Schenk mir eine zweite Chance

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Wie soll es Macie nur gelingen, dem neuen Arzt im Tropenhospital von Saipan aus dem Weg zu gehen? Sie kennt Landon Cochran von Hawaii – wo er nach einer leidenschaftlichen Nacht verschwand und ihr das Herz brach. Das darf ihr nicht ein zweites Mal passieren!


  • Erscheinungstag 14.11.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536165
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Dr. med. Landon Cochran scrollte durch die Akte auf seinem Tablet und las noch einmal den Namen. Macie Beck. Das konnte unmöglich dieselbe Frau sein. Macie Becks gab es bestimmt unendlich viele auf der Welt. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sich ausgerechnet seine Macie Beck auf den Nördlichen Marianen-Inseln befand? Noch geringer war die Chance, dass sie auf der kleinen Insel Saipan arbeitete. Sie konnte es nicht sein.

Als das kleine Flugzeug über der knapp zwanzig Kilometer langen Insel kreiste, schaute Landon aus dem Fenster. Obwohl es sich um amerikanisches Territorium handelte, lag Saipan geographisch näher an China als an Hawaii.

Der Flughafen lag auf einer Anhöhe und es gab nur eine einzige Landebahn. Von hektischem Treiben war dort nichts zu spüren und nicht einmal ein anderes Flugzeug war in Sicht.

Er packte seine Reisetasche und hoffte, dass sein Koffer mitgekommen war. In diesem Teil der Welt wurde das Volumengewicht der Ladung immer sehr genau berechnet und oft wurde ein Gepäckstück einfach erst mit einem späteren Flug transportiert. Ihm war das zwar erst einmal passiert, aber seitdem hatte Landon immer Kleidung zum Wechseln im Handgepäck dabei.

Bald darauf landete das Flugzeug und die Passagiere gingen von Bord. Während Landon die mobile Treppe herabstieg, betrachtete er die üppige Vegetation. In diesem Teil der Welt herrschte ein schwüles und regnerisches Klima. Willkommen in den Tropen, dachte er und folgte den anderen Passagieren über das Rollfeld zum Terminal.

Landon betrat das klimatisierte Gebäude. Zwanzig Minuten später machte er sich mit seinem Trolley auf den Weg zum Parkplatz, wo die Hitze des Spätnachmittags durch eine leichte Meeresbrise abgemildert wurde.

Plötzlich entdeckte er einen Mann, der ein Schild mit Landons Namen hochhielt.

„Ich bin Dr. Cochran.“

„Willkommen in Saipan.“ Der Mann schenkte ihm ein breites Grinsen, nahm ihm das Gepäck ab und führte Landon zu einem Auto. „Ich bin Mario“, stellte er sich mit leichtem Akzent vor.

Während Mario das Gepäck im Kofferraum verstaute, nahm Landon auf dem Beifahrersitz Platz. Er hatte keine leichte Aufgabe vor sich und musste so schnell wie möglich mit den Menschen und der Insel vertraut werden.

Auf der Fahrt über die kurvenreiche Straße in Richtung Küste kamen sie an kleinen quadratisch gebauten Betonhäusern mit grasbewachsenen Vorgärten vorbei. Einige Bewohner hielten auch Hühner auf dem Grundstück. Dann bog Mario nach Süden ab. Zu Landons Erstaunen befanden sie sich plötzlich auf einer belebten Geschäftsstraße an der Küste. Vor den Häusern standen Palmen, deren Wedel sich im Wind wiegten.

Für jemanden, der im Mittleren Westen Amerikas aufgewachsen war, wirkte das hier wie eine ganze andere Welt. Während seiner Zeit beim Militär war er als Marinesoldat auf Hawaii stationiert gewesen und hatte das heiße Klima dort geliebt. Anscheinend herrschten hier auf Saipan ähnliche Temperaturen. Doch Landon bezweifelte, dass er Zeit haben würde, das schöne Wetter zu genießen. Er hatte die Aufgabe, das hiesige Krankenhaus zu evaluieren und notwendige Maßnahmen einzuleiten, damit es medizinisch auf den neuesten Stand gebracht wurde. Die Menschen auf Saipan und auf den umliegenden Inseln sollten die bestmögliche Versorgung erhalten.

Bald kam ein weißes Gebäude mit Fenstern zur Straßenseite in Sicht. Mario bog in die Auffahrt zum Krankenhaus ein und hielt unter dem überdachten Eingang.

„Wir sind da.“ Mario grinste Landon erneut an, bevor er ausstieg, um das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.

Landon dankte ihm, packte den Griff seines Trolleys und betrat das Krankenhaus durch eine gläserne Eingangstür.

Im Inneren des Gebäudes war es angenehm kühl. Vor ihm lag ein langer, gefliester Korridor, links befand sich eine Apotheke und rechts ging es zur Notaufnahme, doch ein Hinweisschild zum Verwaltungsbüro entdeckte er nicht. So lief Landon den endlos erscheinenden Flur entlang und stieß am Ende auf das Büro.

Er öffnete die Glastür zum Empfangsbereich und wandte sich an eine schlanke, circa dreißigjährige Frau, die hinter einem Schreibtisch saß. „Ich bin Dr. Landon Cochran von der Weltgesundheitsorganisation. Macie Beck erwartet mich.“

Erneut löste die Vorstellung, dass es seine Macie sein könnte, eine beunruhigende Vorahnung in ihm aus. Leicht beschämt dachte er an die Umstände zurück, unter denen sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Nach einer leidenschaftlichen Nacht hatte er Macie mit dem Versprechen verlassen, sie anzurufen, sobald seine Schicht im Krankenhaus beendet war. Doch dazu war es nicht gekommen.

Die Empfangsdame schaute auf eine geschlossene Bürotür. „Macie ist im Moment nicht hier.“

„Ich nehme an, dass sie mich erwartet?“

„Das hat sie … äh … tut sie, aber in der Notaufnahme fehlte Personal und sie musste einspringen.“ Die Frau griff zögernd zum Hörer. „Ich sage ihr Bescheid, dass Sie da sind.“

Landon schüttelte den Kopf. „Nein, stören Sie Miss Beck nicht bei der Arbeit.“

Erleichtert stand die Empfangsdame auf und kam um den Schreibtisch herum. „Zu Ihrem Büro geht es hier entlang.“ Sie führte ihn zu einer Tür auf der anderen Seite des Wartebereichs. „Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause.“ Dann ließ sie Landon allein.

Er schnappte sich sein Gepäck und betrat den Raum. Es war ein kleines, standardmäßiges Büro, doch es gefiel ihm. Seine Arbeit als Interimsverwalter des Krankenhauses von Saipan erforderte kein aufwendiges Büro. Vor einem fast leeren Bücherregal stand nur ein einfacher Schreibtisch mit Stuhl. Aber der Raum war hell und hatte Fenster zu zwei Seiten. Eine schmale Tür führte, wie Landon vermutete, zu einem privaten WC-Bereich.

Die Empfangsdame kehrte kurz zurück und sagte: „Ich habe mit Macie gesprochen. Sie versucht, so rasch wie möglich hier zu sein. Wie kann ich Ihnen bis dahin behilflich sein?“

„Verraten Sie mir doch als Erstes Ihren Namen.“ Landon stellte seinen Trolley neben den Schreibtisch und trat dahinter.

„Ich bin Tatiana Yuka.“

Er lächelte und die Frau entspannte sich sichtlich. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits, Sir. Möchten Sie, dass ich Sie herumführe?“

Er zog den Stuhl unter dem Tisch hervor, entledigte sich seiner Anzugsjacke und hängte sie über die Stuhllehne. „Ich würde mir gerne als Erstes das Handbuch für Richtlinien und Vorgehensweisen anschauen.“

„Dort steht es.“ Sie zeigte auf eine dicke weiße Kladde in dem Regal hinter dem Schreibtisch.

Landon zog es aus dem Regal und setzte sich auf den Stuhl. „Danke. Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn Miss Beck wieder da ist.“

„Ja, Sir.“

Landon machte sich an die Arbeit. Wenn er die vor ihm liegende Aufgabe mit Bravour löste, hatte er die Beförderung, auf die er schon seit Jahren hinarbeitete, in der Tasche. Nach einer Weile blickte er auf und stellte fest, dass bereits ein paar Stunden vergangen waren und Macie Beck sich immer noch nicht bei ihm gemeldet hatte. Offensichtlich musste er sich der Sache selbst annehmen. Normalerweise ließ man ihn nicht warten. Er verließ das Büro. „Tatiana?“

„Sir?“

„Falls mich jemand sucht, ich bin in der Notaufnahme.“

Ein Anflug von Besorgnis huschte über ihr Gesicht. „Ja, Sir. Wissen Sie denn, wo die Notaufnahme ist?“

„Ja, ich habe das Hinweisschild am Eingang gesehen.“

Landon ging den Weg zurück, den er gekommen war. Schließlich stand er vor dem Eingang zur Notaufnahme. Aus der Ferne vernahm er das Martinshorn eines Rettungswagens.

Er betrat den Wartebereich und sprach mit dem Mann hinter dem Anmeldeschalter. „Können Sie bitte Macie Beck sagen, dass sie zu mir kommen soll?“

Der Mitarbeiter wirkte verunsichert. „Äh, sie hat gerade viel zu tun.“

Landon stand kurz davor, seine Geduld zu verlieren. Immerhin war bekannt gewesen, wann er in Saipan ankommen würde. Und es war inzwischen über zwei Stunden her, dass Miss Beck darüber informiert worden war, dass er sie sehen wollte. Es war an der Zeit, sie ausfindig zu machen. „Ich bin sicher, dass sie einen Moment für mich erübrigen kann. Ich bin der Interimsverwalter, Dr. Cochran.“

Erschrocken riss der Mann die Augen auf und zeigte hinter sich. „Äh … hallo, Sir. Ich begleite Sie nach hinten.“ Landon folgte dem Mann durch die Schiebetüren in einen großen Raum, der durch Vorhänge in kleinere Bereiche unterteilt war. In der Mitte des Raumes stand ein runder Schreibtisch. Davor stand eine zierliche Frau, die den gleichen hellgrünen Kittel trug wie der Rest des Personals. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und hatte das dunkelbraune Haar im Nacken zusammengefasst.

Sein Herz klopfte laut. Er kannte diese weiblichen Kurven. Es war tatsächlich seine Macie Beck.

Sie drehte sich um und ihre Blicke trafen sich.

Von allen Inseln der Welt musste er ausgerechnet die Leitung des Krankenhauses übernehmen, in dem sie arbeitete. Jetzt wusste er, wie Rick sich in Casablanca gefühlt haben musste, als Ilsa in seiner Bar aufgetaucht war.

Sieh an. Wenn das nicht der Landon Cochran war.

Genau der hatte Macie vor Jahren, als sie im Veteranenkrankenhaus auf Hawaii arbeitete, sitzengelassen. Selbst ein schnöder Abschiedsbrief wäre besser gewesen als sein Schweigen, das sie als Reaktion auf ihre einzige gemeinsame Nacht bekommen hatte.

Landon hatte sie damals nicht nur abserviert, sondern auch gleich die Insel verlassen. Und damit nur noch einmal ihr Vorurteil bestätigt, dass man Männern nicht trauen konnte.

Zu allem Überfluss war sie durch die Vorkommnisse mit ihrem Vater sowieso in einer labilen Verfassung gewesen, sodass sie Landons Verhalten schwer getroffen hatte. Es war ein herber Schlag gegen ihr ohnehin angekratztes Selbstwertgefühl gewesen. Macie war Menschen gegenüber misstrauisch, doch nachdem sie über Wochen mit Landon zusammengearbeitet hatte, begann sie ihm zu vertrauen. Als er ohne Erklärung die Insel verließ, glaubte sie felsenfest, dass er etwas über die Machenschaften ihres Vaters herausgefunden hatte und daher nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Landon wäre da nicht der Erste gewesen. Dabei hatte sie doch so gehofft, dass Hawaii abgelegen genug war, um dem kriminellen Schatten ihres Vaters zu entkommen.

Doch das alles war schon acht Jahre her. Landon sah immer noch so gut aus wie damals, war jedoch insgesamt etwas kräftiger geworden und hatte breitere Schultern als früher. Außerdem wirkte er unnachgiebiger, so als habe er schwere Zeiten durchgemacht. Doch er besaß immer noch die gleichen widerspenstigen blonden Locken, an die sie sich so gut erinnerte.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Derselben Hand, mit der er zärtlich ihre Wange umfasst hatte, um Macie anschließend zu küssen. Und noch vieles mehr …

Sie verlor sich in Erinnerungen, denen sie besser nicht nachhängen sollte.

Das Martinshorn wurde lauter und Macie kehrte in die Wirklichkeit zurück. Sie schüttelte den Kopf. Das war wohl kaum der richtige Moment, um sentimental zu werden. „Dr. Cochran, ich hoffe, Sie haben über Ihren Verwaltungsjob Ihre medizinischen Fähigkeiten nicht vergessen. Wir könnten sie jetzt gebrauchen. Autounfall – drei Verletzte, zwei Erwachsene, ein Kind.“

Macie eilte zum Eingang der Notaufnahme. Sie hatte keine Zeit, sich um Landon zu kümmern. Im selben Moment wurden die Unfallopfer reingebracht. Als sie am Materialwagen vorbeikam, schnappte sie sich eine Maske, Handschuhe und reichte Landon, der ihr gefolgt war, auch einen Kittel.

„Bringt das Kind in Untersuchungsraum zwei und den Mann in die drei. Die Frau in Zimmer sechs.“ Sie folgte der Fahrtrage, auf der das Kind lag.

Macie schloss das verletzte Kind an den Überwachungsmonitor an. Eine tiefe Stimme, die sie noch lange nach ihrer großen Enttäuschung nicht aus dem Kopf bekommen hatte, sagte: „Was haben wir hier?“

„Einen achtjährigen Jungen mit Schnittwunden an Bein, Gesicht und Hand.“

Landon stand neben ihr. Gefährlich nah. „Bevor ich anfange zu nähen, brauche ich Röntgenaufnahmen, um zu prüfen, dass keine Knochenbrüche vorliegen. Zuerst braucht der Kleine eine Infusion und bei Bedarf ein Schmerzmittel. Und etwas zur Beruhigung.“

„Er muss runter zum Röntgen.“ Macie stellte die Monitore ein.

„Wo ist das portable Röntgengerät?“

„Wir haben keins“, räumte sie widerwillig ein.

„Dann veranlasse, dass er geröntgt wird, während ich kurz nachsehe, ob der Notarzt bei den anderen beiden Patienten Hilfe braucht.“ Landon verließ den Raum.

Macie kümmerte sich um die medizinische Versorgung, die Landon angeordnet hatte, während sie dem Jungen versicherte, dass es seiner Mutter gut gehe. Dann begann sie, die Wunden zu säubern. Eine Viertelstunde später kehrte Landon zurück.

„War er schon beim Röntgen?“

„Nein. Unten haben sie viel zu tun.“ Macie setzte ihre Arbeit fort.

Landons Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich. „Trenne ihn vom Monitor, du nimmst den Infusionsständer.“

„Was hast du vor?“, fragte Macie, während sie tat, was er von ihr verlangte.

„Wir bringen ihn selbst zum Röntgen.“

Sie konnte ihm nur beipflichten. Als Notaufnahmeschwester hatte sie zwar eine gewisse Entscheidungsautorität, aber sie konnte sich nicht über Behandlungsabläufe hinwegsetzen, so wie Landon es tat. „Ja, Sir.“

Macie erinnerte sich noch gut an seine zielsichere Entschlussfähigkeit, und die Zeit hatte diesen Zug seiner Persönlichkeit nicht abgemildert. Sie hatte das schon immer an ihm geschätzt und tat es auch heute noch. Aber warum hatte er sich damals nicht von ihr verabschiedet? Das schien so gar nicht zu ihm zu passen.

Gemeinsam rollten sie den Jungen hinaus auf den Flur.

„In welche Richtung?“, fragte Landon.

„Nach rechts“, rief sie. „Den Flur entlang auf der rechten Seite.“

Kurz darauf erreichten sie die Röntgenabteilung.

„Dieser Patient muss sofort geröntgt werden“, wies er die Frau hinter dem Schreibtisch an.

Die Frau blinzelte und stand auf. „Sie können hier nicht einfach rein …“

Oh, nein. Das lief nicht gut. Landon war kurz davor, sich mit Yuri, der am meisten Respekt einflößenden Frau im Krankenhaus, anzulegen. Macie stand hinter Landon und schüttelte den Kopf.

„Ich bin Dr. Cochran. Dieses Kind muss geröntgt werden, bevor ich seine Wunde nähen kann. Und zwar jetzt.“

„Yuri?“ Macie schaltete sich ein. „Dr. Cochran ist unser neuer Verwalter.“

„Kommen Sie durch. Ein Pfleger war gerade auf dem Weg, den Jungen abzuholen.“

„Wir haben ihm den Weg gespart“, sagte Landon lakonisch und schob das Bett an ihrem Schreibtisch vorbei. „Macie und ich kümmern uns um alles Weitere.“

Minuten später hatten sie den Jungen geröntgt. Macie blieb bei dem Kind, während Landon sich die Aufnahmen ansah.

Lächelnd kam er zurück zum Bett. „Es sieht so aus, als ob nichts gebrochen ist“, sagte er aufmunternd zu dem Jungen.

„Das ist eine gute Nachricht.“ Macie klopfte dem Jungen auf die Schulter.

„Jetzt bringen wir dich zurück in die Notaufnahme. Dann kannst du nach deiner Mutter sehen.“

Der Junge nickte. Tränen schimmerten in seinen Augen.

„Mach dir keine Sorgen, mein Kleiner. Bei Dr. Cochran bist du in den besten Händen.“ Sie schaute auf und sah Landons Blick, bevor er wieder wegsah. Sie hatte vergessen, wie gut er mit Menschen umgehen konnte. Mit seinem Charme hatte er auch sie damals erobert. Vermutlich, weil er wie bei seinen Patienten den Schmerz in ihr spürte.

Macie war damals am Boden zerstört gewesen. Ein Jahr zuvor hatte sie erfahren müssen, dass ihr über alles geliebter Vater ein Betrüger war. Bis dahin hatte sie ein behütetes Leben geführt, in einem großen Haus gelebt, die besten Schulen besucht und war viel mit ihrer Familie gereist. Ihre Mutter arbeitete ehrenamtlich in verschiedenen gemeinnützigen Komitees, und Macie und ihre Geschwister zählten zu den In-Kreisen der Gesellschaft. Doch dann war das traumhafte Leben wie eine Seifenblase zerplatzt.

Macies Leben entpuppte sich plötzlich als eine einzige große Lüge, denn ihr Vater hatte die Existenz der Familie auf Lug und Trug aufgebaut. Als dann ihre Welt in Schutt und Asche zerfiel, geschah dies in aller Öffentlichkeit. Und das hatte sie tief getroffen. Auch wenn Landon ihren Schmerz nicht gesehen haben mochte, so hatte er ihn vielleicht gespürt.

Zurück im Untersuchungszimmer machten sie den Jungen fertig für die ambulante OP.

„Ich werde mit deinem Bein anfangen“, erklärte Landon dem Kind. „Dann nähe ich die Wunde am Kopf und zuletzt an deiner Hand. Es wird nicht wehtun. Versprochen. Doch du musst jetzt stillhalten.“

Der Junge nickte, während er seine Augen schloss. Die Schmerzmittel zeigten ihre Wirkung.

„Ich brauche ein steriles Nähset“, forderte Landon, während er sich einen Hocker neben das Bett zog.

Macie hatte das natürlich vorausgesehen und es schon bereitgelegt. Behutsam fing Landon an zu nähen.

Eine halbe Stunde später betrachtete Macie sein Werk. „Wie ich sehe, hat der Doktor nichts von seinen Fähigkeiten verlernt.“

Landon rollte vom Krankenbett zurück und streckte sich. Dabei umspannte der Kittel eng seine Brust und Macie konnte die Muskeln unter dem dünnen Material erahnen. Er stand vom Hocker auf und ging zum Kopfende des Bettes. „Das werden wir sehen, wenn ich hier fertig bin. Zwei Wunden muss ich noch nähen. Zum Glück ist diese am Haaransatz. Er wird sich keine Sorgen wegen einer Narbe machen müssen.“

Macie hatte bereits das gebrauchte Nähset entsorgt und durch ein neues ersetzt.

„Und du bist immer noch so effizient wie eh und je“, sagte Landon.

„Ich war mir nicht sicher, ob du dich überhaupt an mich erinnerst.“ Erschrocken rang sie nach Luft. „Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe. Das ist weder die Zeit noch der Ort dafür.“

„Macie …“

Glücklicherweise steckte eine der Krankenschwestern den Kopf durch die Tür. „Macie, die Mutter fragt nach ihrem Sohn.“

Macie war dankbar für die Gelegenheit, Landon zu entkommen, und sagte: „Liz, assistieren Sie doch bitte Dr. Cochran, während ich mit der Frau spreche.“

Es dauerte eine Stunde, bis sie Landon wiedersah. Sie hatte gerade den Hörer aufgelegt und sich vergewissert, dass die Krankenzimmer für die Unfallpatienten bereit waren. Ihre Hände zitterten, als er auf sie zukam.

„Wenn hier alles unter Kontrolle ist, müssen wir uns unterhalten, Macie.“

„Unterhalten?“, fragte sie tonlos. Sie wollte nicht darüber reden, was vor Jahren zwischen ihnen passiert war.

„Ja, über das Krankenhaus. Du bist die Pflegedienstleiterin und ich bin der Interimsverwalter“, erläuterte er geduldig.

Erleichterung durchströmte sie. Auf beruflicher Ebene konnte sie mit ihm reden. Nur persönliche Dinge wollte sie ausklammern, trotz ihres kleinen Ausrutschers. Dennoch hätte sie gerne gewusst, weshalb Landon sie damals verlassen hatte. Sie hatte gedacht, dass er ihre gemeinsame Nacht genauso genossen hatte wie sie. Und sie hatte geglaubt, dass es eine besondere Verbindung zwischen ihnen gab. Zumindest war es für sie etwas Besonderes gewesen. Selbst jetzt ließ seine Gegenwart ihr das Blut schneller durch die Adern fließen. Sie brauchte einen klaren Kopf, bevor sie irgendetwas mit ihm besprach – einschließlich beruflicher Dinge.

„Ich bin seit über sechzehn Stunden im Dienst. Was ich jetzt brauche, ist ein wenig Ruhe und Erholung. Unser Gespräch kann sicherlich noch bis morgen warten. Außerdem muss ich dir noch zeigen, wo du während deines Aufenthalts wohnst.“

„Einverstanden. Ich könnte auch eine Pause gebrauchen.“

„Dann fahre ich dich zu deinem Haus und wir reden morgen. Ich muss noch kurz in mein Büro. Wir treffen uns in zehn Minuten vor dem Eingang.“ Das würde ihr etwas mehr Zeit verschaffen, um ihre Gedanken zu sortieren.

„Ich muss meinen Koffer holen. Er steht noch im Büro. Ich begleite dich.“

Die so dringend benötigten Minuten allein waren ihr anscheinend nicht vergönnt. „Danke, dass du eben eingesprungen bist.“

Landon passte sich ihrem Schritttempo an. „Kein Problem. So einen Adrenalinschub habe ich schon lange nicht mehr gespürt.“

„Wie lange arbeitest du schon für die Weltgesundheitsorganisation?“

Landon sah sie an. „Die Gelegenheit dazu bekam ich vor etwa vier Jahren. Und ich bin kein Bürohengst.“

„Ein knallharter Sanierer?“

Seine Brauen zogen sich fragend zusammen. „Nein. Wie kommst du darauf?“

„Ist es nicht das, was du tust? Krankenhäuser schließen?“ Sie versuchte, einen leichten Ton zu treffen, doch sie verfehlte das Ziel.

„Nochmals, nein. Ich bin hier, um dieses Krankenhaus zu bewerten. Checken, was getan werden muss, um es zu optimieren. Sehen, was ich tun kann, um es voranzubringen. Eine Schließung stand nie zur Debatte.“

Das klang zumindest positiv. Macie waren diese Insel und ihre Menschen ans Herz gewachsen, und sie würde nicht zulassen, dass sie Opfer einer Sanierungsmaßnahme wurden. Landon hatte die richtigen Dinge gesagt und sie hoffte, dass er ehrlich zu ihr war und nicht nur diplomatisch.

„Dir ist bekannt, dass wir in vier Jahren vier Geschäftsführer hatten, nicht wahr?“

„Ja, das weiß ich. Ich habe vor, die nötigen Mittel zu beschaffen, damit ein ständiger Verwalter hierherkommt und bleiben möchte.“

„Du stürzt dich also wie Superman hinein, um alles besser zu machen.“ Nun hatte sie ihre Verbitterung doch nicht verbergen können. Das war wohl kaum der richtige Weg, um positiv auf Landon einzuwirken.

Sie waren in ihren Büros angekommen. „Macie, ich hätte nie gedacht, dass du eine Zynikerin geworden bist. Es tut mir leid, das zu hören. Ich bin nicht Superman, doch ich wurde mit dieser Aufgabe betraut, weil die WHO glaubt, dass ich hier etwas Gutes tun könnte.“

„Ich bin nicht zynisch, nur realistisch. Ich treffe dich vor dem Eingang.“ Sie zog sich in die sicheren vier Wände ihres Büros zurück und schloss die Tür hinter sich.

Dreißig Minuten später fuhr Macie mit Landon auf dem Beifahrersitz ihres Autos die kurvenreiche Straße auf der anderen Seite der Insel entlang. Diese Gegend war bei Weitem nicht so dicht besiedelt, und die Straße lag hoch über dem Meer.

„Ich habe mich gefragt, ob du es bist, als ich deinen Namen in den Krankenhausakten gelesen habe“, gestand er ihr plötzlich. „Ich bin ziemlich überrascht, dass du dich immer noch so weit weg von zu Hause aufhältst.“

Autor