Sarah Morgan - Verführung auf Sizilien

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GESTOHLENE STUNDEN DES GLÜCKS

"Verlieb dich nie in einen Sizilianer!" Jahrelang hat Fia sich an das eiserne Gesetz ihrer Familie gehalten und jeden Kontakt zu den berüchtigten Ferraras vermieden. Nur in jener folgenschweren Nacht vor drei Jahren nicht, als eine brennendheiße Sehnsucht sie in Santo Ferraras Arme trieb … Danach hat sie den faszinierenden Tycoon nie wiedergesehen. Warum taucht er jetzt bei ihr auf? Fia stockt der Atem. Unter Santos glühendem Blick schlägt ihr Herz ungewollt höher. Aber sie darf ihn nicht zu nahe an sich heranlassen - sonst kommt er hinter ihr bestgehütetes Geheimnis!

MÄRCHENHOCHZEIT AUF SIZILIEN

Hals über Kopf verliebt, heiratet Francescas den Milliardär Rocco. Doch als sie ihn auf ihrer Hochzeit mit einer anderen sieht, flüchtet sie!

UND WIEDER BRENNT DIE LEIDENSCHAFT

Anastasia kehrt zu ihrem Exmann Rico Crisanti in seine luxuriöse Villa auf Sizilien zurück. Aber nur, weil seine kleine Schwester Chiara sie nach einem Unfall dringend braucht. Wie schwer es ihr fällt, mit Rico zusammenzuleben, hat sie dabei nicht bedacht. Die erotische Anziehungskraft zwischen ihnen ist ungebrochen und- schon nach wenigen Tagen liegt Anastasia erneut in Ricos Armen. Trotzdem wird sie wieder gehen, wenn Chiara genesen ist. Denn genau wie früher gibt Rico sich dominant und will alles allein entscheiden ...

STILLE MEINE SEHNSUCHT, GELIEBTER!

Kaum landet das Flugzeug auf Sizilien, will Laurel nur noch eines: Wieder fort von dieser Insel, fort von den Erinnerungen - und fort von ihrem Noch-Ehemann Cristiano. Zwei Jahre ist es her, dass er sie einfach im Stich ließ, obwohl sie ihn so sehr brauchte! Trotzdem spürt sie sofort wieder die alles verzehrende Leidenschaft, als sie ihm gegenübersteht. Unter der glühenden Sonne Siziliens muss sich Laurel nicht nur der bitteren Vergangenheit stellen. Sie muss vor allem Cristiano widerstehen. Denn mit jedem Tag spürt sie mehr, dass nur er ihre tiefe Sehnsucht stillen kann …

VERLOBUNG AUF SIZILIANISCH

Keine Flirts, Drinks oder Dramen, sonst verliert Taylor ihre Traumrolle. Nichts leichter als das, denkt die auf ihren Ruf bedachte Schauspielerin. Sie hat nicht damit gerechnet, Luca Corretti auf einer Hochzeitsfeier in Sizilien zu begegnen. Schamlos flirtet der berüchtigte Playboy mit ihr - und wirft damit all ihre Prinzipien über den Haufen … Als Taylor sich nach einem Kuss aus seinen Armen löst, ist es zu spät: Ein Paparazzi-Foto geht um die Welt, das skandalöse Einblicke gewährt. "Wir sind verlobt!", behauptet sie in ihrer Not. Und ahnt nicht, was diese Lüge nach sich zieht …


  • Erscheinungstag 07.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736101
  • Seitenanzahl 720
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Sarah Morgan

Sarah Morgan - Verführung auf Sizilien

SARAH MORGAN

Gestohlene Stunden des Glücks

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2012 by Sarah Morgan
Originaltitel: „The Forbidden Ferrara“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 2087 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Annette Stratmann

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-95446-540-8

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Rund um den Konferenztisch herrschte schockiertes Schweigen.

Santo Ferrara lehnte sich amüsiert in seinem Stuhl zurück. „Sie werden mir sicher zustimmen, dass es sich hier um ein höchst interessantes Projekt handelt.“

„Du hast wohl den Verstand verloren.“ Es war sein älterer Bruder, der als Erster das Wort ergriff. Cristiano hatte vor Kurzem sein geschäftliches Engagement zurückgeschraubt, um mehr Zeit für seine Familie zu haben. „Das ist nicht durchführbar.“

„Nur weil du es nicht geschafft hast? Nimm’s nicht so schwer. Es ist ganz normal, dass ein Mann seinen Biss verliert, wenn er von Frau und Kindern abgelenkt wird.“ Santo, der die kleine Abwechslung im harten Arbeitsalltag genoss, legte wohlmeinendes Verständnis in seine Stimme.

Schon möglich, dass er ein wenig eifersüchtig auf seinen Bruder war, dessen Privatleben sich nun ebenso erfolgreich gestaltete wie seine geschäftliche Karriere. Doch früher oder später, so tröstete er sich, würde ihm dasselbe Glück winken.

„Der tapfere Held tritt ab“, spöttelte er. „Mach dir nichts draus. Drei Frauen im Haus, da wird selbst der härteste Kerl weich.“

Die restlichen Vorstandsmitglieder wechselten nervöse Blicke, hielten aber wohlweislich den Mund, während Cristiano ihn scharf ansah.

„Ich bin immer noch Vorstandsvorsitzender dieser Firma.“

„Ganz recht. Du schiebst einen ruhigen Posten, damit du zu Hause Windeln wechseln kannst, also überlass die brillanten Geschäftsideen uns.“

Santos Provokation entlockte seinem Bruder ein halbherziges Lächeln. „Ich gebe ja zu, dass dein Vorschlag interessant klingt. Das Hotel zu vergrößern und das Sportangebot auszuweiten, um verstärkt junges Publikum anzuziehen, könnte sich durchaus lohnen. Aber um zu expandieren …“, ein Schatten legte sich über Cristianos Miene, „… brauchst du das Land der Baracchis, und der alte Baracchi jagt dir eher eine Kugel in den Kopf, als dass er dir seinen Besitz verkauft.“

Aus dem heiteren Geplänkel war bitterer Ernst geworden. Spannung lag in der Luft. Alle am Tisch hielten die Blicke gesenkt, denn jeder hier kannte die Geschichte der Familien Ferrara und Baracchi. Ganz Sizilien kannte sie.

„Lass das meine Sorge sein“, erwiderte Santo ungerührt, wo­raufhin Cristiano ärgerlich seinen Stuhl zurückschob und ans Fenster trat. Die riesige Glasfront zeigte direkt auf das in der Sonne glitzernde Mittelmeer hinaus.

„Seit du die Geschäfte übernommen hast, hast du großes Geschick bewiesen. Du hast Dinge umgesetzt, die mir nie eingefallen wären.“ Cristiano drehte sich um. „Aber an diesem Projekt wirst du scheitern. Du gießt Öl in ein Feuer, das seit Generationen schwelt. Lass es ruhen.“

„Ich werde den Ferrara Beach Club in unser erfolgreichstes Hotel verwandeln.“

„Das wird dir nicht gelingen.“

Santo lächelte. „Wollen wir wetten?“

Cristiano erwiderte sein Lächeln nicht. „Wir reden hier nicht von einem kleinen Familienstreit. Ich meine es ernst. Lass die Finger davon.“

„Es wird höchste Zeit, dass wir den alten Groll begraben.“

„Das“, sagte sein Bruder düster, „kommt ganz auf den Groll an.“

Santo verlor allmählich die Geduld, obwohl auch er mit dem Namen Baracchi dunkle, unheilvolle Erinnerungen verband. „Ich kann nichts dafür, was Baracchis Enkel passiert ist. Du kennst die Wahrheit.“

„Hier geht es nicht um Wahrheit oder Vernunft, hier geht es um Emotionen und tief verwurzelte Vorurteile. Ich habe dem alten Baracchi ein großzügiges Angebot unterbreitet, aber er würde seine Familie lieber verhungern lassen, als den Ferraras sein Land abzutreten. Die Verhandlungen sind gescheitert.“

„Höchste Zeit, sie wieder aufzunehmen.“

Jemand am Tisch räusperte sich. „Als Ihr Anwalt ist es meine Pflicht, Sie warnend darauf hinzuweisen …“

„Keine kleinkarierten Einwände, bitte“, winkte Santo ab, ohne seinen Bruder aus den Augen zu lassen. „Das heißt, deine Bedenken sind nicht geschäftlich begründet, sondern beziehen sich nur auf die Konfrontation mit den Baracchis. Hältst du mich für einen Feigling?“

„Nein, das ist ja das Problem. Du setzt deinen Mut und deinen Verstand ein, aber Baracchi besitzt keins von beidem. Du bist mein Bruder, Santo.“ Cristianos Stimme klang ehrlich besorgt. „Guiseppe Baracchi hasst dich. Er ist ein jähzorniger alter Mann.“

„Und ein verängstigter alter Mann, der in finanziellen Schwierigkeiten steckt.“

„Nicht tief genug, um Geld von den Ferraras anzunehmen. Verängstigte alte Männer sind gefährlich. Wir haben das Hotel nur unserer Mutter zuliebe behalten, weil es Vaters erstes Haus war. Aber ich habe mit ihr gesprochen, und sie …“

„Das Hotel wird nicht verkauft. Ich baue es aus, und dafür brauche ich das angrenzende Land. Alles. Die komplette Bucht“, erklärte Santo, ohne von dem wild gestikulierenden Anwalt Notiz zu nehmen. „Ich brauche Platz für Wassersportangebote. Und ich will das Strandlokal haben. Ich will keine alte Feindschaft anheizen, ich schütze nur unsere Geschäftsinteressen. Wenn uns die Gäste davonlaufen, um am Strand zu essen und den Sonnenuntergang zu bewundern, gehen uns Einnahmen verloren.“

„Womit wir beim zweiten Problem wären. Baracchis Enkelin betreibt das Strandlokal.“ Cristiano musterte ihn scharf. „Was glaubst du, wie Fia reagiert, wenn sie von deinen Plänen erfährt?“

Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, es sich vorzustellen.

Fia würde ihn mit allen Mitteln bekämpfen. Sie würden so heftig aneinandergeraten, dass die Funken flogen.

Und in die aktuelle Auseinandersetzung würde sich die brodelnde Spannung vergangener Tage mischen.

Nicht nur die langjährige Fehde um das Land, sondern ihrer beider ganz private Geschichte. Denn Santo hatte seinem Bruder nicht alles erzählt. In einer Familie, in der es keine Geheimnisse gab, hütete er ein dunkles Geheimnis. Er hatte es tief in sich vergraben, damit es nur ja nie ans Licht kam.

Es überraschte ihn, wie sehr die Erinnerung ihn aufwühlte. Stirnrunzelnd blickte er zum Fenster hinaus, sah aber weder den Strand noch das Meer. Alles, was er sah, war Fiammetta Baracchi, die Frau mit den langen schlanken Beinen und dem feurigen Temperament.

Cristiano musterte ihn unverwandt. „Sie hasst dich.“

War es Hass?

Sie hatten damals nicht über Gefühle gesprochen. Sie hatten überhaupt nicht miteinander gesprochen. Auch nicht, als sie einander die Kleider vom Leib gerissen hatten, weil sie so heiß aufeinander waren. Während dieses ganzen wilden, erotischen Abenteuers hatten sie kein einziges Wort miteinander gewechselt.

Sein Instinkt sagte ihm, dass Fia ihr Geheimnis ebenso streng gehütet hatte wie er. Umso besser für die anstehenden Verhandlungen.

„Unter ihrer Leitung hat sich der Schuppen von einer Ansammlung wackliger Holztische am Strand zu einem der angesagtesten Restaurants in ganz Sizilien gemausert. Es heißt, sie sei eine begnadete Köchin.“ Cristiano schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Du öffnest ein Pulverfass, Santo. Das gibt Mord und Totschlag.“

Carlo, der Firmenanwalt, stützte stöhnend den Kopf in die Hände.

Santo ignorierte die beiden, wie er auch die prickelnde Erregung zu ignorieren versuchte, die ihn bei dem Gedanken an Fia überkam. „Diese alte Fehde dauert schon viel zu lange an. Damit muss endlich Schluss sein.“

„Wie stellst du dir das vor?“ Cristianos Stimme war schroff vor Unmut. „Guiseppe Baracchi hat seinen Enkel, seinen einzigen männlichen Erben, verloren, weil der sich mit einem Auto um einen Baum gewickelt hat. Deinem Auto, Santo. Erwartest du, dass er dir die Hand schüttelt und dir sein Land verkauft?“

„Baracchi ist Geschäftsmann. Ich mache ihm ein lohnendes Angebot.“

„Wann willst du es ihm unterbreiten, bevor er dich erschießt oder danach?“

„Er schießt nicht.“

„Muss er auch nicht“, meinte Cristiano grimmig. „Weil Fia ihm zuvorkommen wird.“

„So, das ist der letzte Red Snapper.“ Fia nahm den Fisch vom Grill und legte ihn auf einen Teller. Ihre Wangen glühten von der Hitze des Feuers. „Gina?“

„Gina ist draußen und lauert dem Fahrer eines Lamborghini auf, der gerade vorgefahren ist. Du weißt, sie hat ein Faible für Luxus. Komm, gib her.“ Ben lud sich mehrere Teller gleichzeitig auf den Arm. „Wie geht’s deinem Großvater?“

„Nicht so gut. Er hat nicht mal genug Energie, um wie üblich an allem herumzumeckern.“ Fia machte sich Sorgen um ihn. Sobald sie eine Atempause hatte, würde sie nach ihm sehen. „Kommst du klar da draußen? Sag Gina, sie soll arbeiten anstatt die Gäste zu belästigen.“

„Sag du es ihr. Ich trau mich nicht.“ Geschickt wich Ben der jungen Frau aus, die in die Küche gestürmt kam. „Hey, Gina, pass auf! Sonst darfst du aufs Meer rausfahren und neue Schnapper angeln.“

„Ihr glaubt ja nicht, wer gerade hier aufgekreuzt ist!“

„Servier das Essen, bevor es kalt wird, Ben.“ Fia beschloss, die aufgedrehte Gina erst einmal plappern zu lassen. Das sparte erfahrungsgemäß Zeit.

„Scheint ja jemand ganz Besonderes zu sein“, meinte sie amüsiert, während sie die fangfrischen Muscheln mit Olivenöl beträufelte. „So aus dem Häuschen habe ich dich noch nie erlebt, dabei hatten wir schon diverse Berühmtheiten hier.“ Für sie war ein Gast wie der andere. Die Leute kamen, um zu essen, und es war ihr Job, sie zu bewirten. Und zwar erstklassig. Gekonnt schwenkte sie die Muscheln in der Pfanne über dem offenen Feuer und fügte frische Kräuter und Kapern hinzu.

Gina spähte über die Schulter und seufzte verzückt. „In natura ist er noch viel umwerfender als auf den Fotos.“

„Wer immer es ist, er hat hoffentlich einen Tisch bestellt, sonst müssen wir ihn abweisen. Wir haben volles Haus.“

„Den weist niemand ab“, meinte Gina ehrfürchtig. „Es ist Santo Ferrara höchstpersönlich …“

Fia stockte der Atem. Die Pfanne rutschte ihr aus der Hand und fiel in die Glut, mitsamt den kostbaren Muscheln.

„Unmöglich. Er würde nie einen Fuß in mein Restaurant setzen.“ Er würde es nicht wagen.

„Äh … warum nicht?“ Gina musterte sie neugierig. „Seiner Familie gehört das Hotel nebenan, und du servierst großartiges Essen.“

Gina war keine Einheimische, sonst hätte sie von der jahrzehnte­alten Familienfehde gewusst. Jeder wusste davon. Außerdem war der Ferrara Beach Club das kleinste und unbedeutendste Hotel der ganzen Ferrara-Gruppe. Warum sollte Santo sich hierherbemühen?

Fia war so verwirrt, dass sie sich den Arm am Grillrost verbrannte. Der Schmerz brachte sie zur Räson. Hastig klaubte sie die Muscheln auf und richtete sie liebevoll auf zwei Tellern an. „Hier, die sind für das ältere Paar auf der Terrasse. Sie feiern heute Hochzeitstag, also sei nett zu ihnen.“

Gina starrte sie fassungslos an. „Willst du denn nicht …“

„Ist nur eine kleine Brandwunde, nicht weiter schlimm.“

„Ich meine nicht deinen Arm, ich meine Santo Ferrara! Jeden x-beliebigen Gast behandelst du wie einen König, aber taucht mal jemand wirklich Wichtiges auf, ist er Luft für dich. Weißt du nicht, wer das ist? Der Ferrara, von der Ferrara Hotelgruppe!“

„Ich weiß, wer er ist.“

„Aber Chefin, wenn er hier essen will …“

„Er will nicht hier essen.“ Kein Ferrara setzte sich an den Tisch eines Baracchi. Er müsste befürchten, vergiftet zu werden. Sie hatte keine Ahnung, was Santo hier wollte, aber zu ihrem Schrecken und ihrer Empörung über sein plötzliches Auftauchen gesellte sich ein böser Verdacht.

Wenn er so dreist war, zur besten Essenszeit in ihrem voll besetzten Restaurant aufzukreuzen, musste er einen sehr wichtigen Grund dafür haben.

Nackte Angst kroch in ihr hoch. Nein, nur das nicht!

Er weiß es nicht.

Er kann es nicht wissen!

Kopfschüttelnd eilte Gina davon, während Fia rasch ihren Arm kühlte und sich einzureden versuchte, dass Santos Besuch reine Routine war. Dass die Ferraras sich wieder einmal anschickten, mit dem Palmzweig der Versöhnung zu wedeln, den der alte Baracchi ihnen regelmäßig vor die Füße warf.

Seit Fias Bruder gestorben war, hatte es keine Annäherung vonseiten der Ferraras mehr gegeben. Bis jetzt.

Mechanisch zog sie eine Knolle Knoblauch aus dem Bund, der in Kopfhöhe über ihr hing. Sie pflanzte ihn selbst an, zusammen mit diversen Kräutern und Gewürzen. Das Gärtnern machte ihr fast so viel Spaß wie das Kochen. Es schenkte ihr ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit, das sie von zu Hause nicht kannte.

Routiniert hackte sie die frischen Knoblauchzehen, während sie ihre Gedanken zu ordnen versuchte. Wenn sie keine Angst haben müsste, wie würde sie dann auf Santo Ferraras Erscheinen reagieren?

Kalt. Geschäftsmäßig.

Buonasera, Fia.“

Beim Klang der tiefen Männerstimme fuhr sie herum, das Messer wie eine Waffe gezückt. Seine Stimme hätte sie in einem Raum voller Menschen nicht wiedererkannt, seine Augen sofort. Wache dunkle Augen, fast schwarz, mit einem gefährlichen Glitzern darin. Die Augen eines Mannes, der wusste, was er wollte, und keine Hemmungen hatte, es sich zu nehmen.

Sie erinnerte sich an das brennende Verlangen in seinem Blick, als sie beide vor drei Jahren im Halbdunkel übereinander hergefallen waren.

Seine kräftigen Schultern waren noch eine Spur breiter und männlicher geworden, seine Muskeln ausgeprägter, doch sonst hatte er sich nicht verändert. Dasselbe unerschütterlich selbstsichere Auftreten des geborenen Siegers, dieselbe natürliche Eleganz, geschliffen und glatt poliert wie der Lack seines Lamborghini.

Ein Meter neunzig geballter männlicher Sex-Appeal, doch Fia empfand nur den einen übermächtigen Wunsch, ihm das attraktive Gesicht zu zerkratzen und mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen. Sein Anblick ließ ihre Gefühle Amok laufen. Sie fühlte sich verletzlich und wehrlos, und das machte sie aggressiv.

Normalerweise hieß sie jeden, der ihre Küche betrat, herzlich willkommen. Kritiker lobten ihre Gastfreundschaft und die nette, persönliche Atmosphäre ihres Restaurants. Bei Santo konnte sie sich nicht einmal zu einem „Guten Abend“ durchringen. Weil sie ihm keinen guten Abend wünschte.

Er sollte zur Hölle fahren und dort bleiben.

Er war der größte Fehler ihres Lebens.

Seinem abschätzigen Blick nach zu urteilen sah er es umgekehrt genauso.

„Welche Überraschung. Die Ferrara-Brüder steigen doch sonst nicht aus ihrem Elfenbeinturm herab, um sich unter uns gewöhnliche Sterbliche zu mischen. Willst du die Konkurrenz ausspionieren?“ Mühsam versuchte sie, ihre wachsende Panik hinter kühler Ironie zu verbergen.

Wusste er Bescheid?

Hatte er es herausgefunden?

Die Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen brachte sie einen Moment lang aus dem Konzept. Er hatte einen schönen, sinnlichen Mund. Der ganze Mann war auf raue Art attraktiv und sexy. Wie geschaffen dafür, Frauen in seinen Bann zu ziehen. Was er Gerüchten zufolge erschreckend oft tat.

Sie aber konnte er mit seinem lässigen Auftreten nicht täuschen. Santo Ferrara war der gefährlichste Mann, der ihr je begegnet war.

Ohne ein einziges Wort mit ihm gewechselt zu haben, war sie ihm damals verfallen. Selbst jetzt, Jahre später, konnte sie sich nicht erklären, was in jener Nacht passiert war. Sie war allein gewesen, in ihren Kummer versunken, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter gespürt hatte. Dann war alles ganz schnell gegangen.

Hatte sie bei ihm Trost gesucht? Vielleicht. Doch Trost klang nach Wärme und Zärtlichkeit, und beides war damals entschieden zu kurz gekommen.

Scheinbar ungerührt erwiderte er: „Ich habe so viel Gutes über dein Restaurant gehört, da wollte ich mich selbst überzeugen, ob es stimmt.“

Er weiß es nicht, dachte sie erleichtert, sonst würde er keine Zeit mit Geplänkel verlieren.

„Es stimmt, aber leider wirst du deine Neugier nicht befriedigen können, denn wir sind ausgebucht.“ Sie glaubte keine Sekunde, dass er nur hier war, um ihr Essen zu testen. Aber warum sonst?

„Wir beide wissen, dass du einen Tisch für mich frei hättest, wenn du nur wolltest.“

„Ich will aber nicht.“ Ihre Finger schlossen sich fester um den Messergriff. „Seit wann isst ein Ferrara am Tisch eines Baracchi?“

Der Blick, den er ihr unter halb gesenkten Wimpern zuwarf, ließ ihr Herz schneller schlagen. Er erinnerte sie daran, dass sie vor langer Zeit nicht nur am selben Tisch gegessen, sondern ihren Hunger auf ganz andere Weise gestillt hatten. Wild vor Verlangen, hatten sie einander voll ausgekostet. Sie spürte noch seinen Geschmack auf den Lippen, fühlte seinen starken, muskulösen Körper in ihren Armen erschauern.

Ihre Handflächen wurden feucht und ihre Knie weich, als sie nur daran dachte.

Er lächelte. Nicht freundlich, sondern siegessicher. „Setz dich mit mir an einen Tisch, Fia.“

Sein zwangloser Ton suggerierte eine Vertrautheit, die es nicht gab. Ein Mann wie er musste immer alles unter Kontrolle haben. Auch damals, als er sie mit seiner flammenden Leidenschaft überrascht hatte, hatte er die Oberhand behalten.

Sie hatte mit ihm geschlafen, weil sie sich verzweifelt nach Nähe gesehnt hatte.

Er hatte mit ihr geschlafen, einfach weil er die Möglichkeit dazu hatte.

„Es ist mein Tisch, von dem du sprichst. Und du bist nicht eingeladen.“ Sie musste ihn unbedingt loswerden. „Dein eigenes Restaurant ist nebenan, da wird man dich sicher gern bewirten, wenn auch nicht so gut wie hier.“

Er blieb erstaunlich ruhig, was sie nur noch nervöser machte.

„Ich muss deinen Großvater sprechen. Wo ist er?“

Deshalb also war er hier. Um eine neue Runde fruchtloser Verhandlungen einzuläuten. Ein Glück, dass er nicht tagsüber ge­kommen war. „Bist du lebensmüde? Du weißt, wie er zu dir steht.“

„Weiß er auch, wie du zu mir stehst?“

Seine Anspielung auf ihr lustvolles Abenteuer erschreckte sie. Sie hatten nie wieder ein Wort über diese Nacht verloren. Drohte er ihr jetzt damit, sie bloßzustellen? Vielleicht hatte er nur mit ihr geschlafen, um ein Druckmittel gegen sie in der Hand zu haben!

„Mein Großvater ist alt und fühlt sich nicht wohl. Sag mir, was du zu sagen hast. Ich leite das Restaurant.“

„Aber das Land gehört ihm.“ Sein sanfter Ton wirkte gefährlicher als jeder Zornausbruch. Zu ihrer Verärgerung schien sie ihn längst nicht so aus der Ruhe zu bringen wie er sie.

Ihr fiel ein, was sie über ihn gelesen hatte: dass er die großen Schuhe seines Bruders mehr als ausfüllte, seit er die Führung der internationalen Hotelkette übernommen hatte. Wie naiv von ihr, zu glauben, das Beach Club Hotel sei zu klein und unbedeutend, um den Big Boss höchstpersönlich zu interessieren. Im Gegenteil, gerade das machte den Reiz für ihn aus. Er wollte das Hotel vergrößern, und dafür …

„Du willst unser Land.“

„Das einmal unser Land war“, stellte er klar. „Bis einer deiner skrupellosen Vorfahren, von denen es entschieden zu viele gab, meinem Urgroßvater durch Erpressung den halben Strand abgeluchst hat. Im Gegensatz zu ihm bin ich bereit, einen fairen Preis dafür zu zahlen.“

Es geht um Geld, wie immer, dachte sie wütend. Die Ferraras glaubten, alles kaufen zu können.

Ihre Angst wuchs. Wenn Santo es auf das Land abgesehen hatte, wäre sie nie mehr sicher vor ihm.

„Mein Großvater verkauft nie im Leben an dich. Du verschwendest deine Zeit. Flieg zurück nach New York oder Rom oder wo immer du momentan wohnst und such dir ein anderes Projekt.“

„Ich wohne hier.“ Seine Mundwinkel zuckten. „Und ich kümmere mich persönlich um dieses Projekt.“

Schlechtere Nachrichten hätte es kaum geben können. „Wie gesagt, mein Großvater fühlt sich nicht wohl. Ich lasse nicht zu, dass du ihn aufregst.“

„Dein Großvater ist ein zäher Brocken. Er braucht deine Fürsorge nicht.“ Die oberste Lackschicht von Santos kultiviertem Auftreten begann zu bröckeln. Sein Ton wurde schärfer. „Weiß er, dass du mir die Gäste abspenstig machst?“

In dem großen, gut aussehenden, weltgewandten Mann brodelte ein hitziges Temperament. Niemand wusste das besser als Fia. Sie hatte sich die Finger daran verbrannt.

„Falls du meinst, dass ich köstliches Essen vor einer großartigen Kulisse serviere, bekenne ich mich schuldig im Sinne der Anklage.“

„Wegen dieser großartigen Kulisse bin ich hier.“

Nur deshalb also. Nicht wegen ihr oder dem, was damals geschehen war.

Wäre sie nicht so erleichtert gewesen, dass nichts Schlimmeres hinter seinem Besuch steckte, hätte sie allen Grund gehabt, über sein mangelndes Feingefühl empört zu sein. Immerhin hatte es damals einen Toten gegeben. Es war Blut geflossen.

Doch ein lästiger Todesfall am Rande konnte einen Ferrara auf seinem steilen Weg nach oben natürlich nicht aufhalten. Ihm lag nur daran, sein Imperium auszubauen.

„Unsere Unterhaltung ist beendet. Ich muss arbeiten.“ Er sollte endlich gehen.

Was er natürlich nicht tat. Ein Ferrara tat nur, was er tun wollte.

Lässig an den Türrahmen gelehnt, erkundigte er sich spöttisch: „Wozu das Messer, Fia? Hast du Angst, ich könnte dir gefährlich werden? Ich brauche keine fünf Sekunden, um es dir abzunehmen.“

„Und ich keine zwei, um es dir zwischen die Rippen zu stoßen.“ Ein Bluff. Sie wusste, wie stark er war.

„Begrüßt du deine Gäste immer so herzlich?“ Seine dunklen Augen funkelten herausfordernd. Beim Kochen genügte eine winzige Prise des richtigen Gewürzes, um einem Gericht den entscheidenden Pep zu verleihen. In ihrem Verhältnis zu Santo war es der Hauch des Verbotenen, der für knisternde Spannung sorgte. Sie hatten das Unsagbare, das Unverzeihliche getan.

„Du bist kein Gast, Santo.“

„Koch für mich, dann bin ich einer.“

Koch für mich.

Dass er damals gegangen war, ohne sich noch einmal umzudrehen, konnte sie noch hinnehmen, denn außer heißem Sex war nichts gewesen. Es war nicht seine Schuld, dass sie seitdem ständig von ihm träumte. Doch nach all den Jahren hier hereinzuspazieren und zu erwarten, dass sie ihn bewirtete, als gäbe es etwas zu feiern, war so dreist, dass es ihr den Atem verschlug.

„Sorry, gemästetes Kalb zur Feier deiner Rückkehr steht heute nicht auf der Speisekarte. Und jetzt verschwinde aus meine Küche. Gina ist für die Reservierungen zuständig, aber wir haben nichts frei. Heute nicht und an keinem anderen Tag, an dem du auf die Idee kommen solltest, hier essen zu wollen.“

„Gina ist die hübsche Blonde, ja?“

Sie hätte sich denken können, dass Gina ihm aufgefallen war. Die kurvige Blondine passte in Santo Ferraras Beuteschema wie eine Antilope in das eines Löwen. Was sie überraschte, war der Stich, den es ihr versetzte. Es sollte ihr eigentlich egal sein, mit wem Santo ins Bett ging. Sie hatte nie vorgehabt, Gefühle für ihn zu entwickeln. Sie hatte schon als Kind gewusst, dass Liebe nur Schmerz bedeutete.

„Verlieb dich nie in einen Sizilianer“, hatte ihre Mutter ihrer achtjährigen Tochter mit auf den Weg gegeben, bevor sie für immer aus ihrem Leben verschwunden war.

Von Gefühlen überwältigt, wandte Fia sich ab, um weiter auf den Knoblauch einzuhacken.

„Du solltest nicht mit einem Messer hantieren, wenn dir die Hände zittern. Das ist gefährlich.“ Santos Stimme kam von dicht hinter ihr. Zu dicht. Sie spürte seine Nähe und seine Wärme und sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach ihm. Es war zum Verrücktwerden!

„Ich zittere nicht.“

„Nein?“ Seine kräftige sonnengebräunte Hand schloss sich um ihre. Sofort fühlte sie sich zurückversetzt in jene heiße Sommernacht, als seine Küsse auf ihren Lippen brannten und seine geschickten Finger sie zur Ekstase getrieben hatten. „Denkst du noch manchmal daran?“

Überflüssig, zu fragen, was er meinte.

Manchmal? Du meine Güte, wenn er wüsste!

„Lass mich los.“

Er drückte ihre Hand. „Die Küche schließt um zehn. Dann reden wir weiter.“

Sein Befehlston brachte sie auf die Palme. „Meine Arbeit endet, wenn alle Gäste weg sind, und dann gehe ich ins Bett.“

„Mit dem Jüngling mit dem Dackelblick, der für dich arbeitet? Gehst du jetzt auf Nummer sicher, Fia?“

Empört fuhr sie zu ihm herum und streifte dabei versehentlich seinen harten, muskulösen Oberschenkel. Sie zuckte zusammen, als hätte sie einen Stromstoß erhalten. Es war, als hätten ihre Körper einander wiedererkannt. „Es geht dich nichts an, mit wem ich ins Bett gehe.“

Ihre Blicke trafen sich, vermittelten einander eine stumme Botschaft, die sie beide nie aussprechen würden. Fia spürte, wie sich tief in ihr etwas regte. Etwas, das sie auf keinen Fall wahrhaben wollte.

Sie wusste nicht, was passiert wäre, wenn Gina nicht just diesen Moment gewählt hätte, um in die Küche zu platzen. Fia blieb fast das Herz stehen vor Schreck, als sie sah, wen die junge Frau mitgebracht hatte.

Ihr Glück hatte sie verlassen.

„Er hat schlecht geträumt, der Süße.“ Lächelnd tätschelte Gina dem schluchzenden Bündel auf ihrem Arm den Kopf. „Ich dachte, ich bringe ihn zu seiner Mama.“

Hilflos musste Fia mit ansehen, wie das Unglück seinen Lauf nahm.

Unter anderen Umständen hätte es ihr vielleicht Genugtuung bereitet, zu sehen, wie es einem Ferrara die Sprache verschlug. Jetzt verfolgte sie mit angehaltenem Atem, wie Santos Gesichtsausdruck von Verärgerung zu Verblüffung wechselte, als sein Blick auf den kleinen Jungen fiel, der sehnsüchtig die Arme nach ihr ausstreckte.

Sie nahm ihn entgegen. Selbstverständlich nahm sie ihn entgegen. Sein Wohlergehen war für sie das Wichtigste auf der Welt.

Zwei Dinge geschahen gleichzeitig.

Ihr Sohn starrte den Fremden an und hörte schlagartig auf zu weinen.

Der Fremde starrte den kleinen Jungen an, der dieselben dunklen Augen hatte wie er, und wurde kreidebleich.

2. KAPITEL

„Großer Gott …!“ Santo wich zurück und stieß einen Stapel Pfannen um, die scheppernd zu Boden fielen. Das Kind verzog erschrocken das Gesicht und schmiegte sich ängstlich an den Hals seiner Mutter. Santo riss sich zusammen, aber es kostete ihn enorme Anstrengung, seinen Zorn zu bändigen.

Schüchtern spähte der Kleine zu ihm auf, hin- und hergerissen zwischen Neugier und dem Bedürfnis, sich in den Armen seiner Mama zu verstecken.

Die aussah, als wollte sie sich ebenfalls verstecken, doch dafür war es jetzt zu spät. Ihr Geheimnis war gelüftet.

Die Sache war so eindeutig, dass er nicht einmal fragen musste. Selbst wenn er nicht auf den ersten Blick erkannt hätte, dass der Kleine sein Sohn war – die Panik in Fias Augen hätte es ihm verraten.

Er war gekommen, um Land zu kaufen. Damit hatte er nicht gerechnet.

Jetzt wusste er, warum sie versucht hatte, ihn abzuwimmeln. Er hatte geahnt, dass es mit ihrer gemeinsamen Nacht zusammenhing, aber nicht, in welcher Weise.

Er hatte das Gefühl, als schnürte ihm jemand das Herz zusammen.

Die Situation traf ihn völlig unvorbereitet. Nie gekannte Empfindungen stürmten auf ihn ein. Nicht nur Zorn, sondern auch der instinktive Wunsch, sein Kind zu beschützen.

Ich bin Vater.

Aber es war alles ganz anders, als er es geplant hatte.

Er hatte immer gewusst, dass er sich irgendwann verlieben, heiraten und Kinder haben würde. Ganz traditionell, wie sein Bruder und seine Schwester, die beide ihr Glück gefunden hatten. Er war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es bei ihm genauso ablaufen würde.

Was habe ich alles verpasst, dachte er voller Bitterkeit. Die Geburt, die ersten Schritte, die ersten Worte …

Er stieß einen zornigen Laut aus, was den Kleinen dazu brachte, verschreckt die Augen aufzureißen. Mühsam zwang er sich zur Ruhe.

„Um diese Zeit sollten kleine Jungen nicht mehr auf sein“, sagte er mit sanftem Tadel in der Stimme, mehr an das Kind als an die Mutter gerichtet. Er konnte den Jungen kaum ansehen, ohne den verzweifelten Wunsch zu verspüren, ihn an sich zu reißen und in seinem Lamborghini mit ihm davonzubrausen. „Du musst müde sein, chicco. Du gehörst ins Bett.“

„Er träumt manchmal schlecht“, meinte Fia steif, was ihn auch nicht versöhnlicher stimmte. Kein Wunder, dachte er wütend, bei der Familie!

„Gina … Sie sind doch Gina, oder?“ Er wandte sich Fias hübscher Mitarbeiterin zu und ließ das charmante Lächeln aufblitzen, das nie seine Wirkung auf Frauen verfehlte. Auch Gina strahlte ihn hingerissen an.

„Ja, Signor Ferrara?“

„Ich würde mich gern mit Ihrer Chefin unter vier Augen unterhalten.“

„Nein!“ Nackte Verzweiflung schwang in Fias Stimme mit. „Siehst du nicht, dass das ein ganz ungünstiger Zeitpunkt …“

„Oh, keine Sorge“, warf Gina hilfsbereit ein und errötete, als Santo ihr einen dankbaren Blick zuwarf. „Ich bringe ihn ins Bett, ich bin ja sein Kindermädchen.“

„Kindermädchen?“, wiederholte er irritiert. In seiner Familie brauchte man kein Kindermädchen, um den Nachwuchs großzuziehen. „Sie betreuen ihn?“

„Wir alle zusammen“, verkündete die junge Frau stolz. „Wie bei den Meerkatzen, wissen Sie? Deshalb ist er ja so verwöhnt. Ich kümmere mich um ihn, wenn Fia arbeitet, aber jetzt ist sie ja gleich fertig, deshalb hab ich ihn schnell auf einen Gutenachtkuss vorbeigebracht. Komm, mein Schatz, komm zu Tante Gina …“ Sanft nahm sie Fia das schläfrige Kind ab und bettete es in ihre Arme.

„Wir haben noch Gäste …“

„Die sind kurz vor dem Aufbruch, Chefin. Ben hat alles im Griff.“ Mit einem letzten schmachtenden Blick auf Santo entschwand Gina mit dem Kind durch die Tür.

Lastende Stille legte sich über den Raum.

Fias schmales Gesicht, umgeben von ein paar rotbraunen Locken, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten, war erschreckend blass, die Augen dunkel umschattet.

Eine von Santos schärfsten Waffen, seine Wortgewandtheit, ließ ihn zum ersten Mal in seinem Leben im Stich. Alles, was er herausbrachte, war ein leises: „Und?“

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie angeschrien.

„Und was?“

„Versuch gar nicht erst, es abzustreiten. Die Mühe kannst du dir sparen.“

„Warum fragst du dann?“

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie offenbar auch nicht.

Die Situation war entsetzlich kompliziert. Sie hatten nie wirklich miteinander gesprochen, auch nicht während ihrer heißen Liebesnacht damals. Natürlich hatte es Geräusche gegeben – das Reißen von Stoff, feuchte Haut, die sich an feuchter Haut rieb, das atemlose Stöhnen zweier Liebender –, aber kein verständliches Wort. Von keinem von ihnen. Santo war nun wirklich kein unerfahrener Liebhaber, aber die Ereignisse jener Nacht waren ihm bis heute ein Rätsel.

Hatte der Reiz des Verbotenen wie ein Aphrodisiakum gewirkt? War die alte Familienfehde der Kick gewesen, der sie beide angefeuert hatte?

Vielleicht. Auf jeden Fall waren sie lichterloh füreinander entbrannt, hatten sich ohne Sinn und Verstand einander hingegeben. Er hätte wissen müssen, dass er einen Preis dafür zahlen musste. Und offensichtlich zahlte er ihn seit drei Jahren.

„Warum, zum Teufel, hast du mir nichts gesagt?“, fragte er heiser.

„Für einen intelligenten Mann wie dich ist das eine ziemlich dumme Frage.“

„Was immer zwischen unseren Familien vorgefallen ist, nichts, aber auch gar nichts hätte dich davon abhalten dürfen, mir das …“, er gestikulierte in Richtung der Tür, durch die Gina mit dem Kind verschwunden war, „… zu sagen.“

„Damit mein Sohn in die bittere Feindschaft verwickelt wird, die unser ganzes Leben geprägt hat? Damit du ihn in deinen Machtspielchen als Pfand benutzt? Davor wollte ich ihn bewahren.“

Unser Sohn“, korrigierte er grimmig. „Er ist auch mein Sohn, das Produkt …“

„Das Produkt einer einzigen Nacht, in der wir …“

„Ja?“

Sie wich seinem Blick nicht aus. „In der wir uns total unvernünftig verhalten haben. Es hätte nie passieren dürfen. Ich will nicht darüber reden.“

„Dein Pech. Du wirst darüber reden müssen, wie es schon vor drei Jahren deine Pflicht gewesen wäre. Sobald du merktest, dass du schwanger bist.“

„Ach, hör auf!“ Sie war jetzt ebenso zornig wie er. „Wir hatten keine nette kleine Romanze mit unerwarteten Folgen. Das Ganze war wesentlich komplizierter.“

„Was ist so kompliziert daran, einem Mann mitzuteilen, dass er Vater wird? Verdammt …“ Stöhnend rieb er sich den Nacken, als ihm klar wurde, vor welch schwerwiegenden Problemen sie standen. „Ich muss in Ruhe darüber nachdenken.“ Im Affekt getroffene Entscheidungen waren selten gut, und diese Sache wollte sehr gut überlegt sein.

„Was gibt es da nachzudenken?“

Seine Gedanken kehrten zurück zu jener Nacht vor drei Jahren, die er zu verdrängen versucht hatte, weil das Gute daran untrennbar mit dem Schlechten verbunden war. „Wie konnte das passieren? Ich habe doch Vorkehrungen …“

„Es gibt Dinge, die selbst ein Ferrara nicht kontrollieren kann“, versetzte sie kühl.

Er musterte sie ratlos. Seine Erinnerungen waren ein verschwommener Mix aus glühender Leidenschaft und heißem Sex. Mit Vernunft hatte das Ganze wirklich nichts zu tun gehabt. Nur mit Lust, purer, unstillbarer Lust, wie er sie weder vorher noch nachher jemals erlebt hatte.

Sie war unglücklich gewesen, er hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt.

Das hatte genügt, um den Funken überspringen zu lassen. Einen Funken, der in Windeseile zu einem lodernden Feuer geworden war.

Doch noch ehe die Hitze der Leidenschaft abgekühlt war, hatte sie jenen verhängnisvollen Anruf erhalten, bei dem sie erfuhr, dass ihr Bruder verunglückt war. Wie das Fallbeil einer Guillotine hatte die Nachricht ihre Liebesnacht jäh beendet. Und verheerende Folgen nach sich gezogen. Schuldzuweisungen, üble Gerüchte …

Der junge Kellner erschien im Türrahmen. „Alles okay, Fia? Ich habe Luca im Vorbeigehen nochmal kurz geknuddelt. Dann hörte ich laute Stimmen aus der Küche und dachte, ich sehe mal nach.“ Argwöhnisch musterte er Santo, der seinen Blick ebenso finster erwiderte.

Dass hier jeder außer ihm ungehindert mit seinem Sohn schmusen durfte, missfiel Santo gewaltig. Und dass er den Namen seines Sohnes aus dem Mund dieses Kellners erfahren musste, erst recht. Er fragte sich, wie Fia zu dem jungen Mann stand.

„Wir führen ein Privatgespräch. Machen Sie, dass Sie rauskommen“, herrschte er ihn an und hörte Fia scharf einatmen.

„Alles okay, Ben. Geh ruhig.“

Ben schien nicht zu wissen, was gut für ihn war. „Ich gehe erst, wenn ich sicher bin, dass hier alles in Ordnung ist“, beharrte er mutig.

Seine Tapferkeit war bewundernswert, aber Santo war nicht in der Stimmung, einen jungen Kerl zu bewundern, der die Mutter seines Kindes anschmachtete.

„Wenn Sie nicht sofort verschwinden, werfe ich Sie eigenhändig raus.“

„Geh schon, Ben. Gib ihm keinen Grund, sich noch mehr aufzuspielen.“ Erst Fias gereizter Einwurf brachte Ben dazu, sich zögernd zurückzuziehen.

Als er gegangen war, herrschte beklemmende Stille im Raum. Die Atmosphäre war so aufgeladen, dass Santo Mühe hatte zu atmen. Auch Fia wirkte extrem blass und angespannt.

Wie war es ihr nur gelungen, den Vater ihres Kindes zu verheimlichen?

„Du hast mich aus deinem Leben verbannt, obwohl du von mir schwanger warst.“

„Du hast nie zu meinem Leben gehört, Santo. Und ich nicht zu deinem.“

„Wir haben zusammen ein Kind gezeugt!“ Sein schroffer Ton ließ sie zusammenzucken.

„Würdest du dich bitte beruhigen? Innerhalb von zehn Minuten hast du es geschafft, mein Kind zu erschrecken, meiner Angestellten den Kopf zu verdrehen, mich anzuschreien und jemanden, den ich sehr schätze, unverschämt grob zu behandeln.“

„Ich habe unseren Sohn nicht erschreckt.“ Dieser Vorwurf traf ihn am härtesten. „Außerdem hast du uns überhaupt erst in diese Situation gebracht. War es ein perfider Racheplan deines Großvaters, den Ferraras dieses Kind vorzuenthalten?“

„Nein!“ Ihre Brust hob und senkte sich heftig. „Er liebt den Kleinen.“

„Er liebt das Kind eines Ferrara?“ Ungläubig zog er die Augenbrauen hoch. „Willst du mir weismachen, er sei auf seine alten Tage noch mild und weise geworden?“ Etwas in ihrer Miene machte ihn stutzig. Ein haarsträubender Verdacht stieg in ihm auf. „Er weiß es nicht, oder?“

„Santo …“ Schuldbewusst senkte sie den Blick.

„Antworte!“ Seine Stimme war kalt vor Zorn. „Sag mir die Wahrheit. Er weiß es nicht, hab ich recht? Du hast es ihm nicht gesagt.“

„Wie hätte ich es ihm denn sagen können?“ Sie wirkte völlig aufgelöst. „Er hasst alles, was mit deiner Familie zu tun hat. Und dich hasst er am meisten von allen. Nicht nur, weil du ein Ferrara bist, sondern weil …“ Sie verstummte, und er hakte nicht nach. Es gab jetzt Wichtigeres, als den Tod ihres Bruders zu diskutieren.

Sie hatten ein gemeinsames Kind.

Ein Kind, das halb Ferrara, halb Baracchi war. Eine unmögliche Kombination. Gezeugt in einer Liebesnacht, die in einer Tragödie endete.

Und der alte Baracchi wusste von nichts.

Es war unvorstellbar. Wie hatte sie das nur ausgehalten? Sie musste in der ständigen Angst gelebt haben, dass ihr Geheimnis aufflog und die Ferraras Anspruch auf ihr Kind erheben würden.

Madre di Dio, ich fasse es nicht. Was wolltest du unserem Sohn denn sagen, wenn er irgendwann nach seinem Vater gefragt hätte? Nein, ich will es gar nicht hören.“

Er wusste, dass es im Leben nicht wie im Märchen zuging, aber die Familie war ihm heilig. Die Familie war das Schiff, das einen in stürmischen Zeiten sicher über das Meer trug. Der Anker, der einem Halt im Leben gab. Der Wind, der einen vorwärtstrieb.

Seine Eltern hatten eine harmonische Ehe geführt. Er hatte immer gedacht, dass auch er die große Liebe finden, heiraten und eine Familie gründen würde. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass er sich das Recht, seinem Sohn ein Vater zu sein, erst erkämpfen müsste.

Oder dass sein Sohn bei den Baracchis aufwachsen müsste. Ein Albtraum!

Fias Atem ging schnell und flach. „Bitte überlass es mir, meinem Großvater die Wahrheit zu sagen. Er ist alt und gebrechlich.“ Ihr flehender Ton überraschte ihn, doch er empfand kein Mitleid. Nur Bitterkeit, Zorn und Schmerz.

„Du hattest drei Jahre Zeit und hast es nicht getan. Jetzt nehme ich die Sache in die Hand. Glaubst du, ich lasse meinen Sohn bei euch aufwachsen? Ohne Vater? Ihr Baracchis wisst doch gar nicht, was eine richtige Familie ist.“ Er raufte sich verzweifelt das Haar. „Wenn ich mir vorstelle, was der Kleine durchmachen musste …“

„Luca ist glücklich und gut versorgt.“

„Ich weiß, wie deine Kindheit aussah. Und wie sehr du darun­ter gelitten hast. Was weißt du schon von einem glücklichen Familienleben?“

Sie war noch blasser geworden. „Lucas Kindheit verläuft völlig anders als meine. Gerade weil du meine Vergangenheit kennst, müsste dir eigentlich klar sein, dass ich alles tue, um meinem Kind dieses Schicksal zu ersparen. Ich verstehe deine Besorgnis, aber du irrst dich. Ich weiß, wie es in einer glücklichen Familie zugehen sollte. Ich habe es immer gewusst.“

„Woher denn? Bei euch zu Hause kannst du das wohl kaum gelernt haben.“ Dort hatten nur Chaos und Unsicherheit geherrscht. Nicht genug, dass die Baracchis mit sämtlichen Nachbarn im Streit lagen, sie stritten auch untereinander. Wenn eine Familie ein Schiff war, dann war ihre ein erbärmliches Wrack.

Bei ihrer ersten Begegnung war Fia acht Jahre alt gewesen. Sie hatte sich am hinteren Ende des Strandes versteckt, seinem Ende, wo kein Baracchi Zutritt hatte. In dem alten Bootsschuppen zwischen modrigen Planken, die nach Dieselöl rochen. Der vierzehnjährige Santo hatte nicht recht gewusst, was er mit dem Mädchen mit der wilden Mähne anfangen sollte, das in sein Revier eingedrungen war. Sollte er es gefangen nehmen? Lösegeld fordern? Natürlich hatte er nichts dergleichen getan. Er hatte Fia nicht verraten.

Fasziniert von ihrem Mut und ihrem Eigensinn, hatte er sie unbehelligt gelassen.

Erst Wochen später hatte er erfahren, warum sie an jenem Tag im Bootshaus Zuflucht gesucht hatte. Ihre Mutter war davongelaufen und hatte sie und ihren Bruder bei ihrem gewalttätigen Vater zurückgelassen.

Noch im Nachhinein war im aufgefallen, dass das Mädchen in seinem Versteck keine Träne vergossen hatte. Damals wusste er noch nicht, dass Fia niemals weinte. Sie behielt ihre Gefühle für sich, erwartete weder Trost noch Zuwendung. Weil es beides in ihrer Familie nicht gab.

Seine Lippen wurden schmal.

Sie mochte es gewöhnt sein, sich abzuschotten, aber bei ihm kam sie damit nicht durch. Diesmal nicht. „Du hast deine Entscheidung getroffen. Jetzt treffe ich meine.“ Er würde sich nicht erweichen lassen, und wenn sie ihn noch so flehend ansah.

„Du hörst von mir. Und komm nicht auf die Idee, dich aus dem Staub zu machen. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich dich und meinen Sohn nicht aufspüren würde.“

„Er ist auch mein Sohn.“

„Was die Sache umso schwieriger macht. Luca ist wohl das Einzige, was unsere beiden Familien gemeinsam haben. Ich melde mich.“

Während das Geräusch des aufheulenden Motors die nächtliche Stille zerriss und der Lamborghini davonbrauste, schaffte Fia es gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer. Ihr war so schlecht vor Aufregung, vielleicht auch vor Angst, dass sie sich übergeben musste. Sie hasste es, sich so schwach und verletzlich zu fühlen.

Ab jetzt würde Santo den Ton angeben, wie die Ferraras es immer taten. Und sich dabei von seinem Hass auf ihre Familie leiten lassen. Vielleicht hätte sie an seiner Stelle genauso gehandelt. Sie kannte das Gefühl, ihr Kind beschützen zu wollen.

Verzweifelt schlang sie die Arme um sich. Santo glaubte ihr nicht, dass Luca eine schönere Kindheit hatte als sie. Er hatte sich auf die Fahne geschrieben, seinen Sohn vor den Baracchis zu retten, und dieses Ziel würde er kompromisslos und mit aller Härte verfolgen.

Anstatt in einer friedlichen, liebevollen Umgebung aufzuwachsen, würde Luca von nun an die vergiftete Atmosphäre von Feindseligkeit und Vorurteilen zu spüren bekommen. Er würde in dieser emotional geführten Schlacht zum Spielball beider Parteien werden.

Genau das hatte sie verhindern wollen, als sie diesen steinigen und letztlich aussichtslosen Weg eingeschlagen hatte. Drei Jahre voller Lügen, Stress und Sorge hatte sie auf sich genommen, um ihren Sohn zu beschützen.

„Mama krank.“ Luca stand in der offenen Tür, ein Plüschtier im Arm, das dunkle Haar vom Schlaf zerzaust. Bei seinem Anblick stockte ihr der Atem, denn sein Gesicht im grellen Licht des Badezimmers erinnerte sie mehr denn je an Santo. Dieselben schönen dunklen Augen, dasselbe schwarze Haar. Selbst sein Mund erinnerte an den seines Vaters. Ganz zu schweigen von seiner Dickköpfigkeit …

Früher oder später wäre die Wahrheit ohnehin ans Licht gekommen.

„Komm her. Ich hab dich lieb.“ Sie nahm ihren Sohn in die Arme, küsste ihn aufs Haar und drückte seinen warmen kleinen Körper an sich. „Ich werde immer für dich da sein, und Gina und Ben auch. Wir alle lieben dich. Du wirst nie allein sein.“

Sie umarmte ihn so zärtlich, wie sie selbst nie umarmt worden war. Kein Wunder, dass Santo sich Sorgen um ihn machte. Er konnte ja nicht ahnen, wie hart sie daran gearbeitet hatte, Luca vor einer Kindheit wie der ihren zu bewahren.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als der Junge sich vertrauensvoll an sie kuschelte. Was hatte sie falsch gemacht, dass ihre Mutter diese tiefe Verbundenheit zu ihr nicht gespürt hatte? Sie wusste nur eins: Nichts und niemand auf der Welt würde sie jemals dazu bringen, ihren Sohn im Stich zu lassen.

Sie würde nicht dulden, dass Santo ihn ihr wegnahm.

Luca, in seliger Unkenntnis der Gefahren, die seine friedliche kleine Welt bedrohten, befreite sich zappelnd aus ihrer Umarmung.

„Bett.“

„Gute Idee“, sagte sie heiser und trug ihn zurück ins Kinderzimmer.

„Mann kommt wieder?“

Ihr Magen zog sich zusammen. „Ja, der Mann kommt wieder.“ Niemand hinderte einen Ferrara daran, sich zu nehmen, was er wollte. Und Santo wollte seinen Sohn.

Sie saß an Lucas Bett, bis er eingeschlafen war. Ihr Herz floss über vor Liebe zu ihm. Sie musste zugeben, dass sie verstand, was in Santo vorging. Die Schuldgefühle, die sie all die Jahre hartnäckig verdrängt hatte, kamen wieder hoch.

Nicht, dass sie ihre Entscheidung bereute, aber sie hatte sich auch nie ganz wohl damit gefühlt. In langen, einsamen Nächten, wenn die Hektik des Alltags sie nicht mehr ablenkte, plagte sie sich manchmal mit einem schlechten Gewissen herum. Auch eine richtige Entscheidung konnte sich grundfalsch anfühlen.

Und dann diese Träume! Träume von einem Leben, das es nie geben würde.

Sie sah ihn vor sich, seine dunklen Augen unter dichten schwarzen Wimpern, seinen schönen, entschlossenen Mund … Energisch verbot sie sich jeden weiteren Gedanken an ihn und ging in die Küche, um fertig aufzuräumen.

Sie legte sich ins Zeug, bis alles vor Sauberkeit blitzte und sie so müde war, dass sie außer körperlicher Erschöpfung nichts mehr spürte. Dann holte sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank und nahm es mit auf den hölzernen Anlegesteg vor dem Res­taurant.

Die Fischerboote, die früh morgens wieder aufs Meer hinausfahren würden, schaukelten träge auf den dunklen Wellen. Normalerweise konnte sie sich hier nach getaner Arbeit entspannen, doch heute versagte ihr kleines Ritual.

Sie kickte die Schuhe von den Füßen, setzte sich an den Rand des Stegs und ließ die Zehen ins Wasser baumeln. Ihr Blick glitt zu den Lichtern des Ferrara Beach Club Hotels am gegenüberliegenden Ufer der Bucht. Achtzig Prozent der Leute, die bei ihr aßen, waren Gäste des Hotels. Sie kam mit den Reservierungen kaum nach. Nachdenklich setzte sie die Flasche an die Lippen und trank. Die Schattenseite ihres Erfolgs war, dass sie dadurch die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich gezogen hatte.

In ihrem Bemühen, für sich und ihren Sohn zu sorgen und ihn vor allem Unheil zu beschützen, hatte sie selbst für seine Entdeckung gesorgt.

„Fiammetta!“

Die scharfe Stimme ihres Großvaters riss sie aus ihren Gedanken. Sie sprang auf und ging zurück zu der massiven Villa aus grauem Stein, die seit Generationen ihrer Familie gehörte. „Come stai, nonno?“, fragte sie so unbefangen wie möglich. „Wie geht’s dir, Großvater?“

„Wie soll es mir schon gehen, wenn ich mit ansehen muss, wie meine Enkelin sich zu Tode schuftet?“ Grimmig musterte er die Bierflasche in ihrer Hand. „Männer mögen keine Frauen, die Bier trinken.“

„Gut, dass ich keinen habe, der mir deswegen Vorwürfe machen könnte.“ Immerhin war ihr Großvater wieder fit genug, um an ihr herumzumäkeln. Sie kannte es nicht anders. Es war seine spezielle Art, ihr seine Liebe zu zeigen. Jedenfalls redete sie sich das ein. „Warum bist du so spät noch auf?“

„Ich habe Luca weinen gehört.“

„Er hat schlecht geträumt und wollte noch mal in den Arm genommen werden.“

„Du solltest ihn weinen lassen“, knurrte ihr Großvater. „Wie soll ein Mann aus ihm werden, wenn du ihn so verhätschelst? Dauernd schmust irgendwer mit ihm herum.“

„Er wird ein toller Mann werden. Der beste, glaub mir. Ein Kind kann gar nicht genug Liebe bekommen.“

„Habe ich jemals so ein Getue um meinen Sohn gemacht?“

Nein. Und wir wissen ja, was aus ihm geworden ist.

„Geh schlafen, nonno.“

„Du hast mich damals gefragt, ob du ein paar Gäste bewirten darfst“, fuhr er missmutig fort, während er mit schmerzverzerrtem Gesicht über die Veranda in Richtung Meer schlurfte.“ Und jetzt wimmelt es hier von Leuten, denen du gutes sizilianisches Essen bei Kerzenlicht servierst, obwohl sie frisch zubereitete Spezialitäten nicht von Fastfood unterscheiden können.“

„Die Leute kommen von weither, um hier zu essen. Mein Geschäft läuft gut.“

„Du solltest gar kein Geschäft führen.“ Schwerfällig ließ er sich auf seinem Lieblingsplatz nahe am Wasser nieder, wo er schon gesessen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.

„Ich baue mir eine Existenz auf. Eine Zukunft für mich und mein Kind.“ Nur dass diese Zukunft jetzt ernsthaft bedroht war. Um nicht in Versuchung zu geraten, ihrem Großvater ihr Herz auszuschütten, bot sie an, ihm etwas zu trinken zu holen.

Irgendwann würde sie ihm gestehen müssen, dass sein heiß geliebter Urenkel das Kind des Mannes war, den er aus tiefstem Herzen hasste. Aber erst musste sie sich eine Strategie zurechtlegen. Seit Luca auf der Welt war, war der Name Ferrara im Hause Baracchi nicht mehr gefallen. Sie hatte ihren Großvater zum Schweigen verdonnert, Lucas wegen. Wenn er nichts Gutes über die Ferraras zu sagen hatte, sollte er lieber gar nichts sagen.

Zum Glück hatte er sich bis jetzt daran gehalten. Vielleicht hatte ihn das Alter tatsächlich milder gestimmt. Sie konnte es nur hoffen.

„Also, was hast du auf dem Herzen?“ Sie schenkte ihm einen Grappa ein.

„Abgesehen davon, dass du dich jeden Abend in der Küche abrackerst, während fremde Leute auf dein Kind aufpassen?“

„Luca tut es gut, auch mit anderen zusammen zu sein. Gina liebt ihn von ganzem Herzen.“ Sie konnte ihrem Sohn nicht die Familie bieten, die sie sich für ihn gewünscht hätte, also hatte sie für eine Ersatzfamilie gesorgt. Er würde nie so einsam sein, wie sie es als Kind gewesen war. Er würde immer Menschen um sich haben, die für ihn da waren. Ihn in den Arm nahmen, wenn das Leben hart zu ihm war.

„Liebe“, schnaubte ihr Großvater verächtlich. „Du machst ein Mädchen aus ihm. Das kommt davon, wenn ein Junge ohne Vater aufwächst.“

Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für ihr Geständnis gewesen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Es gibt auch Männer in seinem Leben“, erwiderte sie matt.

„Falls du den jungen Kerl meinst, der für dich arbeitet, da kann ich nur lachen. Ich habe mehr Testosteron in meinem kleinen Finger als dieser Ben im ganzen Körper. Luca braucht einen richtigen Mann als Vorbild.“

„Ich fürchte, in der Frage, was einen richtigen Mann ausmacht, gehen unsere Vorstellungen weit auseinander.“

Der alte Mann ließ die Schultern sacken. Tiefe Furchen hatten sich in seine Stirn eingegraben. Er schien in den letzten Monaten um Jahre gealtert zu sein. „Das ist nicht das Leben, das ich für dich gewollt habe.“

„Im Leben läuft nicht immer alles nach Plan, nonno. Schenkt das Leben dir Oliven, mach Olivenöl daraus.“

„Das tust du ja nicht! Du gibst die Oliven den Nachbarn, damit sie Öl daraus machen.“

„Das ich dann in meiner Küche verwende, ganz recht. Eine Küche, über die inzwischen ganz Sizilien spricht. Letzte Woche standen wir sogar in der Zeitung.“ Auch wenn die jüngsten Ereignisse ihre Freude über diesen Erfolg erheblich dämpften. „Und in einem beliebten Reiseblog wurden wir unter der Überschrift Sizilianische Geheimtipps erwähnt. Ich komme voran, Großvater. Ich leiste gute Arbeit.“

„Arbeit ist etwas für Frauen, die noch keinen Ehemann gefunden haben.“

„Sag das nicht. Ich will nicht, dass Luca mit solchen Ansichten aufwächst.“

„Wie viele Männer wollten schon mit dir ausgehen! Helle, dunkle, große, kleine, und du sagst immer Nein. Seit Lucas Vater kommt keiner mehr an dich heran.“

„Wenn ich einen treffe, der mich interessiert, sage ich Ja.“ Doch sie wusste, dass das nicht passieren würde. Für sie gab es nur einen Mann, und der schien eine Mordswut auf sie zu haben. Und, schlimmer noch, sie für eine schlechte Mutter zu halten.

Als sie sah, wie ihr Großvater sich geistesabwesend die Brust massierte, legte sie besorgt die Hand auf seine, doch er schüttelte sie ab. Sie versuchte, nicht verletzt zu sein. Er war eben kein Schmusetyp. Weder sie noch Luca hatte er je umarmt.

„Was ist?“, fragte sie. „Hast du wieder Schmerzen?“

„Lass das Theater.“ Er musterte sie so durchdringend, dass sie ganz nervös wurde. „Du hattest nicht vor, es mir zu sagen, oder?“

Vor Schreck fiel ihr fast die Flasche aus der Hand.

„Was denn?“ Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust.

„Er war hier. Santo Ferrara.“ Er sprach den Namen aus, als hinterließe er einen schlechten Geschmack auf seiner Zunge.

„Nonno …“

„Ich weiß, ich soll nicht über ihn sprechen. Aber wenn ein Ferrara mein Land betritt, darf ich mich ja wohl dazu äußern. Warum hast du mir nichts davon gesagt?“

„Weil ich wusste, wie du reagieren würdest.“

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich habe diesem Jungen verboten, jemals wieder einen Fuß auf mein Grundstück zu setzen.“

Fia sah Santos breite Schultern vor sich, sein kantiges, von einem dunklen Bartschatten bedecktes Kinn. „Er ist kein Junge, er ist ein Mann.“ Ein schwerreicher noch dazu, Chef eines internationalen Konzerns. Der die Macht hatte, ihr Leben von einem auf den anderen Tag völlig umzukrempeln. Und losgezogen war, um mit seinen Anwälten über die Zukunft ihres Sohnes zu entscheiden.

Ihres gemeinsamen Sohnes.

Himmel!

Die Augen ihres Großvaters blitzten vor Zorn. „Dieser Mann ist in mein Haus eingedrungen, in mein Haus! Ohne jeden Respekt vor meinen Gefühlen. Und er hat nicht mal den Mumm, mir persönlich unter die Augen zu treten.“

„Bitte beruhige dich, nonno.“ Wenn er jetzt schon so außer sich war, wie würde er dann erst reagieren, wenn er die Wahrheit erfuhr? Alles fing wieder von vorne an, nur diesmal würde Luca im Kreuzfeuer stehen. „Ich habe ihn nicht zu dir gelassen, weil ich wusste, wie sehr du dich darüber aufregen würdest.“

„Natürlich rege ich mich auf. Du weißt, warum.“ Das Gesicht des alten Mannes wirkte gespenstisch blass im flackernden Kerzenlicht.

„Du hast mir versprochen, die Vergangenheit ruhen zu lassen.“

Ihr Großvater sah sie lange an. „Warum verteidigst du diesen Mann? Warum darf ich kein böses Wort über die Ferraras sagen?“

Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Ich will nicht, dass Luca mit diesem alten Feindbild aufwächst. Das ist grauenhaft.“

„Ich hasse die Ferraras.“

„Ich weiß.“ Sie atmete tief durch. Ja, sie wusste Bescheid. Seit sie das erste zarte Flattern in ihrem Bauch gespürt hatte, war kein Tag vergangen, an dem sie nicht daran gedacht hatte. Sie hatte daran gedacht, als sie ihren Sohn zur Welt gebracht und ihm zum ersten Mal in die Augen gesehen hatte. Jeden Abend, wenn sie ihm einen Gutenachtkuss gab, dachte sie daran.

„Dieser Mann ist schuld, wenn du nach meinem Tod allein dastehst. Wer soll dann auf dich aufpassen?“

„Ich sorge schon für Luca und mich.“ Sie wusste, dass ihr Großvater Santo Ferrara die Schuld am Tod ihres Bruders gab. Und dass es sinnlos war, ihn darauf hinzuweisen, dass ihr Bruder nicht einmal auf sich selbst hatte aufpassen können, geschweige denn auf sie. Ihr Bruder war durch seinen eigenen bodenlosen Leichtsinn zu Tode gekommen, nicht durch Santo.

Der alte Mann erhob sich mühsam. „Wenn Ferrara es je wieder wagen sollte, einen Fuß auf mein Grundstück zu setzen …“

Nonno!“

„… dann erwarte ich, dass er sich wie ein Mann verhält und für seine Handlungen geradesteht, sonst wird er es bitter bereuen.“

3. KAPITEL

Santo saß im Büro des Ferrara Beach Clubs, das der Hotelmanager in aller Eile für ihn geräumt hatte. Wenn er noch nach einem Grund gesucht hätte, warum dieses Hotel schlechter lief als alle anderen der Kette, dann brauchte er sich nur umzusehen. Chaos und Disziplinlosigkeit, wohin man blickte, von dem wüsten Durchei­nander auf dem Schreibtisch bis zu der halb vertrockneten Pflanze auf der Fensterbank.

Scheinbar höhnisch lächelte der Hoteldirektor, umrahmt von Ehefrau und zwei Kindern, von einem großformatigen Porträt an der Wand auf ihn herab.

Eine glückliche sizilianische Familie.

Santo hätte das Bild am liebsten heruntergerissen. Er war kein Träumer, aber war es denn so unrealistisch, zu hoffen, dass auch er eines Tages eine Familie wie diese haben würde? Anscheinend schon.

Ungeduldig sah er auf seine Armbanduhr. Er wusste, sie würde kommen. Nicht aus Fairness, sondern weil sie wusste, dass er sie sonst holen käme.

Reglos starrte er aus dem Fenster, während draußen die Sonne aufging und ihre goldenen Strahlen über das spiegelblanke Meer warf.

Er hatte die Nachricht in aller Frühe abgeschickt, als die meisten Leute noch tief und fest schliefen. Er selbst hatte kein Auge zugetan. Sie vermutlich auch nicht.

Obwohl er todmüde war, arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. Er wusste jetzt, was zu tun war. Wenn nur die emotionale Seite nicht so kompliziert gewesen wäre!

Sein Handy zeigte eine Nachricht von seinem Bruder an. Sie bestand aus einem einzigen Satz: Was kann ich für dich tun?

Bedingungslose Unterstützung. Uneingeschränkte Loyalität. Das war es, was eine Familie ausmachte. Er selbst war beschützt und geliebt im Schoß seiner Familie aufgewachsen, sein Sohn aber hatte seine ersten Lebensjahre in einer Schlangengrube verbracht.

Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er durfte sich gar nicht ausmalen, wie übel es Luca ergangen sein musste. Wie viel Schaden konnte emotionale Kälte in einer Kinderseele anrichten! Schaudernd erinnerte er sich an die Gerüchte über die brutalen Erziehungsmethoden der Baracchis. Und an die blauen Flecke auf Armen und Beinen, mit denen Fia immer herumgelaufen war.

Das Klopfen an der Tür war so zaghaft, dass er es fast überhörte. Seine Augen verengten sich, sein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe.

Doch es war nur eine Serviererin von der Morgenschicht, die Kaffee brachte.

„Grazie.“

Die Kaffeetasse klirrte leise, als die junge Frau sie mit scheuem Blick und zittriger Hand vor ihm abstellte. Die Hotelangestellten hatten allen Grund, ihn zu fürchten. Sie wussten ja nicht, dass seine schlechte Laune derzeit ganz andere Gründe hatte als die Missstände im Hotel.

Kaum war er wieder allein, klopfte es erneut. Das musste sie sein.

Die Tür ging auf, und Fia trat ein. Ihre klaren grünen Augen glitzerten angriffslustig, doch ihre Haut, so zart und durchscheinend wie der Nebelschleier über dem Meer, zeugte von einer schlaflosen Nacht.

Quer durch den Raum trafen sich ihre Blicke, und wieder sprühten die Funken.

Sie waren ein Liebespaar gewesen. Sie waren einander so nahe gekommen, wie ein Mann und eine Frau sich nur kommen konnten. Doch im Grunde waren sie einander fremd. Alles, was sie miteinander verband, waren ein paar Zufallsbegegnungen und eine gestohlene Liebesnacht, eine flüchtige Kostprobe verbotener Genüsse.

Nichts, was ihnen in dieser heiklen Lage helfen konnte.

„Wo ist mein Sohn?“, fragte er schroff.

„Zu Hause in seinem Bett. Gina ist da, und mein Großvater.“

Bitterer Zorn durchfuhr ihn. „Und das soll mich beruhigen?“

„Er liebt Luca.“

„Dann haben wir sehr unterschiedliche Auffassungen davon, was Liebe bedeutet.“

„Nein, haben wir nicht.“

Er presste die Lippen zusammen. „Wird er ihn immer noch lieben, wenn er erfährt, wer sein Vater ist? Ich schätze, wir beide kennen die Antwort.“ Er erhob sich, sah, wie ihre Hand zur Türklinke glitt, und sagte warnend: „Wenn du jetzt gehst, setzen wir dieses Gespräch in aller Öffentlichkeit fort. Willst du das?“

„Ich will, dass du dich beruhigst und die Sache vernünftig betrachtest.“

„Ich bin sogar sehr vernünftig, tesoro. Ich sehe absolut klar, seit ich meinen Sohn zu Gesicht bekommen habe.“

„Was willst du denn hören? Dass es mir leid tut? Dass ich einen Fehler gemacht habe?“ Ihre leise, rauchige Stimme lenkte seinen Blick auf ihren Mund. Er hatte nur eine einzige Nacht mit ihr verbracht, doch er hatte sie nie vergessen. Er wusste, wie sie schmeckte, wie sie sich anfühlte. Ihre zarte Haut, ihr seidiges Haar, das ihr jetzt offen über Rücken und Schultern fiel und wie Feuer in der Morgensonne leuchtete.

Er erinnerte sich, wie ihr Vater ihr das prachtvolle Haar einmal in einem Anfall von Baracchi-Jähzorn mit dem Küchenmesser abgesäbelt hatte. Er war zufällig vorbeigekommen und hatte entsetzt versucht, einzugreifen, doch das hatte alles nur noch schlimmer gemacht.

Fia hatte keine Miene verzogen, während eine Locke nach der anderen in ihren Schoß fiel. Anschließend hatte sie sich im Bootshaus verkrochen. Ihre zornsprühenden Augen hatten ihn gewarnt, kein Wort über die Sache zu verlieren. Was er auch nicht getan hatte. Ihre Bekanntschaft ging nicht über stumme Blicke hinaus.

Im Bootshaus war es auch gewesen, wo sie ihre Bekanntschaft so unerwartet vertieft hatten. In jener Nacht, als ihr Bruder starb.

Mühsam unterdrückte er jetzt den Impuls, sie mit dem Rücken an die Tür zu drücken und die Antworten aus ihr herauszupressen. „Wann hast du gemerkt, dass du schwanger bist?“

„Was spielt das für eine Rolle?“

„Antworte.“

Müde schloss sie die Augen. „Ich weiß es nicht mehr genau. Ziemlich spät. Damals ging alles drunter und drüber. Das Krankenhaus, die Beerdigung …“ Sie unterbrach sich, atmete tief durch. „Es war alles so furchtbar. Ich kam gar nicht dazu, an mich selbst zu denken.“

Ja, es war eine Katastrophe gewesen. Auch für ihn. Ein grauenhafter Mix aus Vorwürfen, Schuldgefühlen, Reue und wild aufbrausenden Gefühlen. Das verzweifelte Ringen um ein Leben, das bereits verloren war.

Ihr Zusammensein war ein flüchtiger Moment intimer Nähe gewesen, der unterging in der Flut von negativer Berichterstattung und übler Nachrede, die auf den Tod ihres Bruders folgte.

„Also, wann wurde dir klar, dass du schwanger bist?“

„Keine Ahnung. Zwei, drei Monate später …“ Sie rieb sich nervös die Schläfen. „Es war eine schlimme Zeit. Mir war ständig übel, aber ich dachte, es wäre nur der Schock. Als ich merkte, was los war, war es für mich …“

„Ein weiterer Schock?“

„Nein!“ Sie schüttelte empört den Kopf. „Wie ein Wunder. Aus der schlimmsten Nacht meines Lebens war das Beste hervorgegangen, was mir je passiert war.“

Ihre Antwort verwirrte ihn. Damit hatte er nicht gerechnet. „Du hättest mich trotzdem informieren müssen.“

„Wozu?“, rief sie verzweifelt. „Damit mein Großvater und du euch gegenseitig zerfleischt hättet? Das wollte ich Luca nicht zumuten. Ich habe getan, was das Beste für mein Baby war.“

„Unser Baby“, verbesserte er scharf. „Von nun an entscheiden wir gemeinsam.“ Er sah Angst in ihren Augen aufflackern.

„Luca ist glücklich. Ich verstehe dich ja, aber …“

„Gar nichts verstehst du.“ Er verstand sich ja selbst nicht. „Glaubst du, ich lasse meinen Sohn bei einem Baracchi auf­wachsen?“ Und endlich stellte er die Frage, die ihm nachts den Schlaf geraubt hatte: „Hat er ihn jemals geschlagen?“

„Nein“, erwiderte sie fest. „Das würde ich nie zulassen.“

„Wie willst du Luca denn beschützen? Du hast dich doch selbst nie gewehrt.“

„Ich war ein Kind!“, rief sie gequält. Plötzlich schämte er sich, weil er so auf ihr herumhackte. Das hatten schon zu viele Leute getan.

„Entschuldige“, sagte er leise.

„Schon gut. Ich nehme es dir nicht übel, dass du glaubst, Luca helfen zu müssen.“ Sie klang so resigniert, als hätte sie sich damit abgefunden, dass niemand Rücksicht auf ihre Gefühle nahm. „Ja, meine Kindheit war von Gewalt geprägt, aber die ging von meinem Vater aus, nicht von meinem Großvater. Ich versichere dir, dass Luca in keiner Weise gefährdet ist. Er wächst in einer sicheren, liebevollen Umgebung auf.“

„Aber ohne Vater.“

Sie nickte betroffen. „Ja.“

„Ich bin froh zu hören, dass es ihm so weit gut geht, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass für mich die Familie im Mittelpunkt steht. Ich bin ein Ferrara. Wir kümmern uns umeinander. Ich denke nicht daran, mein Kind im Stich zu lassen.“ Wie Fias Mutter es getan hatte.

Jeder hier kannte die Geschichte von der englischen Touristin, die sich Hals über Kopf in den charmanten, gut aussehenden Pietro Baracchi verliebt hatte. Und schon bald nach der Hochzeit feststellen musste, dass sie auf einen unverbesserlichen Schürzenjäger mit einem Hang zu unkontrollierten Wutausbrüchen hereingefallen war. Nachdem er sie einmal zu oft verprügelt hatte, hatte sie Sizilien, ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern für immer den Rücken gekehrt. Pietro Baracchi war kurz darauf in betrunkenem Zustand tödlich mit seinem Boot verunglückt.

Fia sah ihn an. „Du bist sehr schnell bereit, mich zu verurteilen. Hast du dir jemals die Mühe gemacht, mal nachzufragen, ob die Nacht mit mir Konsequenzen hatte?“

„Ich hatte doch vorgesorgt.“

„Und das hat ja auch großartig funktioniert.“ Zornig warf sie ihr Haar in den Nacken. „Hast du dich jemals gefragt, wie es mir ergangen ist? Wie ich den Tod meines Bruders verkraftet habe? Hast du ein einziges Mal versucht, mich wiederzusehen?“

„Ich wollte nicht, dass die Situation eskaliert“, verteidigte er sich, doch er fühlte sich schuldig. Er wusste, er hätte sich bei ihr melden müssen.

„Und wenn ich dir gesagt hätte, dass ich ein Kind von dir erwarte, wäre die Situation dann nicht eskaliert?“

„Ein Kind hätte alles geändert.“

„Ein Kind macht die Dinge nicht leichter, höchstens schwieriger.“ Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans. Ungeschminkt und mit offenem Haar sah sie unglaublich jung aus, fast wie ein Teenager, nicht wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau. „Verschwenden wir nicht unsere Zeit damit, über Vergangenes zu reden. Wenden wir uns der Zukunft zu. Ich verstehe, dass du mit Luca Kontakt haben möchtest. Ich denke, das lässt sich einrichten.“

„Wie bitte?“, fragte er zerstreut, den Blick auf ihre wohlgeformten Oberschenkel in der engen Jeans gerichtet.

„Ich meine, du kannst Luca gern sehen, wenn du dich an die Regeln hältst.“

Regeln? Wollte sie ihm die Regeln diktieren? „Und welche wären das?“, fragte er völlig perplex.

„Ich dulde nicht, dass du in Lucas Gegenwart auch nur ein schlechtes Wort über meinen Großvater oder meine Familie fallen lässt, mich selbst eingeschlossen. Wie sehr du dich auch über mich ärgern magst, du wirst dir nichts anmerken lassen. Was Luca betrifft, sind wir ein Herz und eine Seele. Er soll glauben, wir kämen gut miteinander aus. Wenn du das akzeptierst, kannst du ihn jederzeit sehen.“

Er konnte kaum fassen, wie gründlich sie ihn missverstanden hatte. „Ihn sehen?“, brauste er auf. „Glaubst du, mir geht es darum, eine nette kleine Besuchsregelung auszuhandeln, damit ich ab und zu etwas mit ihm unternehmen kann?“

„Willst du das nicht?“

„Natürlich will ich das. Ich will ihn sehen, und zwar immer und jederzeit“, erwiderte er barsch. „Wie ein ganz normaler Vater. Ich will ihn abends ins Bett bringen, ihn morgens wecken und so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen. Ich werde ihm zeigen, was eine richtige Familie ist. Ich habe meine Anwälte beauftragt, die nötigen Formalitäten zur Anerkennung der Vaterschaft in die Wege zu leiten, damit er als mein Sohn registriert wird. Mein Sohn.“

Sekundenlang herrschte Totenstille, dann explodierte Fia. Wutentbrannt stürzte sie sich auf ihn und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein.

„Du nimmst mir meinen Sohn nicht weg! Das lasse ich nicht zu …“

Ihr Angriff kam so überraschend, dass Santo einen Moment brauchte, um ihre schmalen Handgelenke zu packen und ein paar ihrer rotbraunen Locken von seiner Schulter zu streifen, die sich dort verfangen hatten.

„Du hast ihn mir auch weggenommen.“ Kühl beobachtete er, wie sich das Entsetzen auf ihrer Miene ausbreitete.

„Ich bin seine Mutter …“, ihre Stimme bebte vor Angst, „… du darfst ihn mir nicht wegnehmen. Er braucht mich!“

Er schwieg gerade lange genug, um ihr einen Eindruck davon zu vermitteln, was er selbst durchmachte, seit er von der Existenz seines Sohnes erfahren hatte. Dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. „Falls du die treusorgende Mutter herauskehren willst, spar dir die Mühe. Immerhin hast du ein Kindermädchen engagiert.“

„Was hat Gina damit zu tun?“

„Du kümmerst dich nicht selbst um Luca.“

„Natürlich kümmere ich mich um ihn, aber ich kann …“

„Schon klar. Es ist mühsam, sich den ganzen Tag um ein Kind zu kümmern, ich weiß. Das fand deine Mutter wohl auch, als sie euch verließ. Ich gebe dir die Chance, ihrem Beispiel zu folgen.“

Ihre Augen weiteten sich. „Was soll das heißen?“

„Das heißt, dass ich bereit bin, die volle Verantwortung für Luca zu übernehmen.“

„Du drohst damit, ihn mir wegzunehmen?“

„Das ist keine Drohung, das ist ein Angebot“, erwiderte er ruhig.

Fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Du glaubst, ich würde ihn weggeben?“

„Du könntest dein früheres Leben wiederhaben. Ein sehr angenehmes Leben, denn ich wäre bereit, dir die Sache mit einer größeren Geldsumme zu versüßen. Greif zu, dann musst du nie wieder arbeiten.“

Fia legte die Hände an ihre blassen Wangen und lachte ungläubig. „Du kennst mich kein bisschen. Ich liebe meinen Sohn über alles und würde ihn dir für nichts auf der Welt überlassen.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Ich würde alles für ihn tun.“

Er nickte zufrieden. „Deine Mutter hätte das Geld genommen und das Weite gesucht. Es spricht für dich, dass du es nicht tust.“

„War das eine Art Test?“ Sie musterte ihn angewidert. „Das ist krank, weißt du das?“

„Die Zukunft unseres Sohnes steht auf dem Spiel. Auch ich würde alles für ihn tun. Wenn ich dich dafür beleidigen muss, dann nehme ich das in Kauf.“ Er schlug sie mit ihren eigenen Waffen. Hilflos schlang sie die Arme um ihren Körper.

„Ich bin nicht meine Mutter. Ich würde Luca niemals verlassen.“

„Dann müssen wir die Sache anders lösen.“ Auf die einzig mögliche Art. Immerhin war sie bereit, für ihr Kind zu kämpfen.

„Aber wie?“, fragte sie verzweifelt. „Ich will nicht, dass Luca zwischen die Fronten gerät. Bisher hatte er eine sehr harmonische Kindheit.“

„Da ich deinen Großvater kenne, fällt es mir schwer, das zu glauben.“

Nonno hat sich an meine Regeln gehalten.“

Santo runzelte die Stirn. „Noch mehr Regeln?“

„Ja. In unserem Haus darf niemand ein schlechtes Wort über die Ferraras sagen. Ich will nicht, dass Luca in derselben feindseligen Atmosphäre aufwächst wie ich.“

„Und wie hast du dieses Wunder bei deinem Großvater bewirkt?“

„Indem ich ihm angedroht habe, dass er Luca nicht mehr sehen darf, wenn er gegen die Regeln verstößt.“

„Genial.“ So viel Härte hatte er ihr gar nicht zugetraut.

„Auch du wirst dich daran halten müssen, wenn du mit Luca zusammen bist. Glaub nicht, dass ich es nicht erfahre, wenn du schlecht über uns redest. Er ist ein wandelndes Aufnahmegerät und plappert alles nach, was er irgendwo aufschnappt.“

Beeindruckt von der Willensstärke, die in dieser zierlichen Frau steckte, und ihrer energischen Weigerung, sich an der Familienfehde zu beteiligen, ließ er sich Zeit mit der Antwort.

„Erstens“, erwiderte er dann ruhig, „ging die Feindseligkeit von eurer Seite aus. Unsere Versöhnungsangebote wurden immer zurückgewiesen. Zweitens wirst du wissen, worüber ich mit Luca spreche, weil du dabei sein wirst. Drittens werden unsere Familien bald vereint sein, womit sich der alte Streit von selbst erledigt.“

„Vereint?“ Nervös strich sie sich eine Locke hinter das Ohr. „Du meinst, durch unseren Sohn.“

„Ich meine, durch unsere Heirat.“

Totenstille trat ein.

Nach ein paar Schrecksekunden flüsterte Fia entgeistert: „Ich soll dich heiraten? Soll das ein Witz sein?“

„Genieß es, tesoro, Schatz. Zahlreiche Frauen haben vergeblich auf einen Antrag von mir gehofft.“

Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Du machst mir allen Ernstes einen Heiratsantrag?“

„Einen formellen, keinen romantischen. Erwarte nicht, dass ich vor dir auf die Knie falle.“

Jetzt würde sich zeigen, wie sehr sie ihren Sohn liebte.

Zunächst einmal musterte sie ihn, als hätte er den Verstand verloren. „Abgesehen davon, dass wir uns seit drei Jahren nicht gesehen haben und uns kaum kennen, würden unsere Familien diese Heirat niemals akzeptieren.“

„Deine vielleicht. Meine wird mich vorbehaltlos unterstützen, wie es sich für eine Familie gehört. Was deine sagt, interessiert mich nicht.“ Er zuckte achtlos mit den Schultern. „Was das andere Problem betrifft, mach dir mal keine Sorgen. Du wirst mich bald genug kennenlernen. Ab jetzt lasse ich dich nicht mehr aus den Augen.“

Verstört wandte sie sich zum Fenster. „Ich habe erst letzte Woche ein Bild von dir in der Zeitung gesehen, auf dem du Arm in Arm mit einer Frau über den roten Teppich stolzierst. Du bist ständig von Frauen umgeben.“

„Dann sei froh, dass ich die Richtige noch nicht gefunden habe“, sagte er trocken. Seine Vision von einer glücklichen Ehe war in weite Ferne gerückt.

„Ich kann deinen Antrag nicht annehmen. Ich muss es auch nicht. Ich führe ein erfolgreiches Geschäft und …“

„Es geht hier nicht um dich, sondern um Luca. Oder reicht deine selbstlose Liebe nur so weit, wie du selbst davon profitierst? Wenn dir Lucas Wohl wirklich am Herzen liegt, tust du, was für ihn das Beste ist.“

Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. „Es wäre nicht gut für ihn.“

„Was ihm bestimmt nicht gut tut, ist eine Familie, die es nicht verdient, so genannt zu werden“, versetzte er kalt. „Er ist ein Ferrara und hat ein Recht darauf, all die Liebe und Geborgenheit zu bekommen, die meine Familie ihm geben kann. Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihm zu seinem Recht zu verhelfen.“

„Das tust du nur, um mich zu bestrafen.“ Wut und Hilflosigkeit spiegelten sich in ihrer Miene. Sie wusste, welche Macht er besaß und wozu er fähig war, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.

„Luca hat es verdient, in einer intakten Familie aufzuwachsen, auch wenn das ein Fremdwort für dich ist.“ Ein weiterer Hieb unter die Gürtellinie, den sie erstaunlich gefasst hinnahm.

„Nein, ist es nicht. Ich weiß, dass eine intakte Familie aus Menschen besteht, die einander lieben und bedingungslos zusammenhalten. Obwohl ich das von zu Hause nicht kenne, habe ich so ein Umfeld für Luca geschaffen. Ich wollte, dass er von Leuten umgeben ist, die ihn lieben und unterstützen. Und natürlich brauche ich Hilfe bei der Betreuung, denn ich will unseren Unterhalt selbst verdienen und nicht von meinem Großvater abhängig sein.“

„Ziemlich blumige Ausrede, findest du nicht?“

„Du kannst es dir leisten, die Nase über Leute zu rümpfen, die eine Kinderfrau beschäftigen müssen. In deiner Familie gibt es genug Verwandte, die sich um den Nachwuchs kümmern. In meiner nicht, also habe ich eine nette, warmherzige junge Frau angestellt, zu der ich vollstes Vertrauen habe. Sie ist bei uns, seit Luca geboren wurde, genau wie Ben, der den Part der männlichen Bezugsperson innehat …“ Sie presste kurz die Lippen zusammen.

„Ich weiß, dass es meinem Großvater an Wärme und Feingefühl mangelt. Er hält nichts von liebevoller Nähe. Ich wollte, dass Luca von Leuten umgeben ist, die ihn knuddeln und in den Arm nehmen. Die so denken und fühlen wie ich. Deshalb habe ich eine Ersatzfamilie geschaffen.“

Ersatzfamilie?

Santo musste zugeben, dass seinem Sohn in der kurzen Zeit, in der er ihn gesehen hatte, jede Menge Aufmerksamkeit zuteil geworden war. „Schön und gut, aber Luca braucht keine Ersatzfamilie. Er bekommt eine richtige.“

„Wie stellst du dir das vor? Mein Vater hat meine Mutter geheiratet, weil sie schwanger war. Ich kann ein Lied davon singen, wie erbärmlich diese Ehe gescheitert ist. Du willst, dass wir das wiederholen?“

„Selbstverständlich nicht.“ Seine Stimme war kalt wie Eis. „Deine Eltern haben nebeneinanderher gelebt. Ihre Kinder, du und dein Bruder, spielten in ihrem selbstsüchtigen, oberflächlichen Leben nur eine Nebenrolle, ganz abgesehen von dem bösartigen Temperament der Baracchis, unter dem ihr zu leiden hattet. In unserer Ehe wird es anders zugehen.“

„Ich verstehe ja, dass du wütend auf mich bist, aber denk doch an Luca!“

„Ich denke seit gestern Abend an nichts anderes.“

„Was hat er davon, wenn wir zusammenleben? Du solltest keine überstürzten Entscheidungen …“

„Überstürzt?“ Er hätte vor Wut an die Decke gehen können, wenn er sich vorstellte, wie viel Zeit er bereits verloren hatte. „Luca hat eine ganze Familie mit Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen, von der er nichts weiß!“ Ihre betroffene Miene ermutigte ihn, seinen Trumpf weiter auszuspielen. „Als Familienmitglied der Ferraras wird er sich nie einsam oder ungeliebt fühlen. Und er muss sich auch nicht in einem alten Bootsschuppen verkriechen, weil es zu Hause mal wieder Krach gibt.“

„Du Mistkerl …“ Ihre Augen wurden dunkel vor Schmerz, doch er war blind für alle Gefühle außer seinem eigenen unbändigen Zorn.

„Du hast mir meinen Sohn vorenthalten. Du hast ihn um das Recht betrogen, im Kreise einer liebevollen Familie aufzuwachsen, mir Erfahrungen verwehrt, die ich nie mehr nachholen kann. Ab jetzt sage ich, wo es langgeht. Wenn du mich deshalb für einen Mistkerl hältst, bitte, damit kann ich leben. Also denk über meinen Vorschlag nach.“ Er ging zur Tür. „Und während du nachdenkst, würde ich gern weiterarbeiten.“

„Du willst arbeiten?“

„Was glaubst du? Ich leite einen Hotelkonzern.“

„Ich brauche Zeit …“ Sie sah ihn ratlos an. „Ich muss mir darüber klar werden, was das Beste für Luca ist.“

Ungeduldig hielt er ihr die Tür auf. „Ein Vater und eine Familie zu haben ist das Beste für ihn, das müsste selbst ein verbohrter Baracchi einsehen. Ich gebe dir bis heute Abend Zeit, um zur Vernunft zu kommen. Und ich rate dir, erzähl deinem Großvater die Wahrheit, bevor ich es tue.“

4. KAPITEL

Nichts war so grausam wie ein zerstörter Traum.

Wie oft hatte sie sehnsüchtig zur anderen Seite der Bucht hi­nübergesehen und die Ferraras um ihr glückliches Familienleben beneidet? Wie oft hatte sie sich gewünscht, zu ihnen zu gehören? Nicht zufällig hatte sie sich in Zeiten größter Not in das alte Bootshaus geflüchtet, in der verzweifelten Hoffnung, dort etwas Nestwärme zu finden.

Sie hatte sich die nackten Beine am rauen Holz aufgeschürft, wenn sie sich durch das offene Fenster zwängte, und war in einer Wolke von Schmutz und Staub auf dem Boden gelandet. Es hatte ihr nichts ausgemacht.

In dem alten Schuppen, dessen wellenumspülte Tür zum offenen Meer hinauszeigte, hatte sie sich sicher gefühlt. Wer würde sie schon auf feindlichem Territorium vermuten? Umso größer war ihr Schock gewesen, als sie eines Tages Santo entdeckt hatte, der sie von einem nahen Felsen aus beobachtete. Mit angehaltenem Atem hatte sie darauf gewartet, dass er sie aus ihrem Versteck jagte.

Ihre Familie hasste die seine. Wenn nur der Name Ferrara fiel, herrschte im Hause Baracchi tagelang schlechte Stimmung. Wenn die Baracchis eins konnten, dann einen gesunden Hass nähren.

Santo hatte sie damals nicht verraten. Er war still und leise verschwunden, als hätte er gespürt, dass sie allein sein wollte.

Dadurch war der halbwüchsige Junge in ihren Augen zu einem Halbgott aufgestiegen. Das Bootshaus war ihr ständiger Zufluchtsort geworden, ihr geheimer Beobachtungsposten, der ihr Einblick in das Familienleben der Ferraras verschaffte. Ihr anfängliches Misstrauen verwandelte sich in Neid und Sehnsucht, als sie Zeugin fröhlicher Familienpicknicks und unbeschwerter Spiele am Strand wurde.

Damals hatte sie gelernt, dass man Streitigkeiten auch liebevoll austragen konnte, dass es Väter gab, die ihre Kinder in den Arm nahmen, Geschwister, die einander nahestanden. Sie hatte gelernt, was eine richtige Familie war.

Während ihre Mitschülerinnen davon träumten, eine Prinzessin zu sein, hatte sie als Kind nur den einen Wunsch gehabt: dass sich eines Tages herausstellen würde, dass sie in Wirklichkeit eine Ferrara war. Dass sie durch eine Verwechslung im Krankenhaus in der falschen Familie gelandet war und die Ferraras sie irgendwann zu sich holen würden.

Das habe ich nun davon.

Der Schlafmangel der letzten Nacht und die nervenaufreibende Begegnung mit Santo hatten ihr hämmernde Kopfschmerzen beschert. Bis zum Abend musste sie einen Weg finden, ihrem Großvater beizubringen, dass sein Todfeind der Vater seines geliebten Urenkels war.

Und dann wartete bereits das nächste Problem auf sie: Santos absurder Heiratsantrag. Welche Frau bei klarem Verstand würde einen Mann heiraten, der so zu ihr stand wie Santo zu ihr?

Obwohl sie ihm schlecht vorwerfen konnte, dass er sich so vehement für sein Kind einsetzte. Sie wünschte, ihre Eltern hätten dasselbe für sie getan. Wie konnte sie Luca einen festen Platz in der Familie verwehren, die sie selbst immer bewundert hatte?

Wenn sie sich auf Santos Bedingungen einließ, würde Luca als Ferrara aufwachsen, wohlbehütet im Kreise einer großen Familie. Er hätte das Leben, von dem sie immer geträumt hatte.

Doch dafür würde sie einen hohen Preis bezahlen müssen. Denn auch sie würde sich den Ferraras anschließen müssen, ohne jemals wirklich dazuzugehören. Sie wäre geduldet, aber nicht willkommen. Die ewige Außenseiterin.

Und sie müsste ihr Leben an der Seite eines Mannes verbringen, der sie nicht liebte. Der ihr übel nahm, was sie getan hatte.

Konnte das gut für Luca sein?

Nein!

Entschlossen, Santo seinen verrückten Plan auszureden, kehrte sie in ihr Restaurant zurück, wo bereits hektische Aktivität herrschte. Egal, ob für sie gerade die Welt zusammenbrach oder nicht, das Leben ging weiter. Hier in ihrem kleinen Paradies, wo nur wenige Schritte entfernt das Meer in der Sonne glänzte und die Wellen sich plätschernd am Strand brachen, hätte sie eigentlich ihre innere Ruhe wiederfinden müssen. Doch nie war sie nervöser gewesen als an diesem Morgen.

„Hey, Boss!“ Ben kam herein und hievte eine Kiste auf den Tresen. „Ich habe gamberi auf die Tageskarte gesetzt, einverstanden?“

„Ja, gut.“ Mechanisch überprüfte sie das Obst und Gemüse aus der Region, das täglich frisch angeliefert wurde. Es war alles wie immer, und doch war alles anders. „Sind die Avocados gekommen?“

„Ja, prima Qualität. Alles klar bei dir?“ Natürlich steckte mehr hinter Bens beiläufiger Frage. Er wollte wissen, was zwischen Santo und ihr vorgefallen war, doch sie ging nicht darauf ein.

„Wo ist mein Großvater?“

„Im Haus, nehme ich an. Ach, Luca kann übrigens ein neues Wort“, verkündete er grinsend. „Gamberi. Gina und ich haben ihn mit zum Hafen genommen. Er war ganz vernarrt in die Tintenfische und wollte sie unbedingt mit nach Hause nehmen. Was wir auch taten, allerdings ohne ihm zu sagen, dass wir sie kochen und den Gästen zum Wein servieren.“

Fia lächelte matt. Luca war hier zwischen diesen Menschen aufgewachsen. Er war ein fröhliches, zutrauliches Kind. Das emotionale Auf und Ab, das ihre eigene Kindheit vergiftet hatte, war ihm erspart geblieben. Es brach ihr das Herz, sich vorzustellen, dass es mit seinem beschaulichen Leben bald für immer vorbei sein sollte.

Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, als Ben beim Blick aus dem Fenster bemerkte: „Ein reichlich früher Mittagsgast. Und reichlich fein angezogen.“

Sie drehte sich um und entdeckte zu ihrem Ärger einen bulligen Mann im dunklen Anzug, der an der Hausecke herumlungerte. Santo hatte ihr bis zum Abend Bedenkzeit eingeräumt, zeigte aber schon jetzt durch einen seiner Leute Präsenz.

„Mach du hier weiter, Ben. Ich regele das.“ Im Hinausgehen zückte sie ihr Handy und wählte die Nummer des Hotels. „Stellen Sie mich zu Ferrara durch … es ist mir egal, ob er in einer Sitzung ist … sagen Sie ihm, Fia Baracchi will ihn sprechen, und zwar flott!“ Sie war so geladen, dass sie nicht gezögert hätte, sich zur Not gewaltsam Zutritt zu seinem ach so wichtigen Meeting zu verschaffen.

„Ich hoffe, du hast einen wichtigen Grund, mich zu stören“, drang Santos sonore Stimme an ihr Ohr.

„Bei mir schleicht ein Typ herum, der aussieht wie ein Mafia­boss.“

„Sehr gut. Der Mann handelt in meinem Auftrag.“

„Und worin genau besteht sein Auftrag?“

„Er ist der Sicherheitschef meiner Firma und führt eine Risikoanalyse durch.“

„Eine was?“

„Denk nach, Fia.“

Seinem kurz angebundenen Ton nach zu urteilen war Santo nicht allein und auch nicht gewillt, seine Privatangelegenheiten vor Publikum zu diskutieren. Bald würde alle Welt erfahren, dass Santo Ferrara einen Sohn hatte, und dann …

„Er soll verschwinden. Er vertreibt meine Gäste.“

„Deine Gäste interessieren mich nicht.“

Sie musterte den Muskelprotz im dunklen Anzug und spielte die Karte aus, mit der sie Santo am ehesten umzustimmen hoffte: „Er wird Luca Angst einjagen.“

„Luigi ist Familienvater und versteht sich großartig mit Kindern. Er ist Teil der Abmachung. Jetzt geh und rede mit deinem Großvater, sonst erledige ich das. Und ruf mich nicht mehr an, wenn es nicht wirklich wichtig ist.“ Er legte auf, und Fia, die sich vorkam wie ein hilflos im Netz zappelnder Fisch, ging zornig auf den Fremden zu.

„In zwei Stunden herrscht hier Hochbetrieb. Ich will nicht, dass meine Gäste denken, wir hätten ein Problem.“

„Solange ich hier bin, gibt es kein Problem.“

„Ich will Sie aber nicht hier haben. Sie fallen auf. Die Gäste werden beunruhigt sein, und Luca …“ Sie merkte, wie ihr die Luft ausging. „Er hat bisher ein ruhiges Leben geführt. Ich will nicht, dass er Angst bekommt.“ Zu ihrer Überraschung reagierte der Mann keineswegs so arrogant und uneinsichtig wie sein Chef, sondern sah sie aus freundlichen grauen Augen verständnisvoll an.

„Ich bin nur zu seinem Schutz hier. Wenn wir das möglichst unspektakulär gestalten können, ist das ganz in meinem Sinn.“

„Ich kann selbst auf meinen Sohn aufpassen.“

„Das glauben Sie, aber er ist nicht nur Ihr Sohn“, erwiderte er, was wohl heißen sollte, dass es die andere Hälfte der Gene war, auf die es ankam. Wäre Luca nur ihr Sohn gewesen, hätte er keines besonderen Schutzes bedurft. Zufällig aber war er der Sprössling eines der reichsten und mächtigsten Männer von ganz Sizilien und daher ein potenzielles Opfer skrupelloser Verbrecher. Der Gedanke ließ Fia schaudern.

„Ist er in Gefahr?“

„Nicht, wenn Santo Ferrara für seine Sicherheit sorgt.“ Der Mann sah sich prüfend um. „Keine Sorge, wir finden schon eine Lösung.“

Sie schluckte ihre Angst herunter. „Warum sind Sie so freundlich zu mir?“

„Sie haben meine Nichte letzten Sommer hier arbeiten lassen, obwohl sie keinerlei Erfahrung hatte. Das war sehr großzügig von Ihnen.“

„Sabina ist Ihre Nichte?“

„Ja, die Tochter meiner Schwester.“ Er räusperte sich. „Überlassen Sie mir einen Tisch in der Ecke der Terrasse. Ich werde in Ruhe essen und dabei unauffällig alles im Auge behalten.“

„Und wenn er es herausfindet?“ Sie brauchte nicht näher zu erläutern, wer mit „er“ gemeint war.

„Der Boss vertraut seinen Leuten und lässt sie ihren so Job machen, wie sie es für richtig halten“, versicherte er lächelnd. „Sonst würde ich nicht für ihn arbeiten.“

Lobeshymnen über Santo waren das Letzte, was Fia hören wollte, aber Luigi machte einen erfreulich vernünftigen Eindruck. Vernünftiger als sein Boss.

„Nehmen Sie den Tisch da hinten. Und legen Sie Ihr Jackett ab, bei uns geht es leger zu.“

„Mama!“ Luca kam auf sie zugestürmt. Sie sah, wie Luigi beim Anblick des Jungen verblüfft nach Luft schnappte.

Madre di Dio …“

War die Ähnlichkeit wirklich so frappierend? Fia nahm ihren Sohn, der den Fremden neugierig musterte, fest in den Arm. Er kennt keine Angst, dachte sie besorgt. Luca hatte seine ersten Lebensjahre hier am Strand verbracht, zwischen Menschen, die ihn liebten, und Gästen, die ihn als niedliches Beiwerk zu dieser sizilianischen Idylle betrachteten.

Sobald bekannt wurde, wer sein Vater war, bestand ein gewisses Risiko für ihn, das sah sie ein.

„Das ist Luigi“, sagte sie sanft. „Er isst heute bei uns zu Mittag, ist das nicht schön?“ Sie schenkte dem Security-Mann ein mattes Lächeln. „Ich danke Ihnen.“

„Keine Ursache.“ Luigi zwinkerte dem Jungen zu und bezog seinen Posten auf der Terrasse, während Fia wieder an die Arbeit ging.

Ein geschäftiger Mittag ging in einen hektischen Abend über. Sie kam einfach nicht dazu, das wichtige Gespräch mit ihrem Großvater zu führen, obwohl ihr Santos Drohung im Nacken saß. Die Zeit lief. Als Gina und Ben Feierabend machten und im Restaurant endlich Ruhe einkehrte, war Fia ein nervliches Wrack.

Wie sollte sie ihm die Neuigkeit nur schonend beibringen? Ich muss mit dir über Luca reden. Oder: Du hast mich oft gefragt, wer Lucas Vater ist …

In Gedanken bereits bei der bevorstehenden Auseinandersetzung, kehrte sie in die Küche zurück, um letzte Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen. Da sah sie die hagere Gestalt ihres Großvaters zusammengekrümmt am Boden liegen.

Nonno! Oh, nein … bitte nicht!“ Schon kniete sie neben ihm, rüttelte ihn an der Schulter, tastete mit zitternden Fingern nach seinem Puls. „Sag etwas, Großvater … Bitte, tu mir das nicht an!“ Panisch durchwühlte sie ihre Taschen nach ihrem Handy, bis ihr klar wurde, dass sie es im Haus vergessen hatte.

„Atmet er?“ Die feste Männerstimme hinter ihr ließ sie he­rumfahren. Es war Santo, der schon das Handy am Ohr hatte, um den Notarzt zu rufen. Sie war so erleichtert, ihn zu sehen, dass sie nicht einmal fragte, was er hier zu suchen hatte.

„Sie schicken einen Helikopter.“ Er beugte sich über ihren Großvater und legte zwei Finger an dessen Halsschlagader. „Kein Puls.“

Verzweifelt rieb sie die schlaffe kalte Hand des alten Mannes. „Nonno …!“

„Er hört dich nicht. Rück zur Seite, damit ich ihm helfen kann.“ Santos Ton ließ keinen Widerspruch zu.

Im selben Moment kam Luigi mit einem kleinen Koffer in der Hand in die Küche gestürmt. „Hier, Boss.“

„Öffne sein Hemd, Fia.“

„Aber …“

„Na los! Tu, was ich dir sage.“ Santo öffnete den Koffer und drückte eine Taste.

„Was hast du vor?“ Sie fummelte hektisch an den Hemdknöpfen herum, bis Santo ihre Hand wegstieß und das Hemd kurzerhand aufriss.

„Weg mit dir.“ Schnell und geschickt entfernte er die Schutzfolie von zwei Elektroden und platzierte sie auf der nackten Brust ihres Großvaters. Er hat alles unter Kontrolle, registrierte sie halb benommen vor Angst. Wie immer.

„Weißt du überhaupt, wie man so ein Ding bedient?“

„Das Ding ist ein Defibrillator.“ Konzentriert folgte er den Anweisungen der Computerstimme, die aus dem Gerät kam. „Und ja, ich kann damit umgehen.“

„Du willst ihm einen Elektroschock versetzen?“, fragte sie erschrocken, als ihr klar wurde, dass das Leben ihres Großvaters in den Händen eines Mannes lag, der keinerlei Sympathie für ihn hegte. „Was, wenn du ihn umbringst?“

Santo musterte sie gereizt. „Dieses Gerät funktioniert über einen eingebauten Mikrochip. Ich glaube kaum, dass es sich von persönlichen Rachegelüsten beeinflussen lässt. Jetzt lass ihn los.“

Widerstrebend rückte sie von ihrem Großvater ab.

Kurz nachdem Santo den rettenden Schock ausgelöst hatte, trafen der Notarzt und die Sanitäter ein. Dann ging alles ganz schnell. Wie durch einen Nebelschleier bekam Fia mit, wie der alte Mann stabilisiert, auf eine Trage verfrachtet und in den Helikopter verladen wurde. Santo, kühl und beherrscht, wich nicht von ihrer Seite.

Er rief einen renommierten Kardiologen an und bat ihn, Guiseppe Baracchis Behandlung zu übernehmen. Er erklärte sich bereit, Fia persönlich zum Krankenhaus zu fahren. Er tauschte sogar mit Luigi den Wagen, weil Lucas Kindersitz nicht in seinen Lamborghini passte und sie das Kind nicht allein lassen konnten.

„Hat er irgendein Lieblingsspielzeug?“, fragte er, als er den schlaftrunkenen Luca in seinem Sitz auf der Rückbank von Luigis familientauglichem Kombi anschnallte.

Als Fia ihn nur verständnislos ansah, setzte er ungeduldig hinzu: „Meine Nichte kann nicht ohne ihr Schmusetuch einschlafen. Hat er so etwas?“

Beschämt, dass sie nicht selbst darauf gekommen war, lief sie ins Haus zurück, um Lucas geliebte Stoffgiraffe und ein paar Anziehsachen in eine Tasche zu stopfen.

Auf der Fahrt zum Krankenhaus, die sie größtenteils schweigend zurücklegten, war sie zum ersten Mal froh über den rasanten Fahrstil der Sizilianer. Dort angekommen, ließ Santo die Hände am Lenkrad und starrte düster auf den Eingang zur Notaufnahme, während Fia bereits ihren Gurt löste.

„Kein Grund zur Eile, sie lassen dich jetzt sowieso nicht zu ihm. Du kannst genauso gut im Wagen warten.“ Er stellte den Motor ab. Sein Gesicht wirkte müde und angespannt. „Das Warten ist das Schlimmste.“

Fia fiel ein, dass sein Vater vor vielen Jahren plötzlich und überraschend an einem Herzanfall gestorben war. Vermutlich war auch er hier eingeliefert worden.

„Geht es dir gut?“, fragte sie mitfühlend, obwohl es doch ihr Großvater war, der gerade in Lebensgefahr schwebte. Und Santo würde ihr sicher nicht sein Herz ausschütten. Schließlich waren sie kaum mehr als Fremde füreinander.

Nur dass ein Fremder nicht diese verwirrenden Gefühle in ihr geweckt hätte, die Santo in ihr weckte. Selbst jetzt, in dieser grässlichen Situation, verursachte ihr seine körperliche Nähe ein Prickeln auf der Haut und ein verräterisches Flattern im Magen.

Sein brütendes Schweigen war schlimmer als jeder Zornausbruch.

„Ich muss mich bei dir bedanken“, sagte sie nervös. „Fürs Mitnehmen und … für deine Erste Hilfe. Ich bin froh, dass du genau zum richtigen Zeitpunkt da warst, obwohl ich nicht verstehe …“ Sie stutzte.

Natürlich! Er war ins Restaurant gekommen, um seine Drohung wahrzumachen und ihrem Großvater alles zu sagen, falls sie es noch nicht getan hatte. Ihr wurde schlecht bei der Vorstellung, dass ihr diese schwere Pflicht noch bevorstand.

„Er scheint deine Neuigkeit nicht gut aufgenommen zu haben“, meinte Santo trocken. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er den Herzanfall ihres Großvaters für die Folge ihres Geständnisses hielt.

„Ich habe noch gar nicht mit ihm gesprochen“, sagte sie kleinlaut. „Ich wollte es gerade tun, da fand ich ihn in der Küche und geriet in Panik …“ Sie schämte sich, weil sie so den Kopf verloren hatte.

„Es ist immer etwas anderes, wenn man persönlich betroffen ist.“ Es klang fast so, als wollte er sie trösten.

„Wo hatte Luigi das Gerät so schnell her?“

„Den Defibrillator, meinst du? Wir halten welche in all unseren Hotels bereit. Ihr Einsatz kann Leben retten.“ Seine Stimme klang gepresst.

„Santo …“

„Lass uns nachsehen, ob wir jemanden finden, der uns Auskunft über deinen Großvater geben kann“, sagte er schnell, die Hand schon am Türgriff. „Luca lassen wir schlafen, Luigi passt auf ihn auf.“

Er stieg aus und wechselte ein paar Worte mit seinem Sicherheitschef, der ihnen in Santos Lamborghini gefolgt war. Gleich darauf zwängte Luigi seine massige Gestalt auf den Rücksitz neben Luca.

„Keine Sorge, Ms Baracchi. Wenn der Kleine einen Mucks von sich gibt, melde ich mich sofort bei Ihnen. Kümmern Sie sich in Ruhe um Ihren Großvater.“

So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von Santo zur Notaufnahme begleiten zu lassen. Sie merkte, wie er beim Betreten des Gebäudes die Schultern straffte.

Der viel zu frühe Tod seines Vaters war ein schwerer Schlag für die Ferraras gewesen. Santo war damals noch zur Schule gegangen, sein älterer Bruder Cristiano studierte in den USA. Fia hatte Bilder von der Beerdigung in der Zeitung gesehen. Sie war nicht dabei gewesen, denn eine Baracchi wäre dort nicht willkommen gewesen, aber sie hatte heimlich mit Santo mitgelitten. Und es furchtbar unfair gefunden, dass ein so liebevoller Familienvater so früh hatte sterben müssen.

Nun kehrte Santo an den Ort seiner unglücklichen Erinnerungen zurück.

Die Anwesenheit eines Ferraras genügte, um das Krankenhauspersonal in helle Aufregung zu versetzen. Der Herzspezialist und sein Team standen bereit, und Fia hatte den Eindruck, dass keine Kosten und Mühen gescheut wurden, um ihren Großvater bestmöglich zu versorgen.

Ihr Bruder hatte die angesehenen Ferrara-Brüder immer um ihre Privilegien beneidet. Er hatte nicht einsehen wollen, dass man Respekt nicht einfach einfordern konnte, sondern ihn sich verdienen musste.

Sie dagegen war einfach nur dankbar, dass ihr Großvater hier in den besten Händen war.

Eine kurze Unterredung mit dem Kardiologen bestätigte, was sie bereits vermutet hatte: ohne Santos beherztes Eingreifen hätte ihr Großvater nicht überlebt. Obwohl es ihr unangenehm war, in seiner Schuld zu stehen, war sie doch stolz auf den Vater ihres Sohnes.

Die sterile Krankenhausatmosphäre sorgte dafür, dass sie sich mit jeder Minute, die sie im Warteraum für Angehörige verbrachte, noch ängstlicher und verlorener fühlte. Santo schien es ähnlich zu gehen. Er stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und starrte schweigend hinaus auf die nächtliche Stadt.

Sie hatte erwartet, dass er sich verabschieden und gehen würde. Als er es nicht tat, wurde sie misstrauisch. „Du brauchst nicht hierzubleiben. Wenn mein Großvater aufwacht, wird er eh nicht in der Lage sein, dir zuzuhören.“

Santo fuhr empört zu ihr herum. „Glaubst du, ich bin hier, um ihn mit meinen Neuigkeiten zu überfallen? Hältst du mich für einen Unmenschen?“

„Ich dachte … Warum gehst du dann nicht?“

Er musterte sie grimmig. „Hast du Angehörige, die dir zur Seite stehen?“

Er wusste genau, dass sie niemanden hatte. Ihr einziger Angehöriger außer Luca kämpfte gerade auf der Intensivstation um sein Leben.

„Ich brauche keine Hilfe.“

„Dein Großvater, bei dem du aufgewachsen bist, ringt nebenan mit dem Tod, und du brauchst keine Hilfe? Typisch Baracchi. Zähne zusammen und durch. Oder sollte ich sagen, typisch Fia?“ Er rieb sich ärgerlich den Nacken.

„Damit ist ab sofort Schluss. Ich lasse dich nicht allein. Von nun an werde ich bei allen wichtigen Ereignissen an deiner Seite sein, bei Geburten, Todesfällen, den Schulabschlussfeiern unserer Kinder. Und auch bei allen unwichtigen. Was ich heute Morgen in meinem Büro gesagt habe, gilt.“

Fias Herz zog sich zusammen, als sie daran dachte, dass sie ihrem Großvater noch ein Geständnis schuldig war. Falls er je wieder aufwachte …

„Dass du hier bist, ist keine Hilfe, Santo. Es macht mich nervös.“ Plötzlich wollte sie nur noch weg von ihm. „Ich muss nach Luca sehen.“

„Wenn er aufgewacht wäre, hätte Luigi sich gemeldet. Für Luigi lege ich meine Hand ins Feuer.“

„Ja, aber …“

Die Tür ging auf, und der Professor trat ein. Fia sah ihm voller Angst entgegen.

„Mein Großvater, ist er …?“

„Ihr Großvater hat einen koronaren Arterienverschluss erlitten. Dass er überlebt hat, ist nur dem rechtzeitigen Einsatz des Defibrillators zu verdanken.“ Es folgten ausführliche Erläuterungen medizinischer Details, gespickt mit Fachausdrücken, aber Fia hörte gar nicht mehr zu. Für sie zählte nur, dass ihr Großvater am Leben war.

Es war Santo, der die entscheidenden Fragen stellte und Behandlungsmethoden diskutierte, wofür Fia ihm unendlich dankbar war. Ihr eigenes Gehirn funktionierte nur noch wie in Zeitlupe.

„Er möchte Sie sehen“, sagte der Arzt abschließend. „Normalerweise würde ich zu diesem Zeitpunkt keinen Besuch gestatten, aber der Patient ist sehr aufgewühlt. Vielleicht können Sie ihn beruhigen.“

Fia war schon halb durch die Tür, doch der Professor hielt sie zurück: „Er fragte ausdrücklich nach Santo Ferrara.“

Sie erschrak. „Nein, bitte nicht! Er würde sich furchtbar aufregen …“

„Er ist schon furchtbar aufgeregt. Aber bitte schonen Sie ihn“, meinte der Professor zu Santo, der sich bereits auf den Weg machte.

Schonen? Verzweifelt stürzte Fia hinter ihm her. „Tu’s nicht!“, flehte sie, während sie mühsam mit ihm Schritt zu halten versuchte. „Warte, bis er sich erholt hat …“

Sie waren da. Beim Anblick der vielen Apparate und Schläuche, an denen der schmächtige Körper ihres Großvaters hing, blieb Fia erschrocken stehen.

Eine warme starke Männerhand legte sich schützend um ihre.

Sie zuckte zusammen, doch Santos tröstlicher Händedruck fühlte sich überraschend gut an. Oder wollte er sie nur in Schach halten? Sie sah, wie ihr Großvater die Augen öffnete, riss sich von Santo los und eilte auf das Bett zu.

„Nonno!“

Ihr Großvater blickte starr an ihr vorbei auf Santo.

Santo erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbstbewusst wie ein gern gesehener Besucher trat er an das Krankenbett seines Widersachers. „Sie haben uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.“

„Ferrara …“ Die Stimme des alten Mannes war dünn und zittrig. „Sagen Sie mir, was Sie vorhaben.“

Knisternde Spannung lag in der Luft. Fia warf Santo einen beschwörenden Blick zu, doch er beachtete sie gar nicht. Seine große, sportliche Erscheinung stand in grausamem Kontrast zu der gebrechlichen Gestalt ihres Großvaters.

„Ich beabsichtige, meinem Sohn ein Vater zu sein.“

Fia dachte, der Himmel müsse über ihr einstürzen.

„Nonno …“

„Das wird auch Zeit.“ Die Augen ihres Großvaters bohrten sich in die seines langjährigen Feindes. „Seit Jahren warte ich darauf, dass Sie Ihre Pflicht erfüllen. Nicht mal Ihren Namen durfte ich erwähnen, sonst wäre sie mir davongelaufen …“ Sein Blick glitt zu Fia. Unterbrochen von einem kurzen Hustenanfall, fuhr er fort: „Welcher Mann schwängert eine Frau und lässt sie dann sitzen?“

„Ein Mann, der nichts von der Schwangerschaft weiß“, antwortete Santo mit fester Stimme. „Und der sein Versäumnis jetzt nachholen will.“

Fia hörte kaum, was er sagte. Sie starrte ihren Großvater ungläubig an.

„Was ist?“, fauchte er sie an. „Dachtest du, ich wüsste es nicht? Was glaubst du, warum ich so wütend auf ihn war?“

Völlig verdattert ließ sie sich auf den nächsten Stuhl fallen. „Na, wegen …“

„Wegen dem albernen Stück Land, meinst du? Oder wegen deinem Bruder?“ Er schloss erschöpft die Augen. „Ich gebe Santo keine Schuld am Tod deines Bruders. Ich hatte in vielen Dingen unrecht. Unrecht, hörst du? Bist du jetzt zufrieden?“

Fia hatte einen Kloß in der Kehle. „Lass uns ein andermal darüber reden. Jetzt ist nicht der richtige …“

„Immer auf Harmonie bedacht, unsere Fia“, grummelte er. „Passen Sie auf, Ferrara, sonst macht sie noch ein Weichei aus Ihnen.“

Erneut wurde sein schmächtiger Körper von einem heftigen Hustenkrampf geschüttelt. Fia drückte den Rufknopf, und sofort wimmelte es im Zimmer von Ärzten und Pflegepersonal. Ihr Großvater scheuchte sie ärgerlich weg.

„Eins noch, bevor sie mich mit Medikamenten vollpumpen …“, flüsterte er, den Blick auf Santo gerichtet. „Was genau gedenken Sie jetzt zu tun?“

Santo zögerte keine Sekunde. „Ich werde Ihre Enkelin heiraten.“

5. KAPITEL

Er hasste Krankenhäuser.

Santo zerdrückte den dünnen Plastikbecher und warf ihn in den Abfalleimer. Der Geruch nach Desinfektionsmittel erinnerte ihn an die Nacht, in der sein Vater gestorben war. Eigentlich wollte er nur noch hier weg.

Dann dachte er an Fia, die geduldig bei ihrem Großvater wachte. Er war immer noch zornig auf sie, aber mangelnde Loyalität ihrer Familie gegenüber konnte er ihr nun wirklich nicht vorwerfen. Und er konnte sie unmöglich hier allein lassen.

Leise fluchend lenkte er seine Schritte zurück zur Herzambulanz, die nichts als bittere Erinnerungen in ihm weckte.

Fia saß still neben dem Bett, ihr kastanienbraunes Haar ein leuchtender Farbfleck im Kontrast zu der wächsernen Blässe ihrer Haut. Ihre grünen Augen waren fest auf den alten Mann gerichtet, als hoffte sie, ihm durch pure Willenskraft etwas von ihrer Jugend und Vitalität einhauchen zu können.

Nie hatte Santo eine einsamere Gestalt gesehen.

Oder doch, damals im Bootshaus, als er sie in ihrem Versteck entdeckt hatte. Fia gehörte nicht zu den Menschen, die in der Not Trost bei anderen suchten. Sie hatte gelernt, allein klarzukommen.

„Wie geht es ihm?“

„Er hat ein Beruhigungsmittel bekommen. Man sagte mir, die ersten vierundzwanzig Stunden seien entscheidend.“ Ihre schlanke Hand lag auf der ihres Großvaters. „Wenn er aufwacht, wird er nicht wollen, dass ich seine Hand halte.“

Ihr ganzes Leben schien sich nur um den alten Mann und den kleinen Jungen zu drehen, der draußen im Auto schlief.

„Wann hast du zuletzt etwas gegessen?“ Essen galt bei den Ferraras als bewährtes Allheilmittel bei allen Arten von Krisen.

„Ich habe keinen Hunger.“ Sie ließ ihren Großvater nicht aus den Augen. „Und ich muss nach Luca sehen.“

„Das habe ich gerade getan. Er und Luigi schlafen friedlich.“

„Ich mache es ihm hier im Sessel bequem, dann könnt ihr fahren. Ich rufe Gina an, damit sie ihn abholt, und Ben kann sich um das Restaurant kümmern.“

Santo spürte Ärger in sich aufwallen. „Nicht nötig, ich habe bereits alles veranlasst. Einer meiner Küchenchefs wird dein Restaurant vorerst weiterführen.“

Sie richtete sich kerzengerade auf. „Du nutzt meine Notlage aus, um mein Geschäft an dich zu reißen?“

Er musste sich sehr beherrschen, um nicht die Geduld zu verlieren. „Hör auf, wie eine Baracchi zu denken. Es geht hier nicht um Feindschaft und Rache. Ich reiße dein Geschäft nicht an mich, ich sorge nur dafür, dass du noch eins hast, wenn du wieder einsatzfähig bist. Ich gehe doch davon aus, dass du deinen Großvater nicht allein lassen willst, um für eine Horde fremder Leute Kalamari zu brutzeln, oder?“

„Tut mir leid.“ Ihr Blick huschte zu ihrem Großvater. „Ich bin dir sehr dankbar. Ich dachte nur …“

„Dann lass das Denken mal für eine Weile sein.“ Es bereitete ihm Sorge, wie blass und zerbrechlich sie wirkte, doch ihr Anblick weckte noch ganz andere, sehr viel unpassendere Gefühle in ihm. „Heute Nacht kannst du nichts mehr für ihn tun. Er schläft, und es ist niemandem damit gedient, wenn du zusammenbrichst. Lass uns fahren. Wir werden sofort benachrichtigt, wenn sich sein Zustand ändern sollte.“

„Ich kann nicht nach Hause. Dann bin ich nicht schnell genug wieder hier.“

„Meine Wohnung ist nur zehn Minuten von hier entfernt. Lass uns aufbrechen, dann bekommst du noch etwas Schlaf, und mein Sohn kann die Nacht in einem richtigen Bett verbringen.“

Vielleicht war es die Logik seiner Argumente, die sie überzeugte. Vielleicht auch die Art, wie er mein Sohn sagte.

Eine halbe Stunde später lag Luca eingekuschelt in der Mitte eines breiten Doppelbetts in einem der Gästezimmer von Santos Apartment. Irritiert beobachtete Santo, wie Fia Kissen um das Bett herum verteilte.

„Er rollt oft wild hin und her. Ich will nicht, dass er sich verletzt“, erklärte sie. „Hast du ein Babyfon?“

„Nein. Wir lassen die Tür einen Spalt offen, dann hören wir, wenn er aufwacht.“ Gemeinsam verließen sie das Zimmer.

„Wohnst du allein hier?“

„Glaubst du, ich habe eine Frau unter dem Sofa versteckt? Was willst du essen?“

„Nichts, danke.“ Sie drehte den Knauf der Balkontür, die sich mühelos öffnen ließ. „Schließt du die nicht ab?“

„Nein, warum? Sorgst du dich um meine Sicherheit?“

„Ich sorge mich um Lucas Sicherheit.“ Sie trat auf den Balkon und beugte sich über das schmiedeeiserne Geländer. „Das ist supergefährlich für einen Zweijährigen. Wir müssen die Tür abschließen und den Schlüssel abziehen.“ Sie ging an ihm vorbei, und er fing den Duft ihres Haares auf, diesen zarten Blumenduft, der sie immer umwehte …

Reiß dich zusammen, befahl er sich und folgte ihr in den großen, tiefer gelegenen Wohnraum. „Hast du Angst um meine weißen Couchbezüge?“, fragte er, ihren skeptischen Blick bemerkend. „Keine Sorge, meine Nichte hat schon alles Mögliche darübergekippt. Menschen sind wichtiger als Dinge.“

„Ich denke weniger an deine Couchbezüge als an Luca. Diese Stufen sind eine gemeine Stolperfalle.“

„Er kann doch prima laufen. Wir bringen ihm bei, vorsichtig zu sein.“

„Du kennst Luca nicht. Er wird sich den Kopf an deinen kostbaren italienischen Fliesen aufschlagen.“

Santo hob resigniert die Hände. „Okay, meine Wohnung ist nicht kindgerecht. Ich kümmere mich darum, in Ordnung?“

„Wie denn? Willst du umbauen?“

„Wenn es sein muss, ja. Bis dahin sorge ich dafür, dass ihm nichts passiert.“ Er konnte seine Gereiztheit kaum noch verbergen. Fia hatte gerade ein paar wirklich schlimme Stunden hinter sich, und doch wirkte sie gespenstisch ruhig und gefasst.

Aus dem kleinen Mädchen, das sich geweigert hatte, vor anderen eine Träne zu vergießen, war eine Frau geworden, die ihre Emotionen strikt unter Kontrolle hielt. Nur ihre schmalen, verkrampften Schultern verrieten, wie sehr sie litt.

„Bist du immer so pingelig?“, fragte er. „Ein Wunder, dass Luca noch nicht hysterisch ist.“

„Erst wirfst du mir vor, ich würde mich nicht um ihn kümmern, und dann bin ich plötzlich überfürsorglich. Was denn nun?“ Vorsichtig stellte sie eine Glasvase auf ein Regal. „Du weißt eben nicht, wie der Alltag mit einem lebhaften Kleinkind aussieht.“

„Und wessen Schuld ist das?“ Wütend verzog er sich in die Küche, damit ihm nichts herausrutschte, was er später bereuen würde.

„Entschuldige bitte“, kam es leise von der Tür her.

„Was soll ich entschuldigen?“ Er riss eine Schranktür auf. „Dass du mir meinen Sohn vorenthalten hast oder dass du meine Qualitäten als Vater anzweifelst?“

„Das tue ich doch gar nicht. Ich wollte nur auf mögliche Gefahren hinweisen.“ Wie sie da im Türrahmen stand, das blasse Gesicht von einer Woge rotbrauner Locken umrahmt, sah sie unglaublich zart und verführerisch aus.

Er wollte nichts als Zorn auf sie empfinden, aber es gelang ihm nicht. Wie damals in jener Nacht fühlte er sich auch jetzt unwiderstehlich zu ihr hingezogen.

„Ich werde alles Notwendige veranlassen“, sagte er knapp. „Lass uns essen.“

„Nein danke, ich gehe schlafen. Ich lege mich zu Luca ins Bett, dann hat er keine Angst, wenn er aufwacht.“

Santo knallte einen Laib Brot auf den Tisch. „Wer hat hier Angst, er oder du? Glaubst du, wenn du nicht bei ihm schläfst, musst du bei mir schlafen?“

Sie musterte ihn stumm. Ihre großen grünen Augen verrieten, was ihr Mund nicht aussprach. Genau wie damals im Bootsschuppen, als sie ihn traurig und verängstigt, aber zugleich trotzig angesehen hatte. Geh und verrat mich, hatte ihr Blick gesagt. Als ob mir das etwas ausmachen würde!

Er hatte sie nicht verraten.

Und er hatte gewusst, dass es ihr sehr wohl etwas ausgemacht hätte.

Sie ließ nichts nach außen dringen, aber sie war eine empfindsame Frau. Er wusste nicht viel über sie, kannte weder ihre Lieblingsfarbe noch ihr Lieblingsbuch, doch er hegte keinen Zweifel daran, dass sie zu tiefen Gefühlen fähig war. Unter der kühlen Oberfläche loderte ein feuriges Temperament. Er hatte eine unvergessliche Kostprobe davon erhalten. Lebhaft erinnerte er sich daran, wie es sich anfühlte, ihre zarte Haut zu streicheln, die Lippen über ihren nackten Körper wandern zu lassen, sie zu küssen, zu schmecken, zu erobern …

Heftiges Verlangen durchzuckte ihn.

Er zwang sich, den Blick von ihren verlockenden Rundungen abzuwenden und ihr ins Gesicht zu sehen. Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren rosig angehaucht.

Schnell wandte er sich ab und öffnete den Kühlschrank. Vielleicht hätte er hineinklettern sollen, um sich abzukühlen.

Er wollte gerade nach der Fleischpastete greifen, als eine vage Erinnerung ihn veranlasste, stattdessen Käse und Oliven aufzutischen. „Da, iss.“

„Ich sagte, ich will nichts.“

„Ich habe es mir zur Regel gemacht, mindestens einem Menschen pro Tag das Leben zu retten, also tu, was ich dir sage, oder soll ich dich zwangsernähren?“ Er brach ein Stück Brot ab, legte es zusammen mit einer Scheibe Käse und Oliven auf einen Teller. „Los, greif zu. Und erzähl mir nicht, dass du das nicht magst. Zufällig kenne ich deine Vorliebe für Pecorino.“

Verwirrt musterte sie erst den Teller, dann ihn.

„Naja, du hattest im Bootshaus immer Proviant dabei“, erläuterte er.

„Damit ich zum Essen nicht nach Hause musste.“

„Du wolltest am liebsten gar nicht mehr nach Hause.“

„Stimmt.“ Sie lachte gequält. „Ist dir eigentlich klar, wie absurd das ist? Du weißt nicht viel mehr von mir, als dass ich Pecorino mag, und ich von dir, dass du ein Faible für Sportwagen hast. Und trotzdem meinst du, wir sollten heiraten.“

„Ich meine es nicht, ich bestehe darauf. Dein Großvater ist einverstanden.“

„Mein Großvater ist altmodisch. Ich bin es nicht. Ich führe mein eigenes Geschäft und kann selbst für Luca und mich sorgen. Was hätte ich davon, dich zu heiraten?“

„Luca hätte sehr viel davon.“

„Er würde bei Eltern leben, die sich nicht lieben. Wie kann das gut für ihn sein? Du willst mich bestrafen, weil du wütend auf mich bist, aber du würdest es bereuen. Wir passen nicht zusammen.“

„In einem entscheidenden Punkt passen wir ganz hervorragend zusammen“, erwiderte er mit rauem Lachen. „Sonst wären wir jetzt nicht in dieser Situation.“

Ihre Wangen färbten sich dunkelrot. „Ich weiß, du bist Sizilianer, aber du bist zu intelligent, um ernsthaft zu behaupten, guter Sex wäre das Wichtigste in einer Ehe.“

„Immerhin gibst du zu, dass der Sex gut war.“

„Mit dir kann man nicht reden.“

„Doch, kann man. Im Gegensatz zu dir rede ich nämlich Klartext. Aber mit Mauern kommst du bei mir nicht weiter. Ich will keine Frau, die ihre Gefühle vor mir versteckt. Ich will dich ganz. Alles, was du hast und was du bist, wirst du mit mir teilen.“ Das schien sie aufzurütteln, denn ihre gerade noch rosigen Wangen wurden blass.

„Dann bin ich nicht die richtige Frau für dich.“

Erbarmungslos fuhr er fort: „Du schottest dich ab, um dich zu schützen. In Wirklichkeit bist du ganz anders. Ich will keine Prinzessin Rühr-mich-nicht-an. Ich will die Frau, die im Bootshaus in meinen Armen lag.“

„Das … das war nicht wirklich ich“, stammelte sie.

„Oh, doch. Damals hast du ein paar wilde, leidenschaftliche Stunden lang deine Maske fallen gelassen. Das war dein wahres Ich. Alles andere ist Tarnung.“

„Was in jener Nacht passiert ist, war völlig verrückt.“ Nervös rang sie die Hände. „Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte … aber ich weiß, wie es endete.“

„Es endete damit, dass dein Bruder mein Auto stahl und sich damit um den nächsten Baum wickelte.“ Er hoffte, sie mit seiner schonungslosen Offenheit aus der Reserve zu locken.

„Er war einen so schnellen Wagen noch nie gefahren.“

„Ich auch nicht“, erwiderte er trocken. „Ich hatte ihn gerade erst gekauft.“

„Das ist zynisch.“

Dann zeig doch endlich Gefühle! „Nicht zynischer, als mir zu unterstellen, ich sei schuld am Tod deines Bruders.“

„Das habe ich nie behauptet.“

„Nein, aber gedacht. Genau wie dein Großvater. Wenn ich eins nicht leiden kann, sind es falsche Zwischentöne und Leute, die ihre Meinung nicht offen sagen. Ich werde diese verdammte Familienfehde beenden, und zwar hier und jetzt.“ Er war wild entschlossen, sein Vorhaben durchzuziehen. „Das müsste doch auch in deinem Interesse sein.“

„Ja, aber deshalb müssen wir nicht gleich heiraten. Es gibt andere Familienmodelle.“

„Nicht mit mir. Mein Kind wird nicht zwischen zwei Elternteilen hin und her geschoben. Was immer dich stört, sag es mir. Du glaubst, ich sei schuld daran, dass dein Bruder meinen Wagen genommen hat? Du weißt, wo ich in jener Nacht war. Bei dir. Und wir waren weiß Gott mit anderen Dingen beschäftigt, bellissima.“

„Ich weiß, dass dich keine Schuld trifft.“

„Wirklich?“

Sie sah ihn an. „Ja, wirklich.“

Auf weitere Erklärungen wartete er vergeblich. Es war ihm wieder nicht gelungen, ihren Schutzwall zu durchbrechen. Eine Niederlage, die er nur schwer verwinden konnte. Trotzdem musste er sich geschlagen geben.

„Okay. Es ist spät, und du hast einen höllisch anstrengenden Abend hinter dir. Selbst ich als unerfahrener Vater weiß, dass Kleinkinder ihre Schlafgewohnheiten nicht nach den Bedürfnissen der Erwachsenen richten. Also, wann wacht Luca morgens für gewöhnlich auf?“

„Um fünf.“

Sein Arbeitstag begann um dieselbe Zeit. „Wenn du wirklich nichts essen willst, dann geh schlafen. Ich leihe dir ein T-Shirt.“

Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. „Heißt das, du hältst keine Auswahl reizvoller Negligés für deinen Damenbesuch bereit? Die Öffentlichkeit wäre enttäuscht, das zu hören.“

„Ich vermeide es, Frauen hier übernachten zu lassen. Sie werden leicht zu anhänglich.“ Sein Blick wurde ernst. „Heute Nacht kannst du dich noch zurückziehen, Fia. Sobald wir verheiratet sind, dulde ich kein Versteckspiel mehr.“

„Wir werden nicht heiraten, Santo.“

„Lass uns morgen darüber reden, aber mein Entschluss steht fest.“

„Wieso? Du dachtest, Luca wäre bei mir nicht gut aufgehoben, aber jetzt weißt du, dass ihm nichts fehlt.“

„Ich erkenne deine Bemühungen an, aber mein Sohn braucht keine bezahlten Betreuer. Er hat eine Familie, die ihn herzlich gern in ihrer Mitte aufnimmt. Er ist ein Ferrara. Je eher wir das amtlich machen, desto besser.“

„Du meinst, es tut ihm gut, bei Eltern aufzuwachsen, die einan­der fremd sind?“

Santos Mund wurde schmal. „Wir werden uns nicht lange fremd bleiben, mein Schatz. Wir werden uns so nah sein, wie Mann und Frau sich nur sein können. Ich werde die Mauern einreißen, hinter denen du dich verschanzt. Und nun geh schlafen. Du wirst deine Kraft noch brauchen.“

So nah, wie Mann und Frau sich nur sein können.

Autor

Sarah Morgan
<p>Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 21 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen.</p>
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