Schicksalssommer für Dr. Thomson

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Dr. Nick Thomson weiß schon bei der ersten Begegnung: Abby Monroe ist die Frau seines Lebens! Doch eine tiefe Schuld quält ihn so sehr, dass er auf Abby verzichten will: Nick glaubt, er sei für den Tod ihres Freundes Shane verantwortlich ...


  • Erscheinungstag 14.08.2019
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749934
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG
14. März

Abby Monroe schloss ihre Wohnungstür auf, als das Telefon klingelte. Jemand vom Krankenhaus? Sie kam direkt vom Dienst, hatte sie vielleicht vergessen, eine Medikation einzutragen? Rasch ließ sie die Tasche fallen und rannte zum Apparat.

„Hallo?“

„Abby?“ Ihr Bruder hörte sich seltsam an.

„Hi, Adam.“ Sie zögerte kurz. „Was ist los?“

Schweigen. Ihr Herz fing an zu klopfen, pumpte Adrenalin durch die Adern.

„Ist was mit Mom? Dad?“

„Nein, den Eltern geht es gut.“

Sie beruhigte sich wieder ein wenig. „Was dann? Ich komme gerade von der Arbeit.“

„Es geht um Shane, Abby. Er … Es gab einen schrecklichen Unfall, das Flugzeug ist in den Bergen bei Peking abgestürzt, und … Verdammt, Abby, er hat es nicht geschafft.“

Nein. Lieber Gott, nein!

Die Beine knickten unter ihr weg, sie sank auf den Fußboden. Das ist nicht wahr, dachte sie benommen, es muss ein Irrtum sein. Shane war zu jung, erst dreiunddreißig, er konnte nicht tot sein! Sie schüttelte den Kopf, wollte schreien, aber die lastende Stille am anderen Ende der Leitung half ihr, sich zusammenzureißen. Sie kannte Shane fast ihr ganzes Leben, er war der beste Freund ihres Bruders, ihre Eltern behandelten ihn seit Jahren wie einen Sohn.

Eines Tages, so hatte sie gehofft, würde sie ihn heiraten, damit Shane endgültig zur Familie gehörte.

„Es tut mir so leid, Adam“, brachte sie schließlich mühsam hervor. „Bist du … bist du okay?“

„Ja, ich denke schon.“ Er klang tapfer. „Ich muss es Mom und Dad noch beibringen.“

„Warte, ich komme rüber.“ Abby wollte ihn auf keinen Fall damit allein lassen.

„Danke“, sagte er müde.

Sie legte auf und schlug die Hände vors Gesicht, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ.

Shane und sie hatten erst vor Kurzem entdeckt, dass da mehr zwischen ihnen war als reine Freundschaft, und jetzt war er fort.

Für immer.

1. KAPITEL
Vier Monate später …

„Kommen Sie, Mr. Goetz, gleich haben Sie es geschafft.“ Abby lächelte dem alten Herrn aufmunternd zu, während sie langsam den Flur zum Speisesaal der Abteilung Physikalische Medizin und Rehabilitation gingen.

„Von wegen gleich“, murrte er, setzte das Gehgestell ein Stückchen weiter auf dem Linoleumboden auf und zog die Füße nach. „Warum lassen Sie mich nicht in meinem Zimmer essen?“

„Weil uns viel daran liegt, dass Sie Ihre Mahlzeiten nicht einsam und allein, sondern in geselliger Runde zu sich nehmen. Sehen Sie, wie das Sonnenlicht durch die großen Fenster hereinscheint, es ist ein herrlicher Tag.“

Einer der Gummifüße haftete noch am Boden, als er sich weiterbewegen wollte, und Mr. Goetz verlor das Gleichgewicht, weil er das linke Bein, sein schwaches, nicht belasten wollte.

„Warten Sie, ich halte Sie.“ Abby stützte ihn und bewahrte mit der anderen Hand das Gestell davor, umzukippen. Allmählich richtete er sich wieder auf, verlagerte das Gewicht.

Noch wagte Abby nicht, ihren Griff zu lockern. „Alles in Ordnung, Mr. Goetz? Ich lasse Sie erst los, wenn Sie sich sicher fühlen.“

„Ja, ja, ist okay.“ Der drohende Sturz hatte ihm wohl einen Schrecken eingejagt. Mr. Goetz klang nicht mehr so mürrisch wie gerade eben noch. „Es geht schon.“

„Natürlich“, entgegnete sie freundlich. „Wir können uns viel Zeit lassen, und ich bleibe den ganzen Weg bei Ihnen.“

Ein köstlicher Duft nach Lasagne wehte ihnen aus dem Speiseraum entgegen, dann die letzten Schritte, und sie standen an seinem Tisch, wo bereits drei andere Männer warteten. Der alte Herr schob sich ohne Abbys Hilfe auf den letzten freien Stuhl.

„Großartig, Mr. Goetz.“ Abby räumte das Gehgestell so beiseite, dass er es bequem erreichen konnte, ohne dass es im Weg stand. „Ich bin stolz auf Sie.“

„Das müssen Sie auch.“ Er lächelte sogar, anscheinend besserer Stimmung, nachdem er es bis zu seinen Freunden geschafft hatte. „Wann heiraten Sie mich, Abby Monroe?“

Sie lachte. Der Antrag kam mit schöner Regelmäßigkeit nicht nur von ihm, sondern auch von seinen Tischgenossen. „Mr. Goetz, Sie kennen meine Antwort. Ich kann weder Sie noch irgendjemand anders heiraten, ehe ich mein Ziel, alle fünfzig Bundesstaaten zu bereisen, erreicht habe.“

„Warum wollen Sie uns verlassen?“, fragte Mr. Sutherland. „Wir haben schon alle unterschrieben, damit Sie bleiben können.“

„Beruhigen Sie sich, ich breche frühestens in fünf Wochen auf, Mr. Sutherland. Bis dahin sind Sie längst wieder zu Hause. Und bitte, sammeln Sie keine Unterschriften mehr. Schließlich ist es allein meine Entscheidung, nicht die des Krankenhauses.“

„Abby?“ Eine der Schwestern winkte sie zu sich. „Dr. Roland ist am Telefon.“

„Er soll nicht auflegen, bin sofort da.“ Seit Schichtbeginn hatte Abby den Chefarzt viermal über den Pager angepiept, um mit ihm über Mr. Goetz zu sprechen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Lassen Sie es sich schmecken, meine Herren. Und nicht vergessen, benehmen Sie sich.“

„Aber Abby, das macht doch keinen Spaß.“ Mr. Baker zwinkerte ihr zu.

Sie lachte und verließ den Saal.

„Dr. Roland?“, begann sie, nachdem sie die Telefontaste mit dem blinkenden Lämpchen gedrückt hatte. „Ich versuche schon den ganzen Morgen, Sie zu erreichen.“

„Ich war beschäftigt.“

Abby ärgerte sich über die arrogante Antwort, obwohl sie nicht damit gerechnet hatte, dass er sich entschuldigen würde. „Der Urintest von Harald Goetz zeigt eine erneute Harnwegsinfektion an. Er braucht wieder Antibiotika. Wir kriegen die Entzündung aus irgendeinem Grund einfach nicht in den Griff.“

„Geben Sie zehn Tage lang Bactrim Forte. Ist das alles?“

„Ich weiß nicht … Werden Sie sich die Mühe machen, zurückzurufen, wenn ich Sie das nächste Mal brauche?“

Sekundenlang herrschte Schweigen, dann explodierte Dr. Roland. „Erzählen Sie mir nicht, wie ich meine Abteilung zu führen habe! Ich antworte immer so bald wie möglich, und wagen Sie es ja nicht, das Gegenteil zu behaupten.“ Damit knallte er den Hörer auf.

„Autsch.“ Abby legte auf. „Tja, die Wahrheit tut weh.“

Ihre Kollegin Irene sah sie mit großen Augen an. „Ich fasse es nicht, dass du das zu ihm gesagt hast.“

„Okay, ich war’s leid, dass er meine Anrufe nicht beachtet.“ Sie nahm Mr. Goetz’ Karte zur Hand, um die Medikation zu notieren. „Wenn Roland Visite machen würde, wüsste er von selbst, was hier los ist.“ Irene nickte beifällig. „In den letzten vier Tagen hat er sich nicht ein einziges Mal blicken lassen.“

„Ich weiß, und trotzdem …“ Irene war nur drei Jahre jünger, aber Abby fühlte sich auf einmal hundert Jahre älter. „Was machst du, wenn er sich über dich beschwert?“

„Lass ihn doch.“ Sie zuckte mit den Schultern, auch wenn sie wusste, dass er ihr Ärger machen konnte, wenn er es darauf anlegte. „Hier, das muss in die Apotheke.“ Abby gab ihr den Auftragszettel. „Und hab ein Auge auf die Patienten, ja? Ich gehe lieber zu Leanne und erzähle ihr meine Version der Geschichte, ehe Roland zu ihr rennt.“

Irene seufzte schwer. „Okay, aber wenn sie mich fragt, werde ich ihr nicht verschweigen, was du gesagt hast.“

„Keine Angst, ich verlange von dir nicht, dass du für mich lügst. Ich werde es ihr sogar selbst sagen, zusammen mit dem Hinweis, dass er seit Tagen die Visite ausfallen lässt.“

Da sie bereits gekündigt hatte und ihr letzter Arbeitstag Mitte August feststand, würde es ihr nicht viel ausmachen, wenn ihre Chefin sie auf der Stelle feuerte. Allerdings hätten ihre Schützlinge dann tatsächlich einen Grund, Unterschriften zu sammeln, damit sie blieb. Andererseits stand ihr, formal gesehen, noch genügend Urlaub zu, um die Lücke locker zu überbrücken.

Drei Stunden später hatte sie Dienstschluss. Das Gespräch mit der Pflegedienstleiterin war gut verlaufen. Leanne Walters hatte ihr nicht die Leviten gelesen, sie jedoch aufgefordert, sich zu einem Beratungsgespräch anzumelden. Thema: Der taktvolle Umgang mit ärztlichem Fachpersonal. Aber sie hatte auch versprochen, herauszufinden, wie oft Dr. Roland seine Visite geschwänzt hatte.

Auf dem Nachhauseweg überlegte Abby, was dabei herauskommen würde. Sicher war sie nicht die einzige Krankenschwester, die sich über den Kerl beschwert hatte.

Es war ein milder, nicht zu heißer Sommertag, und Abby ging zu Fuß zum Haus ihrer Eltern, das sechs Häuserblocks vom Krankenhaus entfernt lag. Sie wollte ihrer Mutter beim Baden helfen, weil sie nicht allein in die Badewanne und wieder heraus kam.

Shanes Tod hatte die gesamte Familie erschüttert. Abby hatte um ihn getrauert, weil etwas, das sie sich so schön vorgestellt hatte, nun nie sein würde. Irgendwann hatte sie beschlossen, dass dies der perfekte Zeitpunkt war, um sich von ihrer Familie zu lösen. Um sich ihren Traum, die Welt zu bereisen, zu erfüllen. Und dann, als alles langsam wieder seinen gewohnten Gang ging, fiel ihre Mutter über den Hund, stürzte die Treppe hinunter und brach sich die Hüfte.

Abbys Vater kümmerte sich um sie, wenn Abby zur Arbeit war; aber er konnte nicht alles allein erledigen. Zum Glück heilte die Fraktur gut, und bald würde ihre Mutter keine Hilfe mehr brauchen.

Ihre Eltern waren überhaupt nicht begeistert gewesen, als sie ihnen von ihren Reiseplänen erzählte. Doch Abby fand, es wurde höchste Zeit, dass sie mal an sich dachte. Die eigene Wohnung, die sie nach dem Unfall ihrer Mutter aufgegeben hatte, fehlte ihr, und sie fühlte sich angebunden. Ihre Eltern würden nicht völlig allein dastehen, immerhin hatte sie fünf ältere Geschwister.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie zusammen mit Shane Pläne geschmiedet, um die weite Welt kennenzulernen. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie kannte ihn fast ihr ganzes Leben, aber erst vor seiner Abreise nach China hatte er sie das erste Mal geküsst. Da wusste sie, dass aus ihrer Freundschaft mehr werden konnte, und erwartete sehnsüchtig seine Rückkehr.

Noch immer fühlte es sich unwirklich an, dass er einfach nicht mehr da war. Jeden Moment erwartete sie, dass er auf der Veranda ihrer Eltern auftauchte und wissen wollte, was es zum Abendessen gab.

Der Kummer holte sie wieder ein. Shane fehlte ihr.

Als sie das Haus erreichte, entdeckte sie einen Mann, nicht älter als Anfang dreißig, der sich auf einen Stock stützte, die Hausnummer betrachtete und dann zum Haus sah. Er war sehr groß, mindestens einsfünfundachtzig, hielt sich kerzengerade und hatte dunkles, kurz geschnittenes Haar.

Er bemerkte sie nicht, bis sie fast neben ihm stand. „Hallo, kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?“

„Ja, das Haus der Familie Monroe. Ich möchte mit Abigail Monroe sprechen.“

Verblüfft musterte sie ihn. „Das bin ich … Abby Monroe.“

„Oh.“ Sein Blick glitt über sie. „Ich hatte eigentlich jemand … Älteres erwartet.“

Abby unterdrückte eine missmutige Antwort. Sie war sechsundzwanzig, nicht sechzehn, auch wenn die meisten Leute bei ihrem ersten Anblick dachten, sie ginge noch zur Schule.

„Was kann ich für Sie tun?“

Erst jetzt sah sie den dunkelblauen Seesack zu seinen Füßen. Der Fremde bückte sich und holte eine abgenutzte Zigarrenkiste heraus. Als er sich wieder aufrichtete, gab seine Miene nichts preis, aber seine langsamen, vorsichtigen Bewegungen, die Art, wie er sich hielt, konnten Abby nicht darüber hinwegtäuschen, dass er Schmerzen hatte. Starke Schmerzen.

Ernst reichte er ihr die Kiste. „Ich habe hier etwas, das Ihnen gehört. Tut mir leid, dass ich es Ihnen nicht eher gebracht habe, aber ich war … verhindert.“

Abby hatte keine Ahnung, wer der Mann war. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und weigerte sich, das Kästchen zu nehmen. „Wer sind Sie? Warum sollten Sie etwas besitzen, das mir gehört?“

„Ich bin Nick Thomson, ein Freund von Shane Reinhart. Dies sind Briefe und E-Mails, die Sie Shane geschickt haben, während ich mit ihm zusammen an einer sechsmonatigen chirurgischen Fortbildung in Peking teilgenommen hatte.“ An seiner Wange zuckte ein Muskel, aber seine Stimme blieb ausdruckslos, als er hinzufügte: „Es tut mir aufrichtig leid, Ms. Monroe.“

Nick hoffte inständig, dass sie die verdammte Kiste an sich nehmen würde, ehe er sich zum Narren machte und vor ihr in die Knie ging. Jeder Muskel in seinem Bein schmerzte höllisch, die Sonne brannte ihm auf den Kopf, und auf seiner Oberlippe spürte er die ersten feinen Schweißperlen.

Endlich nahm Shanes Freundin ihm den Kasten ab. Nick ließ den Arm sinken und unterdrückte nur mit Mühe das Bedürfnis, seufzend vor Erleichterung die Augen zu schließen. Seine verletzten Muskeln nahmen es ihm spürbar übel, dass er durchs halbe Land gereist war, ohne ein einziges Mal Schmerzmittel zu nehmen.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Die hübsche junge Frau, die mit den Sommersprossen auf der Nase und ihrem zu einem Pferdeschwanz gebundenen rotblonden Haar wie eine Sechzehnjährige aussah, beugte sich vor. „Vielleicht setzen Sie sich besser.“

Er hätte schwören können, dass er sich seine Schmerzen nicht hatte anmerken lassen. Nick zwang sich, ihr in die blauen Augen zu sehen. „Nicht nötig, danke.“

„Mr. Thomson, ich bin Krankenschwester, und ich weiß, dass Sie umfallen werden, wenn Sie sich nicht gleich setzen.“ Sie deutete auf die breite Veranda vor dem weißen Farmhaus. „Am besten dort drüben in den Schatten.“

Steif wandte er sich ab und ging darauf zu. „Dr. Thomson.“

„Wie bitte?“ Sie stellte die Zigarrenkiste neben sich, nachdem sie auf der obersten Stufe Platz genommen hatte. Ein großer Irish Setter lief schwanzwedelnd aus dem Haus.

Er streichelte das Tier und ließ sich dann ungelenk auf die Stufe sinken. „Egal, nennen Sie mich Nick.“ Fast hätte er aufgestöhnt. Es tat unendlich gut, das Bein nicht länger belasten zu müssen, und er massierte mit der unversehrten Hand die verspannten Muskeln. Vergessen war sein Vorsatz, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen.

„Nick. Natürlich.“ Sie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, und die Geste brachte ihn zum Schmunzeln. „Jetzt erinnere ich mich. Shane hat Sie in seinen Briefen öfter erwähnt. Sie sind auch Unfallchirurg, stimmt’s?“

Sofort wurde er ernst. „Ich war einer.“

„Und Sie sind es nicht mehr?“

Er schluckte und schüttelte den Kopf. „Nicht direkt.“ Unwillkürlich schloss er die verletzte Hand zur Faust, öffnete sie wieder. Sein Arm heilte besser als sein Bein, aber Nick war weit davon entfernt, richtig gesund zu sein. Jedenfalls reichte es nicht, um wieder am OP-Tisch zu stehen. „Zurzeit bin ich eher Patient als Arzt.“

„Hm.“ Das rötlich blonde Haar und die Sommersprossen verliehen ihr etwas Kindliches, doch er war sicher, dass diesen unschuldsvollen, großen blauen Augen nichts entging. „Und dann sind Sie den ganzen Weg nach Milwaukee in Wisconsin gereist, um mir eine Kiste mit Briefen zu geben, die ich an Shane geschickt hatte?“

„Ja.“ Es drängte ihn, mehr zu sagen, ihr alles zu erklären, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Die Last der Wahrheit musste er tragen … es würde nichts Gutes dabei herauskommen, wenn er Shanes Freundin erzählte, was er wusste.

Nämlich dass er schuld war an Shane Reinharts Tod.

Die Fliegengittertür schwang auf, und ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen hüpfte heraus. „Tante Abby, Grandma will wissen, wo du bleibst.“ Sie machte große Augen, als sie Nick entdeckte. „Tante Abby! Du darfst nicht mit Fremden reden, das weißt du doch!“

„Dr. Thomson ist kein Fremder, Beth, sondern ein Freund. Sag Grandma, ich komme gleich.“ Die Kleine flitzte wieder ins Haus, und Abby wandte sich Nick zu. „Meine Mutter hat sich vor einem Monat die Hüfte gebrochen“, fügte sie entschuldigend hinzu. „Sie braucht meine Hilfe.“

Nick begriff, dass sie ihm das Stichwort gegeben hatte, sich zu verabschieden.

„Shane hat mir erzählt, dass er Ihrer Familie nähergestanden hat als seiner eigenen. Jetzt kann ich das nachvollziehen. Bitte grüßen Sie Ihre Eltern von mir.“

„Warum bleiben Sie nicht zum Abendessen?“ Abby erhob sich anmutig. „Mein Bruder Adam kommt auch, Shane war sein bester Freund. Ich bin sicher, dass er sich gern mit Ihnen unterhalten möchte.“

Nick holte tief Luft, um sich zu wappnen, während er schwerfällig aufstand. Wie ein glühendes Messer schoss ihm der Schmerz durchs Bein. Verdammt, wie konnte etwas Kinderleichtes wie Stehen so wehtun? Um sich abzulenken, blickte er Abby an und zählte die Namen ihrer Brüder auf. „Aaron, Adam, Alec, Austin. Und Sie heißen Abby. Das kann kein Zufall sein, oder?“

Sie lachte, und ihr Gesicht leuchtete auf. Nick hatte plötzlich das Gefühl, nach einem Regentag unvermittelt im Sonnenlicht zu stehen, und blickte sie wie gebannt an. „Was soll ich sagen? Meine Eltern besitzen einen besonderen Sinn für Humor. Übrigens habe ich noch eine Schwester, Alaina, zwischen Aaron und Adam. Beth ist ihre Tochter. Und ich habe das fragwürdige Privileg, die Jüngste zu sein. Meine Schwester setzt die Tradition fort, indem sie ihre Kinder Bethany und Benjamin genannt hat. Wir können nur beten, dass sie nicht auch noch vier weitere bekommt. Der Lärmpegel bei unseren Familientreffen liegt kurz vor der Schallgrenze.“

Für ihn hörte sich das wundervoll an. Shane hatte ihm oft von den Monroes erzählt, und wieder packten ihn heftige Schuldgefühle. „Sie können sich glücklich schätzen, eine so große Familie zu haben“, sagte er ernst.

„Abby?“ Eine tiefe Männerstimme drang aus dem Haus. „Beth hat gesagt, dass dein Freund da ist. Warum bringst du ihn nicht mit rein?“ Da erschien ihr Vater auch schon an der Tür. „Du weißt, deine Freunde sind immer herzlich willkommen. Ich bin Abe Monroe.“ Er streckte Nick die Hand entgegen. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“

„Nick Thomson, ich freue mich auch.“ Er schüttelte Abbys Vater die Hand, verlagerte dabei möglichst unauffällig das Gewicht, um den Schmerz zu lindern, bevor sein linkes Bein ihm den Dienst versagte.

„Eigentlich ist er ein Freund von Shane.“ Abby wollte erst gar keinen falschen Eindruck entstehen lassen. „Und auch Chirurg. Sie waren zusammen zur Fortbildung in Peking. Ich habe ihn zum Essen eingeladen.“ Sie öffnete die Tür. „Überrede ihn, ja, Dad? Bin gleich wieder da, ich will nur nach Mom sehen.“

„Ist das wahr?“ Hocherfreut musterte ihr Vater Nick. „Sie waren mit Shane in China? Ich möchte gern mehr davon hören, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Nick hätte schwören können, dass er hinter sich eine Gefängnistür dumpf ins Schloss fallen hörte. Wie sollte er aus dieser Situation wieder herauskommen? Er war drauf und dran, einfach zu gehen, bis ihm klar wurde, dass er den Monroes mehr als nur ein paar Minuten seiner Zeit schuldete. Shane hatte sie seine Ersatzfamilie genannt.

Außerdem erwartete ihn nichts und niemand. Höchstens ein leeres Motelzimmer. Jahrelang war Nick durch die Welt gereist und hatte seine Unabhängigkeit genossen. Erst nach dem Unfall merkte er, dass ihm ein Zuhause fehlte, eine Familie.

„Nein, Sir, natürlich nicht.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. Einige Stunden länger ohne Schmerzmittel würde er auch noch aushalten. „Ich bleibe gern zum Essen.“

„Wunderbar! Kommen Sie rein.“ Abe lachte herzhaft, zog die Tür auf und deutete einladend ins Innere des Hauses. „Ich werde Alaina sagen, sie soll noch ein Gedeck auflegen.“

Sie hatte Schwierigkeiten, sich auf ihre Mutter zu konzentrieren. Von unten drang Nick Thomsons volle männliche Stimme zu ihr herauf, und Abby musste sich eingestehen, dass der hochgewachsene, dunkelhaarige Fremde sie ein wenig durcheinandergebracht hatte.

Natürlich war er nicht wirklich ein Fremder. Shane hatte Nick in seinen Briefen oft erwähnt und erzählt, wie sie nach endlos langen Stunden im OP wie Touristen durch Peking streiften, um die Sehenswürdigkeiten zu entdecken. Außerdem war Shane von Nicks chirurgischen Fähigkeiten stark beeindruckt gewesen. Welch ein Jammer, dass der Mann sich verletzt hatte.

„Au!“, schrie ihre Mutter auf.

„Entschuldige, Mom.“ Abby riss sich zusammen, während sie ihrer Mutter aus der Badewanne half. „Ich wollte nicht an dein Knie stoßen. Komm, leg den Arm um meine Schulter und stütz dich auf mich.“

„Schon gut, mein Kind.“ Mrs. Monroe lächelte. „Hattest du heute einen harten Tag?“

„Es war nicht anstrengender als sonst auch.“ Behutsam half sie ihr. „Ausgezeichnet, Mom, in ein paar Wochen schaffst du es wahrscheinlich mühelos ganz allein hinein und wieder heraus.“

„Ich weiß nicht.“ Seufzend ließ ihre Mutter sich auf den Stuhl sinken. „Kannst du deine Abreise nicht um zwei Monate verschieben? Bis ich Alaina nicht mehr brauche? Sie hat doch schon genug zu tun mit ihren Kindern.“

Abby unterdrückte den Protest, der ihr schon auf der Zunge lag. Sie wusste, dass ihre Mutter ihr kein schlechtes Gewissen machen wollte.

Leider bekam sie doch eins.

„So, jetzt ziehen wir dich an. Wir haben einen Gast zum Abendessen.“

„Tatsächlich?“ Wie Abby gehofft hatte, munterte die Aussicht auf Gesellschaft ihre Mutter auf. „Wen denn?“

„Dr. Nick Thomson, ein Freund von Shane.“ Sie half ihr in den Bademantel. „Lass uns in dein Schlafzimmer gehen, und du sagst mir, was du anziehen möchtest.“

„Ein Freund von Shane?“ Abbys Mutter griff nach dem Gehgestell. „Oje.“

Genau. Abby unterdrückte einen Seufzer. Seit Shanes Tod hatte sie sich nicht für Männer interessiert, aber Nick Thomson … sie wäre keine echte Frau, wenn ihr nicht aufgefallen wäre, wie gut er aussah!

Aber im Grunde brannte sie doch nur darauf, von seinen Reisen zu hören, oder? Ihr Puls beschleunigte. Peking! Wie sehr hatte sie sich gewünscht, die Verbotene Stadt zu sehen, die Ming-Gräber, von denen Shane berichtet hatte. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie es war, ein Land zu bereisen, dessen Sprache man nicht beherrschte. Ja, es wurde Zeit, dass sie ihr eigenes Leben führte und ihre eigenen Abenteuer erlebte!

Bald würde sie als Traveling Nurse, als sogenannte Reisekrankenschwester, arbeiten, was bedeutete, immer eine Zeit lang an einem Krankenhaus zu arbeiten und dann an einem anderen Ort eine neue Stelle anzutreten, und ihr Heimatland richtig kennenlernen. Allerdings sparte sie bereits seit einiger Zeit für ein größeres Projekt – einen Aufenthalt im Ausland.

Sie konnte es kaum erwarten, ihr Zuhause und Wisconsin endlich zu verlassen. Nicht dass sie nicht gelegentlich ihre Familie besuchen wollte, aber als Jüngste hatte sie zusehen müssen, wie ihre Geschwister und natürlich auch Shane einer nach dem anderen zu unbekannten Ufern aufbrachen, und sie hatte alle glühend beneidet.

Alaina war zurückgekehrt, um Scott zu heiraten, und Abby war immer noch nicht so weit gewesen, ebenfalls in die Ferne aufzubrechen. Zuerst brauchte sie die nötigen Qualifikationen für ihre Arbeit als Reisekrankenschwester.

Dann kam die Nachricht von Shanes tödlichem Unfall, und wenig später brach ihre Mutter sich die Hüfte. Immer wieder hatte Abby ihre Pläne zurückgestellt, und sie wusste, ginge es nach ihrer Familie, würden sie sie nie weglassen. Sie würden sie weiterhin bemuttern und beschützen, als sei sie nicht in der Lage, auf sich selbst aufzupassen.

Abby wollte weg. Sie schmeckte praktisch die Küche der Südstaaten auf der Zunge und spürte die salzige Gischt im Gesicht, wenn sie sich vorstellte, wie sie an der felsigen Atlantikküste stand.

Ihr Herz klopfte. Oh ja, sie konnte es wirklich kaum erwarten!

Hingerissen hörte Abby zu, als Nick beschrieb, wie er zusammen mit Shane die Chinesische Mauer besucht hatte. Sie sah sie vor sich, wie sie sich wie eine kantige Steinschlange durch grüne Bergketten zog. Auf einmal erschien es ihr ein wenig lahm, nach Florida zu fahren.

Vielleicht sollte sie ihr ursprüngliches Ziel, alle fünfzig US-Bundesstaaten zu bereisen, überdenken. Es wäre doch viel besser, jetzt, wo sie noch jung war, die ferne Welt zu entdecken. Ihre Heimat konnte sie immer noch erkunden. Ob es möglich war, als Reisekrankenschwester auch im Ausland zu arbeiten? Welche Unterschiede gab es zu den Krankenschwestern in anderen Ländern? Sie erinnerte sich, in einer Fachzeitschrift einen Artikel über europäisches Pflegepersonal gelesen zu haben, und …

Autor

Laura Iding
Laura Iding hat zwei aufregende Leben: Tagsüber arbeitet sie als Krankenschwester und nachts ist sie Autorin. Schon als Teenager fing sie an zu schreiben - und hat bis heute nicht damit aufgehört. Ihr absolutes Lieblingsgenre ist, wie könnte es anders sein, der Arztroman.
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