Sanft wie der Abendwind

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Fassungslos erfährt Lily: Sie wurde adoptiert! Voller Neugier nimmt sie Kontakt mit ihrem leiblichen Vater auf und wird von ihm und seiner Familie mit offenen Armen empfangen. Nur der attraktive Anwalt Sebastian Caine begegnet ihr kühl. Aber warum lässt er trotzdem keine Gelegenheit aus, mit ihr auf dem großen Familienanwesen allein zu sein? Sucht er etwa nach Beweisen, weil er sie für berechnend hält? Doch den wahren Grund für sein Verhalten erfährt Lily erst, als sie mit Sebastian eines Abends einen romantischen Bootsausflug auf eine kleine Insel macht …


  • Erscheinungstag 28.12.2008
  • Bandnummer 0002
  • ISBN / Artikelnummer 9783862951499
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Hugo Preston hatte Lily am Telefon gesagt, dass er bei der Gepäckausgabe auf sie warten würde und sie ihn an seinem grauen Haar und den roten Rosen in seiner Hand erkennen könne. „Morgen ist für mich ein wahrer Festtag, Lily“, hatte er hinzugefügt. „Ich zähle schon die Stunden, bis ich dich endlich kennenlerne.“

Und nun stand sie hier allein am Gepäckband. Sie verstaute ihre Koffer und die Reisetasche auf einem Kofferkuli und sah den Mitreisenden nach, die bereits die Ankunftshalle verließen. Zwar hatten mehrere grauhaarige Männer auf Passagiere der pünktlich gelandeten Maschine von Vancouver nach Toronto gewartet, keiner von ihnen hatte jedoch rote Rosen in der Hand gehabt und war auf sie, Lily, zugekommen, um sich als ihr leiblicher Vater vorzustellen.

Anscheinend lag Hugo Preston doch nicht so viel daran, seine Tochter nach all den Jahren kennenzulernen. Er hatte immer gewusst, dass es sie gab, sie aber noch nie gesehen, und nun vernachlässigte er sie schon wieder!

Verärgert nahm sie eine Straßenkarte aus der Handtasche und stellte fest, dass die kleine Stadt Stentonbridge, in der er lebte, ungefähr hundertfünfzig Meilen nordöstlich von Toronto lag. Da es hier im Osten Kanadas heftig regnete, konnte es sein, dass er für die Fahrt länger als erwartet brauchte.

Dann kam Lily ein schrecklicher Gedanke: Während sie hier stand und Hugo Preston im Stillen beschimpfte, wurde vielleicht gerade sein völlig zertrümmertes Auto aus einer Schlucht gezogen, und er lag bereits im Krankenwagen – auf dem Weg ins nächste Leichenschauhaus.

Rasch verdrängte sie das grausige Hirngespinst. Nein, tragische Schicksalsschläge waren die Ausnahme und trafen einen Menschen nicht zweimal kurz hintereinander! Es gab bestimmt einen plausiblen Grund für Hugos Verspätung, und wahrscheinlich lag am Informationsschalter schon eine Nachricht bereit.

Nochmals blickte sich Lily in der Ankunftshalle um, die nun beinah leer war. Einige Studenten scharten sich um ihren Reiseleiter, und ein beeindruckend großer Mann bahnte sich zielstrebig einen Weg durch genau diese Gruppe, deren Mitglieder vor ihm zurückwichen.

Er sieht aus wie Moses, vor dem sich das Rote Meer teilt, dachte Lily amüsiert und versuchte, das Schild des Informationsschalters zu entdecken.

Das gelang ihr jedoch nicht, weil der Mann nun in ihrer Blickrichtung direkt auf sie zukam.

„Sie suchen mich“, informierte er sie schroff und blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie den Kopf nach hinten neigen musste, um dem Unbekannten ins Gesicht zu sehen. Seine auffallend blauen Augen blickten kalt.

Auf keinen Fall konnte man ihn als älteren grauhaarigen Mann beschreiben, und freundlich wirkte er auch nicht.

„Nein, das tue ich nicht“, erwiderte Lily kurz angebunden und wollte an ihm vorbeigehen.

Er hielt den Kofferkuli fest. „Sie sind Lily Talbot.“

Jeder andere Mann hätte es bestimmt als Frage formuliert, aber er schien sich über die üblichen Regeln erhaben zu fühlen und sich für etwas Besonderes zu halten.

„Und wer sind Sie?“, fragte Lily.

„Sebastian Caine.“

Er klang, als müsste selbst die Dümmste nun Bescheid wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Lily dachte gar nicht daran, seinem ausgeprägten Selbstwertgefühl zu huldigen, und erwiderte nur: „Wie schön für Sie.“ Sie gab dem Kofferkuli einen kräftigen Stoß. „Würden Sie bitte loslassen? Ich möchte telefonieren, um herauszufinden, warum ich nicht, wie verabredet, abgeholt werde.“

„Nicht nötig.“ Sebastian Caine wich keinen einzigen Zentimeter zurück. „Ich bin Ihr Chauffeur.“

Der Gedanke, sie nach Stentonbridge zu fahren, behagte ihm offensichtlich genauso wenig wie ihr. „Oh nein, ich steige nicht zu ominösen Fremden ins Auto.“

Seine Lippen zuckten. „Sie kennen mich noch nicht lange genug, um mich als ominös bezeichnen zu können, Miss Talbot.“

„Trotzdem fahre ich nicht mit Ihnen, sondern warte auf Mr. Preston.“

„Hugo holt Sie nicht ab.“

Genau das hatte sie befürchtet. „Warum nicht?“

„Weil ich ihn überredet habe, zu Hause zu bleiben.“

„Tut er immer, was Sie ihm sagen?“

„Leider nicht“, erwiderte Sebastian Caine erbittert. „Sonst wären Sie jetzt nicht hier, und ich müsste meine Zeit nicht mit diesem albernen Gespräch vergeuden. Lassen Sie den verdammten Kofferkuli los! Ich will ihn nicht entführen – und Sie übrigens auch nicht –, aber ich würde gern das Gepäck verstauen und losfahren, bevor der Stoßverkehr einsetzt.“

Lily überlegte rasch. Sie hatte Hugos Vornamen nicht genannt, trotzdem kannte Sebastian Caine den, außerdem wusste er, wer sie war. Und er wirkte absolut gediegen: der Anzug, die Armbanduhr, ja sogar der Haarschnitt waren sichtlich teuer. Nein, Sebastian Caine sah nicht nach einem Kidnapper aus, doch der Schein konnte trügen, wie eine bittere Erfahrung sie erst vor Kurzem gelehrt hatte.

„Ich fahre nur mit Ihnen, wenn mein Vater Ihre Identität bestätigt, Mr. Caine“, verkündete sie schließlich.

Seinem finsteren Gesicht nach hielt er es für unverschämt, dass sie Hugo als Vater bezeichnete. Rasch zog er ein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. „Hier, bitte, bedienen Sie sich!“

Argwöhnisch nahm Lily das Gerät und stellte fest, dass auf dem Display Hugos Name und seine Telefonnummer zu lesen waren.

„Nun telefonieren Sie doch endlich“, forderte Sebastian Caine sie ungehalten auf, als er ihr Zögern bemerkte. „Es ist nur ein Handy, keine Bombe.“

Hugo hob nach dem dritten Klingeln ab. „Ich bin so froh, dass du anrufst, Lily. Ich musste meine Pläne leider ändern, denn mein Rücken plagt mich mal wieder. Mein Stiefsohn Sebastian holt dich ab und bringt dich hierher. Er ist ungefähr einen Meter neunzig groß, hat dunkles Haar und sieht gut aus, wie mir Frauen immer wieder versichern.“

Wenn man unhöflich, arrogant und herablassend hinzufügt, ist die Beschreibung perfekt, dachte Lily. „Wir haben uns bereits getroffen. Er steht direkt vor mir.“

„Wunderbar! Frag ihn, ob wir mit dem Abendessen auf euch warten sollen.“

Sie tat es, und Sebastian nahm ihr das Handy ab. Beim Reden wandte er ihr den Rücken zu, ganz so, als wollte er höchst vertrauliche Informationen von nationaler Bedeutung übermitteln. Die Stimme senkte er jedoch nicht. „Hugo? Wartet lieber nicht auf uns. Die Sitzung hat länger gedauert, und ich muss noch jemand besuchen, bevor ich nach Stentonbridge fahren kann.“

Hugo schien etwas zu fragen, woraufhin Sebastian sie, Lily, missbilligend betrachtete. „Na ja, das ist Geschmackssache“, meinte er schließlich. „Familienähnlichkeit besteht jedenfalls keine. Sie könnte irgendwer von irgendwo sein.“

Er klang, als hielte er sie für das Letzte! Leider habe ich nicht mehr Orientierungssinn als eine betrunkene Feldmaus, sonst würde ich ein Auto mieten und Sebastian Caine sagen, er könne sich sein Angebot an den Hut stecken, dachte Lily. So aber bezwang sie ihren Stolz und ließ sich von Sebastian zum Parkplatz bringen, wobei sie beinah laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten.

„Wie lange dauert die Fahrt nach Stentonbridge?“, erkundigte sie sich.

„Unter normalen Bedingungen ungefähr drei Stunden, aber bei dem scheußlichen Wetter eher vier oder fünf.“ Er klang gereizt.

„Tut mir leid, dass Sie sich meinetwegen solche Umstände machen müssen. Ich hätte nichts dagegen, mit dem Zug oder Bus weiterzureisen.“

„Nach Stentonbridge fahren keine öffentlichen Verkehrsmittel, außerdem würde Hugo davon nichts wissen wollen. Sie sind sozusagen die verlorene Tochter, die mit allem Pomp empfangen werden soll“, erklärte er spöttisch.

„Sie scheinen Hugos Begeisterung nicht zu teilen.“ „Weshalb sollte ich? Auch wenn Sie die sind, die Sie zu sein behaupten, dann …“ „Da gibt es kein ‚wenn‘“, unterbrach Lily ihn. „Ich kann es anhand von Dokumenten beweisen.“

„Deren Echtheit noch überprüft werden muss.“ Sebastian stellte den Kofferkuli hinter einem schnittigen Sportwagen ab und verstaute das Gepäck im Kofferraum. „Brauchen Sie eine der Taschen?“

„Nein.“

„Dann steigen Sie ein! Ich hab’s eilig.“

„Ach, ich dachte, Sie seien so gerannt, weil Sie für einen Zehnkampf trainieren“, erwiderte sie honigsüß.

„Treiben Sie es nicht zu weit, Miss Talbot! Sie haben meine Geduld bereits auf eine harte Probe gestellt.“

„Wie das, Sebastian?“

Seine Miene verriet ihr, was er von der vertraulichen Anrede hielt. „Sie sind hier. Das genügt, oder?“

„Ich bin aber nicht hier, um Sie zu sehen. Auch auf die Gefahr hin, Sie zu kränken, muss ich Ihnen sagen, dass ich bis vor zehn Minuten nichts von Ihrer Existenz wusste.“

Er schloss den Kofferraum und half ihr eher ungeduldig als höflich ins Auto, bevor er ebenfalls einstieg. „Warum möchten Sie Hugo so plötzlich kennenlernen?“

„Er ist mein Vater. Gibt es einen besseren Grund?“

„Vermutlich nicht, aber warum ausgerechnet jetzt? Er ist doch schon immer Ihr Vater gewesen.“

„Das wusste ich bis vor Kurzem nicht.“

„Genau darauf will ich hinaus, Miss Talbot: Sie sind sechsundzwanzig Jahre lang ohne ihn ausgekommen. In Ihrem Alter brauchen Sie keinen Vormund mehr. Es gibt keine emotionalen Bindungen zwischen Ihnen und Hugo. Was also ist der wahre Grund, warum Sie hier unvermittelt auftauchen?“

„Ich bin nicht bereit, mit einem völlig Fremden über meine persönlichen Angelegenheiten zu reden.“

„Hugo und ich haben keine Geheimnisse voreinander.“

„Offensichtlich doch“, erwiderte Lily selbstgefällig. „Ihre Reaktion auf mein ‚unvermitteltes Auftauchen‘ lässt vermuten, dass er Ihnen nie von mir erzählt hat.“

„Vielleicht hat er Sie ja nie vermisst. Seine zweite Tochter hat Ihre Abwesenheit mehr als aufgewogen.“

„Oh, ich habe eine Schwester?“ Das war Lily neu, und es verstörte und freute sie zugleich. Sie war als Einzelkind aufgewachsen und hatte sich immer eine große Familie gewünscht, hatte jedoch nicht einmal Großeltern oder Onkel und Tanten gehabt.

Sie waren immer nur zu dritt gewesen: sie, ihre Mutter und deren Mann, den sie so lange für ihren Vater gehalten hatte.

„Wir brauchen doch niemand sonst“, hatte Neil Talbot oft gesagt.

Und nun war sie ganz allein – seit dem Septembertag im Vorjahr, als ein Polizist zu ihr gekommen war und ihr mitgeteilt hatte, dass ihre Eltern bei einer Massenkarambolage auf einem Highway in North Carolina ums Leben gekommen waren.

„Natalie ist nur Ihre Halbschwester.“ Sebastians Stimme riss sie aus den Gedanken. „Sie stammt aus Hugos Ehe mit meiner Mutter.“

„Sie und ich sind demnach Halbstiefgeschwister, oder?“ Lily wollte einen freundlicheren Ton ins Gespräch bringen. „In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen wir zueinander?“

„In gar keinem“, erwiderte er scharf.

„Dem Himmel sei Dank!“ Sie war gekränkt.

„Ganz meine Meinung.“

Inzwischen hatten sie das Flughafengelände verlassen und sich in den dichten Verkehr nach Toronto eingereiht. Nach wie vor regnete es heftig. Sebastian schien ein geübter Fahrer zu sein, aber Lily verspannte sich jedes Mal, wenn er überholte, und war immer auf das Schlimmste gefasst. Sie hatte damals ihre Eltern identifizieren müssen, und die Erinnerung daran ließ sie noch immer nicht los.

„Wenn Sie weiterhin so heftig auf eine nicht vorhandene Bremse treten, landen Sie irgendwann mit dem Fuß im Freien“, bemerkte er und fuhr dicht auf ein anderes Auto auf.

„Ich möchte jedenfalls nicht im Kofferraum des Autos vor uns landen.“

Seine Lippen zuckten. „Mache ich Sie nervös, Miss Talbot?“

Sie schloss die Augen, als er rasant einen Lastwagen überholte. „Ja!“

„Dann sind Sie klüger, als ich dachte.“

Nun öffnete sie die Augen wieder. „Was soll das heißen?“

„Es soll heißen, dass ich Ihnen und Ihren Beweggründen nicht traue. Es soll heißen, dass ich jeden Ihrer Schritte überwachen werde, während Sie hier sind. Ein falscher Schachzug, und Sie bekommen es mit mir zu tun.“

„Das sind ja aufregende Aussichten!“, konterte Lily sarkastisch. „Mein Herz klopft schon wie rasend.“

„Ich meine es ernst.“

„Ja, das merke ich. Und ich frage mich, warum ich Sie dermaßen aus der Ruhe bringe. Ich versichere Ihnen, dass ich nicht vorhabe, mich mit dem Familiensilber davonzumachen oder jemand zu ermorden. Mich beschäftigen vielmehr einige Fragen, die nur Hugo Preston mir beantworten kann. Das ist alles.“

„Dafür hätten Sie nicht die weite Reise zu machen brauchen. Das Telefon wurde vor Langem erfunden.“

„Natürlich möchte ich auch meinen Vater persönlich kennenlernen.“

„Ja, darauf würde ich alles wetten“, höhnte Sebastian.

Starr sah Lily ihn an. Warum nur war er so feindselig? Sein Ausdruck verriet ihr jedoch nichts, und um eine Erklärung würde sie auf keinen Fall bitten.

„Ich hege wirklich keinerlei Hintergedanken bei meinem Besuch“, bekräftigte sie.

Sebastian presste die Lippen zusammen und trat aufs Gaspedal, um eine überlange Limousine zu überholen.

Lily wurde vor Angst eiskalt, als er anschließend mit hohem Tempo die Ausfahrt nahm, und sie stemmte beide Hände gegen das Armaturenbrett.

„Wie viele Unfälle hatten Sie schon?“, erkundigte sie sich unüberlegt.

Flüchtig sah er sie an, sein Blick wirkte zugleich kalt und amüsiert. „Keinen. Aber es gibt ja immer ein erstes Mal.“

„Es wäre mir lieb, wenn Sie diese Premiere auf einen Zeitpunkt verlegen, an dem ich nicht mit Ihnen im Auto sitze.“

„Mir ist ziemlich egal, was Ihnen lieb ist, Miss Talbot. Besser gesagt, es ist mir völlig gleichgültig. Und ich versichere Ihnen, dass keinerlei Gefahr droht. Ihretwegen würde ich doch nicht mein Leben riskieren!“

Kurz danach bogen sie in eine ruhige Straße mit schönen alten Häusern ein. Sebastian setzte den Wagen rückwärts in eine so kleine Parklücke, dass sie, Lily, schon wieder das Schlimmste befürchtete, aber das Manöver gelang perfekt.

Dann griff er hinter ihren Sitz, wobei er ihr so nahe kam, dass sie sein dezentes Rasierwasser wahrnahm, und holte einen Aktenkoffer hervor.

„Warten Sie hier“, forderte Sebastian sie auf und stieg aus. „Es dauert nicht lang.“

Sie beobachtete, wie er die Straße überquerte und zu einem Haus ging. Noch bevor er geklingelt hatte, wurde die Tür von einer Frau geöffnet, die erfreut lächelte und ihn herzlich umarmte. Sie war unübersehbar hochschwanger. Er legte ihr den Arm um die Schultern und ging mit ihr ins Haus.

Es vergingen zehn Minuten, dann zwanzig, und der Himmel wurde immer düsterer. Plötzlich wurde im oberen Stock des Hauses, in dem Sebastian verschwunden war, ein Licht angeknipst.

„Na prima!“, sagte Lily gereizt vor sich hin. „Ich sitze hier und warte, während er ein Rendezvous mit seiner Geliebten hat. Kein Wunder, dass er gebeten hat, mit dem Abendessen nicht auf uns zu warten.“

Sie wandte sich um und sah nach, ob sich hinter den Sitzen irgendetwas finden ließ, womit sie sich die Zeit vertreiben konnte – eine Zeitung, ein Magazin oder wenigstens eine Landkarte. Der einzig interessante Gegenstand war jedoch Sebastians Pass, der offen auf dem Boden lag.

Grundsätzlich zählte sie sich zu den anständigen Menschen, die Leihbücher pünktlich in die Bibliothek zurückbrachten, alten Menschen Türen offen hielten und nur in unvermeidlichen Fällen zu Notlügen Zuflucht nahmen. Niemals inspizierte sie Medizinschränke anderer Leute oder las deren Postkarten. Der verflixte Pass zog jedoch ihren Blick wie ein Magnet an, und bevor ihr völlig klar wurde, was sie tat, hatte sie ihn aufgehoben und sah verstohlen hinein.

Sie hätte man anhand ihres Passfotos für eine dringend gesuchte Kriminelle gehalten, Sebastian Caines Foto hingegen wirkte wie von einem Porträtfotografen aufgenommen. Ja, er war wirklich attraktiv: markantes Gesicht, dichtes schwarzes Haar und Wimpern, um die ihn sicher jede Frau beneidete. Außerdem war er beeindruckend groß und muskulös, wie sie, Lily, aus eigener Anschauung bestätigen konnte.

Schade, dass er zu kurz gekommen war, als der Charme verteilt wurde!

Sebastian war kanadischer Staatsbürger und vierunddreißig Jahre alt. Er war schon zu so exotischen Zielen wie Russland, Ostasien, Marokko und Griechenland gereist.

Lily blätterte weiter. Sein letzter Auslandsaufenthalt hatte ihn nach Kairo geführt, sein am weitesten entferntes Ziel war Rarotonga gewesen. Ein Wunder, dass er bei all den Reisen und den Besuchen bei seiner Geliebten überhaupt Zeit zum Arbeiten fand!

Verärgert, weil sie so lange warten musste, klappte sie den Pass zu und blickte wütend durchs Fenster zu dem Haus, in dem Sebastian verschwunden war. Das heißt, sie wollte zu dem Haus sehen, aber die Aussicht war ihr versperrt – von keinem anderen als Sebastian, der im strömenden Regen neben dem Seitenfenster stand und sie anfunkelte.

Er hatte sie auf frischer Tat ertappt. Sie errötete, und der Mund war ihr plötzlich wie ausgetrocknet. Wie gelähmt saß sie da und hoffte, sie hätte sich nur eingebildet, Sebastian draußen zu sehen.

Das war natürlich eine vergebliche Hoffnung. Er ging ums Auto herum und riss die Fahrertür auf.

Für ihr Verhalten gab es keine Rechtfertigung, aber Lily versuchte es trotzdem. „Der Pass lag auf dem Boden.“

Seine hochgezogenen Brauen verrieten ihr, was er von dieser Ausrede hielt.

„Deshalb habe ich ihn aufgehoben. Man sollte einen Pass nicht herumliegen lassen.“

Sebastian setzte sich hinters Steuer und betrachtete sie eindringlich.

Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie sich mit jedem Wort in noch größere Schwierigkeiten brachte, aber sein vorwurfsvolles Schweigen raubte ihr den letzten Nerv.

„Ich meine, er hätte doch auf die Straße fallen können, ohne dass Sie es bemerken, und Sie wissen ja sicher, was für ein Aufwand es ist, einen neuen Pass zu beantragen. Vor allem, wenn Sie kurzfristig ins Ausland wollen … Und außerdem muss man bedenken, dass ein Gangster das Dokument finden und für irgendwelche kriminellen Zwecke verwenden könnte. Und … na ja …“ Ihr fiel nichts mehr ein.

„Sind Sie endlich fertig?“

Als sie merkte, dass sie noch immer krampfhaft den Pass festhielt, ließ sie ihn Sebastian in den Schoß fallen. „Ja.“

„Ein Glück!“ Er warf den Pass achtlos nach hinten und fuhr aus der Parklücke.

Die Rushhour war nun in vollem Gang, und das machte es ihr, Lily, leichter, Sebastians Schweigen zu ertragen, da sie ihn ohnehin nicht ablenken wollte. Als sie aber Toronto bereits weit hinter sich gelassen hatten und die Stille weiterhin nur vom Geräusch der Scheibenwischer unterbrochen wurde, sagte Lily sich, dass sie nun beide lang genug geschmollt hätten.

„Unsere Begegnung scheint bisher unter keinem guten Stern zu stehen. Ich habe Sie verärgert und möchte mich für mein Verhalten entschuldigen“, begann sie und blickte zu Sebastian.

Er zuckte die Schultern, was nicht unbedingt ermutigend aussah.

Trotzdem blieb Lily hartnäckig. „Es ist sonst nicht meine Angewohnheit, anderer Leute Privateigentum zu inspizieren. Sie sind aber länger weggeblieben, als Sie behauptet hatten, und ich habe nur etwas zum Lesen gesucht.“

Kurz blickte er sie vernichtend an. „Da habe ich ja noch mal Glück gehabt, dass Sie sich mit meinem Pass begnügt haben. Hinten im Auto liegen ein gutes Dutzend juristischer Akten, die Ihnen pikantere Lektüre geboten hätten. Anschließend hätten Sie mich erpressen können, weil ich meine Schweigepflicht als Anwalt verletzt hätte.“

„Ich wusste nicht, dass Sie Anwalt sind.“

„Ich wusste nicht, dass Sie eine neugierige Wichtigtuerin sind. Wir sind also quitt.“

„Warum mögen Sie mich nicht, Sebastian?“

„Sie sind mir völlig gleichgültig, Miss Talbot, wenn man mal davon absieht, dass ich Sie fürchterlich lästig finde. Damit ist es aber glücklicherweise vorbei, sobald ich Sie bei Hugo absetze.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Vorausgesetzt, Sie verletzen weder ihn noch sonst einen Menschen, an dem mir etwas liegt!“

„Offensichtlich glauben Sie, ich würde genau das tun.“

Nun wandte er sich ihr kurz zu, und der kalte Ausdruck in seinen blauen Augen ließ sie beinah schaudern. „Ja, meiner Erfahrung nach fällt der Apfel nicht weit vom Stamm.“

Verwirrt sah sie Sebastian an. „Was soll das heißen?“

„Das soll heißen: Wenn Sie wie Ihre Mutter sind …“ Anscheinend hatte er schon mehr gesagt als beabsichtigt, denn er verstummte und konzentrierte sich wieder auf die Straße.

Lily hatte jedoch nicht die Absicht, das Thema einfach fallen zu lassen. „Was wissen Sie über meine Mutter?“

„Mehr, als mir lieb ist.“

„Und das hat Hugo Ihnen erzählt?“

„Hugo hatte seit mehr als sechsundzwanzig Jahren keinen persönlichen Kontakt mit ihr.“

„Genau! Deshalb ist seine Meinung alles andere als verlässlich.“

„Zum ersten Mal stimme ich mit Ihnen völlig überein!“ Sebastian bog ab und hielt vor einem hell erleuchteten Restaurant. „Um diesen Glücksfall zu feiern, lade ich Sie zum Essen ein. Nach Stentonbridge dauert es noch ungefähr zwei Stunden.“

Einerseits hätte sie ihm gern gesagt, sie sei mehr an einer Erklärung seiner rätselhaften Bemerkungen als an Essen interessiert, andererseits riet die Vernunft ihr, das Thema nicht weiterzuverfolgen. Offensichtlich wusste er mehr, als er ihr sagte, aber die Antworten, die sie suchte, wollte sie nicht von ihm hören.

Sie wartete schon so lange darauf, die Wahrheit zu erfahren, da kam es auf ein paar Stunden oder Tage nicht an.

Lily Talbot ist ganz anders als erwartet, dachte Sebastian und betrachtete sie unauffällig, während sie die Speisekarte durchlas. Nein, Lily sah nicht wie eine vulgäre, geldgierige Hasardeurin aus. Er hatte sie sich durchaus gut aussehend, aber aufgedonnert vorgestellt: toupiertes Haar, lange künstliche Fingernägel, viel billiger Modeschmuck.

Eigentlich war sie ganz hübsch, ja, man konnte sie durchaus als attraktiv bezeichnen, jedenfalls war sie alles andere als ordinär. Sie hatte schmale Hände mit sorgfältig gepflegten Nägeln. Glattes dunkelbraunes Haar umrahmte ihr zartes Gesicht, sie hatte einen freimütigen Blick und lächelte offensichtlich gern, wie man ihren vollen, schön geschwungenen Lippen ansah.

Kleine goldene Ohrringe waren, abgesehen von einer Armbanduhr, ihr einziger Schmuck, sie trug einen schlichten, knielangen Jeansrock, dazu eine kurzärmelige weiße Bluse und flache Sandaletten. Ihre Beine waren auffallend lang und wohlgeformt, die Haut war leicht gebräunt, die rosa lackierten Zehennägel erinnerten, wie Sebastian fand, an kleine Muscheln.

Hugo würde von Lily Talbot begeistert sein und sie sofort als Familienmitglied akzeptieren, ohne lang nach den Beweggründen zu fragen, warum sie so plötzlich Kontakt zu ihm suchte. Ihre Mutter hatte Hugo im Stich gelassen und beinah ruiniert. Er, Sebastian, sah es als seine Pflicht an, zu verhindern, dass Lily es erneut versuchte.

Sie bemerkte nicht, wie intensiv er sie beobachtete, sondern studierte weiterhin die Speisekarte, einen Finger an die Lippen gelegt.

„Um Himmels willen, ich will nicht die ganze Nacht hier verbringen“, sagte Sebastian schroff. „Entscheiden Sie sich doch endlich, was Sie essen möchten!“

„Ich lese nun mal gern Speisekarten“, erwiderte Lily und warf ihm einen gekränkten Blick zu.

„Dann lesen Sie offensichtlich sehr langsam. Ich könnte in der halben Zeit das Ding auswendig lernen.“

„Ich bin aber nicht wie Sie, Sebastian!“

Natürlich nicht! Sie war in jeder Hinsicht ausgesprochen feminin, und dass er sich ihrer äußeren Vorzüge überdeutlich bewusst war, ärgerte ihn.

„Darf ich Sie daran erinnern, Miss Talbot, dass Hugo darauf brennt, Sie endlich kennenzulernen? Ich möchte ihn nicht länger als unbedingt nötig auf die Folter spannen.“

Sie klappte die Speisekarte zu und lehnte sich zurück. „Ich nehme eine große Portion Pommes frites und einen Milchshake.“

„Sie haben so lange gebraucht, um sich für einen Milchshake und Fritten zu entscheiden?“, hakte Sebastian ungläubig nach.

„Mit Ketchup.“

„Da hätten wir ja bei einem Schnellimbiss anhalten und uns Zeit sparen können.“

Nun nahm sie ihren Pullover und die Handtasche von der Bank neben sich. „Okay! Auf in den nächsten Schnellimbiss.“

„Bleiben Sie sitzen!“

Offensichtlich hatte er lauter als beabsichtigt gesprochen, denn im nächsten Augenblick stand die Kellnerin am Tisch und fragte Lily: „Macht Ihr Freund Ihnen Schwierigkeiten?“

Lily lachte schallend. „Du lieber Himmel, er ist doch nicht mein Freund.“

„Und ich mache ihr keine Schwierigkeiten“, fügte Sebastian hinzu.

Die Kellnerin blickte ihn finster an. „Das möchte ich Ihnen auch geraten haben! Was darf’s denn sein?“

Er bestellte die Fritten und für sich ein Steak auf Toast, dazu eine Tasse Kaffee. „Ich hätte gedacht, Frauen wie Sie leben von Salat und Tofu“, bemerkte er, als sie aufs Essen warteten.

Autor

Catherine Spencer
<p>Zum Schreiben kam Catherine Spencer durch einen glücklichen Zufall. Der Wunsch nach Veränderungen weckte in ihr das Verlangen, einen Roman zu verfassen. Als sie zufällig erfuhr, dass Mills &amp; Boon Autorinnen sucht, kam sie zu dem Schluss, diese Möglichkeit sei zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen. Sie wagte den...
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