womit sie in seinem Fall nicht ganz falschlag. Seine Mutter hatte jedenfalls nie Plätzchen mit Lasse und ihm gebacken, und sein Vater schon mal gar nicht. Und die Köchin war nur zu den Mahlzeiten da gewesen, weil ihre Mutter es nicht gemocht hatte, ständig Personal um sich zu haben.

Beschwichtigend hob er die Hände. „Kein Grund, mir gleich den Kopf abzureißen.“ Er nickte in Richtung Wagen. „Wollen wir los? Mir wird nämlich langsam wirklich kalt.“

Sie schlug die Kofferraumtür zu und ging ohne ein weiteres Wort zur Fahrerseite, während Mattes sich selbst die Beifahrertür öffnete. Unter anderen Umständen wäre er vermutlich um den Wagen herumgegangen, um ihr, ganz Gentleman, die Tür zu öffnen. Doch er hatte das Gefühl, dass sie ihm das nicht danken würde.

So richtig wohl fühlte er sich aber nicht auf dem Beifahrersitz. Sonst war er immer derjenige, der hinterm Steuer saß. Ein Chauffeur, wie sein Vater ihn gehabt hatte, war jedenfalls nichts für ihn. Er hatte gern selbst die Kontrolle, und es fiel ihm nicht leicht, sie aus der Hand zu geben, schon gar nicht an eine Frau, von der er lediglich wusste, dass sie einen wirklich guten Friesentee zubereiten konnte.

Er bemühte sich, sich die Anspannung nicht anmerken zu lassen, als sie den Motor anließ und aus der Parklücke auf die Straße ausscherte. Die Scheibenwischer knarzten unangenehm, sobald sie sich über das Glas bewegten, und jedes Mal, wenn sie anfuhr, quietschte der Keilriemen.

„Wo genau fahren wir eigentlich hin?“, erkundigte er sich.

„Besorgungen machen.“

„Geht es ein bisschen genauer?“

Sie nahm für einen kurzen Moment den Blick von der Straße, um ihn anzufunkeln. „Kennen Sie sich hier in der Gegend aus?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Dann weiß ich nicht, was es bringen soll, Ihnen die Namen meiner Lieferanten zu nennen. Sie könnten ja doch nichts damit anfangen.“

Da hatte sie zwar recht, aber er würde den Teufel tun, es ihr gegenüber einzugestehen.

„Vielleicht bin ich ja einfach nur neugierig“, entgegnete er und klammerte sich am Halter der Autotür fest, als sie etwas zu schnell in eine Kurve fuhr und der Wagen ein wenig ins Rutschen geriet.

Statt sich weiter mit ihm zu unterhalten, stellte sie das Radio an, aus dem, wie hätte es anders sein können, Weihnachtsmelodien erklangen. Na wunderbar! Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Aber vermutlich sollte es ihn nicht wundern, wo doch der dritte Advent kurz bevorstand. Überall nur Weihnachten, Weihnachten, Weihnachten! Wohin man auch blickte, wurde man von Weihnachtsmännern, rotnasigen Rentieren, Tannenbäumen und Lichterketten erschlagen. Und die meisten Menschen fühlten sich davon auch noch in eine positive Stimmung versetzt!

Bei ihm bewirkte der ganze Zirkus jedenfalls das genaue Gegenteil. Wenn die Feiertage endlich vorbei waren, würde er drei Kreuze schlagen.

Besonders überrascht war er allerdings nicht, als er Insa plötzlich neben sich leise mitsummen hörte. Ihr rechtes Knie wippte im Takt, und sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad.

„Lassen Sie mich raten: Sie sind ein echter Weihnachtsfan, habe ich recht?“

„Allerdings“, entgegnete sie. „Haben Sie auch daran etwas auszusetzen?“

„Könnte man so sagen. Ich hasse Weihnachten. Es ist die Zeit des Jahres, in der alle so tun, als gäbe es auf der Welt nur Friede, Freude, Eierkuchen. Plötzlich dreht sich alles nur noch um Geschenke, Christbaukugeln und Gänsebraten. Probleme wie Überbevölkerung, Klimawandel und Armut existieren plötzlich nicht mehr.“

Sie verzog das Gesicht. „Das ist ganz schön zynisch.“

„Nicht zynisch, nur realistisch. Oder können Sie etwa ernsthaft behaupten, dass es sich anders verhält?“ Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Wussten Sie eigentlich, dass die meisten Restaurants und Einzelhändler in den Monaten November und Dezember mehr Umsatz machen als den Rest Jahres zusammen? Das ist doch ziemlich bezeichnend.“

„Das mag ja alles stimmen. Aber ich liebe Weihnachten trotzdem, besonders die deutschen Traditionen wie das Christkind und die Bescherung am Heiligabend. Drüben in den Staaten wird das ja alles ein bisschen anders gehandhabt, und ich spreche nicht nur von kitschigen Weihnachtssocken und Santa Claus. Die amerikanische Version von Weihnachten ist noch viel lauter und greller – oder zumindest die, die ich in meiner Kindheit mitbekommen habe. Da werden regelrechte Wettbewerbe abgehalten, wer die hellste und auffälligste Weihnachtsdeko im Vorgarten hat, und am Weihnachtstag sitzt die ganze Familie vor dem Fernseher und schaut sich ‚Ist das Leben nicht schön?‘ an, nur um sich später dermaßen mit Truthahn, Süßkartoffeln und Bohnen vollzustopfen, dass man nur noch nach Hause rollen kann.“ Sie seufzte. „Aber traditionelle deutsche Weihnachten, vor allem weiße? Mal ehrlich, es gibt doch nichts Schöneres, als mit den Menschen, die man liebt, am Heiligen Abend um den Christbaum zu sitzen, während draußen vor dem Fenster die Schneeflocken vom Himmel rieseln.“

„Finden Sie?“

Sie lachte leise. „Sie eher nicht, wie?“

„Na ja, so wie Sie das beschreiben, klingt es schon ganz nett. Aber die Voraussetzung dafür ist, dass man Menschen hat, mit denen man das Weihnachtsfest verbringen kann. Es hat schon einen Grund, warum zu Weihnachten so viele Leute in Depressionen verfallen. Allein unterm Christbaum zu sitzen, kann ich wirklich niemandem empfehlen.“

„Tut mir leid“, sagte sie mit einem kurzen Seitenblick zu ihm.

„Was?“

„Dass Sie zu Weihnachten allein sind. Oder habe ich da gerade etwas falsch verstanden?“

„Das muss Ihnen nicht leidtun. Ich bin gerne Single. Ich muss mich vor niemandem rechtfertigen und kann immer tun, wonach mir gerade der Sinn steht. Da gibt es wirklich schlimmere Schicksale.“

„Schon möglich. Trotzdem, ich finde, an Weihnachten sollte niemand allein sein.“

Einen Moment lang war nur das Quietschen der Scheibenwischer zu hören, die noch immer tapfer gegen den Ansturm von Schneeflocken ankämpften. Und Mattes fragte sich, warum ihre Worte etwas tief in ihm berührten. Er war doch ein glücklicher Single – oder? Nur, weil er Weihnachten nicht ausstehen konnte, bedeutete das noch lange nicht, dass ihm etwas im Leben fehlte. Und wenn er erst einmal das Teekontor losgeworden war, konnte er endlich auch beruflich noch einmal ganz neu durchstarten.

Er wusste zwar noch nicht, was er danach anfangen wollte, aber das machte nichts. Das würde sich schon mit der Zeit finden. Früher einmal hatte er davon geträumt, sein eigenes Fischerboot zu besitzen, denn das Meer war für ihn schon immer ein Synonym für Freiheit gewesen. Die endlose Weite, die Stille … Hinnark Oldeboom hatte darüber natürlich nur lachen können. Sein Sohn, ein einfacher Fischer? Das war selbstverständlich nicht infrage gekommen. Wobei er es vielleicht noch toleriert hätte, wenn Lasse, wie geplant, in seine Fußstapfen getreten wäre.

Lasse, der älteste Sohn. Der Erbe.

Doch Lasse hatte die Firma ebenso wenig übernehmen wollen wie Mattes. Er war schon immer ein talentierter Künstler gewesen, der einen großen Teil seiner Freizeit damit verbracht hatte, zu malen. Und vielleicht hätte Mattes nicht überrascht sein sollen, als sein Bruder während eines Familienessens vor knapp sechs Jahren verkündet hatte, ein Angebot von einer Galerie in New York City annehmen zu wollen, die seine Werke ausstellen wollte.

Es hatte einen riesigen Streit gegeben. Der Vater war ausgerastet und hatte ein paar Dinge gesagt, die ihm hinterher vermutlich leidtaten. Doch Lasse hatte nicht nachgegeben. Tatsächlich war seine Ausstellung ein voller Erfolg geworden, und am Ende war er gleich in New York geblieben, wo er auch heute noch lebte und arbeitete. Soweit Mattes wusste, hatte er inzwischen sogar geheiratet und eine Familie gegründet. Genau konnte er es aber nicht sagen, denn seit damals hatten sie kaum noch Kontakt. Zwar hatte Lasse es ein paarmal versucht, doch Mattes war zu verletzt und wütend gewesen, um ihn anzuhören.

Denn ohne Lasse hatte plötzlich ein neuer Nachfolger hergemusst. Und so war es nicht verwunderlich, dass die Wahl auf Mattes, den einzig verbliebenen Sohn, gefallen war. Für Mattes war die Welt von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt worden. Sicher, er hätte Nein sagen können, genau wie Lasse. Doch ein Teil von ihm hatte nie aufgehört, der kleine Junge zu sein, der sich nach der Anerkennung des Vaters sehnte. Und so hatte er vor knapp sechs Jahren schweren Herzens seine eigenen Träume und Hoffnungen begraben.

„Okay, da wären wir“, verkündete Insa Carstiens unvermittelt, und er blinzelte irritiert, denn er hatte gar nicht gemerkt, dass sie angekommen waren und Insa das Auto sogar schon eingeparkt hatte. Jetzt blickte er zum Seitenfenster hinaus und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sie sich keineswegs auf dem Parkplatz eines Großmarkts befanden, wie er angenommen hatte. Stattdessen hatte Insa den Wagen in einer kleinen Seitenstraße abgestellt, direkt vor einem Backsteingebäude, das sich durch absolut nichts von den anderen Häusern in der Straße abhob.

„Und wo genau sind wir hier?“, fragte er daher.

„Wenn Sie nicht vorhaben, im Wagen sitzen zu bleiben, werden Sie es gleich erfahren“, entgegnete sie. „Und ich kann Ihnen nur empfehlen mitzukommen, denn die Autoheizung funktioniert nur, wenn sie Lust hat; mit Vorliebe im Sommer, und dann lässt sie sich auch nicht mehr abschalten.“

Sie lachte, stieß die Fahrertür auf und stieg aus. „Was ist, brauche Sie eine Extraeinladung?“

3. KAPITEL

Wenn Insa ganz ehrlich zu sich war, hatte sie gehofft, dass Mattes Oldeboom nicht wieder auftauchen würde. Seinetwegen hatte sie die unruhigste Nacht seit Langem hinter sich. Warum, das konnte sie sich selbst nicht recht erklären.

Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, zu versuchen, im Internet etwas über ihn herauszufinden. Doch dann war sie sich deswegen albern vorgekommen. Zudem war sie kein Fan davon, sich Informationen aus zweiter Hand zu verschaffen. Über sie selbst waren so viele Unwahrheiten im Umlauf gewesen, dass sie eine gesunde Abneigung gegen solche Dinge entwickelt hatte. Und außerdem: Er war einfach nur ein Gast.

Wenn auch ein ziemlich aufdringlicher.

Mach dir doch nichts vor! Seit wann triffst du dich außerhalb der Öffnungszeiten mit Gästen? Und nimmst sie dann auch noch mit, wenn du Besorgungen machst?

Sie warf die Wagentür zu und zog sich die Kapuze ihres dunkelblauen Parkas über den Kopf. Sie verstand sich selbst nicht. Es war absolut dumm von ihr gewesen, ihn nicht gleich von Anfang an klipp und klar in die Grenzen zu weisen. Aber er hatte sie einfach überrumpelt, und dann war es irgendwie zu spät gewesen, noch einen Rückzieher zu machen.

Und nun waren sie hier, und sie musste irgendwie versuchen, sich nicht von seiner Anwesenheit beeindrucken zu lassen. Irritierenderweise war das gar nicht so leicht, denn jedes Mal, wenn sie ihn ansah, verspürte sie ein leises Kribbeln im Bauch. Dabei war sie normalerweise wirklich nicht leicht zu beeindrucken.

Er hatte einfach etwas an sich, das sie faszinierte. Und daran änderte auch nichts, dass seine arrogante und selbstherrliche Art sie fast in den Wahnsinn trieb.

Schweigend stapften sie durch den Schnee. Insa ging voran, er folgte ihr. Sie stieg die Vortreppe hinauf, die von mit Segeltuch bedeckten Pflanzkübeln flankiert wurde, und klopfte an die Tür, an der ein riesiger Kranz aus ineinander verflochtenen Tannenzweigen hing, der mit bunten Schleifen, künstlichen rotbackigen Äpfeln und Tannenzapfen dekoriert war. Dabei ignorierte sie die fragenden Blicke, die er ihr zuwarf.

Es dauerte nicht lange, bis geöffnet wurde. Frau Hoferland, eine nette ältere Dame, begrüßte sie mit einem warmen Lächeln.

Moin moin, Frau Carstiens. Was für eine nette Überraschung. Sie waren schon eine ganze Weile nicht mehr hier. Läuft denn das Weihnachtgeschäft? So kurz vor Weihnachten dürften Ihnen die Touristen doch den Laden stürmen, oder?“

Insa lachte. „Sagen wir mal so: Ich kann mich nicht beschweren. Darf ich vorstellen? Mattes Oldeboom, ein … Bekannter von mir, der sich für außergewöhnliche Teemischungen interessiert. Sie haben doch nichts dagegen, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Gehen Sie schon mal vor, Sie wissen ja, wo es langgeht. Ich hole nur schnell den Schlüssel vom Schuppen, dann komme ich nach.“

„Ja, sicher.“ Insa nickte Mattes zu. „Kommen Sie.“

Der Schuppen, von dem Frau Hoferland gesprochen hatte, befand sich auf der Rückseite des Hauses. Es handelte sich dabei um eine umgebaute ehemalige Scheune, deren Giebel jetzt in der Vorweihnachtszeit mit Lichterketten und Girlanden aus Tannengrün geschmückt war.

„Was wollen wir hier?“, fragte Mattes und runzelte die Stirn. „Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll: Ich habe meine Zeit nicht gestohlen.“

„Kein Scherz. Und dürfte ich Sie daran erinnern, dass Sie darauf bestanden haben, mich zu begleiten?“

„Ja, schon, aber …“

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Frau Hoferland trat zu ihnen und benutzte einen großen Bartschlüssel, um die Tür zum Schuppen aufzusperren.

„Immer hereinspaziert“, sagte sie und stieß zuerst den einen, dann den anderen Flügel auf, sodass Licht ins Innere des Gebäudes fallen konnte.

„Das ist ja …“

Insa unterdrückte ein Lachen, als sie sah, wie Mattes sich ungläubig im Schuppen umblickte. Bei ihrem ersten Besuch hier war es ihr ganz ähnlich gegangen. Und selbst jetzt, wo sie wusste, was sie erwartete, fand sie den Anblick noch immer erstaunlich.

Die Wände des Schuppens waren komplett mit Regalen ausgekleidet, die sich wiederum fast bogen unter der Last von unzähligen Teedosen und großen Glasbehältern mit losen Teeblättern. Und der Duft … Es roch nach Ferne, nach Sehnsucht, nach der großen weiten Welt.

Es gab für Insa keinen anderen Geruch, der sich damit vergleichen ließ, würzig, blumig und fruchtig zugleich. Bei Frau Hoferland konnte man fast alles bekommen, und was sie gerade nicht auf Lager hatte, besorgte sie innerhalb kürzester Zeit. Außerdem gab es sämtliches Zubehör, das man sich nur vorstellen konnte, denn Frau Hoferland betrieb neben dem Lagerverkauf noch einen Onlineshop, der laut eigener Aussage hervorragend lief. Was Insa nicht verwunderte, denn die Qualität des Tees, den die ältere Dame von überallher auf der Welt bezog, war wirklich einmalig.

„Das ist …“

„Erstaunlich, oder?“ Jetzt gestattete Insa sich ein leises Lachen, als sie zwischen den Regalen entlangging und nach den Sorten Ausschau hielt, die sie für das Kluntje un Rohm benötigte – und natürlich auch für die Oostfreeske Wintertied. Nicht zuletzt deswegen waren sie schließlich hier.

„Ja, tatsächlich“, entgegnete Mattes und trat zu ihr, so nah, dass sie das Gefühl hatte, seine Körperwärme durch den dicken Stoff ihres Parkas spüren zu können.

Sie schluckte und kämpfte gegen den Drang an, sich umzudrehen und zu ihm aufzublicken.

Keine gute Idee. Gar keine gute Idee.

Sie holte tief Luft, nahm eine der Teedosen aus dem Regal, öffnete sie und roch daran. „Rooibos“, sagte sie schwärmerisch. „Fruchtig-süß, verschnitten mit Waldbeeren, die dem Ganzen eine zusätzliche herbe Frische verleihen.“ Sie reichte die Dose an ihn weiter, ohne ihn dabei anzusehen. „Hier, riechen Sie mal.“

„Sie kommen zurecht?“, fragte Frau Hoferland. „Ich habe nämlich ein Blech Plätzchen im Ofen und …“

„Gehen Sie ruhig“, versicherte ihr Insa. „Wir schauen uns noch ein bisschen um, wenn Sie nichts dagegen haben. Alles andere können wir erledigen, wenn Sie Ihre Plätzchen vor dem Verbrennen gerettet haben.“

„Vielen Dank“, rief die alte Dame erleichtert. „Sie sind ein echter Goldschatz!“

Im Hinausgehen schaltete sie das Radio, das an einem Haken an der Wand neben der Tür hing, ein. Bei der Weihnachtsmelodie, die aus dem Lautsprecher drang, musste Insa ein Schmunzeln unterdrücken. Sie konnte sich schon denken, wie Mattes die musikalische Untermalung gefiel.

Er ließ sich jedoch nichts anmerken und sah sich weiter in aller Seelenruhe um.

„Ich hätte ehrlich nicht damit gerechnet, dass sich hier in Greetsiel ein solches kleines Juwel von einem Teehandel befindet. Wie haben Sie den bloß entdeckt?“

„Durch meine Großtante“, erklärte Insa. „Mareen kennt hier wirklich alles und jeden. Mit Frau Hoferland spielt sie beispielsweise jeden Sonntag Rommé. Außerdem hat Mareen das Teehaus bereits vor mir geführt und von daher beste Kontakte.“

„Wie praktisch.“

„Ja, nicht wahr? Und was ist mit Ihnen? Wieso sind Sie zum selbsternannten Tee-Experten geworden?“

„Wie kommen Sie darauf, dass der Titel selbsternannt ist?“ Er lächelte, und sie bemerkte, dass sich dabei auf seiner linken Wange ein Grübchen bildete.

„Weil ich mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen kann, dass sich irgendjemand mit dem reinen Wissen über Tee seine Brötchen verdienen kann. Eine gewisse praktische Verwendung wird es daher schon haben. Also? Was machen Sie so, wenn Sie nicht gerade arglosen Teehausbesitzerinnen auf die Nerven fallen?“

„Ich falle Ihnen also auf die Nerven, soso. Ich kann nicht behaupten, dass ich das häufig von den Frauen zu hören bekomme, denen ich meine Aufmerksamkeit schenke.“

Sie schnaubte. „Denen Sie Ihre Aufmerksamkeit schenken? Vermutlich, weil sie befürchten, Ihr empfindsames männliches Ego könnte sonst Schaden nehmen. Allein mit Ihrem gutem Aussehen könnten Sie bei mir jedenfalls nicht punkten.“

„Oh, Sie finden also, dass ich gut aussehe?“

Insa spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „So habe ich das nicht gemeint.“

Gleichmütig zuckte er die Achseln. „Gesagt haben Sie es aber trotzdem.“ Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: „Ein Freud’scher Versprecher möglicherweise?“

„Das hätten Sie wohl gern.“

Zum Glück kehrte Frau Hoferland zurück, bevor sie sich noch weiter um Kopf und Kragen reden konnte. Und die ältere Dame brachte auch noch einen Teller mit Plätzchen mit. Sehr gut, dachte Insa. Mit vollem Mund konnte sie sich wenigstens nicht noch mehr lächerlich machen, als sie es ohnehin schon getan hatte.

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Lilli Wiemers
<p>Früher zog es Lilli Wiemers stets in die weite Welt hinaus. Kein Reiseziel war zu weit, kein Flug zu anstrengend. Erst durch ihren Ehemann hat sie erkannt, wie viel Wahrheit in dem alten Sprichwort steckt: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Heute erforscht sie gemeinsam...
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