Schicksalsherzen: Geheimnisvolle Entdeckung

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Bei einem Tauchgang macht die Fotografin Kelsey eine schreckliche Entdeckung. Ausgerechnet ihre Jugendliebe Mitch steht ihr in diesem Moment bei - der Mann, dem sie nie wieder vertrauen wollte.


  • Erscheinungstag 10.08.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493553
  • Seitenanzahl 120
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mary Burton

Schicksalsherzen: Geheimnisvolle Entdeckung

Aus dem Englischen von Michaela Grünberg

MIRA® TASCHENBUCH

SILHOUETTE ™

MIRA® TASCHENBÜCHER

SILHOUETTE ™ BOOKS

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg;

im Vertrieb von MIRA ® Taschenbuch

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

In Dark Waters

Copyright © 2005 by Mary T. Burton

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

ISBN eBook 978-3-95649-355-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Es war kurz nach Sonnenaufgang, als Kelsey Warren die Kiesgrube Diamond Stone erreichte. Nur einige sich kräuselnde kleine Wirbel warfen das schwache Morgenlicht von der sonst unbeweglichen, dunklen Wasseroberfläche zurück. Kelsey konnte sich beileibe Erfreulicheres vorstellen als einen Tauchgang in einem riesigen, von Menschenhand erschaffenen Wasserloch. Es sah schaurig kalt aus. Normalerweise arbeitete sie in wärmeren Regionen, wie zum Beispiel der Karibik. Hätte ihr alter Freund Stu Hamilton sie nicht gebeten, ihm einen Gefallen zu tun, wäre sie schon längst auf dem Weg zum Flughafen, um dort den nächsten Flieger nach L.A. zu nehmen.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Zwanzig nach sechs.

Wo blieb Stu nur?

Kelsey stieg aus ihrem gemieteten Jeep, öffnete den Kofferraum, holte eine große Leinentasche heraus und zog den Reißverschluss auf. Dann schleuderte sie die zwar abgewetzten, aber wunderbar bequemen Clogs von den Füßen und schlüpfte aus ihrer ebenfalls nicht mehr ganz neuen Jeans. Als sie auch ihr T-Shirt ausgezogen hatte, kam darunter ein leuchtend blauer Bikini zum Vorschein. Das Anlegen des Tauchanzuges ging schnell, schließlich war Kelsey geübt darin. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und breitete eine ausrollbare Schutzhülle vor sich aus, die ihre flache Unterwasserkamera und noch ein paar andere Ausrüstungsgegenstände enthielt.

Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet ihr, dass inzwischen eine Viertelstunde vergangen war. Von Stu nach wie vor keine Spur. Es sah ihm gar nicht ähnlich, zu spät zu kommen. Ausgerechnet er, der Geschäftsmann, der sich stets mit seiner Pünktlichkeit rühmte.

Kelsey starrte gedankenverloren zum wild bewachsenen Ufer am gegenüberliegenden Ende der Kiesgrube hinüber. Schwer vorstellbar, aber noch vor einer Woche war sie in der Südsee unterwegs gewesen, um Fotos von Korallenriffen zu machen. An jenem Dienstag war alles erstaunlich glatt gelaufen. Nicht nur, dass sie einen Rotfeuerfisch vor die Linse bekommen hatte, nein, dank ausnahmsweise funktionierender Satellitenübertragung konnte sie die Bilder sogar ohne die übliche leidige Zeitverzögerung an ihre Auftraggeber bei National Geographic mailen. Also zwei unverhoffte Glücksfälle auf einmal. Doch der Tag, der so gut begonnen hatte, war prompt durch den Anruf überschattet worden, in dem Stu Kelsey mitteilte, ihre Tante sei an einem Schlaganfall gestorben. Zu sagen, dass sie und Ruth sich besonders nahe gestanden hätten, wäre gelogen gewesen. Die alte Frau hatte wenig Begeisterung dafür aufbringen können, ihre damals fünfzehnjährige Nichte bei sich aufzunehmen, und auch nie einen Hehl aus ihrem Unmut gemacht. Aber auch wenn Kelsey die Erinnerung an das verbitterte Gesicht ihrer Tante noch heute manchmal in ihren Träumen verfolgte, die Erweisung der letzten Ehre war sie Ruth trotzdem schuldig, fand sie. Immerhin war ihr durch sie das Kinderheim erspart geblieben, wo sie mit ziemlicher Sicherheit gelandet wäre, nachdem Donna einfach auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Also hatte Kelsey sich entschlossen, den Aufenthalt an ihrem paradiesischen Arbeitsort abzubrechen und zu Ruth’ Beerdigung zu reisen.

Doch die vorzeitige Rückkehr in die Vereinigten Staaten gestaltete sich schwieriger als vermutet. Zwei volle Tage hatte es gedauert, bis Kelsey endlich jemanden gefunden hatte, der sie in seinem Fischerboot mit aufs Festland nahm, und einen weiteren, bevor von dort aus ein Flug nach Amerika ging. Unzählige weitere nicht geplante Zwischenfälle später war sie doch noch in Grant’s Forge, Virginia angekommen. Drei Stunden nach dem Ende der Begräbnisfeier.

Kelsey schloss die Augen. Fast glaubte sie Ruth’ Stimme zu hören: Komm ich heut nicht, komm ich morgen. Genau so ein Taugenichts wie deine Mutter.

Eine Träne kullerte Kelseys Wange hinunter.

Die abfälligen Bemerkungen ihrer Tante hatten ihr immer wehgetan, aber zumindest war dieses ruppige Verhalten einigermaßen erklärbar – im Alter wurden manche Leute eben wunderlich. Was sie sich hingegen nie hatte erklären können, war, weshalb Donna sie plötzlich nicht mehr haben wollte. Schon als sie noch ganz klein gewesen war, hatte ihre Mutter sie hin und wieder ohne große Vorankündigung für ein paar Tage bei Freunden oder Nachbarn untergebracht, während sie selbst sich wer weiß wo herumtrieb. Das war nichts Besonderes. Donna lieferte sie irgendwo ab, ging fort und kam nach spätestens einer Woche wieder.

Bis auf dieses letzte Mal.

Das Geräusch eines herannahenden Autos riss Kelsey aus ihren Gedanken. Hastig ihre Tränen wegwischend, stand sie auf, als der schwarze Chevrolet Suburban neben ihrem Jeep parkte. Beim Anblick des Schriftzuges an der Seite des Wagens versteifte sie sich unwillkürlich. Grant’s Forge Sheriff. Was wollte der denn hier? Sheriff Buddy Hollis fehlte ihr gerade noch. Er hatte nie eine Gelegenheit ausgelassen, sie zu piesacken, und ihr früher wegen jeder Kleinigkeit das Leben schwer gemacht. Doch zu ihrer Überraschung war es nicht Hollis, der aus dem Suburban stieg, sondern Stu. Gerade mal ein Meter fünfundsechzig groß, beachtlicher Bauchansatz, ärmelloses T-Shirt, kurze Hose und Turnschuhe. Nachdem sie zu spät für Ruth’ Beerdigung eingetroffen war, hatte Kelsey sich niedergeschlagen ein Hotelzimmer gesucht und von dort aus sofort Stu angerufen. Aber wirklich gesehen hatte sie ihn vor acht Jahren das letzte Mal. Bis auf die Tatsache, dass sein langes, zum Pferdeschwanz gebundenes Haar inzwischen grau zu werden begann, hatte er sich kaum verändert, wie Kelsey feststellte. Sie lächelte.

“Da bist du ja, meine Kleine”, sagte er und humpelte auf sie zu. “Komm her und lass dich drücken.”

Nichts, was sie im Moment lieber täte. Bei seiner kräftigen Umarmung blieb ihr fast die Luft weg, aber es war ihr egal. Das war Stu, wie er leibte und lebte, offenherzig, liebenswert, immer geradeheraus. Und beständig. All die Jahre hatte es nicht eine einzige Woche gegeben, in der er ihr nicht geschrieben hatte. Ganz gleich an welchen abgelegenen Fleck auf der Landkarte es Kelsey auch gerade verschlagen haben mochte, Stus Briefe fanden stets ihren Weg zu ihr.

Sie versuchte vergeblich, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Du meine Güte, schimpfte sie mit sich selbst, du wirst doch jetzt nicht anfangen, zu weinen.

“Was ist passiert?” Sie zeigte auf den Verband, der unter einer von Stus Socken hervorlugte.

“Ach, nichts. Ein dummer Unfall.”

Typisch Stu. Um andere kümmerte er sich rührend, wenn sie irgendetwas hatten, aber bei sich selbst verharmloste er immer alles. Kelsey wollte ihn gerade dafür zusammenstauchen, wie sie es schon früher so oft getan hatte, als die Fahrertür des Suburbans aufsprang und ein zweiter Mann ausstieg. Er trug ein verblichenes blaues T-Shirt, das über seinen breiten Schultern spannte, und seine enge Jeans, die sicher auch schon bessere Tage gesehen hatte, betonte die harten Muskeln seiner Oberschenkel. Dichte, kurz geschnittene schwarze Haare, markantes Kinn, stahlblaue wache Augen.

Mitch Garrett.

Kelsey fühlte, wie es ihr die Kehle zuschnürte.

Verdammt. Wenn es jemanden auf der Welt gab, dem sie um keinen Preis jemals hätte wieder begegnen wollen, dann war es Mitch. Diese Stadt bestand wirklich – mit Ausnahme von Stu – nur aus schlechten Erinnerungen. Immerhin schien Garrett mindestens genauso erschrocken zu sein. Doch leider dauerte es nur ein paar Sekunden, bis er sich von seinem Schock erholt hatte. Die Art, wie er sie langsam von unten bis oben ansah, sagte Kelsey, was sie ohnehin schon längst wusste. Er war nicht sonderlich erfreut über ihre Anwesenheit.

“Kelsey Warren”, sagte er. Seine Stimme klang ein wenig tiefer als damals, aber sie verriet keinerlei Gefühlsregung.

“Ich dachte, du wärst zur Navy gegangen.” Kelsey hoffte, dass er ihr die Anspannung nicht anmerkte.

“Hab’ dort aufgehört.”

“Und jetzt bist du Sheriff hier?” Bitte nicht.

“Du hast es erfasst.”

In ihren Fantasien hatte Kelsey sich oft ausgemalt, wie sie mit Mitch umspringen würde, sollte er ihr tatsächlich noch einmal über den Weg laufen. Gewitzt und schlagfertig hatte sie ihn abkanzeln und dann einfach stehen lassen wollen. Und jetzt? War sie schon froh, wenn es ihr gelang, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.

“Mitch fand, ich kann mit dem Fuß unmöglich tauchen”, erklärte Stu. “Deshalb geht er für mich runter.”

“Was?” Das konnte doch nicht sein Ernst sein.

“So war’s abgemacht”, sagte Mitch. “Mich wundert nur, dass ich Chris nirgends sehe.” Er kniff argwöhnisch die Augen zusammen. “Du hast gesagt, er würde heute als zweiter Mann mit mir tauchen.”

“Ja, ich weiß, ich weiß”, wiegelte Stu ab. “Er musste unerwartet für ein paar Tage nach Atlantic City.”

“Atlantic City? Was muss er dort so Wichtiges erledigen, dass es nicht noch bis morgen warten kann?”

“Du kennst Chris, er ist ein hervorragender Taucher, nicht immer ganz zuverlässig, aber …”

“Was war so wichtig?” fiel Mitch Stu ungeduldig ins Wort.

“Na ja, er hat bei einer Lotterie Geld gewonnen. Und da dachte er sich, er versucht sein Glück im Casino und macht vielleicht noch ein bisschen mehr draus. Weißt doch, wie er ist.”

“Gewonnen?”

Stu nickte unschuldig. “Ich wollte ihm das nicht vermiesen, das verstehst du doch. Deswegen war ich ja auch so froh, dass Kelsey und du beide zugesagt habt, mir zu helfen. Ohne euch wäre ich aufgeschmissen gewesen.”

“Und warum hast du mir nicht Bescheid gesagt? Ich hätte einen meiner Freunde von der Reservetruppe bitten können, für Chris einzuspringen.”

“Ach, wofür die Umstände, wenn Kelsey sowieso gerade in der Stadt ist? Ich dachte mir, das wäre doch wie in alten Zeiten für euch zwei.” Das verschmitzte Funkeln in Stus Augen gefiel Kelsey ganz und gar nicht.

Alte Zeiten, dachte sie ironisch. Sie und Mitch hatten sich vor zehn Jahren in Stus Tauchladen kennen gelernt, als sie einen Sommer lang zusammen dort gearbeitet hatten. Für Mitch war der Job eine willkommene Gelegenheit gewesen, die Monate zwischen Collegeabschluss und Dienstantritt bei der Navy zu überbrücken und dabei sogar noch ein bisschen Geld zu verdienen. Kelsey dagegen war überzeugt davon, dass nur die Arbeit sie in dieser Zeit davor bewahrt hatte, den Verstand zu verlieren. Wäre sie gezwungen gewesen, den ganzen Tag mit Ruth zu Hause zu hocken, weil sie nichts anderes zu tun hatte, nachdem sie mit der High School fertig war, hätte sie für nichts garantieren können. Mitch war nett zu ihr, hatte sie stets zuvorkommend behandelt und … sie hatte sich in ihn verliebt. Es kam, wie es kommen musste, gegen Ende des Sommers waren sie im Bett gelandet.

Kelsey seufzte. “Er hat Recht, Stu. Du hättest uns vorher was sagen können.”

Beschwichtigend legte Stu ihr einen Arm um die Schultern.

“Entspannt euch, ihr beiden. Es geht hier um einen Tauchgang und nicht den Gang zum Traualtar. Eine halbe Stunde, maximal. Um mehr bitte ich euch doch nicht.”

Ein Muskel in Mitchs Unterkiefer zuckte unmerklich.

Das reichte. Es war mehr als offensichtlich, dass ihm sogar lächerliche dreißig Minuten in Kelseys Gegenwart zu viel waren.

“Vergiss es”, sagte sie. “Ich gehe. Mitch wird schon jemand anderen organisieren, der an meiner Stelle mit ihm taucht.” Sie befreite sich aus Stus Griff und fing an, ihre Sachen zusammenzupacken.

“Kelsey …”

Mitch stützte die Hände in die Hüften. Langsam hatte er genug von dem Theater.

“Können wir das vielleicht einfach hinter uns bringen?” Er drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Mit einigen großen Schritten hatte er ihn erreicht, öffnete den Kofferraum und holte seine Ausrüstung heraus. Die silberne Sauerstoffflasche in der einen Hand, eine schwarze Tasche in der anderen kam er zurückmarschiert. Kelsey musste sich zwingen, ihn nicht anzustarren. Er war noch immer so männlich wie in ihrer Erinnerung. Die Zeit hatte kaum Spuren bei ihm hinterlassen, und das, was an Veränderungen sichtbar war, machte ihn höchstens noch attraktiver.

Mitch legte seine Ausrüstungsgegenstände neben ihren ab.

“Du bist ziemlich viel rumgekommen in den letzten paar Jahren, nicht? Muss interessant gewesen sein, an so vielen verschiedenen Orten zu leben.”

Aha. Von daher wehte also der Wind. Wie du willst, mein Lieber. Dann tun wir eben einfach so, als wären wir bloß lose Bekannte, und kehren die Vergangenheit unter den Teppich. Kelsey zuckte mit den Schultern.

“Ja, es war interessant.”

Mitch nickte und schwieg einen Moment.

“Und? Hast du vor, länger hier zu bleiben?” fragte er dann.

“Wohl kaum. Wieso sollte ich?”

“Na ja, ein Haus verkauft sich nicht von heute auf morgen.”

“Welches Haus?”

“Das von Ruth. Es ist bestimmt noch einiges wert, würde ich annehmen.”

“Ich bin nicht gekommen, um mich an ihrem Tod zu bereichern”, sagte Kelsey scharf. Wofür hielt er sie? “Außerdem brauche ich kein Geld. Tut mir ja sehr Leid, all die Propheten enttäuschen zu müssen, die meinten, dass aus mir sowieso nichts wird, aber sie hatten dummerweise Unrecht.”

Die Andeutung einer Emotion flackerte kurz in Mitchs Augen auf, aber Kelsey konnte nicht sagen, was genau sie da gesehen hatte. Dann war es auch schon wieder weg.

“Ja, ich weiß. Du bist eine ziemlich erfolgreiche Fotografin geworden.”

Woher wusste er das? Hatte er sich etwa die ganze Zeit über ihr Leben auf dem Laufenden gehalten? Genugtuung keimte in ihr auf, doch sie kämpfte sie sofort nieder, als ihr klar wurde, wie irrational ihre Gedanken waren. Als ob er nichts Besseres zu tun hätte, als in Erfahrung zu bringen, wie es ihr ging und was sie trieb.

“Okay. Falls diese kleine Unterhaltung meinem Vergnügen dienen soll, machen Sie sich keine Umstände, Sheriff”, sagte sie bissig. “Je eher wir hier fertig sind, desto schneller kann ich die nächste Maschine nehmen und von hier verschwinden.”

Der verärgerte Ausdruck in Mitchs Blick störte sie nicht im Geringsten. Sollte er sich doch vor den Kopf gestoßen fühlen, geschah ihm ganz recht.

“Wie lange ist dein letzter Flug her?” fragte er misstrauisch.

“Ich kenne die Regeln”, antwortete sie in einem Ton, der klarmachte, dass sie nicht vorhatte, darüber zu diskutieren. Jeder Anfänger wusste, wie gefährlich es war, innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach einer Flugreise zu tauchen. Wer wollte sich schon ein unter Umständen tödliches Blutgerinnsel einhandeln?

“Wie lange?” beharrte Mitch.

Es war nicht das erste Mal, dass ein männlicher Tauchkollege Kelseys Kompetenz infrage stellte. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, darüber zu stehen. Umso weniger konnte sie sich erklären, warum diese Arroganz, an die sie doch gewöhnt war, sie heute so zur Weißglut brachte.

“Sechs-und-drei-ßig Stun-den.”

Stus Blick wanderte nervös zwischen ihr und Mitch hin und her.

“Kelsey hat über tausend Tauchstunden absolviert, sie weiß schon, was sie tut”, sagte er.

Mitch hob abfällig eine Augenbraue. “In seichten Gewässern hübsche Bilder schießen macht noch keinen erfahrenen Taucher aus.”

Das hatte gesessen. Kelsey konnte gerade noch rechtzeitig den Impuls unterdrücken, lang und breit ihre Leistungen aufzuzählen, um Mitch von ihren Fähigkeiten zu überzeugen. Es war viel besser, ihm zu demonstrieren, dass sie es gar nicht nötig hatte, ihm irgendetwas zu beweisen.

“Du musst es ja wissen”, sagte sie schnippisch. “Dann erzähl mir doch mal, wann du das letzte Mal Gelegenheit hattest, woanders zu tauchen als in Stus Übungspool. Oder ist hier etwa in der Nähe auf wundersame Weise ein Meer entstanden, seit ich weg bin?”

Mitchs Gesichtausdruck verfinsterte sich. “Vor drei Tagen”, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. “Im Atlantik, wenn du es genau wissen willst.”

“Mitch ist noch immer Mitglied der Navy-Reserve-Einheit”, erklärte Stu.

“Ist mir eigentlich auch egal.” Kelsey wischte sich mit ungeduldigen Fingern eine Haarsträhne aus der Stirn. “Und? Gibt es noch mehr Fragen, oder können wir langsam anfangen? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.”

Statt einer Antwort zog Mitch mit einer unwirschen Bewegung sein T-Shirt über den Kopf und entblößte eine muskulöse, dunkel behaarte Brust. Als er nach dem Reißverschluss seiner Jeans fasste, drehte Kelsey sich wie automatisch von ihm weg.

“Also, Stu. Warum willst du überhaupt, dass wir da runtergehen?” wandte sie sich an ihren alten Freund.

“Ich habe Diamond Stone gekauft.”

“Wozu?”

“Weil ich glaube, man könnte daraus was machen. Wie du schon so richtig bemerkt hast, das Übungsbecken ist nicht das Wahre für Leute, die richtig Tauchen lernen wollen. Aber das hier, das wäre doch perfekt, oder?”

“Das ist eine fantastische Idee”, stimmte Kelsey zu.

“Ja, das Problem ist nur, als Chris und ich letzte Woche den Grund inspizieren wollten, haben wir dabei ein Autowrack gefunden. Es hat sich direkt am Rand einer Grubenspalte verklemmt, wo es ziemlich tief runtergeht. Stell dir vor, ein Tourist verfängt sich darin und wird von dem Ding hundert Fuß in den Abgrund gezogen.”

“Dann sollen Mitch und ich das Wrack also über den Rand schubsen, ja?”

“Nein”, sagte Mitch. “Zuerst will ich nur die Kennzeichen holen und sie überprüfen lassen.”

“Warum?”

“Sicher ist sicher. Es gibt genug Verbrechen, die erst Jahre später und auch nur durch einen dummen Zufall aufgeklärt werden. Wenn es sauber ist, komme ich mit Chris zurück und kümmere mich um das Auto.”

“Und du denkst, das ist wirklich nötig? Ich meine, wir sind hier in einem kleinen Nest in Virginia, nicht in New York, wo Leute gestohlene Wagen im Hudson River versenken. Wahrscheinlich war dem Besitzer bloß der Schrottplatz zu teuer.”

“Man weiß nie.”

“Wie du meinst”, sagte Kelsey. Es brachte nichts, weiter mit Mitch zu diskutieren, er tat sowieso, was er für richtig hielt. Obwohl sie bezweifelte, dass es viel zu fotografieren geben würde, befestigte sie ihre Kamera am Gürtel. Es war eine Gewohnheit, die sich schon oft als nützlich erwiesen hatte. Einige ihrer besten Bilder waren an Orten entstanden, wo sie am wenigsten damit gerechnet hatte, ein gutes Motiv zu entdecken.

Als Kelsey nach ihrer Sauerstoffflasche griff, um sie sich auf den Rücken zu schnallen, kam Mitch ihr zuvor. Aus ihr unerklärlichen Gründen hielt er es wohl für angebracht, den Gentleman herauszukehren. Oder er hatte einfach keine Lust, auf sie zu warten, denn er selbst war schon längst fertig. Für einen kurzen Augenblick war Kelsey unentschlossen. Einerseits war sie ganz und gar nicht auf seine großzügige Hilfe angewiesen, aber andererseits hatte sie auch nichts dagegen, dieses unfreiwillige Wiedersehen so bald wie möglich zu beenden. Und das hieß, jede Minute, die sie früher ins Wasser kam, zählte. Widerspruchslos schlüpfte sie durch die Armriemen.

“Danke.”

“Keine Ursache.”

Stu reichte ihr ihre Schwimmflossen und ihre leuchtend pinkfarbene Tauchmaske.

“Alles klar?” fragte er.

“Von mir aus kann’s losgehen.”

Stu folgte ihr und Mitch die kleine Böschung hinunter zum Ufer.

“Okay, die Erdspalte ist in der Nähe des nordwestlichen Endes.”

“Keine Sorge”, sagte Mitch. “Wir finden dein Auto.”

Es war Ende Mai und bereits angenehm warm draußen, was man vom Wasser der Kiesgrube allerdings nicht behaupten konnte. Eisige Kälte fuhr Kelsey durch die Glieder und ließ sie unwillkürlich die Luft anhalten. Mitch stand noch am Ufer bei Stu, und sie konnte nur hoffen, dass er sie nicht hatte zusammenzucken sehen. Flink streifte sie ihre Schwimmflossen über, legte ihre Maske an und schob sich das Atemgerät in den Mund.

“Vielen Dank auch, mein Lieber”, sagte Mitch zu Stu, bevor er ebenfalls einen Schritt in das kalte Wasser machte. “Mein erster freier Tag seit Ewigkeiten, und du halst mir einen Tauchgang mit Tiefsee-Barbie auf.”

“Ich finde, Pink steht ihr”, schmunzelte Stu.

2. KAPITEL

Nachdem er weit genug vorwärts gewatet war, hielt Mitch inne und schob sich ärgerlich das Mundstück zwischen die Lippen. Er benahm sich wie ein Teenager, der vor seinen Freunden abfällig über ein Mädchen sprach, damit niemand merkte, dass …

Verdammt, Kelsey Warren hatte kein bisschen von der Anziehungskraft verloren, die sie schon damals vom ersten Moment an auf ihn ausgeübt hatte. Damals, das war vor acht Jahren gewesen, als er noch zu jung und dumm gewesen war, um hinter die Fassade zu blicken. Kelsey hatte sich große Mühe gegeben, ihre Verletzlichkeit zu verstecken, und er war darauf hereingefallen. In dem Glauben, was sie teilten, sei eine unkomplizierte, nicht allzu feste Beziehung, wie man sie in diesem Alter normalerweise hatte, war er eines Abends mit ihr ins Hinterzimmer von Stus Tauchladen gegangen. Dort war es dann passiert. Und es war unglaublich schön gewesen. Bis zu dem Augenblick, in dem ihm klar wurde, dass sie noch Jungfrau war. Als er sie danach fragte, leugnete sie es nicht, sondern sagte, dass dies etwas ganz Besonderes für sie sei und sie gewartet habe, bis der Richtige komme. Und das sei er.

Mitch war so schockiert und überrumpelt gewesen, dass er nicht nachgedacht hatte. In seiner Unbeholfenheit war ihm dann der verhängnisvolle Satz herausgerutscht: Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich niemals mit dir ins Bett gegangen.

Der Ausdruck in ihren Augen hatte mehr gesagt als tausend Worte, und die tölpelhaften Entschuldigungen, mit denen Mitch versucht hatte, sie zu beruhigen, hatten alles nur noch schlimmer gemacht. Kelsey war tränenüberströmt aus dem Zimmer gestürzt und in ihr Auto gesprungen. Er hatte gehofft, sie bei ihrer Tante vorzufinden, doch als er dort ankam, war sie schon fort gewesen. Ruth wusste nicht, wohin sie wollte, und es interessierte sie offenbar auch nicht. Er hatte Kelsey nie wieder gesehen.

Bis heute.

Mitch atmete ein paar Mal tief in das Mundstück, um sich zu vergewissern, dass es funktionierte. Nach allem, was geschehen war, fiel es ihm schwer, Kelsey zu behandeln, als sei sie nichts weiter als ein Tauchpartner wie jeder andere für ihn. Aber er musste es tun. Wenn er denselben Fehler nicht noch einmal machen wollte.

Feine Schlickfäden wurden vom Boden aufgewirbelt, als Kelsey zwischen zwei großen Steinen hindurchschwamm. Trotzdem, das Wasser war bedeutend klarer geworden, seit sie das letzte Mal, als Kind, hier gewesen war. Stus Investition in eine Filteranlage hatte sich gelohnt.

Die klare Sicht ermöglichte Mitch, der über ihr schwamm, einen uneingeschränkten Blick auf ihren Körper. Eigentlich wollte er sie nur im Auge behalten, wie jeder guter Taucher seinen Partner im Auge behielt. Doch sosehr er sich auch anstrengte, er kam nicht umhin, zu bemerken, wie perfekt der enge Tauchanzug ihre weiblichen Formen hervorhob oder wie ihr Haar fließend ihren geschmeidigen Bewegungen folgte. Es war heller geworden, fast platinblond, aber wenn ihn nicht alles täuschte, war das lediglich das Ergebnis intensiver Sonneneinwirkung.

Kelsey hob eine Hand, als ein Fisch sich neugierig ihrem Gesicht näherte, und gerührt sah Mitch zu, wie der kleine Geselle sich von ihr über die Rückenflosse streicheln ließ, ohne verschreckt das Weite zu suchen.

Himmel, was war denn los mit ihm? Er neigte doch sonst nicht zu Sentimentalität.

Plötzlich sah Mitch aus dem Augenwinkel die Umrisse eines Wracks. Das musste das Auto sein, das sie suchten. Auch Kelsey hatte es entdeckt. Sie schwamm mit kurzen, kräftigen Zügen darauf zu und begann, Fotos zu machen. Wenige Sekunden später war Mitch neben ihr. Sie hob gerade die Kamera, um ein weiteres Bild zu schießen, stockte und senkte sie dann langsam wieder. Hastig näherte sie sich dem Wrack. Woher das plötzliche Interesse an dem völlig verrosteten Vehikel? Soweit man das noch sagen konnte, handelte es sich um einen Dodge, schätzungsweise zwanzig Jahre alt und bis zu den Türgriffen mit Algen bewachsen. Kelsey streckte die Hand nach einem von ihnen aus und rüttelte daran. Was zum Teufel machte sie da? Mitch packte sie an der Schulter, riss sie zu sich herum und sah in ein Paar vor Aufregung geweiteter blauer Augen. Er deutete auf den Wagen, dann auf die bedrohlich breite und allem Anschein nach sehr tiefe Furche, die nur wenige Handbreit davon entfernt im Boden klaffte. Kelsey starrte ihn einen Moment lang verständnislos an, bevor sie endlich nickte. Sie zog eine schmale Taschenlampe aus ihrem Gürtel, schwamm zur Rückseite des Dodge und leuchtete das Nummernschild an. Mitch rieb es mit der Hand sauber, so gut es ging. Pennsylvania. ZCE A. Der Rest war unleserlich, vom Rost zerfressen, aber vielleicht reichte es ja, um den ehemaligen Halter ausfindig zu machen.

Er blickte sich nach Kelsey um. Die hatte sich zur Fahrerseite vorgearbeitet und wischte hektisch mit dem Ellbogen die dicke Algenschicht vom Fenster. Ungeduldig kämpfte sie mit ihrer Taschenlampe, in dem Versuch, die Helligkeit hochzudrehen. Sie bekam nicht einmal mit, wie ihre geliebte Kamera ihr dabei aus der Hand glitt und langsam zu Boden trudelte. Kelsey richtete ihre Lampe auf die kleine runde Stelle des Fensters, die sie freigeputzt hatte, schaute hindurch in das Innere des Fahrzeugs und schreckte jäh zurück. Luftbläschen stiegen zu beiden Seiten ihres Kopfes auf, ein Zeichen dafür, dass sie schnell und heftig atmete.

Irgendetwas stimmte nicht.

Mitch war sofort bei ihr und fasste sie am Arm, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Was ist los?

Sie gestikulierte wild.

Da, sieh doch!

Kelseys Atem hatte sich ein wenig beruhigt, aber ihre Kehle fühlte sich noch immer wie ausgedörrt an. Sie schluckte. Mitch berührte ihr Handgelenk, unerwartet sanft, im Gegensatz zu dem stechenden Blick, mit dem er sie eindringlich musterte. Sie brauchte ein paar Minuten, bis sie sich stark genug fühlte, ihn anzusehen.

Ich bin in Ordnung.

Ja, natürlich.

Er dachte gar nicht daran, sie loszulassen, während sie gemeinsam in Etappen den Weg zur Wasseroberfläche zurücklegten. Als hätte er Angst, Kelsey könnte in Panik geraten und vergessen, wie wichtig es war, beim Aufsteigen Pausen zu machen, damit der Körper den Druck ausgleichen konnte.

Oben angekommen nahmen beide ihre Mundstücke heraus und schwammen schweigend nebeneinanderher, bis sie im seichten Wasser bequem stehen konnten.

Donna war tot. Ihre Mutter war tot.

Autor