Schneestürme, Bräute & Babys (3-teilige Serie)

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GESUCHT WIRD - DIE BRAUT

In letzter Minute hat Nora ihren Zukünftigen vor dem Altar stehen lassen und sich nach Clover Creek geflüchtet. Dumm nur, dass sie dort auf Sheriff Sam Whittaker trifft - denn ein Blick in seine Augen reicht, und Nora ist verloren! Kann sie ihren Gefühlen diesmal trauen?

VERTREIB DIE KÄLTE DIESER NACHT

Ryan McCoy braucht eine Verlobte, und zwar schnell! Da weht ihm ein Schneesturm die passende Kandidatin buchstäblich vor die Füße: Grace Tennessen. Wird ihm die hübsche Lehrerin aus der Klemme helfen? Ryan setzt alles auf eine Karte und beginnt, um Grace zu werben.

NICHT OHNE LIEBE - DARLING

"Es tut schrecklich weh!" Noch immer leidet Edmund unter dem Verlust seines besten Freundes - und wagt nicht, sich seine geheimsten Gefühle für dessen Frau Emily einzugestehen. Edmund ist verzweifelt. Wie kann er Emily für sich gewinnen? Da kommt ihm eine zündende Idee …


  • Erscheinungstag 21.11.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728472
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Cathy Gillen Thacker

Schneestürme, Bräute & Babys (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

Gesucht wird – die Braut erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 1998 by Cathy Gillen Thacker
Originaltitel: „Snowbound Bride“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe COLLECTION BACCARA
Band 152a - 1999 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Brigitte Marliani-Hörnlein

Abbildungen: altafulla/Shutterstock

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733787646

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY, CORA CLASSICS

 

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1. KAPITEL

„Das darf doch nicht wahr sein! Ausgerechnet heute soll es den Schneesturm des Jahrhunderts geben, wenn Gus kommen und uns seine zukünftige Frau vorstellen will!“ Die vierundsiebzig Jahre alte Clara Whittaker machte ein besorgtes Gesicht.

Sam Whittaker beobachtete seine Großmutter, die noch letzte Hand an die bereits tadellos aufgeräumte Küche legte. Danach wollte sie das Haus verlassen, um in dem Kaufhaus zu arbeiten, das der Familie gehörte.

„Keine Sorge, Grandma, Gus wird heil in Clover Creek ankommen“, versicherte er ihr. „Aber was seine zukünftige Frau betrifft …“ Sam hielt inne. Er wollte seine hoffnungslos romantische Großmutter nicht enttäuschen und suchte nach Worten. „Gus hat für heute Nachmittag um vier Uhr nur eine Überraschung angekündigt. Von einer bevorstehenden Heirat war überhaupt nicht die Rede.“

„Ich weiß nicht, was er euch gesagt hat. Aber ich habe aus seinen Worten herausgehört, dass er uns heute seine Braut vorstellen wird. Da bin ich mir ganz sicher.“ Clara blickte besorgt aus dem Fenster. Dunkle Sturmwolken brauten sich am Himmel zusammen.

„Vielleicht hast du recht“, murmelte Harold Whittaker nachdenklich, als er für sich und seine Frau die Stiefel brachte. „Gus hat immer gesagt, dass er spätestens mit fünfunddreißig heiraten würde. Und am Samstag wird er fünfunddreißig Jahre alt.“

„Ich frage mich nur, wie Gus uns seine Traumfrau vorstellen wird“, meinte Kimberlee, Sams siebzehnjährige Schwester. Sie strich sich die langen, goldbraunen Haare aus dem Gesicht. „Ihr wisst doch, dass Gus es niemals auf die normale Art und Weise tun würde.“

„Das ist die Untertreibung des Jahres“, meinte Sam, denn sein älterer Bruder hatte eine Vorliebe für spektakuläre Aktionen. „Es wird das reinste Happening werden.“

Die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel. Sie waren winzig, und es war kaum vorstellbar, dass sie die Vorboten des Schneesturms sein sollten. Doch man musste die Wettervorhersagen ernst nehmen und sich auf den schlimmsten Fall vorbereiten.

Sam wusste, dass er als Sheriff in einigen Stunden alle Hände voll zu tun haben würde. Und jeder andere hier an der Ostküste auch. In einigen Städten würde der Strom ausfallen, ganze Ortschaften würden in Eis und Schnee versinken. Unglückliche Reisende würden stecken bleiben – wahrscheinlich an den am wenigsten zugänglichen Orten zu der ungünstigsten Zeit. Und die Schule würde überall ausfallen.

Clara lächelte. „Weißt du, Sam, du solltest dir ein Beispiel an deinem Bruder nehmen und dir auch eine Frau suchen.“

Sam verdrehte die Augen. Er war erst seit anderthalb Jahren wieder in West Virginia, aber in dieser Zeit hatte seine Großmutter schon unzählige Male versucht, ihn zu verkuppeln. Jedes Mal gegen seinen Willen und ohne sein Wissen. Und jedes Mal erfolglos. Trotzdem gab sie nicht auf.

„Du wirst schließlich nicht jünger“, fuhr sie fort.

„Ich bin gerade dreißig geworden“, murmelte Sam. Er konzentrierte sich auf die Wettervorhersage im Fernsehen. An der ganzen Ostküste rechnete man mit Neuschnee bis zu einem Meter Höhe. Dazu Eisregen.

„Wenn du wüsstest, was die Frauen hier in der Gegend erzählen!“, neckte Kimberlee ihn. „Sie behaupten, dass es noch keine Frau geschafft hat, dein Interesse für länger als fünf Sekunden zu wecken!“

Sam zuckte mit den Schultern, sein Blick war auf die Wetterkarte gerichtet. Es würden ihm noch einige Stunden bleiben, um sich auf die kritische Lage vorzubereiten.

„Wenn die Richtige kommt, werde ich es schon merken“, erwiderte er zerstreut und schaltete den Fernseher aus. „Und bis dahin hört auf, mich verkuppeln zu wollen. Ihr verschwendet nur eure Zeit. Es bringt sowieso nichts.“ Er knöpfte den obersten Knopf seines kakifarbenen Hemdes zu und band sich die schwarze Krawatte.

Sams Großeltern und seine Schwester tauschten skeptische Blicke, während auch sie sich für die Arbeit und die Schule vorbereiteten. Zusammen verließen alle vier das Haus.

„Ich habe klare Vorstellungen von meiner Traumfrau“, fuhr Sam fort. „Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich sie nicht wieder loslassen.“

„Das hoffe ich“, murmelte sein Großvater. Er hielt seiner Frau die Autotür auf.

Sams Eltern waren glücklich verheiratet gewesen, und seine Großeltern waren es jetzt noch. Sie führten eine Ehe, die nichts und niemand auseinanderreißen konnte. Das wünschte sich Sam auch, und dafür war er gern bereit, noch länger auf die Frau seiner Träume zu warten.

„Und bis dahin habe ich einen Job auszufüllen“, sagte er entschieden und warf einen Blick auf die feinen Schneeflocken, die vom Himmel fielen.

Nora Kingsley konnte es nicht glauben. Vor wenigen Minuten hatte sie im Autoradio gehört, dass ein verheerender Schneesturm erwartet wurde. So wie sie ihren herrischen Vater und ihren dominanten Ex-Verlobten einschätzte, hatten die beiden wahrscheinlich schon die Fahndung nach ihr eingeleitet und ein ganzes Polizeiaufgebot mobilisiert. Das Schlimmste von allem aber war, dass sie in diesem verdammten Kleid feststeckte!

Egal was sie tat, der Reißverschluss ihres Brautkleides ließ sich nicht bewegen. Und so war sie buchstäblich gefangen in diesem erlesenen, bodenlangen Kleid aus Satin und Spitze.

Seufzend gab sie den Kampf mit dem Reißverschluss auf, ging ans Waschbecken und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Das Make-up war verwischt. Ihr herzförmiges Gesicht glühte vor Wut über die Demütigung, und ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Kein Wunder, dass ich ein Nervenbündel bin, dachte Nora und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Der Tag war die Hölle gewesen, und leider war er noch nicht vorbei.

Sie erneuerte ihr Make-up und legte etwas Lippenstift auf. Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein dürfen. Tief im Herzen hatte sie gewusst, dass sie keinen Mann heiraten sollte, den sie zwar von klein auf kannte und mochte, aber nicht liebte. Doch leider hatte sie sich von ihrem Vater und ihrem Verlobten zu diesem Schritt überreden lassen.

Nur um dann eine Viertelstunde vor der Zeremonie unfreiwillig Zeugin einer geheimen Besprechung zwischen ihrem Vater und Geoffrey zu werden und herauszufinden, dass Geoffrey durch die Heirat mehr als nur eine Ehefrau bekam! Er sollte nämlich von ihrem Vater eine stattliche Summe erhalten, sobald die Trauung vollzogen war.

Nora zog eine Grimasse, als sie an die Gefühle dachte, die sie in dem Moment durchlebt hatte. Schock, Demütigung, verletzter Stolz und dann grenzenlose Wut. Hielt ihr Vater sie für so wenig attraktiv, dass er glaubte, sie nur mit einer großzügigen und heimlich ausgezahlten Mitgift an den Mann bringen zu können?

Okay, vielleicht hätte ich die beiden sofort zur Rede stellen sollen, dachte sie, als sie den Schleier vom Kopf nahm. Aber da die Hochzeitsgäste schon in der Kirche versammelt waren, hatte sie in einer Konfrontation keinen Sinn gesehen. Außerdem wollte sie sich keine langatmigen Erklärungen von ihrem Vater und Geoffrey anhören.

Sie musste nicht einmal das großzügige Abkommen lesen, das ihr Vater Geoffrey anläßlich der Hochzeit zur Unterschrift vorlegte, um zu wissen, dass sie im Begriff war, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen.

Also hatte sie das einzig Richtige in dieser Situation getan. Sie hatte sich entschuldigt und gesagt, dass sie noch einen Moment für sich brauchte, und dann eine Notiz geschrieben, dass die Hochzeit geplatzt sei. Dann hatte sie ihre Alltagskleidung genommen und war in den Wagen gesprungen, den sie von ihrem Vater zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte.

Nora erinnerte sich, dass sie geweint hatte, als sie durch die vertrauten Straßen von Pittsburgh fuhr. Mittlerweile hatte sie sich gefasst, und ihr war klar, dass sie für einige Zeit weder zu ihrem Vater zurückkehren noch zu irgendeinem anderen Ort fahren würde, wo ihr Vater und Geoffrey sie zuerst suchen würden. Falls sie überhaupt jemals zurückkehrte!

Entschlossen machte sie sich auf den Weg in Richtung Süden. Und trotz der seltsamen Blicke, die ihr andere Autofahrer immer wieder zuwarfen – schließlich sah man nicht so oft eine Braut hinter dem Steuer eines Wagens –, setzte sie ihren Weg fort. Aus Pittsburgh hinaus, über die Staatsgrenze von Pennsylvania nach West Virginia. Erst als es zu schneien begann, war ihr bewusst geworden, dass sie irgendwann anhalten musste, um sich etwas Wärmeres anzuziehen.

Und jetzt steckte sie in diesem Kleid fest!

Nora nahm ihre Tasche und die Kleidungsstücke, die sie eigentlich anziehen wollte, und stürmte in die Tourismuszentrale, in der Hoffnung, eine Frau zu finden, die ihr den Reißverschluss öffnen würde. Leider war bei diesem Wetter niemand unterwegs, und das Gebäude war verlassen. Bis auf eine einzige Person.

Ausgerechnet ein Sheriff, dachte sie. Und dann noch so ein ausgesprochen gut aussehender …

Sam Whittaker hatte damit gerechnet, dass er bei dem Schneesturm die seltsamsten Dinge erleben würde, aber eine Braut ohne Bräutigam in der Tourismuszentrale an der Autobahn – das überstieg seine Vorstellungskraft. Und überdies eine so hübsche Braut, die wie ein Model aussah.

Ihre seidig glänzenden, dunkelbraunen Haare bildeten einen faszinierenden Kontrast zu ihrem leicht gebräunten Teint; die Haare umrahmten ihr herzförmiges Gesicht und fielen in sanften Locken auf ihre Schultern. Ihre dunkelgrünen Augen blickten lebhaft und gleichzeitig unschuldig. Sie war groß und gertenschlank und doch wohlproportioniert.

Das verführerische schulterfreie Kleid zeigte einen schlanken Hals und Schultern, die zum Küssen einluden. Sam verspürte plötzlich heftiges Verlangen. Wie gut, dass sie schon vergeben war und dass er nicht an Liebe auf den ersten Blick glaubte, denn wenn er es täte … dann wäre er versucht, sie zu entführen.

Es sei denn … Sam starrte die Frau vor sich an.

Nein. Es kann nicht sein, sagte er sich. Diese Frau war doch nicht etwa die Braut seines Bruders, oder?

Verärgert darüber, dass ihm so erotische Gedanken bei seiner möglichen Schwägerin kamen, blickte Sam aus dem Fenster und atmete tief durch. Auf dem Parkplatz stand außer seinem eigenen Wagen nur noch ein weiteres Auto. Und das war ein Volvo mit Vierradantrieb.

Es konnte unmöglich der Wagen von Gus sein, denn der würde niemals so ein praktisches Auto kaufen. Gus zog seinen Lamborghini vor. Außerdem hatte sein Bruder eine New Yorker Nummer und kam nicht aus Pittsburgh.

Sam atmete erleichtert auf und drehte sich wieder zu der Braut um. Vielleicht hatte sie überhaupt nichts mit seinem Bruder zu tun. Er sah sie an. Verdammt, sie hatte die schönsten Augen und den sinnlichsten Mund, den er je gesehen hatte.

„Ma’am.“

Sie hob den Kopf und holte tief Luft. Sam spürte, dass auch sie wie elektrisiert war. „Hallo“, murmelte sie.

„Sind Sie auf dem Weg zu Ihrer Hochzeit, oder kommen Sie von der Kirche?“, fragte Sam.

Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und setzte sich auf die Holzbank, die in der Lobby stand. Dann tauschte sie ihre hochhackigen weißen Schuhe gegen ein Paar dunkelgrüne Stiefel aus. „Weder noch. Die Hochzeit ist geplatzt“, erwiderte sie leise.

„Wegen des Wetters“, vermutete Sam. Sein Herz schlug wieder schneller, als er einen kurzen Blick auf ihre sensationellen Beine werfen konnte.

Sie zögerte und schien fast erleichtert, endlich mit einem Menschen darüber sprechen zu können. Doch dann sagte sie nur: „Das ist eine komplizierte Geschichte.“ Sie deutete auf die Informationstafel neben der Landkarte von West Virginia. „Was haben Sie gerade für eine Notiz angehängt?“, fragte sie.

Sam bemerkte, dass sie plötzlich nervös wirkte. Kein Wunder bei dem Wetter, vor allem, wenn sie vermutlich vor irgendetwas davonlief. Vielleicht vor dem Mann, den sie heute hatte heiraten sollen …?

„Es ist eine Notiz von der Wetterstation für die Reisenden“, sagte er und trat ein wenig näher an sie heran. „Es wird jedem geraten, nicht mehr zu fahren und möglichst im Haus zu bleiben.“ Es gab schon Meldungen, dass ein Lehrer und sieben Schüler vermisst wurden.

Die Braut biss sich auf die Unterlippe und warf einen besorgten Blick auf den dunklen Himmel. „Wird es wirklich so schlimm werden?“

Sam nickte. „Etwa hundert Meilen südlich von hier herrscht schon Katastrophenalarm.“

„Wann wird der Schneesturm hier sein?“, fragte sie.

Er warf einen Blick aus dem Fenster. Es schneite unaufhörlich, wenn auch leicht. „Wenn wir den Voraussagen trauen können, werden wir morgen eingeschneit sein.“

Sie ließ die Schultern hängen.

Sam nahm an, dass es nicht die erste schlechte Nachricht war, die sie an diesem Tag bekam. Er hatte Mitleid mit ihr. „Die nächste Ausfahrt ist etwa fünf Meilen entfernt. In dem Ort gibt es vier Hotels, zwei Tankstellen und einige Restaurants. Soviel ich weiß, sind noch Zimmer frei. Ich bin sicher, es wird Ihnen dort gefallen.“

„Liegt der Ort direkt an der Autobahn?“, fragte sie ängstlich.

„Ja“, erwiderte Sam.

Sie biss sich wieder auf die Lippen, nahm ihre Sachen und stand auf. „Ich verstehe.“

Sam trat näher zu ihr und reichte ihr die Hand. „Hören Sie, ich möchte Sie nicht drängen, aber angesichts der Wetterlage sollten Sie und Ihr Bräutigam sich jetzt wirklich auf den Weg machen.“

„Ich bin ohne Bräutigam unterwegs“, sagte sie und legte ihre schmale Hand in seine.

„Sind Sie allein hier?“, fragte Sam erstaunt.

„Ganz allein“, antwortete sie und zog die Hand zurück.

Sie standen sich gegenüber und sahen einander an. Sam konnte nur mit dem Kopf schütteln. Wenn sie seine Frau wäre, würde er sie nicht allein bei diesem Wetter herumlaufen lassen – und dann noch in ihrem Brautkleid. Wenn sie seine Frau wäre, würde er sie beschützen und sich um sie kümmern. Vor allem am Tag der Hochzeit! Dasselbe würde er bei seiner Schwester tun oder später bei seiner Tochter … Wo war nur die Familie dieser Frau? Ihre Freunde? Ihre Brautjungfern?

Sie schien zu ahnen, was er dachte, wollte aber nicht auf das Thema eingehen. „Hören Sie, ich muss endlich aus diesem Kleid herauskommen. Normalerweise würde ich einen Fremden nicht um Hilfe bitten, aber ich bin völlig allein hier. Das Kleid ist für dieses Wetter nicht geeignet, und Sie sind ein Sheriff …“

Sams Herz schlug schneller. „Sie möchten, dass ich Ihnen helfe?“, fragte er zögernd.

„Nur beim Reißverschluss. Er klemmt.“ Ungeduldig drehte sie sich um und bot ihm ihren schlanken Rücken dar. „Wenn Sie den Anfang machen könnten“, drängte sie ihn. „Ich bin sicher, dass ich dann allein zurechtkomme.“

„Kein Problem“, log Sam. Seine Kehle war völlig trocken, als er einen Schritt vortrat, um ihr zu helfen. Sie erbebte leicht, doch er wusste nicht, ob es an der Kälte lag oder an seiner Berührung.

Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Ihre Brüste hoben und senkten sich unter der mit Perlen verzierten Korsage ihres Kleides. Sam verzog das Gesicht und konzentrierte sich auf den Reißverschluss. Doch jedes Mal, wenn er mit den Fingerspitzen ihre Haut berührte, war er wie elektrisiert. Und ihr Parfum … Der Duft war unglaublich. Leicht, verführerisch, wie ein Blütentraum.

„Schaffen Sie es?“, fragte sie nach einem Moment ungeduldig.

„Nein“, erwiderte Sam. „Nicht ohne das Kleid einzureißen.“ Bedauernd ließ er die Hände sinken und trat einen Schritt zurück. Sein Puls raste, und seine Gedanken waren nicht so züchtig und zurückhaltend, wie sie unter diesen Umständen sein sollten.

„Tut mir leid“, murmelte er und warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Er konnte sich vorstellen, wie unangenehm es war, bei einem Schneesturm in einem Brautkleid zu stecken. „Vielleicht, wenn Sie ins Hotel kommen …“

Ihre Blicke trafen sich. „Richtig.“ Sie schluckte. „Natürlich. Ich werde jemanden finden – eine Frau, die mir helfen kann. Trotzdem, vielen Dank“, fügte sie hastig hinzu. Sie wollte ihre Sachen nehmen, überlegte es sich dann aber anders. Nach kurzem Zögern zog sie sich ihren grauen, grob gestrickten Pullover über den Kopf.

Jetzt war ihr wärmer, auch wenn der Pullover über dem eleganten Hochzeitskleid ein wenig seltsam aussah. Sie nahm ihre restlichen Sachen und ging zum Ausgang.

Sam hielt ihr die Tür auf. Plötzlich aber wurde ihm bewusst, dass er sie nicht einfach gehen lassen wollte. „Ich bringe Sie zum Wagen.“

„Danke, aber das ist wirklich nicht nötig.“

„Ich bestehe darauf.“ Er folgte ihr zum Wagen und hielt ihr die Autotür auf.

„Danke“, murmelte sie.

„Gern geschehen.“

Er sah zu, wie sie ihre Sachen auf den Rücksitz warf, dann ihr Kleid ein wenig hob und auf dem Fahrersitz Platz nahm.

„Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte er, überzeugter denn je, dass sie vor irgendetwas davonlief.

„Alles in Ordnung, Sheriff. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Die Braut lächelte ihn munter an, dann schloss sie die Tür, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und ließ den Motor an. Sam blickte ihr nach, als sie langsam von dem Parkplatz fuhr.

Nora gehörte nicht zu den Frauen, die bei einem Mann in Uniform in Verzückung geraten. Doch sie musste sich eingestehen, dass dieser gut aussehende Fremde in der kakifarbenen Uniform und dem Stetson einen unvergesslichen Eindruck auf sie gemacht hatte. Schon im ersten Moment war sie fasziniert von ihm gewesen, und sein charmantes Lächeln hatte das Kribbeln in ihrem Körper noch verstärkt.

Vermutlich war er etwas älter als sie mit ihren neunundzwanzig Jahren. Und wie sie schien auch er seinen eigenen Willen zu haben. Außerdem war er unbeschwert und hatte die unwiderstehlichsten Augen, die sie je gesehen hatte. Er war über einen Meter achtzig groß – wenn ihr Augenmaß stimmte –, hatte eine athletische Figur und Schultern, die breit genug waren, dass eine Frau sich anlehnen konnte, und stark genug, um ihr Schutz zu bieten.

Schade, dass er Sheriff ist, dachte Nora. Er würde irgendwann Fragen stellen müssen, die sie nicht beantworten wollte. Sie verdrängte den gut aussehenden Mann aus ihren Gedanken und überlegte, wie und wo sie den Sturm überstehen sollte.

Als Gepäck hatte sie nichts weiter als einen Koffer mit Skikleidung bei sich, ihr Hochzeitskleid, den Pullover und die Jeans, die sie heute Morgen beim Friseur getragen hatte. Gott sei Dank hatte sie auch die Reiseschecks und das Bargeld eingesteckt, das sie für die Flitterwochen besorgt hatte. Sie wollte ihre Kreditkarten lieber nicht benutzen, denn dann wäre es einfach für ihren Vater, ihre Spur zu verfolgen.

Jetzt aber musste sie zunächst einmal einen sicheren Platz für sich finden, bevor die Straßen unpassierbar wurden. Sie verließ die Autobahn. Da sie es für unklug hielt, in der Nähe der Autobahn zu übernachten – dort würde ihr Vater als erstes suchen –, fuhr sie an zwei Hotels, vier Restaurants und einer Tankstelle vorbei, bis sie an eine größere Kreuzung gelangte und ein Hinweisschild entdeckte: Clover Creek 30 Meilen. Pleasantville 15 Meilen.

Nora war noch nie in West Virginia gewesen und kannte weder die eine noch die andere Stadt. Allerdings erinnerte sie sich dunkel, dass ihr irgendjemand einmal von der kleinen Stadt Clover Creek am Ende der Welt erzählt hatte. Während sie noch überlegte, für welche Stadt sie sich entscheiden sollte, fuhr ein Schneepflug an ihr vorbei in Richtung Clover Creek.

Kurz entschlossen bog sie nach links ab und folgte dem Schneepflug.

Entzückt stellte Nora fest, dass das Stadtbild von Clover Creek eine gelungene Mischung aus alt und neu war. Entlang der Hauptstraße befanden sich die Geschäfte: auf der einen Seite ein Lebensmittelgeschäft, eine Kunstgalerie, eine Boutique, eine Apotheke, ein Schönheitssalon, zwei Restaurants, ein Kino und ein Zeitungsladen.

Auf der anderen Seite eine Tankstelle, eine Buchhandlung, die Post, ein Antiquitätengeschäft, ein Immobilienmakler, die Polizei- und Feuerwehrstation. In den Seitenstraßen lagen Schulen und Kirchen und schöne Wohnhäuser im viktorianischen Stil.

Da die Straßen schon schneebedeckt waren, hatte Nora erwartet, dass die Stadt verlassen sein würde.

Doch es herrschte reger Betrieb. Die Parkplätze waren belegt, und Menschen jeden Alters kamen mit Tüten beladen aus den Geschäften. Einige von ihnen schienen sich mit Schneeschiebern und Streusalz einzudecken, andere mit Büchern und Videos. Nora konnte nirgendwo ein Hotel entdecken, doch sie vermutete, dass es in dieser kleinen, geschäftigen Stadt zumindest eine Pension mit Frühstück gab. Sicherlich würde man ihr in einem Geschäft weiterhelfen können.

Wie erwartet erregte ihr Erscheinen im Brautkleid, im dicken Pullover und in den schweren Stiefeln große Aufmerksamkeit. Kaum hatte sie Whittaker’s Kaufhaus betreten, näherten sich ihr drei Personen. Eine sympathische, ältere Frau, ein hübscher Teenager mit langen, goldbraunen Haaren, und ein älterer Herr mit kurzen Haaren und einem gepflegten Bart.

Die Frau begrüßte Nora mit einem warmen Lächeln und zwinkerte fröhlich. „Ich bin Clara Whittaker.“ Sie streckte die Hand aus. „Das sind mein Mann Harold und meine Enkeltochter Kimberlee.“

„Hallo. Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Nora.“ Sie zog es vor, ihren Nachnamen nicht zu nennen.

„Das ist ein wunderschönes Brautkleid“, sagte Kimberlee.

„Danke.“ Nora lächelte den Teenager an.

„Sie sind wohl auf dem Weg zur Trauung?“, fragte Clara Whittaker. Ihr Lächeln wurde noch breiter.

„Nicht direkt“, erwiderte Nora ehrlich. Erst muss ich den richtigen Mann finden, setzte sie in Gedanken hinzu.

„Wo ist denn der Bräutigam?“

Nora machte ein verschlossenes Gesicht. „Er ist im Moment nicht da“, sagte sie schließlich.

„Wissen Sie, wann er hier eintreffen wird?“, fragte Kimberlee.

„Nein, ich weiß nicht, wann er kommen wird. Vermutlich schafft er es nicht mehr vor dem Sturm.“

Nora beschloss das Thema zu wechseln, bevor noch mehr Fragen kamen, die sie nicht beantworten wollte. Sie deutete auf ein Foto von Gus Whittaker zusammen mit zwei Teamkollegen von den „New York Knicks“. „Sind Sie mit Gus Whittaker verwandt?“

Clara und Harold nickten stolz. „Er ist unser Enkel.“

„Wirklich?“ Also hatte Gus Whittaker ihr von Clover Creek erzählt. Deshalb hatte sie sich an den Namen erinnern können. Warum grinsen sie denn alle so komisch? dachte Nora.

„Ich habe ihn vor einigen Jahren kennengelernt, als ich für L & B gearbeitet habe, eine Werbeagentur in New York City. Er war zu einer Party der Agentur eingeladen. Und Sie kennen ja Gus.“ Nora lächelte. „Er lässt nichts anbrennen.“

„Seid ihr beiden von Anfang an gut miteinander ausgekommen, gleich beim ersten Kennenlernen?“, fragte Kimberlee. Ihre Augen funkelten vor Neugier.

Nora zögerte. Sie wusste nicht recht, wie sie die Frage beantworten sollte. Es war offensichtlich, dass Gus von der ganzen Familie angehimmelt wurde. „Nun, ja“, erwiderte sie schließlich. Dann fügte sie zögernd hinzu: „Obwohl das erste Treffen ziemlich hektisch war mit all den Leuten auf der Party und dem ganzen Lärm …“

„Natürlich …“ Alle nickten.

Die Türglocke kündigte an, dass jemand in das Geschäft kam. Nora drehte sich um. Ihr fiel die Kinnlade hinab, als der attraktive Sheriff auf sie zukam, den sie vorhin kennengelernt hatte. Sie starrte ihn an und konnte kaum glauben, dass sich ihre Wege noch einmal gekreuzt hatten!

„Später haben Sie Gus dann näher kennengelernt?“, fragte Clara.

Mit klopfendem Herzen nahm sie ihren Blick von dem Sheriff und lächelte Gus’ Familie an. „Ja, das könnte man so sagen. Er ist ein netter Kerl.“

Wieder strahlten alle stolz über das Kompliment.

Nora warf einen schnellen Blick auf den Sheriff, der sich gerade mit anderen Kunden unterhielt, sie dabei aber nicht aus den Augen ließ. Ob er ihretwegen hier war oder rein zufällig, konnte Nora seinem Blick nicht entnehmen.

„Wann wird Gus in Clover Creek ankommen?“, fragte Harold, während der Sheriff zu ihnen kam und neben Nora stehen blieb.

„Ich kann es wirklich nicht sagen“, erwiderte Nora mit etwas heiserer Stimme. Warum stellte man ihr diese Frage? „Ich habe schon länger nicht mit Gus gesprochen.“

Harold lächelte, sah den Sheriff an und dann wieder Nora. „Haben Sie Sam schon kennengelernt?“

Nora blinzelte. „Wen?“

„Unseren zweiten Enkel!“, erwiderte Harold und deutete auf den Sheriff.

Nora atmete tief ein und aus, als sie und der Sheriff sich schweigend ansahen. Oh nein! „Sie sind …“

„Gus Whittakers jüngerer Bruder Sam“, bestätigte er lächelnd. „Und Sie sind …?“

„Nora“, sagte sie.

„Nora“, erwiderte Sam. Er betrachtete sie und fragte mit tiefer, warmer Stimme: „Haben Sie auch einen Nachnamen?“

„Ja“, erwiderte sie und blickte direkt in seine goldbraunen Augen.

„Sie ist eine sehr gute Freundin von Gus aus New York City“, erklärte Harold.

„Einen Moment“, unterbrach Nora hastig. „Ich habe nie gesagt, dass Gus und ich näher befreundet sind.“ Sie und Gus waren eher weitläufige Bekannte.

„Das wissen wir, meine Liebe.“ Clara tätschelte Noras Arm.

„Wir wissen, dass Gus es uns selbst erzählen möchte“, strahlte Harold.

„Was will er Ihnen erzählen?“, fragte Nora verwirrt. „Wovon sprechen Sie eigentlich?“

„Es ist schon in Ordnung, wir wissen alles.“ Harold bedachte sie mit einem warmherzigen Blick.

Nora wusste zwar nicht, worüber die Whittakers sprachen, spürte aber, dass sie es ernst meinten. „Was wissen Sie?“

Clara strahlte glücklich. „Sie sind die Verlobte von Gus!“

2. KAPITEL

Nora holte tief Luft und sagte so freundlich wie möglich: „Ich weiß, dass der angekündigte Schneesturm einiges durcheinanderbringt, aber Gus und ich werden nicht heiraten, weder heute noch sonst irgendwann.“

Enttäuschung sprach aus den Gesichtern der Whittakers.

„Warum haben Sie dann dieses Kleid an?“, fragte Kimberlee. „Und warum sind Sie genau um vier Uhr in Clover Creek angekommen?“

Gute Frage, dachte Nora. Sie hätte genauso gut in die andere Richtung fahren können. Was hatte sie nach Clover Creek geführt? Das Schicksal?

Sam sah ihr tief in die Augen. „Auf die Antwort bin ich auch gespannt“, murmelte er.

Nora erkannte, dass sie niemanden finden würde, der ihr aus dem Kleid half, bevor sie nicht eine Erklärung abgegeben hatte. „Ich fürchte, dass hier ein Missverständnis vorliegt“, sagte sie und blickte Sam direkt an. Er schien merkwürdigerweise der einzige zu sein, der hoffte, dass sie Gus nicht heiratete. „Ich weiß nicht, warum alle der Meinung sind, ich sei in Ihren Bruder verliebt“, begann sie. „Aber ich versichere Ihnen, dass es nicht der Fall ist. Gus und ich sind gute Bekannte. Mehr nicht!“

Als sie die skeptischen Blicke der Familienmitglieder bemerkte, stöhnte sie laut auf. „Glaubt mir denn hier niemand?“, fragte sie Sam.

„Anscheinend nicht. Aber die Geschichte kann ganz einfach geklärt werden. Erzählen Sie uns einfach, wer Sie sind, woher Sie kommen und wen Sie heute heiraten wollten.“

Das fehlte Nora gerade noch! Sie war es leid, sich wieder einmal sagen lassen zu müssen, was sie tun sollte! Daher verschränkte sie trotzig die Arme vor der Brust. „Ich wüsste nicht, warum ich irgendjemandem hier eine Erklärung schuldig bin“, gab sie aufsässig zurück. Hatte sie nicht schon genug von ihrem Privatleben enthüllt?

Sam zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht.“

„Schön.“ Nora zuckte ebenfalls mit den Schultern. „Ich werde auch nichts erklären.“

„Wenn Sie allerdings den Spekulationen über Gus und Sie ein Ende bereiten wollen, dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als einige Fragen zu beantworten.“

Damit dann jemand bei ihrem Vater anrief? Natürlich sagte ihr eine innere Stimme, dass sie sich als pflichtbewusste Tochter bei ihrem Vater melden müsste, doch im Moment hatte sie genug von der Bevormundung. Nora war noch nicht in der Lage, mit ihrem Vater zu sprechen. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass meine Hochzeit geplatzt ist“, sagte sie und versuchte gar nicht erst, ihre Wut auf ihn zu unterdrücken.

„Wann haben Sie das getan?“, fragte Clara.

„Vor etwa einer Stunde in der Tourismuszentrale an der Autobahn.“

„Ihr habt euch also schon kennengelernt?“, stieß Harold hervor.

„Kurz“, bestätigte Sam.

„Und mehr habe ich zu dem Thema nicht zu sagen“, fuhr Nora fort. Ob es ihnen nun passte oder nicht, Sam und die Whittakers und jeder andere in Clover Creek würde das akzeptieren müssen.

Glücklicherweise klingelte genau in diesem Moment das Telefon.

Clara ging an den Apparat. „Whittaker’s Kaufhaus“, meldete sie sich. „Gus! Wir warten schon lange auf dich! Warte, ich stelle den Lautsprecher an, damit dich alle hören können. Wo bist du?“

„Ich hänge in der Stadt fest!“, rief Gus Whittaker ins Telefon. Im Hintergrund hörte man eine Hupe und quietschende Bremsen. „Grandma, ist die schöne Lady schon angekommen?“

Alle drehten sich zu Nora um und grinsten, als sei ihr Geheimnis nun gelüftet worden.

Sie konnte nicht verhindern, dass sie errötete.

„Die schöne Lady ist unversehrt angekommen“, erwiderte Clara fröhlich. „Aber es wäre netter gewesen, wenn du auch hier gewesen wärst, um ihre Ankunft mitzuerleben.“

„Ich weiß, aber … Ist sie nicht eine Schönheit?“

„Und was für eine“, erwiderte Sam und drehte sich zu Nora um.

Ihr Puls ging automatisch schneller.

„Ihr passt doch gut auf sie auf, bis ich ankomme?“, fragte Gus besorgt. „Könnt ihr sie auch irgendwo unterbringen? Vielleicht bei euch, Grandma?“

„Mach dir keine Sorgen, Gus, wir werden ein Plätzchen finden“, sagte Sam.

„Großartig.“ Am anderen Ende der Leitung hörte man Gus erleichtert aufatmen. „Und sobald ich bei euch bin, werden wir ihren Namen ändern.“

Bei diesen Worten nickten und zwinkerten sich alle zu. Sam betrachtete sie gespannt. Nora verdrehte nur die Augen.

Im Hintergrund hörte man ein Hupkonzert. „So, ich werde jetzt besser …“, begann Gus.

Clara runzelte die Stirn. „Warte. Willst du nicht mit noch jemandem sprechen?“, fragte sie hastig. Sie meint natürlich mich, dachte Nora.

„Das würde ich gern tun, Grandma“, erwiderte Gus, „aber …“ Die Sirene eines Krankenwagens wurde lauter. „Da ist ein …“ Bremsen quietschten. „Ein Unfall …“ Wieder Gehupe. Das Geheul der Sirene war ohrenbetäubend laut. „Später.“

In dem Moment war die Verbindung schon unterbrochen, und alle wandten sich Nora zu.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll“, sagte sie. Sie wusste genau, was alle dachten. Man konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Gus hatte von der Ankunft einer Schönheit gesprochen, und da sonst niemand gekommen war, musste seine Familie natürlich annehmen, dass Nora die besagte Schönheit war.

„Ist schon in Ordnung, Liebes, Sie müssen nichts mehr sagen“, sagte Clara Whittaker und tätschelte freundschaftlich Noras Hand. „Wir können uns alle vorstellen, was Gus gemeint hat. Es ist schließlich offensichtlich.“

„Die schöne Lady ist hier, und Gus …“

„Jetzt reicht es aber!“, rief Nora aufgebracht. „Wie oft muss ich noch sagen, dass ich nicht mit Gus Whittaker verlobt bin!“

Im Gegensatz zu allen anderen glaubte Sam ihr. Ihre Nervosität bestärkte ihn aber in der Annahme, dass sie etwas verbarg. Vielleicht brauchte sie Hilfe. Seine Hilfe.

Im Gegensatz zu Nora hielt er nichts davon, vor Problemen wegzulaufen. Man musste sich ihnen stellen und so schnell wie möglich lösen.

„Und mit wem waren Sie verlobt?“, fragte Sam interessiert. Er wollte alles über diese geheimnisvolle Schönheit wissen.

„Das möchte ich nicht sagen, Sam.“

„Dann verraten Sie mir wenigstens Ihren Nachnamen. Es sei denn, Sie haben gute Gründe, weshalb wir nicht wissen sollen, wer Sie wirklich sind.“

Nora schluckte. „Okay“, sagte sie schließlich. „Hart-Kingsley. Der Name meiner Mutter war Hart, der meines Vaters Kingsley. Ich habe beide Namen bekommen. Zufrieden?“

Sam lächelte. „Es ist immerhin ein Anfang.“

Inzwischen waren mehrere Leute in das Kaufhaus gekommen, die die Szene voller Interesse verfolgten. Dr. Ellen Maxwell, die Ärztin der Stadt, trat zwischen Sam und Nora. „Ich denke, es ist gar nicht schlecht, wenn die Hochzeit ein wenig verschoben wird. Bei dem Wetter können die Gäste nicht pünktlich anreisen.“

„Und außerdem – wenn Sie Mitglied des Whittaker-Clans sind, brauchen Sie etwas Zeit, um den Rest von uns kennenzulernen“, fügte Kimberlee hinzu.

Nora betrachtete die Menschen, die sich um sie versammelt hatten. „Hört mir denn niemand zu?“, fragte sie verzweifelt.

„Nein“, erwiderte die Gruppe wie aus einem Munde.

Harold klopfte Nora beruhigend auf die Schulter. „Keine Sorge. Wir werden alle so tun, als seien wir ganz erstaunt. Wir wollen Gus doch den Spaß nicht verderben.“

Clara lächelte. „In der Zwischenzeit möchten Sie vielleicht das Kleid ausziehen.“

Gute Idee, dachte Nora. Vielleicht hört dann auch das ganze Gerede über die Hochzeit auf.

„Das Problem ist bloß, dass der Reißverschluss klemmt.“

Clara lächelte. „Ich bin sicher, dass wir dieses Problem lösen können. Kimberlee, geh bitte mit Nora zu ihrem Wagen, um andere Kleidung zu holen, und dann hilf ihr aus dem Kleid.“

„Wird gemacht, Grandma.“

„Sie müssen Sam einfach ignorieren“, sagte Kimberlee, während sie versuchte, den Reißverschluss von Noras Hochzeitskleid zu öffnen.

„Was meinen Sie damit?“

Kimberlee strich sich die schulterlangen Haare zurück. „Ich habe gemerkt, wie er Sie angesehen hat. Und ich habe gehört, wie er versucht hat, Sie auszufragen.“

„Wahrscheinlich ist er einfach neugierig.“

Kimberlee schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nur Neugierde. Er meint, es sei seine Pflicht, sich um jeden zu kümmern!“

Eine Alarmglocke ertönte in Noras Kopf. Auf ihre Stirn traten winzige Schweißperlen. „Weil er Sheriff ist?“, fragte sie.

„Weil er Sam ist.“

„Wollen Sie damit sagen, dass er immer alles unter Kontrolle haben muss?“, fragte Nora so gleichgültig wie möglich.

„Und wie“, bestätigte Kimberlee erregt. „Das liegt daran, wie Mom und Dad …“ Sie unterbrach sich, als sie Schritte vor dem Ankleidezimmer vernahm. „Sam!“

Sam trat in das geräumige Ankleidezimmer und sah seine jüngere Schwester grimmig an. Anscheinend gefällt ihm nicht, was sie sagen wollte, dachte Nora. Schade, überlegte sie, denn sie selbst wollte gern alles über Sam wissen.

„Du wirst an der Kasse gebraucht“, teilte Sam seiner Schwester mit.

Kimberlee warf ihrem Bruder einen schmollenden Blick zu. „Kannst du das nicht für mich übernehmen? Schließlich hast du hier auch gearbeitet, als du so alt warst wie ich. Du weißt, wie die Kasse funktioniert.“

Sam lehnte am Türrahmen. „Das streite ich auch gar nicht ab, aber Grandma will dich.“

„Ha!“, lachte Kimberlee höhnisch auf. „Du willst nur mit Nora allein sein.“ Sie warf Nora einen mitleidigen Blick zu. „Viel Glück. Das werden Sie bei Mr Unmöglich auch brauchen!“

„Mr Unmöglich?“, wiederholte Nora, nachdem Kimberlee verschwunden war.

„Das ist einer der freundlicheren Namen, mit denen sie mich zurzeit anredet“, erklärte Sam. „Stecken Sie immer noch fest?“ Er musterte sie mit einem Blick, der ihren Puls schneller schlagen ließ.

Nicht nur in dem Kleid, dachte sie resigniert. Sondern auch in dieser Stadt. Mein ganzes Leben steckt auf einmal fest. „Es bringt nichts. Schneiden Sie das Kleid einfach auf“, schlug sie vor.

Sam musterte Nora von oben bis unten, und ihr wurde heiß unter seinem Blick. „Das ist nicht nötig. Warten Sie einen Moment.“

„Vorhin in der Tourismuszentrale waren Sie auch nicht erfolgreich“, sagte sie atemlos, als er seine Hände auf ihre Schultern legte.

„Dort hatte ich auch nicht das richtige Werkzeug.“ Er zog eine Pinzette aus der Hosentasche. Vorsichtig löste er den Stoff, der sich in dem Reißverschluss verklemmt hatte.

Noras Herzschlag beschleunigte sich. „Sie müssen mir nicht helfen“, sagte sie. Ihre Knie zitterten, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab, der aber nichts mit der Kälte draußen zu tun hatte.

„Doch, das muss ich.“

Sie hob die Augenbrauen. Was hatte seine Bemerkung zu bedeuten? Wusste er etwas?

„Es gibt einen Grund, weshalb ich gekommen bin.“

Nora drehte sich langsam zu ihm um. „Und welchen?“

„Um herauszufinden, welche Art von Hilfe Sie brauchen. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“

„Und wenn ich keine Hilfe brauche?“, erwiderte sie ruhig.

Sam zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht“, sagte er, doch ihr war sofort klar, dass er vom Gegenteil überzeugt war.

Nora seufzte. Es würde nicht einfach sein, Sam loszuwerden. Zweifellos würde er ihr wie ein Schatten folgen, solange sie sich in Clover Creek aufhielt.

„Übrigens habe ich noch ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen.“ Sie trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen die Wand.

Sam verschränkte die Arme vor der Brust und sah Nora durchdringend an. „Warum?“

Nora hob den Kopf und holte tief Luft. „Heute war der schlimmste Tag in meinem Leben. Und Sie machen es mir mit all Ihren neugierigen Fragen nicht gerade leichter.“

Er nickte verständnisvoll. Dann sagte er mit einem teuflischen Funkeln in den Augen: „Ich will es Ihnen auch gar nicht leicht machen. Mein Instinkt sagt mir nämlich, dass Sie in der Vergangenheit zu sehr beschützt wurden und deshalb davongelaufen sind.“

Nora bemühte sich, ihr Temperament unter Kontrolle zu halten. Sie hasste es, wenn ein Mann glaubte, sie durchschauen zu können – weil er angeblich so viel Erfahrung mit Frauen hatte. „Wie kommen Sie darauf, dass ich weggelaufen bin?“

„Ist das nicht offensichtlich? Seit wir uns kennengelernt haben, benehmen Sie sich, als hätten Sie irgendetwas zu verbergen. Nun, ich weiß nicht, was oder wer Sie so verletzt hat, aber ich würde es gern herausfinden“, sagte er und kam langsam auf sie zu.

„Na und?“, gab Nora gereizt zurück. „Jeder Mensch ist schon einmal verletzt worden.“

„Richtig. Aber nicht jeder läuft im Brautkleid davon, und schon gar nicht, wenn ein Schneesturm angekündigt ist.“

„Woher sollte ich wissen, dass es schneien würde?“, unterbrach sie ihn hitzig.

Sam schüttelte den Kopf. „Wie kommt es, dass Sie es nicht gewusst haben?“ Seine Stimme klang leise, sanft und verführerisch, und er stand so nahe bei ihr, dass sie die Hitze seines Körpers spürte.

„Weil ich weder heute Morgen noch gestern Abend den Wetterbericht gehört habe.“

„Warum nicht?“ Er legte die Hände auf ihre Schultern und zwang sie, zu ihm aufzusehen.

Nora ignorierte das sinnliche Gefühl auf ihrer nackten Haut. Seine Hände waren leicht rissig und schwielig, als sei ihnen harte körperliche Arbeit nicht fremd, und gleichzeitig zärtlich, als seien sie für die Liebe geschaffen. Nora schüttelte irritiert den Kopf. Woher kamen diese erotischen Gedanken?

„Weil ich viele andere wichtige Dinge zu erledigen hatte“, erwiderte sie und warf den Kopf zurück. „Ich musste früh aufstehen, duschen und zum Friseur gehen. Dann bin ich zur Kirche gefahren, habe mein Brautkleid angezogen und das offizielle Hochzeitsfoto machen lassen.“

Sie hielt inne und biss sich auf die Lippen. Sam machte plötzlich den Eindruck, als wollte er viel mehr, als nur dicht bei ihr stehen. Er wollte sie küssen! Und nicht nur einmal, sondern wahrscheinlich immer wieder und wieder!

Sam lächelte ironisch und zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Wollen Sie damit sagen, dass auch Ihre Hochzeitsgäste nicht wussten, dass es schneien würde?“

„Keine Ahnung.“ Nora schluckte. Wenn sie tief in Sams Augen sah, hatte sie wirklich das Gefühl, dass er ihr nur helfen wollte. „In Pittsb… oh.“ Sie unterbrach sich hastig, als sie merkte, dass sie beinahe zu viel gesagt hätte.

„Pittsburgh?“, schlug Sam vor. Er streichelte sanft über ihre Arme.

Nora sah ihn trotzig an. „Wie kommen Sie darauf, dass die Hochzeit in Pittsburgh stattfinden sollte?“

„Ihr Nummernschild“, erwiderte Sam. Er wirkte plötzlich so aufrichtig, hilfsbereit und freimütig, dass es ihr schwerfiel, nicht einfach Trost in seinen starken Armen zu suchen. „Außerdem passt es zeitlich. Wenn die Hochzeit für heute Vormittag geplant war, hatten Sie Zeit genug, von Pittsburgh nach West Virginia zu fahren.“

„Sie haben das Nummernschild an meinem Wagen bemerkt?“, fragte sie. Dann würde er ihre Daten herausfinden, bevor sie bis drei zählen konnte. Und das würde ihn direkt zu ihrem Vater und Geoffrey führen!

Sam zuckte mit den Achseln und nahm die Hände von ihren Schultern. „Schließlich bin ich Gesetzeshüter“, erklärte er nüchtern. „Ich bin ausgebildet, um alles zu bemerken.“

Nora seufzte. „Dann glauben Sie also nicht, dass ich mit Ihrem Bruder verlobt bin?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

„Das wissen Sie doch“, erwiderte er und lächelte sie verführerisch an.

„Warum nicht? Jeder aus Ihrer Familie glaubt es.“

„Sie sind nicht sein Typ.“

„Ach, wirklich?“, fuhr Nora den attraktiven Fremden wütend an. „Wessen Typ bin ich dann?“

Sam legte die Arme um ihre Taille und zog sie an sich. „Meiner.“

3. KAPITEL

„Sie sind nicht nur neugierig“, stieß Nora hervor. „Sie sind auch noch frech!“

Sam lächelte triumphierend und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. „Kann ich etwas dafür, wenn ich weiß, was ich will?“

„Sie wissen auch, dass ich heute heiraten wollte.“

Er zog sie noch enger an sich. „Und doch scheinen Sie erleichtert zu sein, dass es nicht dazu gekommen ist.“

„Vielleicht war mein Verlobter einfach nicht der richtige Mann für mich“, erwiderte sie hitzig.

Er lächelte über ihren Temperamentsausbruch. „Ihr Fortlaufen hat Sie wahrscheinlich davor bewahrt, den größten Fehler Ihres Lebens zu begehen.“

Nora schluckte. „Genauso ist es“, erwiderte sie schließlich erleichtert. Wenigstens ein Mensch hatte begriffen, dass sie mit ihrer überstürzten Flucht keinen Fehler begangen, sondern in letzter Minute noch einen folgenschweren Irrtum korrigiert hatte.

Langsam senkte er seinen Kopf. Seine Lippen waren ganz dicht an ihren. „Dann habe ich also nichts zu befürchten, selbst wenn der Bräutigam plötzlich auftaucht, um Sie zu holen?“, fragte er leise.

„Ich glaube nicht, dass er hinter mir herkommen wird“, erwiderte Nora traurig. „Und falls er es täte, würde es auch keinen Unterschied machen.“

„Gut.“ Sam betrachtete sie zufrieden. Dann nahm er eine Hand von ihrem Rücken und hob mit der Fingerspitze ihr Kinn an.

„Was meinen Sie damit?“

Er blickte ihr immer noch tief in die Augen und streichelte sanft über ihre Wange. „Dass ich alt genug bin, um zu erkennen, wann mir die Chance meines Lebens begegnet. Und ich möchte sie nutzen. Die Chemie zwischen uns beiden stimmt.“

Nora hob abwehrend die Hände. Sie hatte noch nie einen Menschen kennengelernt, der so hartnäckig sein konnte. Sam würde nicht aufgeben, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Genau wie ihr Vater und Geoffrey wollte er über ihr Leben bestimmen. Und gerade das war doch der Grund gewesen, weshalb Nora die Hochzeit in letzter Minute platzen ließ. Sie war Hals über Kopf geflüchtet, und als erstes traf sie wieder auf einen selbstbewussten und dominanten Mann!

„Macht es Ihnen nichts aus, dass ich unter Liebeskummer leide?“

Sam grinste von einem Ohr zum anderen. „Tun Sie das wirklich?“ Zärtlich berührte er ihre Schläfe mit den Lippen. „Ich könnte wetten, dass Sie Ihren Verlobten niemals wirklich geliebt haben.“ Er blickte ihr tief in die Augen.

Er hatte noch nicht einmal versucht, sie zu küssen, und er berührte kaum ihr Gesicht. Dennoch spürte Nora, wie die Spitzen ihrer Brüste hart wurden, und sie konnte sich auf einmal kaum noch auf den Beinen halten. Sie wünschte sich sehnsüchtig, voller Leidenschaft von Sam geküsst zu werden.

Verrückt, dachte Nora. Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht! Außerdem gehörte sie nicht zu den Frauen, die sich im Sturm erobern ließen. Doch Sam Whittaker schien genau das zu schaffen.

„Sie haben ihn nicht geliebt, oder?“, fragte er.

„Nein“, stammelte sie.

„Gut. Mehr muss ich nicht wissen“, erwiderte er und zog sie an sich. Seine Lippen berührten ihre, zuerst zärtlich, dann mit wachsender Begierde. Nora wurde überflutet von den unterschiedlichsten Gefühlen und Empfindungen. Der Mann konnte küssen! Und er wusste, wie er ihre Sinnlichkeit wecken konnte.

All das, was sie im Moment verspürte, kannte sie bisher nur aus Büchern. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie selbst zu solcher Lust und Leidenschaft fähig war. In dem Moment zog er sich langsam von ihr zurück.

Er sah sie an, und sein Atem ging ebenso schnell wie ihrer. Sein Blick war voller Zärtlichkeit, als er die Hände von ihr nahm. „Du bist frei.“

Verwirrt sah sie ihn an. „Um wieder zu lieben?“, fragte sie.

„Um aus dem Kleid herauszukommen“, erwiderte er und fuhr mit den Fingerspitzen über ihren Rücken. In dem Moment merkte sie, dass der Reißverschluss nicht länger klemmte, sondern heruntergezogen war.

„Oh.“

„Natürlich bist du auch wieder frei für die Liebe“, sagte er sanft.

Nora sah ihn an. Es schien alles so einfach zu sein. Sie begehrte Sam – und er begehrte sie. Doch ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass sie zunächst einmal ihr Leben neu ordnen musste, bevor sie sich mit einem Mann einließ. Wo sollte sie von nun an wohnen? Wie konnte sie es schaffen, dass ihr Vater ihr endlich zuhörte und sich nicht länger in ihre Angelegenheiten einmischte? Außer ihrem Vater hatte sie keine Angehörigen mehr, und sie wollte auf keinen Fall endgültig mit ihm brechen.

Entschlossen, die Dinge der Reihe nach zu erledigen, legte sie die Hände abwehrend auf Sams Brust. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, ertönte sein Pieper.

Sam runzelte die Stirn und schaltete den Pieper ab. „Wir sehen uns später“, murmelte er, sichtlich verärgert über die Unterbrechung.

Nora seufzte. Das fürchtete sie auch.

Als Nora fünfzehn Minuten später mit dem Brautkleid über dem Arm das Ankleidezimmer verließ, befanden sich immer noch einige Kunden in dem Kaufhaus. Die Leute kauften Handschuhe, Hüte und Stiefel und unterhielten sich aufgeregt über den zehn Zentimeter hohen Neuschnee, der schon auf der Straße lag.

Bevor Nora wusste, wie ihr geschah, hatte man ihr schon das Kleid vom Arm genommen – um es zu trocknen und zu bügeln, wie Clara Whittaker ihr sagte – und sie den neugierigen Bewohnern des Ortes als eine „besondere Freundin“ von Gus vorgestellt. Danach kehrte die Unterhaltung zum Wetter zurück und man diskutierte, welche Auswirkungen der Schneesturm auf die Stadt haben würde.

„Ich hoffe, dass dieser Sturm nicht unsere Aktion für den neuen Rettungswagen behindert“, sagte Wynnona Kendrick, die Floristin.

„Wir brauchen unbedingt einen neuen Rettungswagen“, erklärte Doc Ellen, während ihre fünfjährige Tochter Katie sich Fausthandschuhe aussuchte. „Aber bisher haben wir erst fünftausend Dollar zusammen.“

„Was haben Sie denn für eine Aktion geplant?“, fragte Nora und überlegte, ob sie vielleicht irgendwie helfen könnte.

„Eine Art Auktion. Wir versteigern Decken, kunstgewerbliche Dinge, Bilder, selbst gekochte Marmelade, Möbel und Kochbücher. Die Auktion soll am kommenden Dienstag im Gymnasium stattfinden.“

„Es sei denn, die Straßen sind durch den Schnee unpassierbar“, warf Clara Whittaker besorgt ein.

„Dann verschieben wir es einfach.“ Fragend sah Doc Ellen Nora an. „Sie kommen doch auch, oder?“

„Sicher, wenn ich noch hier bin“, versprach Nora. Wenn nicht, werde ich etwas spenden, dachte sie. Lächelnd fügte sie hinzu: „Es scheint eine lohnende Sache zu sein.“

„Ja. Und lustig wird es auch, weil das ganze Dorf mitmacht.“

Das Gespräch verstummte.

Nora, die befürchtete, dass die Leute wieder auf ihre geplatzte Hochzeit zu sprechen kämen, fragte: „Wo ist Sam?“ Warum hatte sie nur das Gefühl, dass ausgerechnet er sie vor alldem hier bewahren konnte?

„Er wurde alarmiert. Es gab einen Unfall mit Blechschaden an der Highschool“, erwiderte Harold Whittaker. „Zum Glück ist niemand verletzt worden. Der Wagen ist von der Straße abgekommen und gegen ein Stoppschild und eine Parkbank geschleudert. Warum fragen Sie?“ Sams Großvater warf ihr über den Rand seiner altmodischen Brille hinweg einen neugierigen Blick zu. „Möchten Sie mit Sam sprechen?“

Nora wollte nur herausfinden, ob eine Fahndung nach ihr eingeleitet war und ob ihr Vater und Geoffrey sie schon in West Virginia suchten. Sam als Sheriff würde davon zuerst erfahren. Also musste sie sich an ihn halten. „Ja, gern“, antwortete sie.

„Nun, er müsste bald in seinem Büro sein.“ Harold lächelte. „Ich denke, er hat nichts dagegen, wenn Sie dort auf ihn warten.“

Sam war erst vor einer knappen Minute in sein Sheriffbüro zurückgekehrt, als Nora zu seiner Überraschung eintrat.

„So sieht also das Büro eines Kleinstadtsheriffs aus“, sagte sie und sah sich neugierig um. Hastig warf sie einen Blick auf die beiden Schreibtische, das Schwarze Brett mit den Fahndungsfotos und die Aktenschränke aus Metall. Sie betrachtete den Computer und den Drucker, das Faxgerät, den Kopierer, das Polizeifunkgerät und die Schreibmaschine, die Sam und seine Kollegen benutzten, um Formulare auszufüllen. „Darf ich auch die anderen Räume sehen?“, fragte sie.

Er nickte und folgte ihr durch den kleinen Aufenthaltsraum zu der einzigen Gefängniszelle, in der sich zwei Feldbetten befanden. Keines war belegt, was der Normalzustand war. Gemeinsam gingen sie dann zurück ins Büro.

„Ich bin überrascht“, sagte Nora, als sie ihre Jacke auszog und an einen Haken hängte. „Ich hätte nicht erwartet, dass du so modern eingerichtet bist.“

Und Sam hatte nicht erwartet, dass Nora in Jeans und Sweatshirt genauso verführerisch aussah wie in ihrem eleganten Brautkleid. „Ich musste um jeden einzelnen Gegenstand kämpfen.“

Sie lächelte ihn an. „Du bist sicher froh, dass du alles bekommen hast.“

„Das bin ich. Ohne diese modernen Kommunikationsmittel könnte ich meinen Job kaum erledigen.“

Noch einmal warf sie einen Blick auf das Schwarze Brett. „Bist du auch ans Internet angeschlossen?“

Sam nickte geistesabwesend, denn er musste fortwährend an den Kuss in dem Ankleidezimmer denken. Er wusste, dass er zu schnell vorgegangen war. Doch es hatte sein müssen, denn Nora würde die Stadt verlassen, sobald der Schneesturm vorüber war. Und wenn er an die Intensität ihrer Umarmung dachte, so bereute er seinen Schritt nicht.

Er merkte, dass Nora immer noch auf eine Antwort wartete, und sagte: „Ja, wir sind ans Internet angeschlossen. Und ich kann mir per Computer Informationen von anderen Polizeistationen holen.“

Nora erbleichte.

Sam bemerkte ihre Nervosität, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen. Fürchtete sie, dass er sie wieder küssen könnte? „Ist alles in Ordnung?“, fragte er.

„Natürlich.“

Er betrachtete sie aufmerksam. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Er trat einen Schritt näher. „Warum bist du eigentlich zu mir gekommen?“

„Oh, deine Großeltern wollten dich wissen lassen, dass sie das Geschäft wegen des Schneesturms eine Stunde früher schließen und gegen fünf Uhr nach Hause gehen. Ich habe angeboten, dich hier zu besuchen und es dir auszurichten. Außerdem wollte ich mir den Ort gern ein wenig ansehen, solange es das Wetter noch zulässt.“

Sam sah aus dem Fenster. „Es schneit ganz ordentlich.“

Nora nickte.

Das Telefon klingelte. Nur widerwillig löste Sam seinen Blick von Noras Gesicht und nahm den Hörer ab. „Ich komme sofort“, sagte er schließlich.

„Noch ein Unfall?“, fragte Nora neugierig.

„Schlimmer. Ein Familiendrama“, erwiderte er und sah ihr tief in die Augen. Leider hatte er keine Zeit mehr, um sie zu küssen. „Clyde Redmond ist in dem Haushaltswarengeschäft“, fuhr er mit seiner Erklärung fort. „Er will unbedingt einen Schneeschieber kaufen. Seine Frau Charlene ist bei ihm und versucht es mit allen Mitteln zu verhindern.“

Nora sah ihn verständnislos an. „Sie hat etwas dagegen, dass ihr Mann Schnee schiebt?“

Sam nickte. „Und das aus gutem Grund, denn bei dieser Tätigkeit hatte Clyde vor zwei Monaten seinen ersten Herzanfall.“ Er streichelte über ihre Wange, warf ihr noch einen liebevollen Blick zu und ging dann zur Tür. „Du kannst hier die Stellung halten“, rief er ihr über die Schulter zu. „Ich komme bald zurück.“

Die Tür fiel hinter Sam ins Schloss, und Nora war allein.

Jetzt hatte sie die Chance, sich in aller Ruhe ein wenig umzusehen. Vielleicht ist irgendetwas von meinem Vater gekommen, dachte sie, als ihr Blick auf die gerade eingegangenen Faxe fiel. Sie nahm den Stapel in die Hand und blätterte ihn hastig durch. Ihr Herz klopfte. Dann wurde ihre Befürchtung zur Gewissheit: Das letzte Fax war eine Vermisstenanzeige und zeigte ein Foto von Nora im Brautkleid.

Zudem waren fünfundzwanzigtausend Dollar Belohnung ausgesetzt für Informationen, die zu ihrer sicheren Rückkehr führten. Fünfundzwanzigtausend Dollar! Nora hätte am liebsten ihre Bestürzung in die Welt hinausgeschrien, wenn sie daran dachte, wie gut Clover Creek das Geld für den neuen Rettungswagen gebrauchen konnte.

Seufzend faltete sie das Fax zusammen und steckte es in ihre Hosentasche. Sie verfluchte ihren Vater, weil er die Öffentlichkeit mobilisierte, obwohl Noras überstürzte Flucht nur eine Privatangelegenheit war. Und sie verfluchte ihn dafür, dass er es ihr nicht gestattete, wichtige Entscheidungen selbst zu treffen.

Sam war seit fünfzehn Minuten fort. Während dieser Zeit ging Nora in seinem Büro unruhig auf und ab. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie heimlich ein für ihn bestimmtes amtliches Dokument an sich genommen hatte. Hoffentlich bemerkte er nichts. Es würde schwierig werden, sich in seiner Gegenwart normal zu verhalten.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie nicht einfach ihren Vater oder Geoffrey kurz anrufen sollte, aber zu der nachfolgenden Auseinandersetzung war sie noch nicht bereit.

„Wie war es?“, fragte Nora, als Sam in sein Büro zurückkehrte. Ihre Nerven waren gespannt wie Drahtseile. „Hängt der Haussegen wieder gerade?“

„Wenigstens für die nächste Zeit.“

„Wie hast du es geschafft?“ Sie schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein, nur um irgendetwas zu tun.

Sam nahm die Tasse dankbar an. Er betrachtete Nora forschend. Hatte sie irgendwelche Probleme?

„Ich konnte sie überreden, das Schneeräumen von den Pfadfindern vornehmen zu lassen.“

Nora schenkte sich selbst auch einen Kaffee ein. „Gute Idee“, sagte sie fröhlich und setzte sich.

„Glücklicherweise haben sie das Angebot angenommen“, sagte er und nahm neben ihr Platz.

„Du mischst dich häufig in Privatangelegenheiten ein, oder?“, fragte sie halb scherzhaft, halb ernst.

„So würde ich es nicht nennen. Aber wenn ich der Ansicht bin, etwas Gutes bewirken zu können, dann habe ich keine Hemmungen, andere Menschen zu beeinflussen.“

„Wirklich nicht?“ Nora war alarmiert. Im Grunde gab sie ihm recht, zumindest, was die Ruhe und Ordnung in Clover Creek betraf. Sobald es aber um ihr eigenes Leben ging, war das etwas ganz anderes.

„Nicht, wenn es für das Gemeinwohl ist.“ Er sah plötzlich aus wie ein Mann, der auch Druck ausüben konnte.

Nora verdrehte die Augen. Als wenn sie nicht schon genug Sorgen durch ihren Vater und Geoffrey hätte, die ständig ihr Leben bestimmen wollten. Jetzt kam Sam auch noch dazu!

Sie stand auf. „Das klingt wie eine ziemlich billige Rechtfertigung“, meinte sie, während sie rastlos in dem kleinen Büro auf und ab lief.

„So könnte man es vielleicht sehen“, murmelte Sam und stand ebenfalls auf.

„Aber du bist natürlich anderer Meinung“, fuhr sie ihn an.

Sam trank von seinem Kaffee und sah sie mit typisch männlicher Überlegenheit an. „Stell dir mal vor, ich hätte nichts weiter getan, als die beiden Streithähne nach Hause zu schicken. Was wäre dann wohl passiert?“

Nora zuckte mit den Schultern. „Sie hätten ihren Streit zu Hause fortgesetzt.“

„Richtig.“

„Wäre das so schlimm gewesen?“

„In ihrem Fall wahrscheinlich nicht. Es sei denn, Clyde hätte während des Streits einen weiteren Herzanfall erlitten, oder später, wenn er sich gegen Charlene durchsetzt und Schnee räumt“, fuhr er ernst fort. „Das hätte sich keiner von uns je verziehen. Dann würden wir uns wahrscheinlich alle wünschen, wir hätten den Mut gehabt, uns einzumischen und etwas zu unternehmen.“

Nora wusste, dass Sam recht hatte. Manchmal war es einfacher, die Augen zu schließen als den Mund aufzumachen. Wenn sie diesen Aspekt berücksichtigte, dann musste sie ihn eigentlich für seinen Mut bewundern.

„Und wo hört es für dich auf?“, fragte sie neugierig. Er stand so dicht bei ihr, dass ihr Herz auf einmal schneller schlug. Sie lehnte den Kopf in den Nacken, als er die Hände auf ihre Schultern legte. „Wann lässt du die Dinge einfach laufen, und wann mischst du dich ein?“

Sam lächelte sie verführerisch an und streichelte sanft über ihre Arme. „Das hängt davon ab, wie viel auf dem Spiel steht“, sagte er und nahm die Hände von ihren Armen. „Wenn zum Beispiel die Gefahr besteht, dass eine Familie zerbrechen könnte, versuche ich zu vermitteln. Als Verwandter oder als Freund, als Mitbürger oder auch als Sheriff.“

Nora beobachtete, wie er an sein Faxgerät ging und die Nachrichten las. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und Angst. Es kostete sie große Mühe, nicht die Hand auf ihre Hosentasche zu legen, um nachzuprüfen, ob das gestohlene Fax noch da war.

Sie trat ans Fenster und schaute hinaus. „Das heißt, du bist nicht nur Sheriff, sondern auch Sozialarbeiter.“

„In einem kleinen Ort wie diesem ist das notwendig“, sagte Sam. Er trat zu ihr ans Fenster. „Irgendwer muss sich schließlich um den Frieden kümmern“, meinte er und sah sie an. „Ich würde alles tun, um zu verhindern, dass jemand einen geliebten Menschen verliert.“

„Ich verstehe dich“, bemerkte Nora. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Es gibt aber sicher auch Menschen, die der Ansicht sind, dass du zu weit gehst.“ Und dazu gehöre ich, wenn du versuchst, mein Leben zu beeinflussen, dachte sie.

Er legte den Kopf leicht zur Seite und lächelte. „Wahrscheinlich hast du recht.“

Nora seufzte. „Das ändert aber nichts an deiner Einstellung zu deinem Job, oder?“

„Nein“, erwiderte Sam.

Sie sahen sich tief in die Augen, und Nora spürte, dass Sam genau der Typ von Mann war, den sie im Moment in ihrem Leben nicht haben wollte – übertrieben fürsorglich wie ihr Vater.

Das Telefon klingelte und unterbrach sie in ihren Gedanken. Sam griff nach dem Hörer, ohne jedoch Nora aus den Augen zu lassen. „Sheriffbüro“, meldete er sich. Dann hörte er mit verwirrtem Gesichtsausdruck zu. Plötzlich erhellte sich seine Miene. „Okay“, meinte er. „Wir sind gleich da.“

„Wo sind wir gleich?“, fragte Nora. Was war jetzt schon wieder los?

„Bei meinen Großeltern. Zwei Straßen weiter. Anscheinend ist Gus’ Überraschung – die ‚Pretty Lady‘ – eingetroffen.“

4. KAPITEL

„Gus hat ein Boot geschickt!“, rief Nora erstaunt aus, als sie und die Whittakers um die große Jacht herum standen. Sie bot Platz für mindestens ein Dutzend Menschen und hieß „Pretty Lady“. Das war also die Schönheit gewesen, von der Gus am Telefon gesprochen hatte.

„Anscheinend sind Sie wirklich nicht Gus’ Verlobte, Nora“, stellte Kimberlee traurig fest.

„Das habe ich doch die ganze Zeit gesagt.“

„Wir möchten trotzdem, dass Sie bei uns bleiben“, sagte Clara.

Nora dachte an den heißen Kuss, den Sam ihr gegeben hatte. Sie beide unter einem Dach? Tag und Nacht mit ihm zusammen? Sam hatte zwar seine eigene Wohnung, aber er schien sich häufig bei seinen Großeltern aufzuhalten. „Nein, vielen Dank“, wehrte sie ab. „Das Angebot kann ich auf keinen Fall annehmen.“

Sam ergriff das Wort. „Ich glaube, du hast keine andere Wahl – in Clover Creek gibt es weder Hotels noch Pensionen.“

„Wirklich nicht?“

Sam stand so dicht bei ihr, dass es ihr schwerfiel, ruhig zu atmen. Sie trat einen Schritt zurück.

„Nein, das nächste Hotel liegt einige Meilen von hier entfernt, am Autobahnkreuz, und es ist belegt.“

Nora wandte den Blick von ihm und sah seine Großmutter an.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, redete Clara Whittaker beruhigend auf sie ein. „Wir haben genug Platz. Und Sie werden nicht unser einziger Gast sein. Sam bleibt auch hier.“

Als wenn mir das helfen würde, dachte Nora.

Sam schien mit der Entwicklung der Dinge nicht unzufrieden zu sein. „Meine Wohnung liegt fünf Meilen außerhalb der Stadt“, erklärte er. „Aber bei diesem Wetter bleibe ich besser in der Stadt.“ Sein Handy klingelte. „Die Pflicht ruft.“ Er trat einige Schritte beiseite, um den Anruf in Ruhe entgegenzunehmen.

Kurz darauf kehrte er zurück. „Das war Boots McKinney. Sein Hund Clementine ist weg. Um vier Uhr heute Nachmittag hat er ihn hinausgelassen, und er ist bis jetzt nicht zurück. Boots ist ganz krank vor Sorge.“ Erklärend fügte er hinzu: „Boots hat erst vor Kurzem eine Hüftoperation gehabt und kann nicht allein nach draußen gehen, um nach dem Hund zu suchen.“

„Er muss verzweifelt sein.“

„Das ist er.“ Sam seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich habe auch das Gefühl, dass sich Clementine in Schwierigkeiten befindet. Sonst wäre sie längst zurück. Ich werde nach ihr suchen.“

„Kann ich dir helfen?“, fragte Nora.

Er nickte. „Ich wäre dir dankbar dafür. Und Boots sicherlich auch.“

Es dauerte länger als eine Stunde, bis sie den Hund im Wald gefunden hatten – nicht weit von Boots McKinneys Haus entfernt. Ein umgestürzter Baum war auf ihn gefallen und hielt ihn gefangen. Vorsichtig befreiten Sam und Nora das Tier und brachten es zurück zu seinem Herrchen. Wegen des Wetters hielten sie sich nicht lange auf, sondern machten sich sofort auf den Rückweg.

Sam half Nora auf den Beifahrersitz seines Geländewagens, dann stieg er selbst ein und startete den Motor. „Kannst du bei so viel Schnee auf der Straße überhaupt fahren?“, fragte Nora besorgt.

„Kein Problem“, versicherte Sam ihr. „Der Schnee ist noch ziemlich weich und griffig.“ Morgen sieht es vielleicht anders aus, dachte er. Je nachdem, wie schwer die gesamte Ostküste von dem Unwetter betroffen sein würde, müsste Nora vielleicht tagelang hier ausharren, bevor sie wieder zurück zur Autobahn fahren konnte. Allerdings störte ihn der Gedanke nicht weiter. Vielleicht, weil er spürte, dass sie seine Hilfe brauchte.

Langsam und vorsichtig fuhr er durch den Schnee. Trotzdem kam der Wagen häufiger ins Rutschen. Jedes Mal klammerte sich Nora am Sitz fest.

Sam drückte beruhigend ihre Hand. „Keine Angst, wir schaffen es.“

„Ich weiß. Du fährst hervorragend.“

„Danke.“ Er ließ ihre Hand los und steuerte mit beiden Händen. Als er erneut ins Rutschen kam und Nora vor Angst den Atem anhielt, hätte er den Wagen am liebsten gestoppt und sie in die Arme geschlossen, um sie zu beruhigen. Doch er wusste, dass es vernünftiger war, so schnell wie möglich zurück in die Stadt zu fahren, bevor die Straßenverhältnisse noch schlechter wurden.

Nora seufzte. „Hast du dir je gewünscht, irgendwo zu wohnen, wo es das ganze Jahr über warm und sonnig ist?“

Die Antwort darauf ist einfach, dachte Sam. „Nein, West Virginia ist meine Heimat. Aber ich habe nicht immer hier gelebt. Ich bin in Kentucky aufs College gegangen und habe danach sieben Jahre bei der Polizei in Chicago gearbeitet. Doch jetzt bin ich wieder zurückgekehrt, und ich habe vor, mein Leben hier zu verbringen.“

„Macht es dir nichts aus, dass Clover Creek so klein ist?“, fragte Nora.

Sam sah nur ein einziges Problem darin: Man konnte in dieser Kleinstadt nichts unternehmen, ohne dass es bekannt wurde. Und so würde er kaum ungestört eine Romanze mit der Frau an seiner Seite anfangen können. „Manchmal engt es einen schon ein, dass jeder Anteil an dem anderen nimmt. Aber wenn man sich vor Augen hält, dass es aus Zuneigung geschieht und nicht Gemeinheit, dann ist es nicht so schlimm.“

„Der Mangel an Privatsphäre würde mich vielleicht stören“, gab Nora zu. „Aber ansonsten erscheint mir das Leben in einer Kleinstadt sehr reizvoll. Bevor ich mich entschieden hatte, Geoffrey zu heiraten, habe ich darüber nachgedacht, die Hektik einer Großstadt zu verlassen und in eine Kleinstadt zu ziehen.“

Das war eine Überraschung. „Und was hat deine Familie dazu gesagt?“, fragte Sam neugierig.

Sie dachte lange nach, bevor sie antwortete. „Mein Vater und Geoffrey waren beide dagegen“, sagte sie schließlich leise. „Mein Vater wollte mich in seinem Unternehmen sehen, Seite an Seite mit ihm und Geoffrey.“

Schon wieder Geoffrey. Sam empfand langsam eine Abneigung gegen diesen Mann. „Aber du wolltest nicht?“, hakte er nach. Nur noch zwei Meilen bis zur Stadt, dachte er erleichtert.

„Nein“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Die Gastronomiebranche ist nichts für mich.“

„Willst du zurück nach New York in die Werbebranche, wo du auch meinen Bruder Gus kennengelernt hast?“

Nora zuckte mit den Schultern. „Fünf Minuten nach der geplatzten Hochzeit habe ich darüber nachgedacht, aber dann habe ich beschlossen, meinen ursprünglichen Plan zu verfolgen und etwas völlig anderes zu tun. Raus aus der vertrauten Umgebung, hinein in eine unbekannte Welt. Ich suche einen neuen Wohnort und möchte eine eigene Agentur gründen.“

„Du hast dir ganz schön viel vorgenommen.“

„Ich weiß“, erwiderte sie ernsthaft.

Sam parkte vor seinem Büro. Die Hauptstraße war mittlerweile wie ausgestorben. Kein weiteres Auto in Sicht, kein Fußgänger. „Wie wird dein Vater auf deine Pläne reagieren?“

„Ich nehme an, er wird überrascht sein, aber …“ Nora zuckte mit den Schultern. „Das Leben ist voller Überraschungen, und sie treten immer ein, wenn man am wenigsten damit rechnet.“

Damit hat sie sicher recht, dachte Sam, als er Nora aus dem Wagen half und sie in sein Büro führte. Wir sind erwachsen, und als Erwachsene können wir tun und lassen, was wir wollen. Das bedeutet jedoch nicht, dass man die Gefühle derjenigen verletzt, die einem nahe stehen. Er schloss die Tür hinter ihnen und sah Nora eindringlich an. „Da wir gerade von deinem Vater sprechen – weiß er, wo du bist?“

Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Wie würde Sam wohl reagieren, wenn er wüsste, dass ihr Vater nach ihr suchte? Ihr wurde heiß bei dem Gedanken an das gestohlene Fax in ihrer Hosentasche. Würde er ihren Vater anrufen?

„Hmm, ehrlich gesagt …“

Er hob den Kopf. Sein Blick ließ ihr Herz schneller schlagen. Seine Augen hatten eine unglaubliche goldbraune Farbe.

„Hast du deiner Familie telefonisch Bescheid gesagt, dass mit dir alles in Ordnung ist?“ Sam ließ nicht locker. Er stand so dicht bei ihr, dass sie den Duft seines Aftershave einatmen konnte.

Nora trat zurück. „Noch nicht.“

Sam lehnte sich gegen seinen Schreibtisch. „Du kannst mein Telefon benutzen, wenn du möchtest.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Danke, aber … nein.“

Er schien ihre Entscheidung zu missbilligen. „Dein Verlobter hat dich sehr verletzt, nicht wahr?“

Nora zuckte mit den Schultern und sah ihn genauso unerschrocken an wie er sie. „Nicht nur Geoffrey, sondern auch mein Vater.“

„Und jetzt zahlst du es ihnen zurück, indem du nicht anrufst und ihnen nicht sagst, wo du bist.“

Nora wurde verlegen. Sie wusste, dass Sam recht hatte. Dass sie einfach fortgelaufen war, schmerzte ihren Vater und Geoffrey wahrscheinlich sehr. Aber was sie getan hatte, war nicht schlimmer als das, was die beiden ihr zugefügt hatten. „Wenn ich jetzt anrufe, werden sie mich bedrängen, sofort nach Hause zu kommen.“

„Das kann ich mir vorstellen. Aber ich habe das Gefühl, dass zwischen euch einige Dinge zu klären sind.“

Noras Brust hob und senkte sich mit jedem aufgeregten Atemzug. „Und sie würden versuchen, mich auf jede nur mögliche Weise auszunutzen.“

„Dann lass dich eben nicht ausnutzen.“

Leichter gesagt als getan. Nora ballte die Hände zu Fäusten. „So einfach ist das nicht.“

Sam richtete sich auf. Sein sinnlicher Mund war nur noch ein schmaler Strich. Er machte keinen Versuch, seine Missbilligung zu verbergen. „Doch, Nora.“

„Das verstehst du nicht.“ Du hast ja keine Ahnung, wie lange ich es schon versuche, dachte sie.

Er legte ihr die Hände auf die Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. „Warum erklärst du es mir nicht?“

Nora schluckte. Sie wollte, dass Sam sie verstand und ihr Verhalten billigte, auch wenn sie ihm noch nicht alles erzählen konnte. „Sam, ich …“

Ein lauter Knall unterbrach sie, und alles lag im Dunkeln.

„Was ist passiert?“, fragte Nora zitternd. Ängstlich streckte sie die Hand nach Sam aus.

Er zog sie an sich, ging dann mit ihr ans Fenster und blickte hinaus. Wie er schon vermutet hatte, lag die ganze Stadt im Dunkeln. „Der Strom ist ausgefallen“, erklärte er und nahm die Taschenlampe, die auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster lag. „Wahrscheinlich funktioniert das Telefon auch nicht.“

Sam hob den Hörer ab. Die Leitung war tot.

Autor

Cathy Gillen Thacker
<p>Cathy Gillen Thacker ist eine Vollzeit-Ehefrau, - Mutter und – Autorin, die mit dem Schreiben für ihr eigenes Amusement angefangen hat, als sie Mutterschaftszeit hatte. Zwanzig Jahre und mehr als 50 veröffentlichte Romane später ist sie bekannt für ihre humorvollen romantischen Themen und warme Familiengeschichten. Wenn sie schreibt, ist ihr...
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