Romantische Nachtschicht im Hospital

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NUR FÜR DIESE EINE NACHT ... von LYNNE MARSHALL
Eine romantische Fahrt im Riesenrad, ein intimes Luxusdinner: Ohne an morgen zu denken, genießt Grace die Nacht mit dem Fremden. Schließlich glaubt sie, ihn nie wiederzusehen. Doch schon am nächsten Tag stockt ihr Herz, als sie ihren neuen Kollegen in der Klinik trifft ...

IM ZAUBER EINER NACHT von EMILY FORBES
Nur ein glücklicher Traum? Nach einer zärtlichen Liebesnacht mit dem berühmten Schönheitschirurgen Ben McMahon fühlt Maggie sich wie verzaubert. Doch dann muss sie Ben ein Geständnis machen. Und so plötzlich, wie er in ihr Leben kam, droht er es wieder zu verlassen ...

IN DER HITZE EINER SOMMERNACHT von LESLIE KELLY
"Hallo Lauren." Beim Klassentreffen hört Lauren eine erotische Männerstimme hinter sich und dreht sich schockiert um. Ihr sexy Ex Seth Crowder! Vor zehn Jahren verschwand er spurlos. Warum kehrt er ausgerechnet jetzt, an diesem heißen Sommerwochenende zurück?

NUR EINE NACHT MIT DR. ROBINSON? von DIANNE DRAKE
"Mein Leben ist gut so, wie es ist." Ben Robinson hat der Liebe abgeschworen. Daran ändert auch sein Urlaubsflirt mit der schönen Ärztin Shanna nichts! Bis sie ihn überraschend in seiner Klinik in Argentinien besucht und längst verloren geglaubte Gefühle in ihm weckt ...

IM RAUSCH VON 1001 NACHT von LOUISE ALLEN
Konstantinopel, 1817: Was für ein Abenteuer, allein in die Ferne zu reisen! Doch als Lady Morvall auf einem Basar von dem Engländer Andrew Fenton gerettet wird, ahnt sie: Das größte Abenteuer beginnt für sie erst jetzt. In den Armen ihres verwegenen Beschützers, der um die sinnlichen Geheimnisse des Orients weiß ...


  • Erscheinungstag 16.06.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514620
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lynne Marshall, Emily Forbes, Leslie Kelly, Dianne Drake, Louise Allen

Romantische Nachtschicht im Hospital

IMPRESSUM

Nur für diese eine Nacht ... erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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© 2014 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „200 Harley Street: American Surgeon in London“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 77 - 2015 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Michaela Rabe

Umschlagsmotive: Motortion/GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733729578

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Grace Turner sah sich in der perfekt eingerichteten Gästewohnung um – cremefarbene Wände, eine beige Couch mit passendem Klubsessel, auf der ein halbes Dutzend bunte Kissen thronten, ein roter Sessel direkt gegenüber und weiße Lilien in einer Glasvase auf dem Kaffeetischchen. Es gab sogar einen kleinen Sekretär aus Kirschholz mit einem Internetanschluss. Ihr Laptop passte perfekt auf die Schreibfläche.

Es fehlte an nichts, und sie war der Hunter Clinic sehr dankbar für den Komfort dieser zweiten Heimat. Außerdem waren es von hier nur zehn Minuten zu Fuß bis zur Harley Street Nummer 200, ihrer neuen Arbeitsstätte.

Sie betrachtete das geräumige Schlafzimmer mit dem extragroßen Bett. Hier wird demnächst nicht viel passieren. Ein Einzelbett hätte auch gereicht. Obwohl das Apartment ebenso luxuriös wie geschmackvoll war, wurde es Grace plötzlich zu eng. Sie musste hier raus. Und zwar sofort.

Um die Ecke gab es eine kleine, verkehrsberuhigte Straße mit hübschen Boutiquen und Restaurants. Aber irgendwie hatte sie die Nase voll vom Alleinsein. Und warum sollte sie neue Kleider kaufen, wenn es niemanden gab, für den sie sie tragen konnte?

Sie ging im Wohnzimmer auf und ab, bis ihr Blick auf die Einladung auf dem Kaminsims fiel. Grace war erst gestern aus den Staaten eingetroffen, und dies war ein Duplikat des Briefs, den sie schon vor ein paar Monaten bekommen hatte. Um ehrlich zu sein, hatte sie völlig vergessen, dass heute Abend ein Charity Event im London Eye, einer der größten Sehenswürdigkeiten der Stadt, stattfinden sollte. Leo Hunter, der Mann, der sie persönlich für seine Klinik engagiert hatte, würde auch da sein. Prima – sie würde ihren Boss einen Tag vor Arbeitsbeginn kennenlernen und außerdem bestimmt einen vergnügten Abend erleben. Das perfekte Gegenmittel zu ihrem Anflug von Lagerkoller.

Grace ging in die chromblitzende Küche und setzte Wasser für Tee auf. Obwohl sie müde war, war sie viel zu unruhig zum Schlafen. Sie brauchte jetzt etwas, um die aufkommende Müdigkeit nach dem langen Flug zu bekämpfen. Danach ging sie ins Schlafzimmer, um nach dem passenden Outfit für den Abend zu suchen.

Es war schwierig für sie, modische Kleidung zu finden, die ihre Narben verhüllte. Grace durchwühlte ihre beiden Koffer nach Tops, Kleidern oder Hosen, die für den Event in Frage kommen würden. Demnächst würde sie alles sauber und ordentlich in die Schubladen packen. Doch endlich fand sie, wonach sie gesucht hatte, nämlich ihren schwarzen Spitzenbody, der einen kleinen Rollkragen und lange Ärmel hatte, die ihre Handgelenke bedeckten. Er würde perfekt unter ihr ärmelloses kleines Schwarzes passen, das ihre Knie knapp bedeckte und die Blicke auf ihren größten Trumpf lenken würde – ihre Beine.

Es war zwar schon Mai, aber in London würde sich niemand wundern, wenn sie sich warm einpackte. Denn der Abend war zwar klar, aber auch kühl. Der Body war die perfekte Lösung für ihr Problem, zumal er sehr sexy war. Es gab kaum etwas Besseres, um die Narben zu verhüllen, als schwarze Spitze.

Eine Stunde später verließ sie – sorgfältig geschminkt, mit einer funkelnden Spange im Haar und der Einladung in der Hand – das Apartment.

Plötzlich fühlte Grace sich wieder wie ein Kind. Sie stieg nahe der Westminster Bridge aus dem Taxi, und ihr Blick fiel auf das London Eye, das hell erleuchtete berühmte Riesenrad. Der Taxifahrer zeigte ihr den Weg zum Eingang, und sie betrat voller Vorfreude den Eingangsbereich. Der große Raum war bereits voll festlich gekleideter Menschen aller Altersstufen, die sich angeregt unterhielten, tranken und kleine Köstlichkeiten von den silbernen Tabletts aßen, die ihnen von Kellnern im Smoking gereicht wurden.

Obwohl sie in Scottsdale, Arizona, zum Establishment gehörte, ließen sich die dortigen Feierlichkeiten nicht mit einem so opulenten Event vergleichen. Sie aß ein Lachsbrötchen, nippte an einem Glas Champagner und sah sich nach einem vertrauten Gesicht um. Aber der Einzige, den sie hätte kennen können, und das auch nur aus einem Fernsehinterview über weltberühmte Kliniken für plastische Chirurgie, war Leo Hunter.

Nachdem sie eine halbe Stunde lang in der Menge verbracht hatte, ohne ihn gesehen zu haben, fiel ihr ein besonders modisch gekleidetes Paar auf, das eine der Gondeln bestieg.

Vielleicht würde sie ihren Boss heute ja gar nicht treffen, doch sie konnte wenigstens die Gelegenheit nutzen, um die Sehenswürdigkeiten Londons von oben zu betrachten. Auf einer kleinen Tafel waren alle Fakten über das spektakuläre Riesenrad aufgelistet, und sie las, dass sie mehr als sechshundert Meter über dem Boden schweben würde.

Obwohl sie keine Höhenangst hatte, kannte sie doch die Furcht vor dem Absturz. Skeptisch betrachtete sie die Gondeln aus Stahl und Glas, die allerdings einen ziemlich stabilen Eindruck machten. Wenn sie nicht direkt am Fenster saß, würde es bestimmt gehen. Daher gab sie sich einen Ruck und betrat mit einer Gruppe Gäste die Rampe vor der nächsten Gondel.

Ein Mann stand bereits darin und stieg auch nicht aus, als sich die Gondeltüren öffneten.

Ihm gegenüber unterhielten sich zwei ältere Ehepaare leise miteinander. Grace nickte ihnen lächelnd zu. Doch obwohl sie ihren Gruß freundlich erwiderten, blieben sie auf Distanz. Einen Moment lang überlegte Grace, ob sie aus Sicherheitsgründen auf der Holzbank in der Mitte der Gondel Platz nehmen sollte, entschloss sich aber dann dagegen.

Der Mann auf der anderen Seite, der die Fahrt offensichtlich zum zweiten Mal machen wollte, blickte aus dem Fenster nach draußen und hatte ihr den Rücken zugewandt. Er trug ebenfalls ein Smokingjackett, hatte breite Schultern und dunkles Haar, das sich im Nacken lockte. Grace schätzte, dass er im selben Alter war wie sie. Er schien in Gedanken verloren zu sein. Obwohl sie ihn nicht stören wollte, machte sie einen zögernden Schritt auf ihn zu. Jetzt konnte sie sein Profil sehen.

Es war beeindruckend – mit hoher Stirn, ausgeprägten Augenbrauen und einer Nase, die bis auf die leichte Krümmung auf dem Nasenrücken fast perfekt war. Aus Sicht einer Schönheitschirurgin hatte er geradezu Modelmaße, bis hin zu den wohlgeformten Ohren.

Grace gehörte nicht zu der Sorte von Frauen, die beim Anblick eines attraktiven Mannes ohnmächtig wurden. Aber bei diesem Prachtexemplar bekam sie plötzlich eine Gänsehaut. Sie spürte ein leichtes Prickeln auf der Haut, und tief in ihr erwachte etwas zum Leben, das sie schon lange vergessen hatte.

Sie holte tief Atem und versuchte, sich zu beruhigen. Inzwischen war die Gondel bereits recht hoch gestiegen, und sie merkte, dass ihre Knie weich wurden. Sie warf dem Mann einen zweiten verstohlenen Seitenblick zu und griff nach dem Geländer, um sich daran festzuhalten.

Irgendetwas fesselte sie an ihm, über sein gutes Aussehen hinaus. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er in Gedanken weit weg zu sein schien. Worüber mochte er wohl brüten? Gegen ihren Willen konnte sie nicht aufhören, ihn anzustarren.

Eins stand fest – er wirkte alles andere als glücklich. Vielleicht war es ja das, was sie an ihm so berührte und ihn zu einem Menschen machte, dem sie sich nahe fühlte.

„Hallo“, sagte sie und war selbst überrascht, einen völlig Fremden angesprochen zu haben. Aber zum Teufel – wenn sie in der nächsten halben Stunde schon hoch über der Themse schweben würde, warum sollte sie dann nicht wenigstens mit dem attraktivsten Mann sprechen, den sie seit Jahren gesehen hatte? Und wer könnte schon mit Sicherheit sagen, dass diese Gondelfahrt glimpflich verlaufen würde? Auch wenn Millionen von Besuchern die Fahrt bereits heil überstanden hatten, konnten dies sehr wohl die letzten dreißig Minuten ihres Lebens sein.

Wäre es nicht wunderbar, dann in diese Augen zu sehen?

Bei diesem Gedanken musste sie selbst lächeln. Eigentlich war sie von Hause aus keine Drama Queen. Anscheinend hatte die brütende Nachdenklichkeit, die der Fremde ausstrahlte, auf sie abgefärbt.

Eigentlich war dies der letzte Ort, an dem Mitch Cooper heute sein wollte. Aber Leo hatte ihn gebeten, ihn an diesem Abend zu vertreten, weil Lizzie und er mit einem Reiseveranstalter über ihre bevorstehenden Flitterwochen in Paris sprechen mussten. Offensichtlich war der Mann so ausgebucht, dass dafür nur ein Termin am Sonntagabend in Frage gekommen war.

Das Galadinner im London Eye war längst geplant gewesen, als Leo sich endlich ein Herz gefasst und Lizzie, die Pflegedienstleiterin der Hunter Clinic, einen Antrag gemacht hatte. Obwohl ihre Flitterwochen erst im Sommer sein würden, hatte Mitch gut verstanden, dass sein Boss hin und wieder einen freien Abend brauchte.

Viel lieber wäre er allerdings zu Hause geblieben, um Mia, seiner kleinen Tochter, etwas vorzulesen. Zwar passte Roberta auf sie auf, aber kein Kindermädchen konnte die Liebe eines Vaters ersetzen – oder die einer Mutter.

Außerdem fürchtete Mitch, dass dies nicht der letzte Abend dieser Art sein würde. Leo hatte nämlich all seine Mitarbeiter gebeten, hin und wieder bei den Charity Events zugegen zu sein, die die Hunter Clinic veranstaltete. Als verheirateter Mann musste er natürlich auch Zeit zu Hause mit seiner Frau verbringen, und da Mitch ein guter Teamplayer war, hatte er sich erboten, für ihn einzuspringen.

Denn schließlich lebten sie alle von der Klinik mit ihren reichen Spendern, die viel Geld für Notleidende ausgaben, und von den Patienten mit ihrem nicht enden wollenden Bedarf an Schönheitsoperationen. Wenn er sich in London ein neues Leben aufbauen und seiner Tochter alle Möglichkeiten offenhalten wollte, war das ein geringer Preis dafür.

Heute Abend hatte er so viele Gäste begrüßt, wie er nur konnte. Er hatte überall die Runde gemacht und seine Pflicht mehr als erfüllt. Deshalb wollte er sich auch noch eine Runde mit dem Riesenrad gönnen, bevor er nach Hause fuhr. Irgendwann würde er Mia hierher mitbringen. Das würde ihr ganz bestimmt gefallen.

Mitch liebte London, besonders am Abend. Das hing auch mit Hollywood und den düsteren Erinnerungen zusammen, die er an die Stadt hatte.

Dann sprach ihn plötzlich jemand an – eine Frau. Er wurde aus seinen negativen Gedanken gerissen, die in so ruhigen Momenten wie diesem immer unwillkürlich zu seiner Exfrau und seinem besten Freund zurückdrifteten.

„Hallo“, antwortete er mechanisch und sah weiterhin starr geradeaus. „Amüsieren Sie sich gut?“ Doch dann fiel ihm wieder ein, warum er überhaupt hier war. Er hatte schließlich ein Pflichtprogramm zu erfüllen. Deshalb wandte er sich zu der Person neben ihm um.

Die Zeit schien stillzustehen, als er eine unglaublich schöne Frau erblickte. Sie hatte große, helle Augen, die durch den schwarzen Eyeliner noch intensiver wirkten. Das Gesicht war umrahmt von dunklen Locken. Sie blickte ihn erwartungsvoll an. Da er sie nie zuvor gesehen hatte – denn daran hätte er sich bestimmt erinnert –, nahm er an, dass sie zu den reichen Spendern der Klinik gehörte.

Sie sah nicht so aus, als ob sie schon operiert worden wäre oder Botox nehmen würde. Beim Lächeln erschienen kleine Fältchen um ihre Augen und den Mund, was sie sehr natürlich wirken ließ. Sie hatte hohe Wangenknochen und perfekt geformte Lippen, die durch den pinkfarbenen Lippenstift noch einladender wirkten. Bei ihrem Anblick verschwanden seine düsteren Gedanken sofort, und er fühlte sich plötzlich sehr angeregt.

Wie war es nur möglich, dass er sich von einer schönen Frau derart angesprochen fühlte? War er so oberflächlich? Wahrscheinlich, denn sonst hätte er bestimmt nicht seine Exfrau geheiratet. Hatte er seine Lektion denn immer noch nicht gelernt?

„Sind Sie zum ersten Mal auf dem London Eye?“

Sie nickte. „Ich bin neu in der Stadt.“

Wahrscheinlich war sie gekommen, um sich in der Klinik operieren zu lassen. Eine andere Erklärung gab es nicht, denn heute waren nur geladene Gäste anwesend. All die schönen Frauen, mit denen Mitch je zusammen gewesen war, hatten die kosmetischen Korrekturen als ihr kleines Geheimnis bewahrt. Er hoffte nur, dass sie nicht vorhatte, ihre Lippen verändern zu lassen. Sie waren geradezu klassisch, mit dem Amorbogen der Oberlippe und der vollen Unterlippe. Größer war nicht immer gleich besser, und seiner Meinung nach wirkten Lippenkorrekturen selten natürlich. Nicht einmal unter seinen erfahrenen Händen.

„Wenn Sie hier ganz neu sind, sollte ich Ihnen wohl ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen, oder?“

Ihr Lächeln vertiefte sich. „Auf jeden Fall. Übrigens – Sie sind auch Amerikaner, oder?“

Er nickte. „Ja, ich komme ursprünglich aus Kalifornien. Und Sie?“

„Aus Arizona.“

Gab es in Scottsdale nicht eine Schönheitsklinik, die weit über die Landesgrenzen bekannt war? Andererseits war es eine Kleinstadt, und vielleicht wollte sie nicht, dass bekannt wurde, dass sie sich einer Operation unterziehen wollte. Möglicherweise hatte sie ihren Freunden und Bekannten erzählt, dass sie Urlaub machen wollte. Wenn sie dann zurückkam, würde niemand sich wundern, wie frisch und erholt sie aussah. War das denkbar? Aber letztlich war es ja auch egal. Vielleicht sollte er aufhören, von Frauen immer nur das Schlechteste anzunehmen.

Stattdessen sollte er diesen Moment genießen und die Gegenwart von … ja, wie hieß sie denn eigentlich?

„Ich bin übrigens Mitchell, und Sie?“

„Grace. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Natürlich hieß sie Grace. Ein anderer Name kam für sie gar nicht in Frage.

„Also, Grace, dort hinten, die Themse hinunter, sehen Sie Big Ben. Und dieses Haus mit der gothischen Fassade ist das berühmte Parlamentsgebäude, die Houses of Parliament.“

Sie folgte seinem Finger, lächelte und nickte. Es gefiel ihm, dass sie ein bisschen näher getreten war. Jetzt stieg ihm ihr frischer, blumiger Duft in die Nase. Sie trug ein ziemlich sexy Kleid mit einem U-Boot-Ausschnitt. Doch anstatt aller Welt ihre körperlichen Vorzüge zu präsentieren, waren ihre Arme mit schwarzer Spitze bedeckt, was Mitch viel anziehender fand. Es ließ sich nicht leugnen, sie besaß Klasse. Diese vornehme Zurückhaltung machte ihn noch neugieriger darauf, was unter der Oberfläche verborgen lag. Kein Zweifel, er musste seinen Hut vor der schönen Grace aus Arizona ziehen.

Er räusperte sich. „Ach, und dort drüben ist die Westminster Abbey. Schauen Sie mal. Noch ein bisschen tiefer. Ja, da.“

Sie beugte sich vorsichtig nach vorn und zog ein Gesicht, als sie nach unten blickte.

„Haben Sie Höhenangst?“

„Nein. Nur Angst zu fallen.“

„Ich verspreche Ihnen, ich werde die Gondel nicht schaukeln. Bei mir sind Sie sicher. Aber warten Sie, ich kann Ihnen noch sehr viel mehr zeigen.“

Grace war beeindruckt von seiner Ortskenntnis. Ob er den Beruf wechseln sollte? Aber möglicherweise war sie auch nur leicht zufriedenzustellen.

„Im Dunkeln sieht alles so viel schöner aus, finden Sie nicht auch?“, fragte sie mit ihrer leicht rauen Stimme, die Mitch durch und durch ging.

Die Lichter der Stadt spiegelten sich in den Fenstern der Gondel und ließen ihr Gesicht von innen erstrahlen. Er nickte, denn er war durchaus ihrer Meinung. Ja, im Dunkeln sah alles noch viel schöner aus – und das galt auch für sie.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie mit Small Talk. Sie waren einfach nur zwei Amerikaner, die sich in London amüsierten. Das war viel besser als alles, woran Mitch gedacht hatte, bevor Grace ihn angesprochen hatte.

Wenn er seinen Charme spielen ließ, lachte sie bereitwillig, und das gefiel ihm. Es erweckte in ihm den Wunsch, die Unterhaltung fortzuführen. Außerdem mochte er, dass sie in ihren modischen High Heels fast so groß war wie er. Denn das gab ihm die Möglichkeit, in ihre funkelnden blauen Augen zu schauen.

Als sie sich dann wieder dem Boden näherten, merkte Mitch, wie lebendig er sich plötzlich fühlte. Und er hatte eine verrückte Idee. Eigentlich wollte er sich noch nicht von dieser faszinierenden Frau verabschieden. Warum lud er sie nicht irgendwohin zum Essen ein?

Doch was Frauen anging, war er total aus der Übung. Er hatte keine Ahnung, was ihr gefallen würde. Was würde Mia denn jetzt gern tun? „Sind Sie auch ein Swinger?“

Grace sah ihn schockiert an, und Mitch erkannte sofort seinen Fehler. Er hatte natürlich nicht auf den freien Sex anspielen wollen, der mit dem Wort verbunden war.

„Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gemeint. Ich wollte Sie fragen, ob Sie gern schaukeln.“

Sie lachte erleichtert. „Oh, verstehe. Naja, um ehrlich zu sein, habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr geschaukelt.“

In diesem Moment öffneten sich die Türen der Gondel. Die beiden älteren Ehepaare traten hinaus. Mitch nahm Graces Arm. „Ich kenne einen Spielplatz ganz in der Nähe – natürlich nur, wenn Sie möchten. Zu Fuß ist es nicht weit. Und vielleicht könnten wir danach noch etwas trinken?“ Hastig ließ er ihren Arm los, denn er wollte sie nicht bedrängen. Erwartungsvoll sah er in ihre blauen Augen. „Was sagen Sie dazu?“

Eigentlich rechnete er mit einem Nein. Aber das war ihm egal. Er wusste genau, dass er noch mehr Zeit mit dieser Frau verbringen wollte.

Doch was mochte sie von ihm denken? Schließlich kannte sie ihn ja gar nicht. Vielleicht hielt sie ihn ja für einen Serienkiller. Er hingegen hatte von Anfang an gewusst, dass sie eine Spenderin der Hunter Clinic war.

„Um ehrlich zu sein, leide ich noch ein bisschen unter Jetlag. Jedenfalls bin ich noch nicht müde. Also gut. Warum nicht?“

Mitch war mehr als glücklich über ihren Entschluss, ihm zu vertrauen.

Der Mann namens Mitchell holte ihnen noch zwei Gläser Champagner und führte Grace dann aus dem Eingangsbereich. Eigentlich war sie ganz froh darüber, dass sie seinen Nachnamen nicht kannte. Denn wenn sie ihren neuen Job antrat, würde sie sowieso keine Zeit mehr haben, irgendwelche Fremden kennenzulernen.

Sie ließen das Riesenrad hinter sich und wandten sich nach links. Auf dem Weg kamen sie an ein paar Straßenkünstlern vorbei. Grace sah auf ihre Uhr – es war kurz vor zehn.

Die Künstler stellten lebende Bilder dar. Einer war von Kopf bis Fuß silbern angestrichen und stand stockstill auf einer kleinen Kiste. Er hatte eine Glatze, trug einen Anzug und las ein Buch. Neben ihm stand ein Mann in Bronze, mit einem weichen Filzhut und einem Trenchcoat. Er wirkte wie jemand aus den vierziger oder fünfziger Jahren.

„Was machen die beiden eigentlich, wenn ihre Nase juckt?“, fragte Grace. Sie nippte an ihrem Glas und bewunderte die lebenden Kunstwerke.

Mitch lachte. „Mal sehen.“ Er trat nach vorn und legte einen Schein in die Büchse mit dem Kleingeld. „Was machen Sie, wenn Ihre Nase juckt?“, fragte er den bronzefarbenen Mann.

Der Straßenkünstler fing an, sich ganz langsam zu rühren. Zuerst bewegten sich seine Augen, dann rümpfte er die Nase. Er streckte wie ein Roboter den Arm aus und rieb sich damit den linken Nasenflügel. Danach zog er den Arm mechanisch wieder zurück und erstarrte in seiner ursprünglichen Pose.

Grace applaudierte begeistert. „Fantastisch!“

Mitch war ihr einen merkwürdigen Blick zu, nahm wieder ihren Arm und führte sie weiter, bis sie zu einem großen Spielplatz kamen, der von einem hohen Zaun umgeben war.

„Dies ist mein Lieblingsspielplatz“, erklärte er ihr.

Komisch war das schon – warum hatte er einen Lieblingsspielplatz? War er verheiratet und hatte Kinder? Sie verlangsamte ihren Schritt, und er bemerkte ihr Zögern sofort.

„Wahrscheinlich bin ich nie richtig erwachsen geworden“, meinte er.

Interessant. Ja, bestimmt hatte er ein Kind. Ob er ein alleinerziehender Vater war? Hoffentlich.

Aber heute Abend ging es ja gar nicht darum, irgendjemanden neu kennenzulernen und alles über ihn zu erfahren. Heute Abend wollte Grace ein Abenteuer mit einem völlig Fremden erleben, der zudem noch sehr attraktiv war. Je weniger sie über ihn wusste, desto besser. Dennoch beschloss sie, für alle Fälle auf der Hut zu sein, und merkte sich den Weg genau, den sie bisher genommen hatten.

Mitch ging mit ihr zum Eingang des Jubilee Playgrounds. Dort hing ein großes grünes Schild am Zaun.

„Spielplatz für junge Abenteurer“, las er laut vor und zwinkerte ihr zu. „Das sind natürlich wir.“

Grace betrachtete zweifelnd den Zaun und das geschlossene Gatter. Sie fragte sich, wie sie wohl hineinkommen sollten. Doch im nächsten Moment wurde sie schon von zwei starken Händen bei der Taille gepackt und hochgehoben. „Sie zuerst? Oder ich?“

Sie holte tief Luft. „Lassen Sie mich erst einmal meine Schuhe ausziehen.“

Er ließ sie herunter und führte sie ein paar Schritte weiter zu einer Böschung, wo der Zaun viel niedriger war. Dann kletterte er auf den Zementvorsprung und reichte ihr die Hand. Grace ließ ihre Schuhe ins Gras fallen und ließ sich von ihm hochziehen. Zur Hölle mit dem engen Kleid! Und wie gut, dass sie den Body trug!

Seine Augen funkelten, er sah sie herausfordernd an, als er über den Zaun kletterte und auf die andere Seite sprang. Aber wie, zum Teufel, sollte sie da wieder herunterkommen? Mitch erkannte offensichtlich seinen Fehler, denn er kam zurück. Dann machte er für sie eine Räuberleiter. Mit seiner Hilfe gelang es Grace, ebenfalls den Zaun zu überwinden.

Es war ein richtiger Abenteuerspielplatz, mit vielen Klettergeräten aus massivem Holz. Mitch schien nicht zum ersten Mal hier zu sein, denn er marschierte schnurstracks zu einer der Schaukeln. Er half ihr darauf und gab ihr einen kräftigen Schubs.

Bestimmt war er Vater. Aber auch Ehemann? Hoffentlich nicht, dachte Grace.

Sie ließ sich von der Schaukel in den Nachthimmel tragen und fühlte sich wieder wie ein Kind. Mitch ließ sich auf der anderen Schaukel nieder und tat es ihr nach.

„Das ist fantastisch“, japste sie schließlich und rang nach Luft. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das zuletzt gemacht habe.“

„Dann wurde es wohl höchste Zeit! Also, ich muss schon sagen – für jemand, der Angst hat zu fallen, schaukeln Sie ganz schön hoch.“

„Nur deshalb, weil ich alles unter Kontrolle habe.“

„Verstehe. Sie sind also eine Frau, die alles unter Kontrolle haben möchte. Wie erfrischend!“

Grace verstand genau, was er damit über dominierende Frauen sagen wollte. Sie lachte. „Vorsicht, Freundchen!“ Damit sprang sie mitten im Schwung von der Schaukel. Es war ziemlich riskant. Sie kam sich mehr wie ein Mädchen vor, das einem älteren Jungen imponieren wollte, als wie eine zweiunddreißigjährige Schönheitschirurgin.

Er applaudierte und stoppte seine Schaukel auf die altmodische Art mit den Füßen. „Wie wär’s jetzt mit der Rutsche?“

Sie lachte abrupt. „In diesem Kleid?“

„Immerhin sind Sie darin schon über den Zaun geklettert und aus der Schaukel gesprungen, oder?“

„Stimmt“, erwiderte Grace und wischte sich den Staub von den Händen. „Aber ich will mein Kleid wirklich nicht auf einer Wippe ruinieren.“ Sie ignorierte seinen Blick. „Wahrscheinlich haben Sie Ihren Smoking nur gemietet. Deshalb ist es Ihnen auch egal, was damit passiert.“

„Gut, wie sieht’s dann mit dem Klettergerüst aus?“

„Wer ist da?“, erklang plötzlich eine barsche Männerstimme von jenseits des Zauns. Im nächsten Moment wurden sie vom Strahl einer starken Taschenlampe erfasst. Am liebsten hätte Grace sich hinter einem Pfahl versteckt. „Das Betreten des Spielplatzes ist verboten.“

„Wir wollten eigentlich auch gerade gehen“, erklärte Mitch. Er streckte die Hand nach Grace aus, die sie ergriff. Ihr Herz klopfte bis zum Halse – nach dem Schaukeln und auch, weil man sie erwischt hatte.

„Das habe ich jetzt davon“, sagte sie zu Mitch in dem Versuch, die Situation zu entschärfen. „Ich lasse mich von einem Fremden zu einem Abenteuer verleiten. Wahrscheinlich lande ich als Nächstes im Gefängnis. Und dabei bin ich noch nicht einmal einen Tag in London!“

Dem Sicherheitsbeamten fiel auf, dass sie ein Abendkleid und Mitch einen Smoking trug. Verblüfft sah er sie an. „Sie sind ja nicht unbedingt passend angezogen für einen Spielplatz, oder?“

„Nein, mein Herr“, erwiderte Mitch mit gespieltem Ernst. „Um die Wahrheit zu sagen, wir sind Flüchtlinge aus der Gala, die die Hunter Clinic heute Abend im London Eye veranstaltet.“

Der finstere Gesichtsausdruck des Mannes hellte sich auf. „Meine Nichte ist dort behandelt worden, nachdem sie sich das Gesicht an einem Lagerfeuer verbrannt hatte. Ein großartiger Ort, diese Klinik in der Harley Street. Na gut, wenn Sie jetzt gehen, belasse ich es bei einer strengen Verwarnung.“

„Danke“, sagte Grace und marschierte direkt zum Eingang.

Der Mann sah ihnen verblüfft zu, als beide wieder über den Zaun kletterten. Mitch schüttelte ihm die Hand, und er wünschte ihnen eine gute Nacht. Dann gingen sie in verschiedene Richtungen davon.

„Ich bin am Verhungern“, erklärte Mitch und grinste Grace an. Er sah aus wie ein Junge, dem gerade ein Streich geglückt war.

Außer dem Lachsbrötchen hatte sie heute noch nichts zu sich genommen. „Um ehrlich zu sein, ich auch.“

„Ich kenne ein tolles Restaurant ganz in der Nähe. Können Sie in diesen Schuhen denn überhaupt laufen?“ Er wies auf die High Heels, die sie jetzt in der Hand trug.

„Na, ich habe es doch immerhin bis hierher geschafft, oder?“ Sie wischte sich den Staub vom Rock und dachte kurz daran, wie derangiert ihre Frisur wahrscheinlich war.

Er lächelte sie an, und seine weißen Zähne funkelten im Dunkeln. Irgendwie war es unfair, dass er so unverschämt gut aussah. „Bravo! Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet.“

Fünfzehn Minuten später saßen sie im dritten Stock der Royal Festival Hall in einem exklusiven Restaurant mit einem großartigen Blick auf die South Bank. Es war im Stil der fünfziger Jahre eingerichtet. Grace bestellte sich ein Glas Weißwein und Gnocchi, Mitch entschied sich für einen Cocktail und ein Steak.

Von Nahem gesehen fiel ihr auf, dass seine Augen eher grün als blau waren, eine richtige Meeresfarbe. Zu spät erkannte sie, dass sie ihn schon die ganze Zeit angestarrt hatte. Das war ihm bestimmt aufgefallen, und sie errötete.

„Für jemanden, der aus dem Sonnenstaat Arizona kommt, haben Sie ganz schön helle Haut“, bemerkte er.

„Nun ja, ich besitze Aktien von Sonnenschutzmittelherstellern“, erwiderte sie und freute sich darüber, dass ihm etwas an ihr aufgefallen war.

Es war leicht, ihn zum Lächeln zu bringen, und auch den Rest des Abends verbrachten sie mit kleinen Neckereien. Die Unterhaltung bewegte sich dabei an der Oberfläche, aber das war beiden recht. Fast war es, als hätten sie einen stillschweigenden Pakt abgeschlossen, nicht zu viel über den anderen erfahren zu wollen. Dennoch fiel ihr einiges an ihm auf. Er schien keine Zwiebeln zu mögen und sortierte sie sorgfältig aus seinem Salat aus. Sogar nach dem Ausflug auf den Spielplatz roch er noch immer frisch und betörend. Der Duft musste ihn ein Vermögen gekostet haben.

Das brachte sie wieder auf die bohrende Frage, ob er Familie hatte. Aber wenn das der Fall war – wer passte dann auf ihn auf, wenn er fremde Frauen auf Spielplätze entführte? Vielleicht war er ja einer der reichen Spender der Hunter Clinic und konnte es sich leisten, ein Doppelleben zu führen.

Grace entschied, dass sie aufhören sollte, über ihn nachzudenken, und einfach nur seine Gesellschaft genießen sollte. Denn nach heute Abend würde sie ihn ja ohnehin nicht mehr wiedersehen.

Ihre Gnocchi waren ausgesprochen köstlich, und sie zwang sich, langsam zu essen. Der Weißwein stimulierte sie. Sie musste zugeben, dass sie sich einen solchen ersten Abend in London nicht in ihren kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Innerlich bedankte sie sich bei Leo Hunter dafür, dass er sie zu dem Event eingeladen hatte.

Um halb eins hatten sie bereits alle anderen Gäste des Restaurants durchdiskutiert. Sie hatten versucht, sie einzuschätzen, darüber spekuliert, was sie wohl beruflich machten und wie ihre Beziehung zueinander sein mochte. Dem folgte der naheliegende Gedanke, was die anderen wohl über sie dachten.

„Vielleicht halten sie uns für zwei berühmte Ärzte, die die Welt retten wollen“, meinte Mitch und kam damit Graces realer Situation näher, als er wissen konnte.

„Oder für eine reiche amerikanische Schauspielerin und den Mann ihrer besten Freundin“, erwiderte sie prompt. Sie sah ihn erwartungsvoll an, hatte aber nicht mit seiner Reaktion gerechnet. Mitch erstarrte für eine Sekunde und wirkte plötzlich sehr verschlossen. Oh nein, sie war offensichtlich zu weit gegangen. Hatte sie etwa ins Schwarze getroffen?

Die nächsten paar Minuten verliefen schweigend. Er schien das Interesse an dem Spiel verloren zu haben.

Mitch trank sein Glas aus und sah auf die Uhr. „Es ist Zeit für mich, zu gehen.“

Offensichtlich war sie ihm zu nahe gekommen. Ohne es zu wollen, hatte sie den Abend ruiniert. „Ja“, erwiderte sie und nickte. Ihr war mit einem Mal unbehaglich zumute, zum ersten Mal, seit sie mit ihm zusammen war. „Das kann ich mir gut vorstellen.“ Bestimmt warteten zu Hause seine Frau und seine Kinder auf ihn.

„Ich bin geschieden, falls Sie sich das gefragt haben sollten“, sagte er kühl und griff nach seiner Brieftasche.

„Ich möchte für mein Essen selbst bezahlen, okay?“

Er sah sie stirnrunzelnd an, entspannte sich dann aber wieder. „Nein, das kommt gar nicht in Frage. Ich hätte Sie vorhin fast in Schwierigkeiten gebracht. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“

Sie betrachtete die riesige Laufmasche in ihren Strümpfen und nickte. „Stimmt. Und ich brauche eine neue Strumpfhose.“

„Tut mir leid. Möchten Sie vielleicht noch einen Drink?“

„Nein, danke.“ Sie richtete sich auf. „Das war es wert. Unser Abend hat mir sehr viel Spaß gemacht.“

„Ja, mir auch.“ Er winkte den Kellner heran. Wenig später kam die Rechnung, und er hinterließ ein großzügiges Trinkgeld. „Immerhin sind wir abenteuerlustige Ausreißer“, sagte er und streckte die Hand aus. „Wir müssen zusammenhalten.“

Und völlig Fremde, nicht zu vergessen.

Grace lächelte und ergriff seine Hand. Gemeinsam verließen sie das Restaurant und nahmen dann den Lift nach unten. Jetzt war die Stimmung etwas gedämpfter als vorher, obwohl Mitch immer wieder ihren Blick suchte. Sie dachte darüber nach, ob er sie wohl nach ihrer Telefonnummer fragen würde, aber das tat er nicht. Auf der Straße holte er ihr ein Taxi und hielt ihr die Tür auf.

„Hören Sie“, sagte er, nachdem Grace eingestiegen war. „Ich hatte einen tollen Abend. Sie sind eine wunderschöne Frau, und ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie Zeit mit mir verbracht haben.“ Er holte tief Luft, und Grace wartete schon auf das „aber“.

„Aber ich habe einen anstrengenden Job, und die wenige Freizeit, die ich habe … ich … also, kurz gesagt, ich habe keine Zeit, mich mit jemandem zu treffen.“ Er sah sie an, als ob er sie um ihr Verständnis bitten wollte. Grace erwiderte seinen Blick, blieb aber stumm. Wahrscheinlich war sie einfach nicht sein Typ, oder … oder er war doch gebunden und wusste nicht, wie er ihr das beibringen sollte. „Wenn ich an einem anderen Punkt wäre … wenn meine Situation eine andere wäre … äh, was ich sagen will, ist … es wäre Ihnen gegenüber einfach nicht fair.“

„Pssst“, erwiderte Grace. Sie hatte genug gehört.

Er hatte seinen Punkt klargemacht. Wahrscheinlich wohnte er mit einer Frau zusammen und hatte sich einmal einen Abend freigenommen. Das war alles. Er war ein Mann von Ehre, der keine Seitensprünge machte, sondern sich nur ab und zu die Zeit mit fremden Ladies vertrieb. Was hatte sie anderes erwartet?

Trotzdem war sie enttäuscht. Dabei ging es ihr ja nicht anders als ihm – sie hatte ebenfalls keine Zeit für eine Beziehung. Aus diesem Grund war sie schließlich nach London gekommen – sie würde als Schönheitschirurgin in der renommierten Hunter Clinic arbeiten und sich diesem Job aus ganzem Herzen und mit ganzer Seele widmen. Das bedeutete, dass sie in genau derselben Lage war wie Mitch.

An eine ausgewogene Balance zwischen Arbeit und Privatleben war gar nicht zu denken.

Sie ergriff seine Hand und drückte sie. „Tausend Dank für diese großartige Einführung in die Stadt. Immer wenn ich das London Eye sehe, werde ich an meinen Gondelmann denken.“

Er grinste, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Danke für Ihr Verständnis.“

Sie schlug die Augen nieder und nickte. „Ich verstehe Sie besser, als Sie sich vorstellen können.“

Er sah sie fragend an, und sie teilten einen kurzen Moment des Bedauerns miteinander. Dennoch war die Abmachung klar – es würde keine Wiederholung dieses Abends geben. Das Schweigen hielt an, bis der Taxifahrer sich ungeduldig räusperte.

Mitch schloss die Wagentür und reichte ihm ein paar Scheine. „Bitte, bringen Sie die Dame gut nach Hause.“

Der Wagen fuhr los, und Grace blickte noch einmal zurück. Auf dem Bürgersteig stand der ungewöhnlichste Mann, den sie je getroffen hatte. Er rührte sich nicht, hatte nur leicht den Kopf geneigt und sah ihr nach.

Wer er auch sein mochte – für sie würde er immer der Gondelmann bleiben. Einen kurzen Moment lang überlegte sie sogar, ob sie sich das Ganze nicht eingebildet hatte.

Aber dann fiel ihr Blick auf das Loch in ihrer Strumpfhose, und sie wusste, dass sie nicht geträumt hatte.

Den jungen Abenteurer, mit dem sie diesen fantastischen Abend erlebt hatte, gab es wirklich. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

Das Leben war voller Überraschungen. Doch nicht immer war das Timing perfekt. Denn ihre Realität sah ganz anders aus – sie stand allein in der Welt und hatte keinerlei Aussicht auf ein erfülltes Privatleben.

2. KAPITEL

Grace ging die vier Stufen hoch, die zum Eingang des klassizistischen weißen Hauses an der Harley Street führten. Rechts und links von der schwarzlackierten Doppeltür mit dem Messinggriff waren zwei kleine Fenster, vor denen Blumentöpfe standen. Eigentlich sah es recht schlicht aus, doch als sie die Tür öffnete, betrat sie einen unerwartet luxuriösen Warteraum. Grauschwarzer Marmorboden, weiße Ledersessel, ein Kronleuchter mit fuchsienfarbenen Kristallen, der über einem Glastischchen hing.

Eine junge attraktive blonde Frau hatte es sich in einem der Sessel bequem gemacht und blätterte entspannt in einem Modemagazin. Daneben saß eine rothaarige, etwa fünfzigjährige Frau, die offensichtlich gerade ein Lifting hinter sich hatte.

Grace ging direkt auf die Rezeption zu, hinter der ebenfalls eine etwas ältere, sehr gepflegte Dame stand. Sie trug ein Namensschildchen mit der Aufschrift „Helen, Empfangschefin“. Nachdem Grace ihr ihren Namen genannt und ihr den Grund ihres Kommens erklärt hatte, bat sie sie, kurz Platz zu nehmen. Doch kaum hatte Grace sich in einem der Sessel niedergelassen, wurde auch schon eine Tür geöffnet, und Leo Hunter höchstpersönlich kam in den Warteraum, um sie zu begrüßen.

Er war ein hochgewachsener Mann mit längerem schwarzem Haar, funkelnden blauen Augen und einem durchtrainierten Körper. Jede Frau würde sich auf der Straße nach ihm umdrehen, und so war es auch hier. Neugierig betrachteten ihn die beiden Patientinnen, doch er hatte nur Augen für Grace.

„Wie schön, Sie endlich kennenzulernen!“, sagte er warm und streckte ihr beide Hände entgegen.

„Danke. Ich freue mich auch sehr. Leider haben wir uns gestern Abend ja nicht getroffen. Trotzdem habe ich mich gut amüsiert.“

Er zögerte kurz. „Oh ja, die Gala, ich weiß. Freut mich, dass es Ihnen gefallen hat. Ich habe eine gute Entschuldigung – meine Frau und ich mussten uns wegen unserer Flitterwochen mit einem Reiseveranstalter treffen, und er scheint der vielbeschäftigste Mann in ganz London zu sein.“

„Oh, das klingt wunderbar! Herzlichen Glückwunsch!“

Sie schüttelten sich die Hand, dann führte er sie in sein Büro. Leo nahm hinter seinem großen Schreibtisch aus Walnussholz Platz und bedeutete ihr, sich zu setzen. „Es wird Ihnen hier bestimmt gefallen. Ich habe mich schon sehr auf Ihre Ankunft gefreut!“ Dann begann er, in ein paar Papieren zu blättern, die vor ihm lagen.

„Vielen Dank! Ich kann es selbst kaum erwarten, endlich mit der Arbeit zu beginnen.“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Man hat Sie mir sehr empfohlen, wissen Sie? Was Sie in Arizona für diese kleinen Krebspatienten getan haben, hat mich tief beeindruckt. Das war eine großartige Leistung! Mir war sofort klar, dass ich jemand von Ihrem Kaliber hier in meiner Klinik gut gebrauchen kann.“

Mit diesem Kompliment hatte Grace nicht gerechnet, sie errötete. „Sie sind zu freundlich, Mr Hunter.“

„Bitte, nennen Sie mich doch Leo.“

„Leo“, wiederholte sie zweifelnd. Leicht würde es nicht werden, ihn beim Vornamen zu nennen. Dafür hatte sie viel zu viel Respekt vor ihm und vor dem, was er hier mit der Klinik geleistet hatte.

„Einmal in der Woche treffen sich alle Mitarbeiter, um die verschiedenen Fälle zu diskutieren. Dabei vergleichen wir unsere Untersuchungsergebnisse und sprechen über die jeweiligen Behandlungsmethoden. Oberstes Ziel dabei ist dabei, immer noch mehr zu lernen. Sind Sie mit diesem Ansatz einverstanden?“

„Absolut. Deshalb habe ich Ihr Jobangebot ja auch angenommen.“ Sie hielt es nicht für nötig, ihm zu erzählen, dass sie das Gefühl gehabt hatte, in ihrem Leben festgefahren zu sein.

Leo nickte zufrieden und stand auf. „Soll ich Ihnen die Klinik zeigen? Sie haben natürlich ein eigenes Büro, und wir werden Ihnen einen Terminplan zusammenstellen. Die komplizierteren Fälle behandeln wir meist im Princess Catherine’s Hospital, Kate genannt, oder in der Lighthouse Kinderklinik.“

Grace nickte, als er um den Schreibtisch herumkam und mit ihr zur Tür ging.

„Ich werde Ihnen auch unsere Mitarbeiter vorstellen. Leider sind die meisten heute Morgen im OP.“

Er führte sie einen Flur hinunter, an dessen Wänden moderne Kunst hing. Eins war klar – in dieser Klinik wurden keine Kosten gespart.

Dann öffnete er eine Tür zu einem Büro, das jedoch leer war. Aus Respekt vor seinen Mitarbeitern klopfte er stets an, bevor sie einen Behandlungsraum betraten. Zuletzt zeigte er ihr den Personalraum. Ein paar Schwestern begrüßten Grace ausgesprochen herzlich. Sie war froh darüber und hoffte, endlich einen Platz gefunden zu haben, an dem sie sich zu Hause fühlen konnte.

Obwohl die meisten Büros geschlossen waren, las sie doch die Namensschilder an der Tür: Iain McKenzie, Rafael de Luca, Edward North, Abbie de Luca, Declan Underwood, Kara Stephan. Dann gingen sie um die Ecke an einer weiteren Tür vorbei. Auf dem Schild stand der Name Ethan Hunter, und Grace fiel auf, dass sein Büro am weitesten von dem seines Bruders entfernt lag.

„Tut mir leid, dass heute alles so verlassen wirkt“, sagte Leo entschuldigend. „Aber bei uns ist zurzeit der Teufel los. Am Montag ist ganz besonders viel zu tun. Alle sind entweder im OP oder bereiten gerade die nächste Operation vor.“

„Ich verstehe.“

Doch auf dem Rückweg vernahmen sie plötzlich eine helle Frauenstimme aus einem der Büros.

„Wenigstens kann ich Ihnen heute Alexia Robbins vorstellen“, sagte er erfreut. „Alle nennen sie nur Lexi. Sie ist unsere PR-Chefin.“ Er klopfte vorsichtig an die halb geöffnete Tür. „Lexi?“

Sie telefonierte gerade und winkte ihn herein, während sie das Gespräch beendete. „Prima, dann schicke ich Ihnen bis zum Nachmittag alle Informationen. Herzlichen Dank!“

Sie legte auf und strahlte Leo an. „Stell dir vor, es ist mir gelungen, beim Lokalsender ein zweiminütiges Promotionsvideo über die gestrige Gala unterzubringen.“ Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass er nicht allein war.

„Ist ja großartig“, erwiderte er. „Du kannst mir später alles erzählen.“

„Wird gemacht.“

„Lexi, das hier ist Grace Turner, unsere neue Schönheitschirurgin.“

„Oh, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen!“ Lexi sprang vom Stuhl auf und streckte ihre Hand aus. Grace mochte sie sofort. Sie war groß und blond, hatte Kurven an den richtigen Stellen und trug ein pinkfarbenes Kleid. Ihre Augen funkelten mutwillig. „Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann …“

„Kannst du“, unterbrach Leo sie. „Leider habe ich heute Nachmittag keine Zeit. Daher wollte ich dich bitten, Grace unsere Kliniken zu zeigen.“

„Sehr gern.“

„Prima. Dann bis später.“ Er wandte sich zur Tür.

„Hey, nicht so schnell“, hielt Lexi ihn zurück. „Zuerst musst du mir noch erzählen, was ihr für die Flitterwochen geplant habt.“

Leo sah sie scharf an, aber sie hielt seinem Blick stand. „Na?“

„Was glaubst du wohl? Schließlich habe ich die wundervollste Frau auf der ganzen Welt geheiratet. Für sie kommt nur eins in Frage: Paris im Juni!“

Lexi seufzte entzückt. Sie wirkte, als wäre sie verliebt. Grace fühlte sich plötzlich ein wenig ausgeschlossen.

„Sie hat sich gerade verlobt“, erklärte Leo, dem das nicht verborgen geblieben war. „Deshalb mischt sie sich auch so gern in die Privatangelegenheiten anderer Leute ein.“

„Also, entschuldige mal, das ist schließlich mein Job“, erwiderte die Blonde mit gespielter Entrüstung. Erst jetzt fiel Grace ihr spektakulärer Diamantring auf. Wow!

So etwas Prächtiges hatte sie noch nie gesehen. Er funkelte in einem hellen Pink, umgeben von einer Vielzahl kleiner Diamanten.

„Wie wär’s direkt nach dem Mittagessen für die Tour?“, schlug Lexi vor. „Wir könnten uns in der Kantine treffen, und danach zeige ich Ihnen die Kliniken.“

„Klingt prima. Vielen Dank!“

Leo und Grace verließen Lexis Büro und gingen wieder durch den Flur zurück, vorbei an weiteren geschlossenen Türen. „Wir stellen viele Implantate selbst her. Hier ist unser Raum, in dem die Patienten sich nach der Operation erholen können. Außerdem gibt es noch die Möglichkeit, in unseren Luxusapartments zu übernachten, die ganz in der Nähe liegen“, sagte er.

Sie hatte den Eindruck, dass viele der Apartments in ihrem Gebäude auch für diesen Zweck genutzt wurden.

„So, und hier ist Ihr Büro. Übrigens direkt neben dem eines Landsmanns von Ihnen. Ich dachte, dann gewöhnen Sie sich vielleicht schneller ein.“

Er öffnete die Tür zu dem geschmackvoll eingerichteten Raum, der von jetzt an ihr gehören würde. Das Büro war zwar klein, aber sehr gemütlich, mit einem großen Fenster, das das Tageslicht hereinließ. Grace sah sich interessiert um und war entzückt darüber, dass es sogar eine kleine Bibliothek mit medizinischen Fachbüchern gab. Sie ging um den Schreibtisch aus Chrom und Glas herum und ließ sich auf dem Drehstuhl nieder. „Das ist ja fantastisch!“

„Freut mich, dass es Ihnen gefällt.“ Leo lehnte sich gegen den Türrahmen. „Cooper!“, rief er dann laut. „Kommen Sie her und begrüßen Sie Ihre neue Nachbarin.“ Dann wandte er sich wieder Grace zu. „Ich bin sicher, Sie werden sich blendend mit Mitchell Cooper verstehen. Er ist einer unserer besten plastischen Chirurgen und arbeitet seit bereits vier Jahren hier.“ Er drehte sich um und lächelte jemanden an. „Kommen Sie herein! Ich möchte Ihnen eine neue Kollegin vorstellen, Grace Turner. Sie ist Amerikanerin, genau wie Sie.“

Und wer kam mit einem breiten Lächeln um die Ecke? Kein anderer als ihr Gondelmann, der junge Abenteurer. Vor lauter Überraschung wäre sie fast vom Stuhl gefallen.

Sie sah ihn fassungslos an, und er starrte zurück. Beide konnten es nicht glauben. Doch sie signalisierten sich mit Blicken die stumme Botschaft, dass Leo ihr Geheimnis auf gar keinen Fall erfahren durfte.

„Grace, das ist Mitchell Cooper.“

Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen, erhob sich und streckte die Hand aus. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Er gab ihr die Hand. „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Willkommen in der Harley Street!“ Sie musste an seinen Händedruck im Taxi denken, kurz bevor er sie auf die Wange geküsst hatte. Es fiel ihr schwer, sich nichts anmerken zu lassen.

Dann herrschte drückendes Schweigen. Leo sah verblüfft von einem zum anderen. „Kennt ihr beide euch etwa schon?“

„Nein!“, sagten sie wie aus einem Mund und warfen sich verstohlene Blicke zu.

Er schien nicht überzeugt zu sein, fragte aber nicht nach. „Gut, dann lasse ich euch jetzt allein.“ Er wandte sich zum Gehen. „In nächster Zeit wird ziemlich viel zu tun sein, da werden wir eure Fähigkeiten und euer Talent gut gebrauchen können. Grace, ich habe Ihnen die Studie des wichtigsten Falls auf Ihren Schreibtisch gelegt.“ Er warf Mitchell einen Blick zu. „Und ich denke, ihr werdet ein gutes Team im Fall Cumberbatch abgeben.“ Damit ließ er sie endlich allein.

Das Schweigen wurde geradezu quälend, während Grace Mitch ungläubig anstarrte. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, ob sie über das Treffen froh war oder ob sie es bereute, ihn wiederzusehen. Was sollte sie tun, wenn er eine ernsthafte Beziehung zu einer Frau hatte und gestern Abend nur ein wenig vom Weg abgekommen war? Wie peinlich wäre das gewesen? Sein Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass auch er das Wiedersehen bedauerte.

„Hören Sie“, sagte er. „Ich hatte keine Ahnung, dass Sie unsere neue Chirurgin sind. Wie dumm von mir! Ich hätte zwei und zwei zusammenzählen müssen.“

„Nun ja, ich habe Ihnen ja auch gar nichts von mir erzählt.“

„Ich hätte Sie fragen müssen. Doch irgendwie hat mir dieser kurze Abstecher ins Abenteuer mit einer Fremden sehr gefallen. Auf jeden Fall möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen!“ Er sah wirklich so aus, als würde es ihm sehr leid tun.

„Da gibt es nichts zu entschuldigen. Es hat mir viel Spaß gemacht. Keine Ahnung, wie es Ihnen ergangen ist, aber ich habe mich großartig amüsiert.“ Sie lehnte sich gegen die Kante ihres Schreibtischs.

Mitch nickte. „Ja, natürlich war das sehr lustig. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass ich Sie nie so behandelt hätte, wenn ich gewusst hätte, wer Sie sind.“

„Dann bin ich froh, dass Sie es nicht wussten.“

„Nein, das kann ich mir nicht verzeihen. Schlechter Stil meinerseits.“ Er stemmte die Hände auf die schmalen Hüften. Grace betrachtete ihn nachdenklich.

Er trug ein frisches weißes Hemd und eine Krawatte zur dunkelblauen Hose. Der Arztkittel verdeckte die breiten Schultern und starken Arme, mit denen er ihr gestern Abend über den Zaun geholfen hatte.

„Hören Sie auf damit“, sagte sie energisch. „Es ist nun einmal geschehen. Jetzt lassen Sie uns den Abend vergessen und uns wieder wie Profis verhalten. Schließlich hatten wir ja keinen Sex oder so etwas.“

Bei diesem Wort funkelten seine grünen Augen auf. Er lächelte. „Aber wir sind abenteuerlustige Ausreißer. Wie könnten wir das je vergessen?“

Gegen ihren Willen musste sie lachen. Er hatte die Situation entschärfen wollen, und das war ihm auch gelungen. Ob alle Frauen Wachs in seinen Händen waren? „Hören Sie auf!“

Sie suchte nach etwas, fand ein Stück Papier, zerkrumpelte es und warf es nach ihm. Es verfehlte Mitchell um Längen, aber er duckte sich trotzdem. Grace lachte erneut, doch er richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf.

„Ich kann es immer noch nicht fassen. Ist Ihnen klar, dass ich Sie in einer Gondel angesprochen habe, dann fast dafür gesorgt habe, dass Sie auf einem Spielplatz verhaftet werden, Sie zum Essen ausgeführt und schließlich in ein Taxi gesetzt habe, ohne Ihnen zu erklären, warum ich Sie nie wiedersehen kann? Ich bin ein solcher Idiot! Was müssen Sie nur von mir denken?“

Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie fast die ganze Nacht an ihn gedacht hatte. Und auch heute Morgen, beim Duschen und Anziehen, war er ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Als einen Idioten hätte sie ihn nie bezeichnet, im Gegenteil.

Doch jetzt war es besser, den Abend zu vergessen und sich der Realität zu stellen. Schließlich waren sie Kollegen, die sich jeden Tag sehen würden. Arbeit und Freizeit miteinander zu vermischen, war noch nie eine gute Idee gewesen, besonders nicht in einer so überschaubaren Klinik. Wenn ihre Zusammenarbeit funktionieren sollte, mussten sie auf Distanz bleiben. Das zumindest war klar.

Nur weil er ihr letzte Nacht verraten hatte, dass er geschieden war, hieß das noch nicht, dass er auch frei war. Wahrscheinlich hatte Mitchell mindestens ein halbes Dutzend Kinder, um die er sich in seiner Freizeit kümmern musste. Aber im Moment fiel Grace nur auf, dass er unverwandt auf ihre Beine starrte. Da sie einen engen Bleistiftrock trug, gab es einiges zu sehen. Sie kreuzte schnell die Beine und tat so, als würde es ihr nicht auffallen.

Schließlich hatte er sie gestern aus einem guten Grund ins Taxi gesetzt, und dabei sollten sie es belassen. „Was ich von Ihnen denke, ist jetzt zweitrangig, denn wir sind Kollegen. Das ist das einzig Wichtige. Okay?“

Es gab noch einen anderen Grund, warum sie froh über diese ungeahnte Wendung war. Bisher hatte sie noch keinem Mann außer ihren Ärzten ihre Narben gezeigt. Nur ihr Exverlobter hatte sie zu sehen bekommen, und was für ein Desaster war das gewesen! Wie konnte sie auch nur eine Sekunde hoffen, dass eine ganz normale Beziehung für sie möglich wäre? Nach dem, was ihr passiert war, würde kein Mann sie jemals wieder begehren.

Er sah sie nachdenklich an. Offensichtlich versuchte auch er, einen Weg zu finden, wie er mit ihr umgehen sollte. Doch schließlich nickte er. „Na gut. Wir sind Kollegen, und dabei sollten wir es belassen. Wahrscheinlich ist es so am besten.“

Er musterte sie mit demselben Blick wie bei ihrem Abschied letzte Nacht, und sie las darin Bedauern. Zumindest sie bedauerte, dass es bei dieser einen Nacht bleiben würde, aber so war das Leben eben manchmal. Und es gab Geheimnisse, die man besser für sich behielt.

Mitchell griff nach ihrer Hand und schüttelte sie erneut. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Grace Turner. Wenn ich Ihnen beruflich irgendwie helfen kann, finden Sie mich direkt nebenan.“ Damit drehte er sich um und verließ das Büro.

Mitch wäre am liebsten die Wände hochgegangen. Er hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Schließlich war ihm nicht entgangen, wie unbehaglich Grace sich gefühlt hatte. Doch um ehrlich zu sein, gefiel sie ihm sehr, und er hatte all seine Disziplin gebraucht, um sie gestern Abend nicht nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Obwohl sie wirklich nicht die Art von möglicher Ersatzmutter war, die er für Mia im Auge hatte.

Unwillkürlich musste er an seine Exfrau denken. Sie hatte ihn mit seinem besten Freund betrogen. Aber vor allem war sie mit der Zeit süchtig nach Schönheitsoperationen geworden, bis sie sich in eine Plastikpuppe verwandelt hatte, die er kaum noch wiedererkannte. Auf gar keinen Fall durfte Mia sie sich zum Vorbild nehmen, das hatte er sich geschworen. Deshalb war er auch vor vier Jahren von Hollywood weggezogen, nachdem Christie ihm das alleinige Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter überlassen hatte.

Er musste sich den Gedanken an andere Frauen aus dem Kopf schlagen und sich auf den Grund konzentrieren, warum er hier war. Warum er an diese Klinik gekommen und nach London gezogen war. Damit Mia ein besseres Leben haben würde! Die schöne Grace Turner würde er vergessen müssen. Ein Mann, der aus seinen Fehlern nichts lernte, war wirklich ein Idiot.

Mitch ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und versuchte, ihre kristallblauen Augen und den hinreißenden Mund zu vergessen. Aber das war gar nicht so leicht.

Dabei hatte er sich eigentlich von superattraktiven Frauen verabschiedet und sich nur noch mit potenziellen Müttern eingelassen. Kaum hatte er seinen Dienst in der Hunter Clinic angetreten, hatte er etwas mit einer Krankenschwester angefangen. Die Sache war katastrophal ausgegangen, weil sie am Ende, als er mit ihr Schluss gemacht hatte, lieber gekündigt hatte, als weiterhin mit ihm zusammenzuarbeiten. Bisher war seine Strategie nicht aufgegangen, doch er würde sie beharrlich weiterverfolgen. Das war der einzige Weg. Nichts würde ihn davon abhalten können, eine richtige Mutter für Mia zu finden.

Gleichzeitig wusste er, dass es ihm nicht leichtfallen würde, Grace zu vergessen. Wie auch – sie war schließlich im Büro nebenan! Doch dann zwang er sich, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren, und wandte sich seinem nächsten Fall zu. Mrs Evermore wollte mit Hilfe eines Liftings mindestens zwanzig Jahre jünger aussehen. Das würde nicht leicht werden, so viel stand fest.

Grace ließ sich nach dem Mittagessen von Lexi die beiden exklusiven Kliniken zeigen, in denen sie operieren würde. Die Lighthouse Kinderklinik war nur zehn Minuten entfernt, und das Kate’s lag direkt an der Themse, mit einer großartigen Aussicht aus allen Krankenzimmern.

Lexi war extrem kommunikativ, daher fühlte Grace auch keinen Druck, sich groß an der Unterhaltung zu beteiligen.

„Wenn Sie möchten, können wir uns nach der Arbeit in Drake’s Weinbar treffen“, schlug sie ihr vor. „Dann kann ich Ihnen die Fotos von den Hochzeitskleidern zeigen, die ich mir ausgesucht habe. Nun muss ich mir nur noch überlegen, ob ich sie mir leisten kann.“ Sie lachte.

„Das klingt großartig!“ Grace musste an die leere Wohnung denken, die auf sie wartete, und war dankbar für das Angebot.

„Prima! Dann sehen wir uns heute Abend.“ Lexi stiegen in den Lift mit den Glaswänden. Von hier aus konnte man den Verlauf der Themse sehen. „Oh, und die Schuhe muss ich Ihnen auch zeigen. Wahrscheinlich muss ich dafür meinen Ring verkaufen!“

Grace lächelte sie an, sie mochte Lexis Esprit und ihre Lebendigkeit.

Kurz vor Feierabend traf Grace sich noch mit dem Chef des OP-Teams, Ron Whidbey, einem etwa vierzigjährigen Mann mit afrikanischen Wurzeln, der aber in England geboren und aufgewachsen war.

Ihr erster Fall würde eine fünfundzwanzigjährige Frau sein, deren Gesicht nach ihrer Krebsresektion neu aufgebaut werden musste. Mitchell würde bei der OP ebenfalls zugegen sein, denn die Patientin brauchte neue Lippen, und das war offensichtlich seine Spezialität. Sie hingegen würde die Nase und die Wangen wiederherstellen und ein Oberlippengrübchen nachbilden.

Morgen würde sie hoffentlich so fokussiert auf ihre Arbeit sein, dass sie seine Anwesenheit gar nicht bemerken würde.

Nachdem sie lange mit Ron darüber gesprochen hatte, welchen Instrumenten und Operationstechniken sie den Vorzug gab, hatte sie schließlich das Gefühl, dass sie sich verstanden. Morgen früh um sechs Uhr würden sie sich im OP des Kate’s wiedersehen. Dann verließ er sie, um sich mit dem Schwesternteam zu besprechen.

Der Rest des Tages verging wie im Flug, und Grace war froh, dass sie Mitchell nicht mehr zu Gesicht bekam. Kurz nach achtzehn Uhr klopfte dann jemand an ihre Bürotür. Lexi wollte sie wie versprochen mit in Drake’s Weinbar nehmen, die sich im Regent’s Park, am Ende der Harley Street, befand. Eine Viertelstunde später saßen sie in einem gemütlichen, vollbesetzten Pub mit Holztäfelung und gedämpftem Licht.

Umgeben von einigen ihrer neuen Kollegen, fühlte Grace sich ausgesprochen wohl, als man ihr ein Glas Weißwein und ein paar Kleinigkeiten zum Essen brachte.

Ihr gegenüber, den Arm um seine Verlobte Lexi gelehnt, saß Iain, der ebenfalls als Schönheitschirurg in der Hunter Clinic arbeitete. Ein paar der Schwestern waren ebenfalls anwesend sowie Edward North, der Mikrochirurg. Neben ihm saß eine weitere Schwester, Charlotte. Nachdem Grace die ganze Zeit erwartet hatte, dass Mitchell ebenfalls auftauchen wurde, war sie froh über die Zerstreuung, die ihr das Gespräch mit Charlotte bot.

Dann bat Lexi alle anwesenden Damen, ans Ende der Bar zu kommen. Sie schloss sich ihnen an.

„Schaut mal, was ich hier habe!“ Lexi zog ein Foto aus der Tasche, das sie offensichtlich aus einem Modemagazin herausgerissen hatte und das ein Hochzeitskleid von einem bekannten Designer zeigte. „Himmlisch, oder? Dieses Kleid will ich tragen, wenn Iain und ich heiraten.“

Die Krankenschwestern waren begeistert, und auch Charlotte schien ganz entzückt davon zu sein. Grace hingegen betrachtete das pinkfarbene Chiffonkleid mit den vielen Rüschen eher skeptisch. Andererseits musste sie zugeben, dass es Lexi wahrscheinlich fabelhaft stehen würde. Pink schien genau ihre Farbe zu sein.

„So, die einzige Frage ist jetzt, wie ich dafür Rabatt bekommen kann. Denn nie im Leben kann ich mir diesen Traum sonst leisten!“

„Wenn es jemand schafft, dann du“, sagte Charlotte bewundernd.

Grace lächelte. „Viel Glück! Sie werden schon Mittel und Wege finden.“

„Ihr Wort im Ohr der Göttin des Shoppings“, erwiderte Lexi lachend. Dann steckte sie das Bild wieder ein und ging zurück an den Tisch mit den Kollegen.

Als Grace von einem zum anderen sah, fiel ihr auf, wie außerordentlich attraktiv die ganze Gruppe war. Ob dies eine der Voraussetzungen für die Beschäftigung an der Hunter Clinic war? Aber warum hätte man sie dann engagieren sollen?

Obwohl es sich bei ihren Kollegen um eine eingeschworene Truppe zu handeln schien, gaben alle sich große Mühe, sie willkommen zu heißen. Als sie gerade ihr Glas ausgetrunken hatte und überlegte, ob sie sich ein zweites leisten könnte, weil sie schließlich am nächsten Morgen im OP stehen würde, öffnete sich die Tür und Mitchell trat ein. Ihre Blicke trafen sich kurz, und Grace verspürte sofort ein Kribbeln im Magen. Dann ging er direkt zur Bar und bestellte sich einen Drink.

Je länger sie ihn anschaute, desto mehr wunderte sie sich, warum ein so gutaussehender Mann wie er Single war. Sie wartete sogar einen Moment lang, ob ihm keine Frau folgte, doch er war tatsächlich allein. Wenige Minuten später stand er dann auch schon mit einem Bier in der Hand vor ihr.

„Guten Abend“, sagte er in die Runde, und die anderen begrüßten ihn herzlich.

„Lips Cooper!“, sagte Iain lachend. Grace fragte sich, wie es Mitchell wohl gefallen mochte, so einen Spitznamen zu tragen. Aber sie wusste, dass solche Neckereien unter Männern oft als Beweis für Zuneigung galten.

Sie merkte, dass sie sich kaum konzentrieren konnte und nickte daher nur stumm, als er sie fragte, ob er sich neben sie auf die Bank setzen könnte.

„Natürlich“, erwiderte sie und rückte enger an Lexi heran. Da sie ihm nicht ausweichen konnte, entschloss sie sich, das Beste aus der Situation zu machen. Sie spürte die Wärme seines Körpers, und erneut stieg ihr der Duft seines teuren Aftershaves in die Nase. Was sollte sie jetzt tun?

„Wie war Ihr erster Tag?“, erkundigte sich Mitch.

„Prima! Nachdem ich mich von dem Schock erholt habe.“

Er nickte. „Ja, man muss sich am Anfang viele Namen merken. Das ist für jeden etwas verwirrend.“ Es sah so aus, als hätte er die Bedeutung ihrer Worte nicht verstanden, die absolut nichts mit der Klinik zu tun hatten.

„Das kann ich mir vorstellen.“ Wie idiotisch würde dieses Gespräch wohl noch werden? Dabei hatten sie sich gestern so angeregt miteinander unterhalten!

Er griff nach einer Handvoll Nüsse und steckte sie sich in den Mund. Das war wahrscheinlich das Ende der Unterhaltung.

Plötzlich stand Lexi auf. „Iain und ich müssen leider los“, sagte sie zu Grace.

Von der Art her, wie die beiden unentwegt miteinander flirteten, wunderte sie das gar nicht.

„Können wir Sie nach Hause bringen?“, fragte Iain höflich.

Würde Mitchell ihr das vielleicht auch anbieten? Sie zögerte kurz, doch da er keine Anstalten dazu machte, nickte sie und stand auf. „Ja, das wäre großartig. Gute Nacht, alle zusammen. Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.“

„Wir werden uns Freitag beim Teamtreffen wiedersehen“, sagte jemand aus der Gruppe. Grace war aber so abgelenkt von Mitchell, dass sie das nur mit halbem Ohr mitbekam.

„Wir sehen uns morgen im OP, Mitchell!“

Er nickte.

Nichts mehr erinnerte sie an den jungen Abenteurer von gestern Abend. Doch wenigstens hatte er Wort gehalten – von nun an würde ihre Beziehung rein beruflich sein.

Am nächsten Morgen um viertel vor sechs bereitete Grace sich auf die Operation vor. Vor diesem Moment fürchtete sie sich immer ein wenig, denn sie brauchte Hilfe beim Anlegen des Operationskittels und der sterilen Handschuhe. Es war unvermeidlich, dass dabei ihre Narben zum Vorschein kamen, und sie registrierte sehr wohl, wie die OP-Schwester, die ihr beistand, bei diesem Anblick kurz zusammenzuckte. Grace versuchte, ihre Reaktion zu ignorieren und so zu tun, als wäre alles ganz normal.

Nachdem man ihr den Mundschutz angelegt hatte, stieß sie die Tür zum OP mit der Schulter auf. Als Erstes erblickte sie Ron, der ihr zunickte und sie anzulächeln schien.

Dann checkte sie die Instrumente und überzeugte sich davon, dass alles zu ihrer Zufriedenheit eingerichtet war.

Grace stellte sich der Anästhesistin kurz vor. Diese betäubte als Nächstes die Patientin, die bis zu diesem Zeitpunkt nur leicht sediert gewesen war. Zwei OP-Schwestern standen bereit, um Grace zu assistieren. Sie würde den Großteil des chirurgischen Eingriffs leisten, während Mitchell sich nur um die neuen Lippen für die junge Frau kümmern würde. Bisher hatte sie ihn noch nicht gesehen, doch man hatte ihr gesagt, dass er sich in Bereitschaft hielt. Eigentlich war sie ganz froh darüber, erst einmal in Ruhe allein arbeiten zu können. Bei ihrem ersten Fall konnte sie sich keine Ablenkung leisten.

Der Krebs hatte einen Großteil des Gesichts der Patientin weggefressen, und nachdem der Dermatologe das meiste Gewebe weggeschnitten hatte, war nur noch wenig von der Nase und der Oberlippe übriggeblieben. Der Anblick brach Grace das Herz. Sie ging davon aus, dass sich die junge Frau wie ein Monster vorkam. Denn da, wo vorher ihre Nase gewesen war, klaffte jetzt ein Loch, und anstelle der Oberlippe sah man nur noch das Zahnfleisch.

Als Grace verbrannt worden war, vor ihren zahlreichen Hauttransplantationen, hatte sie sich genauso gefühlt. Heute war es ihr Job, ihrer Patientin wieder ein menschliches Antlitz zu geben. Die junge Frau würde nie wieder so aussehen wie früher, doch wenigstens würde sie ein Gesicht haben, für das sie sich in der Öffentlichkeit nicht schämen musste.

Grace beabsichtigte, Knorpelmasse aus den Ohren für einen Teil des Nasenrückens und für die Nasenspitze zu verwenden. Außerdem würde sie die Nase mit Hautfetzen der Wangen bedecken, die natürliche Krümmung des Nasenrückens wiederherstellen und die fehlende Oberlippe neu aufbauen. Danach würde Mitchell durch das Übertragen von speziell präpariertem Fett aus dem Unterleib einen natürlicher wirkenden Mund kreieren.

„Wir werden Julie Treadwell ein schönes neues Gesicht geben, einverstanden?“, fragte sie. Alle Anwesenden nickten. „Skalpell, bitte“, bat sie dann die OP-Schwester und machte ihren ersten Schnitt.

Eine Stunde später betrat jemand den OP. Grace war gerade dabei, zwei Labialfalten rechts und links der Nase zu erschaffen und hatte die Schwester um die kleine gebogene Nadel und Faden gebeten, damit sie alles zusammennähen konnte.

Dann sah sie hoch und fand ihre Ahnung bestätigt. Er war es.

Ihre Hand verkrampfte sich leicht, doch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Die Patientin verdiente jetzt ihre hundertprozentige Aufmerksamkeit. Grace wartete, bis sie wieder total fokussiert war, und machte dann die letzten Stiche dieser Operation, die aus zwei Phasen bestand.

Als sie fertig war, übergab sie Mitchell die Patientin. Dann trat sie einen Schritt zurück – bereit, ihm dabei zuzuschauen, wie er Wunder vollbrachte.

„Bleiben Sie hier“, sagte er zu ihr. „Vielleicht lernen Sie etwas.“

Sie lächelte über seine Neckerei. Das klang schon eher nach dem Mann vom ersten Abend. „Aber nur, wenn ich Ihnen nicht im Weg bin.“

„Das sind Sie nicht. Außerdem muss ich Sie vielleicht ein paar Sachen fragen. Aber so, wie Ms Treadwell aussieht, haben Sie einen fantastischen Job gemacht, Miss Turner.“

Warum ihr dieses Kompliment so viel bedeutete, hätte Grace nicht sagen können. Doch das tat es. Daher nahm sie seine Einladung an und blieb im OP.

Mitch nahm sich Zeit und überzeugte sich zunächst davon, dass alles so war, wie er es brauchte. Grace hatte bereits das Fundament für seine Arbeit gelegt, indem sie die intraoralen Schleimhäute ausgefüttert hatte. Jetzt bestand seine Aufgabe darin, die Mundöffnung zu erhalten. Dazu würde er weiteres Gewebe der Schleimhäute, von Haut und Muskeln brauchen, in die kleine Abflussröhrchen eingelassen worden waren. Eine Präzisionsarbeit, die sich nicht beschleunigen ließ.

Eigentlich hatte er vorgehabt, der Patienten einen klassischen Mund zu geben. Alles würde besser sein als das Loch, das ihm jetzt entgegenklaffte. Doch seit er Grace kennengelernt hatte, musste er immer wieder an ihre Lippen denken und entschloss sich, diese bei Julie Treadwell zu reproduzieren.

Dann begann Mitch sein Wunderwerk. Er erschuf einen Amorbogen für die Oberlippe und benutzte dafür das Autotransplantat der Epidermis einer Spenderin, das am besten zu Julies natürlicher Hautfarbe passte. Wenn sie später mehr Farbe für die Lippen haben wollte, konnte man diese immer noch färben, sobald alles verheilt war. Aber seine Aufgabe heute bestand darin, Größe und Form der Lippen zu gestalten.

Er blickte von seiner Lupe hoch zu Grace und erkannte, dass er sich auf sein Erinnerungsvermögen verlassen musste, denn natürlich trug sie ihren Mundschutz.

„Geben Sie mir die Spritze“, sagte er, nachdem er alles so ausgeführt hatte wie geplant. Seine OP-Schwester reichte ihm die Spritze mit Julies behandeltem Bauchfett. Dann spritzte er das Material genau an der Bahn entlang, die er mit der zarten Gesichtshaut geschaffen hatte, und brachte mit Hilfe einer Pinzette alles an die richtige Stelle. Es war wichtig, die Lippen möglichst voll erscheinen zu lassen, was bedeutete, er würde das gesamte Fett einsetzen müssen.

Wenn die Operation verlief wie erhofft, würde Julie Treadwell morgen die stolze Besitzerin eines Duplikats von Graces Turners sinnlichen Lippen sein.

Im Verlauf der letzten Stunde war Graces Hochachtung vor Mitch Cooper gewaltig gestiegen. Er war ein außergewöhnlich begabter Schönheitschirurg.

Als er mit seiner Arbeit fertig war, gratulierte sie ihm zu dem Ergebnis. Dann verließ sie den OP und legte schnell den Kittel ab, um zu verhindern, dass er die Narben auf ihren Armen, der Brust und dem Dekolleté sah.

Später trafen sie sich am Bett der Patientin wieder. Grace hatte sich inzwischen umgezogen und trug einen hellblauen Rollkragenpullover mit langen Ärmeln und blaue Hosen.

„Wie geht es Julie?“, fragte sie Mitch, der als Erster dort war.

„Es geht ihr gut.“ Er war gerade damit fertig, ihr Gesicht erneut zu verbinden. „Es gab keine weiteren Blutungen und auch keine Anzeichen für eine Infektion. Minimale Ödeme. Alle Abflussröhrchen sind intakt.“ Er sah sie an. „Großartige Arbeit!“

Die unverhohlene Bewunderung in seinen grünen Augen tat ihr gut. „Freut mich“, erwiderte sie. „Wenn Sie das sagen, wird es schon stimmen. Aber morgen möchte ich den Verband als Erste abnehmen, okay?“

„Zu Befehl.“ Er salutierte zum Spaß. „So, und jetzt würde ich Ihnen gern die Cafeteria zeigen, wenn Sie möchten.“

Wollte Grace wirklich wieder Zeit mit ihm verbringen? Eigentlich nicht, denn dann würde sie sich nur wieder wünschen, dass die Dinge anders lagen. Doch Mitch stand bereits in der Tür, und sie merkte plötzlich, dass ihr Magen lautstark zu grummeln angefangen hatte. Es ließ sich nicht leugnen, sie hatte schrecklichen Hunger, und er wusste, wo es etwas zu essen gab. Es wäre dumm von ihr, ihm nicht zu folgen.

Aber bevor sie Julies Bett verließ, ergriff sie die Hand der jungen Frau und drückte sie. „Sie haben es toll gemacht, Julie. Ich freue mich sehr über das positive Ergebnis.“

Grace wusste, dass die Patientin sie trotz der Betäubung hören konnte. Dann das Gehör war der letzte Sinn, der bei der Betäubung verlorenging, und der erste, der danach wieder zurückkam. Julie erwiderte ihren Händedruck leicht. Anscheinend hatte die Patientin jedes ihrer Worte vernommen.

Grace strich ihr ein paar Locken aus dem Gesicht, die unter dem Verband hervorlugten, und betrachtete das von Mullbinden verhüllte Gesicht der jungen Frau. „Ruhen Sie sich ein bisschen aus, Julie. Es war ein langer Tag, und das Schlimmste liegt jetzt hinter Ihnen.“

Julie murmelte etwas, sie kämpfte sich anscheinend wieder ins Bewusstsein zurück.

Die Stimmung im Lift auf dem Weg nach unten war etwas angespannt. Nachdem sie sich beide versichert hatten, wie beeindruckt sie von der Arbeit des anderen waren, gab es nicht mehr viel zu sagen. Grace war entschlossen, das Gespräch strikt auf der professionellen Ebene zu belassen.

Ein oder zweimal machte Mitch Anläufe, etwas zu äußern, besann sich dann aber eines Besseren. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie abenteuerlustige Ausreißer gewesen waren. Doch schließlich landeten sie unten im Erdgeschoß, wo sich auch die Cafeteria befand.

Der Raum war ziemlich voll. Nachdem Mitch und Grace sich ihr Essen geholt hatten, nahmen sie an einem großen Tisch Platz, an dem auch einige andere Kollegen saßen. Grace wurde sofort von einem Arzt in Beschlag genommen. Hin und wieder sah sie zu Mitch hinüber. Wenn sich ihre Blicke trafen, verspürte sie stets ein merkwürdiges Ziehen in der Brust.

Sie wünschte, seine Gegenwart würde sie nicht so sehr berühren. Aber die Wünsche ihres Verstandes und die Sehnsucht ihres Körpers liefen zurzeit nicht besonders synchron.

Bevor Grace am nächsten Morgen ihren Dienst in der Hunter Clinic antrat, fuhr sie mit einem Taxi ins Kate’s, um nach Julie Treadwell zu schauen. Sie hatte die ganze Nacht an sie gedacht und dafür gebetet, dass die Operation gut verlaufen war. Julie sollte wieder mit hoch erhobenem Kopf durchs Leben gehen und anderen Menschen begegnen können, ohne sich für ihr Aussehen schämen zu müssen.

Als sie das Krankenzimmer betrat, lächelte eine der Schwestern sie an. Grace erwiderte das Lächeln. Plötzlich wusste sie, wen sie vor sich hatte. Das war Charlotte, die junge Frau, die sie gestern in Drake’s Weinbar kennengelernt hatte.

Julie saß aufgerichtet im Bett. Sie trug noch immer den Gesichtsverband. Der Fernseher lief, sie schaute sich eine Comedysendung an. Dabei trank sie einen Proteinshake mit Vitaminen und Mineralien durch einen Strohhalm. Grace wusste genau, was sich darin befand, denn sie hatte ihn persönlich für ihre Patientin bestellt.

„Hallo, Julie, wie geht es Ihnen heute?“

„Ganz gut. Ich komme mir ein bisschen wie eine Mumie vor. Aber ich denke, das gehört dazu.“ Sie sprach noch sehr undeutlich, aber Grace verstand jedes Wort.

Grace lächelte sie an. „Ich möchte Sie nicht stören, ich würde nur gern Ihren Verband erneuern.“

Julie stellte sofort ihr Glas ab und nickte. Ergeben verschränkte sie die Hände im Schoß. Grace konnte sich gut vorstellen, wie nervenaufreibend es für sie sein musste, darauf zu warten, wie ihr neues Gesicht aussah.

„Ich sage noch schnell der Schwester Bescheid, dann legen wir los, okay?“

Julie nickte erneut.

Nachdem Grace Charlotte gesagt hatte, was sie alles brauchen würde, kehrte sie wieder ans Bett der Patientin zurück. „Ich schlage Ihnen vor, dass Sie sich erst dann im Spiegel betrachten, wenn die Schwellungen zurückgegangen sind. Das wird wahrscheinlich in ein paar Tagen so weit sein. Sind Sie damit einverstanden?“

„Oh ja. Ich bin auch noch nicht so weit, in den Spiegel zu schauen.“

Grace griff nach Julies Hand und drückte sie ermutigend. „Sie haben mit dem Krebs schon eine Menge durchgemacht. Jetzt sollten wir einen Schritt nach dem anderen tun.“ Julies Augen füllten sich mit Tränen.

Dann brachte Charlotte das neue Verbandsmaterial. Grace zog die Vorhänge zu und fing an, den alten Verband durchzuschneiden. Sie fing an der Stirn an und arbeitete sich systematisch nach unten.

Auf halbem Wege war bereits ein Großteil des Gesichts zu sehen. Grace zwang sich, keine Reaktion zu zeigen. Ja, Julie sah aus wie ein Flickenteppich, und die Ödeme ließen sie ziemlich aufgeschwemmt erscheinen. Aber alles in allem war Grace sehr zufrieden mit dem Ergebnis der Operation. Nach und nach würde die Schwellung zurückgehen, und auch die Nähte würden langsam verschwinden. Die Nase sah schon sehr natürlich aus.

Während Grace immer mehr Verbandsmaterial entfernte, dachte sie darüber nach, was die nächsten Schritte sein würden. Wenn Julies Wunden vollkommen verheilt waren, würden sie die verbliebenen Narben durch eine Laserbehandlung entfernen.

Laserbehandlungen konnten Wunder wirken, und sie hatte bereits mit Leo Hunter gesprochen, ob er gewillt war, sich eine besonders hartnäckige Narbe an ihrem Dekolleté vorzunehmen. So vielen Patienten hatten sie damit bereits helfen können – warum sollte es nicht auch bei ihr möglich sein?

Dann kam sie an Julies Oberlippe und entfernte behutsam die restliche Gaze. Die Lippe, die Mitch geformt hatte, sah fantastisch aus. Er hatte mehr gemacht, als unbedingt nötig gewesen wäre, und auch ihre Unterlippe aufgepolstert.

Zusammen mit dem Oberlippengrübchen bildete sie jetzt einen perfekten Amorbogen. Der ganze Mund sah so natürlich aus wie ihr eigener.

Als Grace ihn betrachtete, überkam sie ein eigenartiges Gefühl. Wo hatte sie diese Lippen schon einmal gesehen? Aber natürlich – Mitch kam schließlich aus Hollywood. Bestimmt hatte er sich einen berühmten Star als Vorbild für Julies Lippen genommen.

3. KAPITEL

Am Freitagmorgen versammelte sich das ganze Personal der Hunter Clinic um acht Uhr morgens zur Teamversammlung im Personalraum. Grace nahm neben Ron Whidbey und der pädiatrischen Chirurgin Dr. Abbie de Luca Platz.

„Wir hatten letzte Woche sehr viel zu tun“, verkündete Leo und betrachtete dabei einen Ausdruck, den man ihm gereicht hatte. „Ich fürchte, in dieser Woche wird es genauso aussehen.“ Er sah hoch und musterte die ganze Gruppe. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich manche von euch ein bisschen überlastet fühlen. Aber niemand hat sich persönlich bei mir beschwert. Allerdings ist mir nicht verborgen geblieben, dass der eine oder der andere offensichtlich auf der Couch in meinem Büro übernachtet hat.“

Er räusperte sich, und die Anwesenden lachten. Ethan, sein Bruder, schaute zur Decke. Er fühlte sich offenbar ziemlich unbehaglich. Anscheinend wusste hier jeder, wer gemeint war. „Damit will ich sagen, falls jemand mehr Freizeit braucht, soll er oder sie bitte zu mir kommen, und dann sprechen wir darüber.“ Jetzt fiel sein Blick auf die Krankenschwestern. „Ich möchte wirklich niemanden über Gebühr belasten.“

Grace sah sich im Raum um, aber Mitch war nicht da. Eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung überkam sie, und sie war selbst verwirrt über die Reaktion. Jetzt entscheide dich endlich einmal, ob du dich für ihn interessierst oder nicht.

Da griff Leo nach seinem Notizblock und las laut daraus hervor. „In einer anderen Londoner Klinik gab es anscheinend eine Staphylokokkeninfektion. Ich habe einen Spezialisten für Infektionskrankheiten bestellt, der sich unsere Behandlungsräume anschauen wird. Auch wenn wir bisher nichts gefunden haben, möchte ich doch lieber vorsichtig sein. Wenn euch also ein weißhaariger Mann mit Brille begegnen sollte, ist das wahrscheinlich Dr. Richard Thornswood. Wie gehabt erwarten wir von jedem, unsere strengen Hygienevorschriften einzuhalten. Lizzie wird sich ihrerseits mit den Mitarbeitern des Reinigungspersonals treffen und überprüfen, ob sie alle Sicherheitsvorkehrungen beachten, was das Putzen und Desinfizieren der Räume sowie die Entsorgung des Abfalls betrifft.“

Dann forderte Leo Rafael de Luca auf, die Anwesenden auf den neuesten Stand darüber zu bringen, wie man bei einem Foetus nach künstlicher Befruchtung bereits einen Kieferspalt entdecken und behandeln kann.

Grace war von der medizinischen Kompetenz der Gruppe schwer beeindruckt. Leider wurde ihre Konzentration auf den Vortrag durch Mitchells Eintreten unterbrochen. Er ließ sich wenige Plätze entfernt von ihr nieder.

Sie war ganz vertieft in den Anblick seines dichten schwarzen Haars, das sich leicht im Nacken kräuselte. Wie mochten seine grünen Augen wohl aussehen, wenn …

„Grace, würden Sie bitte kurz aufstehen?“, unterbrach Leo in diesem Moment ihre Tagträume.

„Oh, natürlich, gern.“ Sie sprang auf, damit alle sie sehen konnten.

Leo sah sie erwartungsvoll an, doch leider hatte sie gar nicht aufgepasst, sondern sich an Mitchells Anblick erfreut. Daher hatte sie auch keine Ahnung, was sie sagen sollte.

Sie holte tief Luft. „Entschuldigung, was wollten Sie noch mal von mir?“

Ein paar Leute aus der Gruppe kicherten, was sie noch nervöser machte. Sie warf Mitchell einen raschen Seitenblick zu. Er lächelte sie beruhigend an.

„Ich wollte Sie mit den Mitarbeitern bekanntmachen, die Sie noch nicht getroffen haben. Warum erzählen Sie uns nicht ein wenig über Ihren Hintergrund?“

Grace fing sich wieder und gab einen kurzen Bericht über ihre bisherige Laufbahn ab. Eigentlich hasste sie es, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, aber sie überspielte ihre Abneigung und gab ihr Bestes.

Heute trug sie eine Seidenbluse mit hohem Kragen sowie schwarze Hosen und den Arztkittel, der ihre Arme bedeckte. Ihre Narben waren nicht zu sehen. Leo Hunter war der Einzige, der von ihren Verbrennungen wusste. Er hatte ihr versprochen, sich nach dem Meeting die problematische Narbe über dem Schlüsselbein anzuschauen.

„Wie man mir sagte, war Ihr erster operativer Einsatz bei uns bereits ein voller Erfolg“, setzte er hinzu, nachdem sie geendet hatte.

„Oh ja, und das verdanke ich zum Teil auch Dr. Cooper.“ Sie lächelte ihn an.

„Lips Cooper“, bemerkte Iain anzüglich, was wieder die meisten zum Schmunzeln brachte.

Offensichtlich hatte Mitch einen ganz schönen Ruf weg.

Grace musste plötzlich an die Lippenform von Julie Treadwell denken, die ihr merkwürdig vertraut erschienen war. Täuschte sie sich, oder hatte er etwa ihre Lippen als Vorbild für die Modellage genommen? Nein, das war bestimmt ein Zufall!

Als sie mit ihrem Bericht fertig war, bedankte Leo sich bei ihr und löste die Versammlung auf. Mitch sah Grace abwartend an. Sie wünschte sich, er würde kommen und mit ihr sprechen, doch da klopfte ihr schon jemand auf die Schulter.

Es war Leo. „Ich habe jetzt Zeit für Sie. Wollen wir in den Behandlungsraum gehen?“

„Ja, gern. Vielen Dank!“

Sie folgte Leo aus dem Zimmer, sah aber noch einmal kurz zu Mitch hinüber, der ziemlich verwirrt wirkte. Er konnte doch nicht eifersüchtig auf seinen eigenen Boss sein, oder? Schließlich war Leo frisch verheiratet!

Mitch hörte, dass Leo mit Grace in eines der Behandlungszimmer gehen wollte, und er beobachtete sie dabei, wie sie gemeinsam den Raum verließen. Leider konnte er sich keinen Reim auf das Ganze machen, befürchtete aber das Schlimmste. Hatte Grace sich etwa auch für eine Schönheitsoperation entschieden? Verdammt, er war so sicher gewesen, dass sie sich nie einer solchen Prozedur unterziehen würde. Zum einen war sie viel zu jung dafür, und zum anderen hatte sie es nicht nötig. Außerdem wusste er ja leider am besten, dass man den Anfängen wehren musste. Kleine Eingriffe führten zu größeren, und am Ende war die Person nicht mehr wiederzuerkennen. Bitterkeit stieg bei diesem Gedanken in ihm auf.

Graces Schönheit war ganz natürlich, und so sollte es auch bleiben!

„Hey, Lips!“ Declan Underwood klopfte Mitch kräftig auf den Rücken. Um ein Haar hätte er die Balance verloren.

Er setzte wieder seine professionelle Maske auf. „Hey, was hast du am Wochenende vor?“

„Was glaubst du denn? Natürlich werden wir zum Rugby gehen. Da gibt es ein paar interessante Spiele. Warum kommst du mit Mia nicht mal mit?“

„Nur, wenn du mir versprechen kannst, dass kein Blut fließt.“

„Kann ich nicht. Außerdem bringt mein Rugbyteam der Klinik eine Menge Geld ein.“

„Stimmt.“ Er hatte schon mehrere gebrochene Nasen von Spielern reparieren müssen.

Declan zeigte mit dem Finger auf die Tür, durch die Leo und Grace gerade gegangen waren. „Ganz schön heißes Gerät, findest du nicht auch?“

Mitch erstarrte und spürte einen plötzlichen Stich der Eifersucht. Er nickte steif. „Ja, sie kann sich wirklich sehen lassen.“

Die Männer grinsten sich an.

Doch Mitch konnte es dabei nicht belassen. „Aber ich warne dich. Ich habe sie zuerst gesehen!“

Declan zog die Augenbrauen hoch. Mitch wusste selbst nicht, was in ihn gefahren war. Hatte seine letzte Beziehung nicht katastrophal geendet? Und suchte er nicht eigentlich nach einer Mutter für Mia? Wäre es nicht viel besser, vor Grace die Flucht zu ergreifen? Nun, er würde sich bald entscheiden müssen, so viel stand fest.

„Botschaft ist angekommen, Lips“, erwiderte Declan und marschierte davon. Offensichtlich war er nicht im Geringsten beleidigt.

Nachdem es Grace dank ihres vollen Terminplans sechs Tage lang gelungen war, Mitch aus dem Weg zu gehen, blieb sie am Donnerstagabend länger im Büro, um ein paar Schreibarbeiten zu erledigen.

Die Laserbehandlung, die Leo an der Narbe auf ihrer Brust vorgenommen hatte, begann langsam zu heilen. Es schien wirklich zu funktionieren, daher hatte sie beschlossen, ihn darum zu bitten, sich auch noch an paar andere Stellen vorzunehmen.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

Sie nahm ab, und die Anruferin stellte sich vor.

Es ging anscheinend um den Fall Cumberbatch, der in der Presse bereits für Aufsehen gesorgt hatte.

Die Reporterin am anderen Ende der Leitung wollte von ihr alles über den ehemaligen Punkrocker wissen. Natürlich verweigerte Grace die Auskunft. Doch nachdem sie aufgelegt hatte, fragte sie sich, mit wem sie über diesen Fall sprechen konnte, der ihr Sorgen machte.

Sie wusste, dass Mitch nebenan war, denn sie hatte gehört, wie er in sein Büro gekommen war. Vielleicht sollte sie ihm einen Besuch abstatten. Schließlich war sie jetzt schon seit fast zwei Wochen in der Klinik, und er war ihr direkter Nachbar. Zuletzt hatten sie sich beim Teamtreffen am vergangenen Freitag gesehen, doch da hatten sie nicht miteinander gesprochen.

Grace überprüfte kurz ihr Haar und ihr Make-up. Dann zog sie sich die Lippen nach und band den Schal, den sie wegen der Narben um den Hals trug, noch einmal zu.

Mit klopfendem Herzen verließ sie das Büro. Seine Tür stand offen. Er saß am Schreibtisch und arbeitete konzentriert. Grace genoss den Anblick einen Moment lang, dann räusperte sie sich. „Klopf, klopf.“

Er sah auf und strahlte sie an. „Oh, hallo! Kommen Sie doch herein!“

Er schien sich wirklich sehr zu freuen, sie zu sehen. Grace fiel auf, wie zerzaust sein Haar wirkte. Sie hätte es ihm gern glattgestrichen, hielt sich aber zurück.

„Bitte, setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken?“

„Nein, vielen Dank.“ Sie ließ sich ihm gegenüber auf dem Stuhl nieder und kam direkt zum Punkt. „Was ich fragen wollte … Hat die Presse Sie auch schon wegen Davy Cumberbatch angerufen?“

Mitch schüttelte den Kopf. „Nein. Sie etwa?“

„Ja, gerade hat sich eine Journalistin von Talking London bei mir gemeldet.“

„Von dieser Klatschzeitung?“ Er schob die Papiere von sich weg. „Sie haben ihr doch keine Informationen geliefert, oder?“

„Natürlich nicht. Ich habe mich nur gefragt, wie sie an meine Nummer gekommen sind.“

„Nun, diese Reporter haben so ihre Mittel und Wege. Sie belagern uns immer, wenn es sich um besonders prominente Patienten handelt. Ich hätte Sie warnen müssen. Davy Cumberbatch ist eine ziemlich große Nummer in England.“

„Ich glaube, sie haben ausführlich genug über die Schlägerei berichtet, in die er verwickelt war. Jetzt interessiert es sie, wie wir ihn wieder zusammenflicken wollen.“

„Naja, immerhin hat er es geschafft, sich das halbe Gesicht lädieren zu lassen“, meinte Mitch stirnrunzelnd. „Und jetzt erwartet er von uns, dass wir Wunder bewirken.“

Grace lächelte. „Ich dachte, das wäre die Spezialität der Hunter Clinic.“ Damit zitierte sie aus der Werbebroschüre. Plötzlich fiel ihr das gerahmte Bild auf seinem Schreibtisch auf. Neugierig fragte sie sich, wer wohl darauf sein mochte.

„Wunder sind eine Sache“, erwiderte er grimmig. „Aber ein ramponiertes Gesicht wieder so aufzubauen, dass der Träger hinterher wie Elvis Presley aussieht, eine ganz andere.“

Grace musste lachen. Mitch hatte manchmal eine sehr witzige Art. „Ich dachte, er wollte nur das Kinn, die Nase und die Wangen von Elvis. Seine Lippen hingegen sollen aussehen wie die von Mick Jagger. Und dafür sollen Sie sorgen.“

Er schüttelte den Kopf. „Das habe ich ihm schon ausgeredet. Jetzt will er nur noch wie Elvis aussehen.“

„Eine kluge Entscheidung. Wann werde ich ihn sehen?“

„Im Moment ist er noch in der Rehaklinik. Das war die Bedingung, unter der unsere Klinik ihn angenommen hat. Seine Wunden müssen erst einmal ausheilen, bevor wir ihn operieren können.“

„Völlig richtig.“ Grace nickte zustimmend.

„Ich denke mal, sie werden ihn Ende nächster Woche entlassen.“ Mitch rief seinen Kalender auf. „Ja, hier ist es. Am nächsten Montag um neunzehn Uhr werden wir ihn treffen.“

„Warum so spät? Um die Paparazzi zu täuschen?“

„Nun ja, sie müssen nicht gleich wissen, worum es geht.“

„Ist das nicht offensichtlich?“

Er grinste sie an, und er wirkte plötzlich wieder wie der junge Abenteurer vom Spielplatz. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie vermisst, das erkannte sie jetzt.

„Haben Sie noch nie von unserem Raum gehört?“

„Von welchem Raum?“

„Dem Ophthalmologieraum, dem Raum für die Augenheilkunde.“ Er machte kleine Anführungszeichen in der Luft um das Wort „Ophthalmologie“. „Das ist unser Trick, mit dem wir Prominente behandeln, wenn wir nicht wollen, dass die Presse Wind von dem wahren Grund bekommt, aus dem sie hier sind. Es hat sich bei Mitgliedern des Adels oder bei Berühmtheiten aus dem Showbusiness sehr bewährt. Lexi steckt der Presse, dass Davy bei der Schlägerei eine Netzhautverletzung erlitten hat und deshalb zu uns kommt. In Wirklichkeit beraten wir uns dann mit ihm darüber, welche Art von Schönheitsoperation er sich wünscht. Doch offiziell wird es später heißen, dass er nur wegen seiner Augen bei uns war.“

„Ganz schön clever“, sagte Grace bewundernd.

„So machen wir es seit Jahren.“

„Trotzdem habe ich den Eindruck, dass meine Fähigkeiten für wichtigere Fälle eingesetzt werden könnten.“

„Aber Gracie!“ Er sah sie mit gespieltem Ernst an. „Haben Sie denn schon den Eid vergessen, den wir als abenteuerlustige Gondelfahrer geschworen haben?“

Da – endlich spielte er wieder auf ihren gemeinsamen Abend an! Es freute sie, dass er den Zwischenfall nicht vergessen hatte. Gleichzeitig war sie ein wenig bestürzt, dass er sie bei dem Namen genannt hatte, den sonst nur ihre kleine Schwester Hope benutzt hatte. Nun, wenn er schon einen Spitznamen für sie hatte, würde sie sich dieselbe Freiheit nehmen. Sie überlegte kurz, ob sie ihn „Lips“ nennen sollte. Aber das ging dann doch zu weit.

„Offensichtlich habe ich den Eid vergessen, Cooper.“

Mitch sah sie amüsiert an. Das schien ihm zu gefallen.

„Mach die Reichen schöner, und du hilfst den Armen!“

„Wie bei Robin Hood?“

Sie sahen sich an. Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß Grace alles, worüber sie gerade gesprochen hatten. Sie nahm nur seinen Dreitagebart wahr und dachte daran, wie sexy Mitch damit und mit seinem zerzausten Haar aussah.

„Ja, ein bisschen.“ Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.

Was war geschehen? Sie hatten ihr Gespräch über Davy Cumberbatch beendet. Er hatte sie Gracie, sie ihn Cooper genannt. Er hatte ihr das Motto der Hunter Clinic verraten und es mit ihrem persönlichen Eid als Gondelfahrer und jungen Abenteurern verbunden. Sie würden Davy am nächsten Montag treffen. Das war alles, es gab also keinen Grund für sie, weiter hier herumzuhängen. Geh lieber gleich, sonst fällt ihm noch auf, dass du ihn die ganze Zeit anstarrst.

Zögernd erhob sie sich und warf einen letzten neugierigen Blick auf das Foto, das auf seinem Schreibtisch stand. „Na gut, dann werde ich mal ein paar Bilder von Elvis googeln und mir bis nächste Woche Gedanken zu den Implantaten machen, die wir Mr Cumberbatch anbieten können.“

Grace trat um den Schreibtisch herum und konnte jetzt endlich erkennen, wer auf dem Foto war – ein ausgesprochen hübsches kleines Mädchen.

Sie lächelte erfreut und griff nach dem Bild. „Darf ich?“ Sie wartete gar nicht erst auf seine Erlaubnis. „Wer ist denn diese hübsche Prinzessin?“

Seine Augen glitzerten stolz. „Das ist Mia, mein kleines Mädchen.“

„Oh, wie süß!“

Er nickte. „Im März ist sie fünf geworden. Ich glaube, ich muss mich erst noch daran gewöhnen, dass sie kein Baby mehr ist.“

„Verbringen Sie viel Zeit mit ihr?“ Er hatte ihr ja erzählt, dass er geschieden war. Wahrscheinlich hatte ihm seine Exfrau Besuchszeiten mit der Kleinen eingeräumt.

Er sah sie verwirrt an. „Na klar. Ich sehe sie jeden Tag.“

„Dann lebt sie bei Ihnen?“

Er beschäftigte sich wieder mit den Papieren auf seiner Schreibtischunterlage. „Ja, ich habe sie die ganze Zeit.“

„Oh.“ Grace konnte sich darauf keinen Reim machen. Er war geschieden, kein Witwer, warum hatte er dann das alleinige Sorgerecht über sein Kind?

„Und wer passt auf sie auf, wenn Sie auf der Arbeit sind?“

„Ein Kindermädchen namens Roberta. Sie ist einfach großartig und behandelt Mia so, als wäre sie ihre Enkelin. Das ist natürlich unmöglich, denn sie selbst hatte nie Kinder.“

Grace spürte einen inneren Triumph, der sie selbst überraschte. Es schien tatsächlich keine Frau in seinem Leben zu geben. Seine Exfrau hatte er mit keinem Wort erwähnt, sie spielte also keine Rolle.

Sie lächelte Mitch an und stellte das Foto wieder auf den Schreibtisch zurück. Tatsächlich wurde sie plötzlich von Fragen bestürmt, hütete sich jedoch, sie zu äußern. Seit wann sind Sie schon geschieden? Wer von Ihnen hat wen verlassen? Warum haben Sie das alleinige Sorgerecht?

Sie stützte sich auf seinen Schreibtisch auf und lehnte sich nach vorn. Sie strahlten sich an, wie magnetisch angezogen.

Er betrachtete sehnsüchtig ihre Lippen und musste an Julie Treadwells Mund denken. Grace, der sein Blick nicht entgangen war, spürte ein Kribbeln im ganzen Körper. Ob er ahnte, dass sie vermutete, was er getan hatte? Plötzlich war sie froh über ihren Schal, der nicht nur ihre Narben, sondern auch die verräterische Röte bedeckte, die ihre Brust bedeckte. Wie hypnotisiert sah sie ihn an.

Wenn sie jetzt nicht als Erste wegschaute … aber es war zu spät.

Kollege, Kollege, Kollege. Er ist ein Kollege, nicht vergessen. Wir sind Profis und keine abenteuerlustigen Gondelfahrer mehr.

„Gut, dann lasse ich Sie jetzt weiterarbeiten.“ Ihre Stimme klang viel zu rau für diese Tageszeit. Sie richtete sich auf. „Ich werde Davys Gesicht genau studieren. Mal sehen, was wir tun können, um ihn in den King zu verwandeln.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, das kriegen wir schon hin. Ob er allerdings den Hüftschwung hinkriegt, ist eine ganz andere Sache.“ Mitch strahlte sie an und setzte hinzu: „Wir beide sind ein tolles Team.“

Ach, wirklich? Waren sie das – Gracie und Cooper? Konnte sie es aushalten, mit ihm zu arbeiten, wenn sie sich in Wirklichkeit etwas ganz anderes von ihm wünschte?

„Hübscher Schal, übrigens“, rief er ihr nach, als sie schon in der Tür stand.

Grace verließ lächelnd sein Büro. Doch kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, fühlte sie sich unbehaglich. Mitch sandte so widersprüchliche Botschaften aus, dass sie überhaupt nicht wusste, woran sie mit ihm war.

Sie ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und stützte die Ellenbogen auf. Ein Gedanke ließ sie nicht los – was war mit seiner Frau passiert? An ihrem ersten Abend hatte er ihr erzählt, dass er geschieden war. Seine Frau war also nicht gestorben. Inzwischen wusste sie auch, dass er eine hübsche kleine Tochter namens Mia hatte. Aber das war ein Rätsel – welche vernünftige Frau würde einen Mann wie Mitch und eine Tochter wie Mia sausen lassen?

Mitch starrte auf die Tür, in der Grace vorher gestanden hatte. Er sog ihren frischen, fruchtigen Duft tief in sich auf. Das war ein Fehler – denn jetzt musste er an lauter verbotene Dinge denken.

Vor allem aber war er wütend auf sich selbst. Hatte er sich nicht vorgenommen, sie auf Distanz zu halten? Und was war stattdessen passiert? Er hatte sie geneckt, ihr einen Kosenamen gegeben. Das taten sonst nur Freunde. Grace war jedoch nicht seine Freundin – nicht mit den Gefühlen, die sie in ihm weckte.

Diesen Gefühlen durfte er aber nicht nachgeben, immerhin war sie seine Kollegin. Außerdem hatte er, das hoffte er zumindest, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Allein schon um Mias willen musste er sich zurückhalten. Sie hatte bereits so viel durchgemacht und verdiente jetzt eine stabile Umgebung, die ihr Halt geben konnte.

Trotzdem bekam er das Bild von Grace, wie sie sich auf seinen Schreibtisch gestützt und zu ihm vorgebeugt hatte, einfach nicht aus dem Kopf. Ihr Dekolletee konnte er sich allerdings nur vorstellen, und er wunderte sich, warum sie sich immer von Kopf bis Fuß verhüllte. Sie hatte einen wundervollen Körper – er hatte ihre Kurven gesehen – warum versteckte sie ihn dann?

Mitch strich sich genervt mit den Händen durchs Haar. Was, zum Teufel, sollte er mit Grace nur anfangen?

Da riss ihn eine Mail aus seinen Gedanken. Er sollte sich Freitagmorgen in Leos Büro einfinden. Und obwohl er froh über die Ablenkung war, konnte er nicht aufhören, an Grace zu denken.

Am Freitag in aller Frühe begab er sich sofort in Leos Büro. Dort saß bereits Leos Bruder Ethan. Obwohl er der Jüngere von beiden war, wirkte er viel älter, was mit seinem harten Leben als Soldat zusammenhing. Es war kein Geheimnis, dass die Brüder noch immer zerstritten waren. Dadurch war die Atmosphäre ziemlich angespannt, und Mitchell fühlte sich unbehaglich.

„Ah, Cooper. Schön, Sie zu sehen“, sagte Leo, als Mitch neben Ethan Platz nahm. „Möchten Sie einen Kaffee?“ Er hielt einladend die Kanne hoch.

„Nein, danke“, erwiderte Mitch knapp. Er fragte sich, was der Grund für dieses Meeting sein mochte, und warum Ethan anwesend war. Er wirkte so zugeknöpft wie immer. Aus seiner Körpersprache ließ sich nichts deuten.

„Nun“, begann Leo, „ich wollte euch beide über ein paar meiner Pläne für die Zukunft der Klinik unterrichten. Wie ihr ja wisst, wird die Hunter Clinic die Stiftung Fair Go von Olivia Fairchild unterstützen. Olivia hat eine Weile hier bei uns als Chirurgin in der Pädiatrie gearbeitet und ist dann nach Afrika gegangen. Um möglichst vielen Kindern dort zu helfen, habe ich mich entschlossen, Olivia und ein paar ihrer Patienten hierher einzuladen. Für wie lange genau das sein wird, weiß ich noch nicht.“

Leo betrachtete die beiden Männer vor sich, und ihm fiel auf, wie fest Ethan sich an seine Kaffeetasse klammerte. „Bis wir uns finanziell erlauben können, als komplettes Team nach Afrika zu fliegen, müssen wir die Kinder eben nach London bringen. Olivia ist mit diesem Plan einverstanden, und ich wollte euch beide nur darauf vorbereiten, dass sie demnächst eintreffen wird.“ Jetzt sah er seinen Bruder scharf an. „Du solltest dich daher mit dem Gedanken anfreunden, dass du wieder mit ihr zusammenarbeiten wirst. Ob dir das nun gefällt oder nicht.“

Ethan setzte seine Tasse ab und stand auf. „Kein Problem.“ Er wandte sich zur Tür, hielt aber noch einmal kurz inne. „Tu, was du tun musst. Die Kinder brauchen unsere Hilfe. Sie kommen an erster Stelle. Du kannst auf mich zählen.“ Damit verließ er den Raum.

Mitch fragte sich, was Ethan wohl dagegen haben mochte, mit dieser Kollegin zu arbeiten.

„Ich weiß, ich schulde Ihnen eine Erklärung“, sagte Leo, der seine Gedanken erraten zu haben schien. „Aber es ist eine lange Geschichte.“

Ethan muss eine Menge durchgemacht haben, dachte Mitch. Er wirkte immer ein bisschen mürrisch, doch ihm gegenüber war er immer ausgesprochen höflich gewesen. Er war ein richtiger Profi, und Mitch wusste, wie sehr ihm seine Patienten am Herzen lagen. Daher hatte er auch großen Respekt vor ihm, zumal er ein erstklassiger Chirurg war. Leo hingegen hatte sich mit Ethans Dämonen herumschlagen müssen, seit dieser wieder angefangen hatte, in der Klinik zu arbeiten. Mitch hatte viele hitzige Streits hinter verschlossenen Türen mitbekommen und sich daher seine Gedanken gemacht.

Leo trank einen Schluck Kaffee und seufzte tief. „Wie gesagt, es ist eine lange Geschichte. Aber letztlich geht es darum, dass Olivia, Ethan und ich eine gemeinsame Vergangenheit haben.“ Er machte eine kleine Pause. Mitch sah ihn verblüfft an. Verstand er ihn richtig? Hatten sie etwa eine Dreiecksbeziehung geführt? Das würde ja noch einmal ein ganz anderes Licht auf die Sache werfen.

„Vielleicht nehme ich doch einen Kaffee“, sagte er, und Leo schenkte ihm ein. Gespannt wartete er auf den Rest der Geschichte.

„Wie Sie bestimmt wissen, ist mein Bruder immer bereit, sich für humanitäre Belange einzusetzen. Fair Go ist eine großartige Stiftung, und ich bin mir sicher, dass er Olivia deshalb auch unterstützen wird. Es nagt etwas ganz anderes an ihm. Ich habe dazu eine Vermutung, aber es steht mir nicht zu, darüber zu sprechen.“ Er trank einen weiteren Schluck.

Mitch sah ihn abwartend an. Wenn Leo ihm mehr erzählen wollte, würde er es auch tun.

„Es gibt da noch etwas“, fuhr dieser zögernd fort. „Doch das muss unter uns bleiben.“

Mitch nickte gespannt.

„Ob mein Bruder das nun zugeben will oder nicht – ich weiß, er hat ein Herz.“ Leo versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. „Wenn Sie glauben, dass es ihm jetzt schon nicht gut geht, warten Sie erst mal ab, bis Olivia kommt. Ich glaube, dass ihre Rückkehr ein echtes Problem für ihn ist. Wundern Sie sich daher bitte nicht, wenn er öfters schlecht gelaunt sein sollte.“

Mitch setzte seine Tasse ab und erhob sich. „Danke für die Warnung! Ich werde an Ihre Worte denken. Falls Ethan mir gegenüber einmal ausfallend werden sollte, werde ich das nicht persönlich nehmen.“ Er beugte sich vor und schüttelte Leos Hand.

Eigentlich wollte er sich bei ihm dafür bedanken, dass Leo ihn ins Vertrauen gezogen hatte. Aber unterm Strich betrachtet, hatte dieser eigentlich gar nichts enthüllt. Er war ein sehr reservierter Mann, und wahrscheinlich war es falsch gewesen zu erwarten, dass er sich einem anderen gegenüber wirklich öffnete. Ethan würde mit einer Frau aus seiner Vergangenheit umgehen müssen, und Leo hatte Mitch deswegen warnen wollen. Das war auch schon alles. Offensichtlich war irgendetwas Gravierendes zwischen den Hunter Brüdern und dieser Olivia passiert. Aber was das nun genau war, konnte er nur vermuten.

Plötzlich fiel ihm etwas auf: Die Hunter Clinic leistete auf vielen Ebenen großartige Arbeit. Doch wenn es um das Privatleben ihrer Angestellten ging, blieben viele Fragen offen.

„Ach, und Cooper? Ein neuer Patient wurde eingeliefert, der Überlebende einer Explosion in Äthiopien. Es ist eins der Kinder von Olivias Fair Go-Stiftung. Sein Name ist Telaye Derege, er hat einen Teil seines Gesichts und ein Ohr verloren. Leider kann Olivia noch nicht sofort nach London kommen. Daher möchte ich den Kleinen in Ihre und Graces Obhut geben.“ Er schob Mitch einen Stapel Papiere hinüber. „Hier sind die Notizen zu dem Fall. Bitte, nehmen Sie sie mit nach Hause und schauen Sie sie sich am Wochenende an. Ihr beide könnt euch den Fall direkt nach der Cumberbatch-OP vornehmen. Wahrscheinlich wird es sowieso so lange dauern, bis der Kleine ausreisen darf.“

Mitch nahm die Papiere entgegen. Er fragte sich im Stillen, wie es ihm gelingen sollte, Grace auf Distanz zu halten, wenn sie an denselben Fällen arbeiten sollten.

Als er Leo verließ, hatte er mehr Fragen als Antworten.

Auf dem Rückweg lief Mitch Lizzie über den Weg, Leos Frau und die Pflegedienstleiterin der Klinik. Er winkte sie in sein Büro. Wenn irgendjemand ihm etwas über die Geschichte zwischen Olivia und den Hunter Brüdern erzählen konnte, dann war es die frisch gebackene Mrs Hunter. Nachdem sie eingetreten war, schloss er die Tür.

„Ich möchte Sie gern etwas fragen.“

Lizzie lächelte ihn an. „Na, klar. Schießen Sie los!“

„Ich komme gerade aus einem Meeting mit Leo, und ich versuche, mir einen Reim aus dem zu machen, was er mir erzählt hat.“

„Ach, ja? Was hat Leo denn jetzt schon wieder verbrochen?“

„Nun, wir haben doch alle schon von Fair Go gehört und wollen diese Stiftung nach Kräften unterstützen, richtig?“

Sie nickte und hörte ihm aufmerksam zu.

„Leo hat mir gerade mitgeteilt, dass Olivia Fairchild persönlich nach London kommen wird. Als Ethan das gehört hat, ist er aufgestanden und hat das Büro verlassen. Leo meinte, das Ganze wäre eine lange Geschichte und dass irgendetwas zwischen den dreien passiert ist. Außerdem hat er mich gewarnt, Ethan könnte ziemlich unleidlich werden, sobald sie da ist. Was, zum Teufel, soll ich davon halten?“

Lizzie holte tief Luft. „Nun, im Grunde ist es ganz einfach. Es geht um eine Dreiecksbeziehung.“

Mitch sah sie ungläubig an. „Wie bitte?“

„Vor langer Zeit waren Leo und Ethan in Olivia verliebt. Ethan trug den Sieg davon, doch dann brach er ihr das Herz. Weil ich ihn nach seiner Verletzung lange gepflegt habe, kenne ich ihn inzwischen ziemlich gut. Er leidet noch immer sehr unter dem, was er im Krieg miterleben musste. Außerdem hat er einige Menschen verloren, die ihm sehr wichtig waren. Ich nehme an, wenn Olivia wieder auftaucht, wird ihn das an vieles erinnern, was er gern vergessen hätte. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass er sie einmal sehr geliebt hat. Mehr kann und darf ich nicht sagen. Aber ich hoffe, das hilft Ihnen ein bisschen.“

„Ja, in der Tat. Vielen Dank. Ich möchte mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen. Sie haben mir jetzt viel Stoff zum Nachdenken gegeben.“

Autor

Lynne Marshall
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Lynne Marshall war beim Schreiben eine Spätzünderin: Lange dachte sie, sie hätte ein ernsthaftes Problem, weil sie so oft Tagträumen nachhing. Doch dann fand sie heraus, dass sie diese einfach niederschreiben konnte und daraus tolle Geschichten entstanden! Diese Erkenntnis traf sie erst, als ihre Kinder schon fast erwachsen...
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