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Sie ist zauberhaft! Obwohl er immer noch um seine Frau trauert, ist Arzt Joe Lennox hingerissen von seiner Kollegin Lien. Während seiner Arbeit in einer Klinik in Vietnam kommen sie einander näher. Doch was wird sein, wenn Joe nach sechs Monaten
wieder zurückmuss nach Schottland?


  • Erscheinungstag 31.10.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536073
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Auf dem Papier hatte es so ausgesehen, als würde die Reise ewig dauern, aber für ihn war der Tag blitzschnell vergangen.

Zeig deinem kleinen Jungen einen Teil der Welt, aus dem er neue Erinnerungen mitnehmen kann. Das hatte seine Mutter gesagt, als sie ihm das Flugticket nach Vietnam überreicht hatte.

Sie hatte recht gehabt, das hatte Joe gleich gewusst. Und sie hatte ihm damit auch den entscheidenden Anstoß gegeben.

Danach ging alles fast wie von selbst. Er hatte die benötigten Impfungen organisiert, seine Arbeit abgeschlossen, gepackt, einer Agentur seine Hausschlüssel übergeben und sichergestellt, dass seine Post zu seinen Eltern geschickt wurde.

Als er schließlich im Flugzeug saß, war er erschöpft und bereit für eine Auszeit. Aber seine innere Unruhe legte sich nicht, und er verspürte ein merkwürdiges Magenflattern. Es war lange her, dass er wegen etwas aufgeregt gewesen war. Dieses Gefühl kannte er fast nicht mehr.

Regan genoss den Flug. Voller Begeisterung schaute er sich Filme an, aß die Snacks, die man ihnen servierte, und schlief viel. Sein Sohn war ein wirklich toller Reisegefährte.

Jetzt, da sie kurz vor der Landung auf dem Flughafen von Hanoi waren, starrte Regan verwundert auf die grüne Landschaft. „Sieht aus wie zu Hause“, sagte er mit einem Lächeln.

Joe spürte einen Stich in seinem Herzen. Bei dieser Reise ging es darum, das Leben weiterzuleben, das war ihm klar. Innerlich war er bereit dazu, doch bisher hatte er noch nicht die notwendigen Schritte unternommen. Immer wieder, sei es durch eine Handbewegung oder einen Blick, erinnerte Regan ihn an Esther.

Nie würde er darüber hinwegkommen, dass sie es nicht sehen konnte. Dass sie diesen Moment nicht mit ihnen teilen und stolz auf ihren kleinen Sohn sein konnte. Ihr Sohn, der ein aufgeweckter, mutiger Junge geworden war.

Joe beugte sich nach vorn und sah ebenfalls aus dem Fenster. Eigentlich hatte er erwartet, eine Stadt zu sehen, doch jetzt schien es so, als wäre die Landebahn in Hanoi genauso grün wie die in Glasgow. Vielleicht würde es hier ja vertrauter sein, als er gedacht hatte.

Der Flughafen war voller Menschen. Joe hielt Regans Hand fest, als sie die Passkontrolle passierten und ihr Gepäck in Empfang nahmen. Ein Mann in einem weißen Hemd und weiter Hose lehnte an einer Säule und hielt ein Pappschild in der Hand:

Dr. Joe Lennox und Sohn

Um sie herum herrschte lautes Sprachgewirr. Joe konnte nur hoffen, dass der Mann wenigstens ein bisschen Englisch sprach.

„Dr. Joe?“, fragte der Mann.

Joe nickte und der andere streckte seine Hand aus. „Ich bin Rudi und werde Sie ins May Man Krankenhaus bringen.“ Er griff nach dem Gepäck und ging rasch auf den Ausgang zu. „Sie sind aus Schottland?“, fragte er über die Schulter hinweg.

Joe nickte erneut und zog Regan hinter sich her, wobei er sich bemühte, mit dem Mann Schritt zu halten.

„Ich kenne alle Ihre Fußballmannschaften. Was ist Ihr Lieblingsverein?“

Joe lachte. Alle sprachen über Fußball, wenn sie erfuhren, dass er aus Schottland kam.

Regan war müde und lehnte sich auf dem Rücksitz des Wagens an Joes Schulter. Der Verkehr war hektisch. Offensichtlich fuhr man in Hanoi vor allem Motorroller oder Motorrad.

Zweifel überkamen Joe. Was sollte er tun, wenn es seinem Sohn hier nicht gefiel? Doch dann musste er wieder an seine verstorbene Frau denken. Sein Junge hatte ihre Abenteuerlust geerbt, bestimmt würde er die neuen Erfahrungen genießen.

Nach einer halben Stunde erreichten sie die Hauptstadt. Joe staunte über das Gedränge in den Straßen. Außerdem kam ihm Hanoi sehr bunt vor. Sie fuhren an einer Reihe von Läden mit roten, blauen und gelben Markisen vorbei, umgeben von ohrenbetäubendem Verkehrslärm.

Vor den Geschäften hatten Straßenhändler ihre Stände aufgestellt und boten ihre Waren feil. Ein bisschen erinnerte ihn das ganze Chaos an die Barrowlands in Glasgow. Er lächelte.

Der Fahrer machte sie auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam, als sie durch den Ba-Dinh-Bezirk und dann durch das französische Viertel fuhren. Die Villen im Kolonialstil waren elegant und hoben sich stark von dem Vorort ab, durch den sie als Nächstes kamen. Hier gab es keine Touristenläden mehr, die Armut war offensichtlich. Auch das erinnerte Joe an zu Hause, denn er hatte ein paar Jahre lang als Allgemeinarzt in einer der ärmsten Gegenden Glasgows gearbeitet.

Schließlich hielt der Wagen vor einem zweistöckigen Haus im französischen Kolonialstil, das ein wenig heruntergekommen aussah. Über dem Eingang hing ein Schild: May-Man-Krankenhaus. Der Fahrer stieg aus und öffnete ihnen lächelnd die Tür. Joe nahm den schlafenden Regan auf den Arm und trat auf die Straße. Warme Luft schlug ihnen entgegen.

Neugierig sah er sich um. Bestimmt war auch dies einmal ein Viertel für Reiche gewesen, doch seine besten Tage lagen offensichtlich weit zurück. An den Fassaden der Häuser blätterte die Farbe ab, die Fensterläden hingen schief. Nur das Schild über der Tür des Krankenhauses war neu.

Als Joe, gefolgt vom Fahrer mit ihrem Gepäck, die Doppeltür zum Eingang aufstieß, schlug ihm Vertrautes entgegen.

Der Geruch von Desinfektionsmittel, eingebettet in leises Stimmengewirr und das Geräusch hastiger Schritte. Unwillkürlich lächelte er.

Genau das hatte er vermisst. Schon als kleiner Junge hatte er Arzt werden wollen, und in den letzten sechs Monaten … Joe schluckte. Ja, natürlich hatte er gearbeitet. Aber er hatte es nicht genossen, nicht wie sonst.

Obwohl er nichts über dieses Krankenhaus wusste, fühlte es sich richtig an, hier zu sein.

Eine Frau kam auf ihn zu und sprach ihn an: „Kann ich Ihnen helfen?“

Er nickte. „Ja, ich bin mit Nguyen Van Khiem und Nguyen Van Hoa verabredet“, erklärte er. „Den beiden Ärzten, die die Klinik leiten.“

Ihr Blick fiel auf den kleinen Jungen auf seinem Arm, und sie blinzelte erstaunt. „Oh“, sagte sie.

Eine Sekunde lang schauten sie einander nur an, und Joe sah die Überraschung in ihrem hübschen Gesicht. Offensichtlich hatte sie etwas anderes erwartet. Während er ihr dunkles Haar, ihre großen Augen und das dezente Make-up betrachtete, fiel ihm auf, dass auch er eine ältere Person erwartet hatte. Schließlich hatte seine Mutter gesagt, dass das Krankenhaus von einem älteren Paar mit mehr als fünfzig Jahren Berufserfahrung geleitet wurde.

„Sie müssen der neue Arzt sein“, sagte die Frau. „Khiem und Hoa haben angekündigt, dass Sie heute ankommen würden.“ Sie betrachtete den Jungen auf seinem Arm. „Und das ist bestimmt Regan, oder?“

Joes Neugier war geweckt. Wer war diese Frau? Sie reichte ihm kaum bis zu den Schultern, hatte ihr dunkles Haar straff zurückgebunden und trug eine pinkfarbene Bluse und eine schwarze Hose.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Lien, eine der Ärztinnen hier im Krankenhaus. Dang Van Lien“, setzte sie hinzu, als er sie fragend anschaute. „Aber alle nennen mich Dr. Lien.“

Er nickte ihr zu und versuchte, sich zu merken, dass man hier den Nachnamen zuerst nannte. Ihr Händedruck war warm und fest. Das gefiel ihm.

„Khiem und Hoa mussten leider geschäftlich verreisen. Es tut ihnen sehr leid, dass sie Sie nicht begrüßen können. Kommen Sie bitte mit.“ Sie bückte sich und packte die Griffe der beiden Trolleys, bevor er sie davon abhalten konnte.

„Ist alles okay?“, fragte er verunsichert. „Wohin sind sie denn gefahren?“

„Sie mussten zu einem Noteinsatz in einem anderen Krankenhaus, wo mehrere Ärzte erkrankt sind. Es liegt einige hundert Kilometer von hier entfernt, und sie werden ein paar Wochen weg sein.“ Lien führte ihn aus dem Gebäude und zeigte auf die drei dahinter liegenden Bungalows. „Das sind die Unterkünfte für das Krankenhauspersonal.“

Neugierig betrachtete Joe die Häuser und stellte fest, dass jede Eingangstür eine andere Farbe hatte.

Lien führte ihn zu einem Bungalow mit einer blauen Tür, stieß sie auf und knipste das Licht an. Dann griff sie nach einem Schlüssel, der an einem Haken neben der Tür hing, und reichte ihn Joe.

„Hier, bitte.“

Auch wenn der Bungalow längst nicht so groß wie sein Haus in Schottland war, wirkte er sehr gemütlich. Im Wohnzimmer standen ein kleines rotes Sofa und ein Tisch mit zwei Stühlen, dahinter lag die Küche. Lächelnd zeigte Lien ihm die zwei Schlafzimmer. Über den Betten hingen Moskitonetze. Außerdem gab es ein kleines Badezimmer.

Joe gefiel das Haus sofort, es machte ihm nichts aus, dass es ein bisschen eng war. Er legte Regan vorsichtig auf dem Bett ab und vergewisserte sich, dass das Moskitonetz bis zum Boden reichte. Dann zögerte er kurz, griff in Regans Koffer und holte das gerahmte Foto von Esther heraus. Wenn sein Junge aufwachte, sollte er als Erstes etwas Vertrautes sehen.

Eigentlich waren es zwei Bilder, auf dem einen hielt sie Regan auf dem Arm und strahlte in die Kamera. Das war ein Jahr vor ihrer Leukämiediagnose gewesen. Auf dem zweiten waren sie alle am Strand, und der Wind blies ihr eine blonde Locke ins Gesicht. Joe betrachtete das Foto einen Moment lang, dann stellte er es behutsam auf das Nachtschränkchen.

„Kann ich noch eine Geschichte hören?“, bat Regan leise.

Joe blickte auf die prall gefüllten Koffer, und Lien zuckte mit den Achseln.

„Warum packen Sie nicht aus, und ich erzähle dem Jungen eine meiner vielen Geschichten?“

Es versetzte ihm einen kleinen Stich, denn eigentlich gehörte es zu seinen Pflichten, seinem Sohn täglich eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Doch zum einen war er ziemlich müde, und zum anderen hatte Regan seine Geschichten schon hundertmal gehört. „Danke“, sagte er daher. „Das ist wirklich nett von Ihnen.“

„Gar kein Problem“, erwiderte Lien. Sie ließ sich auf Regans Bettkante nieder und begann, eine Geschichte über Drachen zu erzählen.

Joe packte in der Zwischenzeit aus. Eine halbe Stunde später erschien Lien, um ihm zu sagen, dass der Junge eingeschlafen war.

„Möchten Sie vielleicht einen Tee?“, fragte sie und zeigte auf die kleine Küche. „Wir haben genügend Vorräte für Sie eingekauft. Ich kann uns gern einen machen. Bestimmt sind Sie sehr müde, oder? Schottland ist ja ziemlich weit weg.“

Joe nickte, ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf dem Sofa nieder, das genauso gemütlich war, wie es aussah. Von hier aus konnte er beobachten, wie Lien in der kleinen Küche hantierte. Bald erfüllte ein blumiger Duft den Raum.

„Was ist das?“, fragte er erstaunt.

Lien erschien mit einem Tablett, einer Teekanne und zwei Tassen und stellte alles auf dem Tisch ab. „Jasmintee. Haben Sie ihn noch nie probiert?“

Der Tee schmeckte ein bisschen wie Parfüm, doch das wollte er ihr nicht sagen.

„Danke, wirklich nett von Ihnen.“

Sie lächelte ihn an und nahm auf einem der Stühle Platz. „Ich sorge nur dafür, dass Sie morgen fit sind an Ihrem ersten Arbeitstag. Der Tee sollte helfen, dass Sie sich entspannen und gut schlafen.“

„Ah, verstehe. Purer Eigennutz.“ Er erwiderte ihr Lächeln.

„Nun, morgen wird bestimmt ein hektischer Tag werden. Sie müssen wissen, dass uns gerade ein Norovirus ziemlichen Ärger macht. Wir haben hier viele Kinder und auch Erwachsene, die unter Dehydrierung leiden.“

Joe schauderte. „Ein Norovirus. Na, toll.“ Er sah sie neugierig an. „Seit wann arbeiten Sie hier?“

„Schon immer“, erwiderte sie schlicht. „Ich bin in Hanoi geboren und aufgewachsen. Hier habe ich meine Ausbildung gemacht, dann habe ich ein Jahr in Washington und eines in Dublin verbracht. Ich wollte die Welt kennenlernen.“

„Aber Sie sind zurückgekommen.“

Lien zögerte kurz. „Natürlich. Ich habe zuerst unter Duc gearbeitet, das ist der Sohn von Khiem und Hoa. Das Krankenhaus gab es schon, als ich noch ein Kind war. Die beiden haben es mit ihrem eigenen Geld aufgebaut.“

„Was? Die Regierung unterstützt sie nicht?“

Lien verzog das Gesicht. „Doch, sie zahlen monatlich eine kleine Summe. Aber unser Gesundheitssystem lässt sich mit dem in Schottland nicht vergleichen. Es ist in Vietnam immer noch die Regel, dass man den Arzt bezahlen muss.“

„Und können die Menschen sich das leisten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die meisten nicht. Und da kommen wir ins Spiel. Wir bieten kostenlose Gesundheitschecks an sowie Untersuchungen für Kinder und werdende Mütter.“

Plötzlich merkte Joe, dass er wirklich hundemüde war. Kein Wunder nach der langen Reise.

Er rieb sich die Augen. „Wissen Sie, ich mache mir wegen morgen ein bisschen Sorgen. Zu Hause habe ich zwar versucht, ein paar Worte Vietnamesisch zu lernen, aber ich bin weit davon entfernt, mich mit jemandem normal unterhalten zu können.“

Sie schüttelte den Kopf. „Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wir haben hier eine Übersetzerin, die Ihnen zur Seite stehen wird. Viele unserer Krankenschwestern sind zweisprachig. Das sollte also kein Problem sein.“ Lien nickte in Richtung Schlafzimmer. „Haben Sie Vorkehrungen für Ihren Sohn getroffen?“

„Ja, ich habe ihn in der internationalen Schule angemeldet. Glücklicherweise ist sie ja nicht sehr weit von hier entfernt. Ich werde ihn gleich ab morgen dort hinbringen.“

„Prima, die Schule hat einen guten Ruf. Bestimmt wird es ihm da gefallen.“ Sie machte eine kleine Pause und setzte hinzu: „Khiem sagte, Sie würden sechs Monate bleiben?“

„Ja, so lange habe ich mir eine Auszeit genommen. Regan und ich … wir brauchten mal einen Tapetenwechsel. In einem halben Jahr beginnt seine Schule in Schottland, dann fliegen wir wieder zurück.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Arbeitet Khiems und Hoas Sohn auch hier?“

Lien lachte. „Nein, er ist von der dunklen Seite geködert worden.“

„Was meinen Sie damit?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Er ist ein bekannter Chirurg und operiert auf der ganzen Welt. Das Krankenhaus hier wäre für ihn viel zu provinziell.“

In ihren Worten lag unausgesprochene Kritik, doch Joe ging nicht darauf ein. „Sie wollten schon immer hier arbeiten?“, fragte er stattdessen.

„Ja, hier ist mein Zuhause. Ich bin Ärztin geworden, um meinen Leuten zu helfen.“

Das verstand er nur zu gut, denn ihm ging es genauso. Dennoch hatte er seiner Frau nicht helfen können. Darüber würde er wohl nie hinwegkommen.

Jetzt war es an Lien, eine Frage zu stellen: „Warum Vietnam?“

Joe holte tief Luft. „Es war die Idee meiner Mutter“, erwiderte er mit bedauerndem Lächeln.

„Wie?“

Erneut merkte er, wie erschöpft er war. Er hatte nicht die Kraft für lange Erklärungen. Deshalb kam er gleich auf den entscheidenden Punkt: „Meine Frau ist vor drei Jahren an Leukämie gestorben. Wir hatten immer vor, mit Regan um die Welt zu reisen. Nach ihrem Tod entschied meine Mutter, dass ich … dass wir eine Auszeit gebrauchen könnten. Und Vietnam stand von Anfang an auf unserer Wunschliste.“

Lien sah zum Schlafzimmer hinüber und nickte. „Verstehe. Dann müssen Sie also Vater und Mutter für Ihren kleinen Sohn sein. Das ist bestimmt nicht leicht für Sie.“

Joe sah sie dankbar an. Er mochte diese Frau, weil sie so direkt war. Sie waren sich zwar gerade erst begegnet, doch er hatte das Gefühl, als würde sie ihn verstehen.

„Regan macht es mir leichter“, erwiderte er und seufzte. „Wissen Sie, ich sehe sie jeden Tag in ihm. In seinen Gesten, in seinem Lachen. Und ich weiß, sie wäre sehr stolz auf unseren kleinen Jungen. Jetzt kann ich nur hoffen, dass es die richtige Entscheidung war und dass es ihm hier gefallen wird.“

Lien nickte und trank einen Schluck Tee. „Ach, ganz bestimmt. Das Krankenhaus ist toll, und die Menschen, die hier arbeiten, sind wunderbar. Bestimmt werden Sie und Ihr Sohn sich hier sehr wohlfühlen.“

Joe sah sie fragend an. „Als wir vorhin ankamen … keine Ahnung, ich hatte das Gefühl, Sie haben jemand anderen erwartet.“

Lien nickte. „Ja, nach der Beschreibung, die Khiem mir gegeben hatte, dachte ich, Sie wären älter.“ Sie erhob sich, ging auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. „Aber Sie gefallen mir, Dr. Joe. Bestimmt werden Sie sich hier schnell einleben.“

Etwas an der Art, wie sie das sagte, tat ihm gut. Vielleicht hing es mit der anstrengenden Reise zusammen oder damit, dass er in einem fremden Land war. Joe wusste jedenfalls instinktiv, dass er mit Lien gut zusammenarbeiten würde. Gern hätte er noch mehr über sie erfahren.

In der Tür zur Küche blieb sie kurz stehen. „Wir haben Nudeln, Gemüse und Schweinefleisch für Sie gekauft. Wenn Sie Hunger haben, können Sie jederzeit etwas im Wok brutzeln.“ Sie ging zum Spülbecken und wusch ihre Teetasse aus. „Morgen ist Markt. Wenn Sie mögen, kann ich Sie dort herumführen. Es ist nicht weit von hier.“

Joe stand ebenfalls auf, er erinnerte sich in letzter Minute an seine guten Manieren.

„Wenn Sie irgendetwas brauchen sollten, ich bin im Bungalow nebenan.“

„Ach ja? Welcher ist denn Ihrer?“

„Khiem und Hoa wohnen in dem mit der gelben Tür und meine ist lila.“

Er nickte ihr zu, als sie die Tür öffnete, dann fiel ihm etwas ein. „Verdammt, ich habe mir das Krankenhaus ja noch gar nicht angeschaut.“

Lien winkte ab. „Ach, dafür ist morgen genug Zeit. Wir sehen uns dann morgen früh.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und ging auf das Haus mit der lila Tür zu.

Joe schüttelte den Kopf. Er hatte sich Sorgen gemacht, hatte sogar ein bisschen Angst gehabt, was seinen Einstieg hier betraf, doch Lien schien eine gute Kollegin zu sein. Nachdenklich sah er sich im Bungalow um. Ja, er war zwar klein, aber es gab alles, was sie brauchten. Für sechs Monate.

Ein komplett anderes Leben für sechs Monate. Zum zweiten Mal, seit er die Tickets von seiner Mutter erhalten hatte, verspürte er dieses Gefühl, das er diesmal sofort erkannte: Aufregung.

Lien schloss die Tür hinter sich. Vielleicht war sie ja zu direkt gewesen, zu wenig diplomatisch. Tatsächlich war sie ein bisschen durch den Wind. Khiem und Hoa hatten eigentlich hier sein wollen, der Anruf aus dem anderen Krankenhaus hatte jedoch ihren sofortigen Aufbruch erfordert. Joe wusste es noch nicht, doch Khiems und Hoas Abwesenheit bedeutete, dass Lien und er in den nächsten Wochen die beiden einzigen Ärzte in der Klinik sein würden.

Sie zog ihr Haarband heraus und schüttelte den Kopf. Wenn sie ehrlich war, war sie ziemlich fasziniert von dem neuen schottischen Kollegen. An manchen Punkten hatte sie sich ganz schön konzentrieren müssen, um ihn richtig zu verstehen. War ihm bewusst, wie schnell er manchmal redete und wie undeutlich seine Aussprache war?

Außerdem war ihr das Foto auf dem Nachttisch aufgefallen. Es war klar, dass es seine verstorbene Frau zeigte. Ob er wirklich schon bereit war, hier zu sein?

Sie seufzte. Schließlich war er nicht der erste Arzt aus dem Westen, der in den letzten sechs Monaten hierhergekommen war. Der letzte war aus Deutschland gekommen und hatte psychische Probleme gehabt, die sich während seines Aufenthalts zugespitzt hatten. Eine Ärztin hatte sich als drogenabhängig herausgestellt. Ein Arzt aus den Vereinigten Staaten hatte versucht, mit den Schwestern anzubandeln, und war dann nach drei Monaten plötzlich verschwunden. Es stellte sich heraus, dass er verheiratet war und niemandem von seiner Frau erzählt hatte.

Alle drei Ärzte waren vor irgendetwas auf der Flucht gewesen. Und es sah so aus, als wäre es auch bei Joe Lennox so. Würde er es hier wirklich sechs Monate lang aushalten? So lange brauchten sie ihn. Das Krankenhaus brauchte Sicherheit. Sie konnten keinen weiteren Arzt gebrauchen, der feststellte, dass dieses Experiment in Vietnam nicht seinen Vorstellungen entsprach.

Lien zog sich rasch aus und ging unter die Dusche. Sie würde ihm helfen müssen, so viel stand fest. Jedenfalls so lange, bis sein Sohn sich hier eingelebt hatte. Falls Joe kalte Füße bekäme, würde er wahrscheinlich den nächsten Flug zurück nach Schottland nehmen. Ja, sie hatte ihm geglaubt, als er gesagt hatte, dass er einen Tapetenwechsel brauchte. Aber es war nicht seine Idee gewesen, sondern die seiner Mutter, und das machte ihr Sorgen. War er tatsächlich bereit für all das hier? Sie hatte seine Bewerbung nicht gesehen, hatte also keine Ahnung, was er vorher gemacht hatte. Khiem und Hoa kümmerten sich um die Personalangelegenheiten, und sie vertraute ihrer Einschätzung. Wenn sie glaubten, dass dieser schottische Arzt zu ihnen passte, musste Lien ihnen glauben.

Tatsächlich waren es aber nicht seine ärztlichen Fähigkeiten, die sie anzweifelte. Es ging ihr um den Zustand, in dem sein Herz und sein Kopf waren. Wenn er im Kopf woanders war, würde er Fehler machen. Und wenn er nicht mit dem Herzen bei der Sache war, würde er nicht bleiben wollen.

Bei diesem Gedanken zog sich etwas in ihrer Brust zusammen.

Das Krankenhaus bedeutete ihr alles.

Für viele Bewohner der Gegend war es der einzige Ort, den sie aufsuchen konnten, wenn sie krank waren. Ja, sie litten unter Personalmangel und hatten oft nicht die Medikamente, die sie brauchten. Trotzdem war dies die einzige Anlaufstelle für die Anwohner im Viertel, daher war die Klinik auch so wichtig. Sie war dazu da, den Menschen zu dienen.

Menschen wie ihr selbst und ihrer Familie.

Das hier war ihre Stadt, es waren ihre Leute.

Und egal, wie viel Mitgefühl sie für die besonderen Umstände des neuen Arztes aufbrachte, er würde sich hier voll einbringen müssen, so viel stand fest.

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