Schnell, küss mich

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Er küsst soooo gut! Doch dann ist die Silvesterparty vorbei – und damit Cassies heißer Flirt mit dem sexy Fremden. Bis die hübsche Stress-Therapeutin wenig später einen Hausbesuch macht. Sie traut ihren Augen nicht: Vor ihr steht der Mann, der so gut küssen kann …


  • Erscheinungstag 22.04.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522328
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich bin stolz, dass ich meine Flitterwochen allein verbracht habe“, verkündete Cassie Halloway und nahm sich ein besonders großes Stück Schokolade vom Erfrischungsbuffet. Obwohl sie erst vor drei Stunden aus dem Flugzeug gestiegen war, hatte sie sich von ihrer besten Freundin Leonore Wethers – gewöhnlich Leo genannt – tatsächlich zum Silvesterball von Gardenbloom, Connecticut, mitschleppen lassen. Kaum auf der Party angekommen, bereute sie bereits ihre dämliche Nachgiebigkeit. Nicht, dass sie etwa keine Partys mochte – doch als sie noch allein am Hotelpool gehockt hatte, war es viel leichter gewesen, die bittere Realität zu leugnen und vorzugeben, dass eine neue, bei den Reichen und Schönen New Yorks ungemein angesagte Beautypflege Schuld an ihren verquollenen roten Augen war.

„Du kannst wirklich stolz auf dich sein“, pflichtete Leo ihr bei. „Allein auf Hochzeitsreise zu gehen, ist wirklich etwas, wovon die meisten Frauen nur träumen können.“

„Diese armen, bedauernswerten Seelen. Sie tun mir leid.“ Fast alle Leute, die Cassie in der Stadt kannte, waren versammelt, und dazu noch einige, die ihr unbekannt waren.

Zu viele Menschen.

Zu viel Lärm.

Sie brauchte Hilfe.

Daher brach sie ein Stück von der Schokolade ab und ließ es genüsslich auf der Zunge zu einer herrlichen Geschmackssymphonie zerschmelzen.

Sie war glücklich … nein, überglücklich, dass alle ihre Bekannten hier waren. Sie zog es natürlich nicht vor, am Silvester­abend alleine zu Hause vor dem Fernseher zu sitzen, den Countdown zu verfolgen und all den idiotisch grölenden Menschen zuzusehen, die sich aufführten, als wäre es tatsächlich ein freudiger Anlass …

Stopp! Loslassen! Sich in negative Gedanken zu verstricken, würde ihr jetzt auch nicht weiterhelfen. Noch tieferer Schmerz und Depressionen wären die Folge, und sie würde sich in eine Parallelwelt flüchten müssen, nur um weiterleben zu können. Dann würde sich ihr Verstand verabschieden, sie würde verrückt werden und versuchen, Gabeln zu verspeisen und mit Säulen zu tanzen. Alle würden daraufhin wissend mit dem Kopf nicken, als hätten sie mit ihrer Voraussage Recht behalten, dass Cassie völlig zusammenbrechen würde nach dem, was passiert war.

Sie brauchte mehr Schokolade.

Cassie griff sich das größte Stück Schokotoffee, das sie finden konnte, und dazu noch das zweitgrößte. Dann schob sie sich den ganzen Klumpen in den Mund. Augen zu, Schokolade genießen. Die Männer lagen ihr zu Füßen. Junge Mädchen schauten bewundernd zu ihr auf. Reiche Klienten, die alle im Voraus zahlten, rannten ihr die Praxistüren ein. Sie war eine hocherotische Diva mit einem oberscharfen, sonnengebräunten Teint. Ihre Riemchensandalen mochten zwar höchst unangemessen sein bei dem bitterkalten Dezemberwetter, aber sie setzten ihre gebräunten Füße optimal in Szene. Und sie passten perfekt zu ihrem engen schwarzen Rock und dem cremefarbenen Angorapulli, den sie eigens ausgewählt hatte, da er ihren golden schimmernden Teint bestens zur Geltung brachte. Sie hatte bewusst ein besonders elegantes und kultiviert wirkendes Outfit zusammengestellt – eines, das sie als Frau zeigte, die mit beiden Beinen im Leben stand … und nicht als Frau, die gerade von einer einsamen Hochzeitsreise zurückgekehrt war.

Ja, ganz richtig. Sie war schon darüber hinweg und nun eine dynamische, erotische Singlefrau … Ah! Es ging ihr schon viel besser.

Cassie öffnete die Augen und brachte ein gelassenes Lächeln zustande. „Leo, ist das ein neues Rezept? Es schmeckt fantastisch.“

„So soll es auch sein. Wenn meine Kreationen nicht himmlisch schmeckten, hätte ich kein Recht, meinen Schokoladen ‚Blissful Heaven‘ zu nennen.“ Leo nahm eine Handvoll Schoko­toffee-Brocken mit gehackten Walnüssen vom Tablett. „Probier mal die hier!“

„Eins reicht.“ Kein Grund zuzugeben, dass sie bereits drei Stücke vertilgt hatte. Manchmal war es einfach besser, die Realität zu verleugnen, insbesondere wenn diese sie dazu bringen wollte, ihre innere Stärke anzuzweifeln. „So verzweifelt bin ich nun auch wieder nicht. Noch nicht. Hast du ein Taschentuch zum Einwickeln? Ich bin sicher, ich werde die später noch brauchen.“

Später. Wenn sie auf diesen elenden Exverlobten treffen würde, der um ein Haar ihr Leben ruiniert hätte … Nein, denk positiv! Hmm … die Schokolade würde sie brauchen, wenn sie dem Mann in die Arme liefe, dem sie höchst dankbar sein sollte, dass er sie davor bewahrt hatte, einen verhängnisvollen Fehler zu begehen …

Nein! Für ein selbstloses Urteil über ihren Exverlobten war es noch zu früh. Im Moment stellte sie sich ihn lieber mit abgehacktem Kopf vor, dann war alles gut.

Leo wickelte die Leckerei in ein Papiertaschentuch und steckte das Päckchen in ihre Handtasche. „Für eine Stressbewältigungstherapeutin mit einem Abschluss in Psychologie bist du ziemlich unkreativ, was die Bewältigung deiner eigenen Ängste angeht.“

„Mir hilft eben Schokolade am besten. Warum sollte das unkreativ sein?“

„Du hast doch tausend Tricks in deinem Repertoire, wenn es darum geht, deinen Klienten zu helfen. Ich finde es höchst interessant, dass Schokolade das Einzige ist, was dir hilft.“

„Ich kenne meine Bedürfnisse eben sehr genau. Weil ich mir meiner sehr bewusst bin.“ Und dazu noch brillant, umwerfend, sexy und …

„Vielleicht bist du ganz einfach süchtig nach Schokolade und benutzt Stress nur als Ausrede.“

„Durchaus möglich.“ Cassie wischte sich die Finger an einer Serviette ab und warf sie dann in einen Mülleimer. „Außerdem bin ich überhaupt nicht gestresst. Mir geht nur das kalte Wetter auf die Nerven. Temperaturen im Minusbereich und Schnee­wehen sind ein ziemlicher harter Kontrast zu den sonnigen Bahamas.“

„Hattest du kein schlechtes Wetter?“

„Nein. Wieso?“ Von einem makellos blauen Himmel hatte die Sonne gestrahlt. Das Wetter war so perfekt gewesen, dass jeden Tag all die flitternden Pärchen schmusend und turtelnd den Strand belagert hatten. Und leider hatten die Voodoo-Puppen, die Cassie in einer dunklen Gasse erstanden hatte, nicht die erwünschte Folterwirkung bei den idiotisch glücklichen Paaren gezeigt. Nicht dass sie etwa ernsthaft ihre glückselige Euphorie hatte stören wollen. Es war nur ein rein wissenschaftliches Experiment gewesen, das ihr helfen sollte, eine noch bessere Stressbewältigungstherapeutin zu werden. Wenn es ihr gelungen wäre, den strohdummen Bräuten die eine oder andere Träne zu entlocken … dann umso besser. Nein! Sie meinte natürlich, sie wäre zu ihnen hinübergegangen und hätte sich entschuldigt, und sich nicht an ihrem Leid geweidet. Mann!

„Du hast also nicht die gesamten drei Wochen drinnen verbracht und bist wegen der verpatzten Hochzeit vor Schmerz zerflossen?“

Cassie erstarrte. Als ob sie auch nur einen Tag Heulerei an dieses treulose Schwein verschwenden würde. „Ich war die ganze Zeit draußen in der Sonne. Wieso?“

„Haha.“

„Haha, was?“

„Wieso bist du dann nicht braun geworden?“

„Was? Ich bin knackig braun.“

Leo hob skeptisch eine blonde Braue. „Tatsächlich?“

Cassie hatte die Bahamas erst an diesem Morgen verlassen. Ihre Bräune konnte doch noch nicht verblasst sein. Die war schließlich der Beweis, mit dem sie der Welt demonstrierte, dass sie psychisch stabil und völlig darüber hinweg war. Wie könnte sich auch jemand mit einer Wahnsinnsbräune nicht bester emotionaler Verfassung erfreuen?

Cassie nahm ihre goldene Uhr vom Arm und streckte Leo ihr Handgelenk hin. „Siehst du jetzt den Unterschied?“ Puh!

Leo kniff die Augen zusammen und hielt Cassies Handgelenk dicht vor das Gesicht. „Oh, ja. Ich kann einen schwachen Streifen erkennen – wenn ich die Augen zusammenkneife und mir einrede, ich hätte bewusstseinserweiternde Drogen eingeworfen.“

„Sehr witzig!“ Das war genau, was sie im Moment brauchte: eine sarkastische Freundin, die sich weigerte, ihre todschicke Bräune zu bemerken. Wenn Cassie nicht so selbstbewusst und charakterlich gefestigt wäre, hätte sie nun leicht dem Glauben verfallen können, dass Leo ihre Bräune wirklich nicht erkennen konnte. Und dann würde sie zu guter Letzt heulend zusammenbrechen, weil …

Nein! Sie hatte sich selbst versprochen, dass sie am heutigen Abend keinen Gedanken an ihren untreuen Ex verschwenden würde. Und überhaupt, wer wollte denn schon einen Verlobten haben? Sie bestimmt nicht. Nein! Sie war die Göttin des Tanzbodens, die sich schon bald nicht mehr vor Aufforderungen zum Tanz von all den gut aussehenden, reichen Männern auf diesem schicken Ball würde retten können.

Okay, er fand halt in einer Turnhalle statt. Na und? Immerhin war sie mit Girlanden und Ballons dekoriert. Und der DJ war wirklich nicht schlecht. Jeden Moment musste einem der umherwirbelnden Teenager oder Jitterbug tanzenden Senioren auffallen, dass sie zu haben war. Dann würde er quer über die Tanzfläche auf sie zustürzen, um ihr einen Drink zu spendieren. Okay, gut. Wahrscheinlich nur eine Cola. Das Licht war schummerig, es war voll und laut – eben eine Party, die man nicht verpassen durfte.

Oh ja. Sie würde mit den besten Männern tanzen und sich richtig austoben. Mit dem Ellbogen stieß sie Leo in die Seite. „Ich glaube, der junge Typ da drüben will mich zum Tanzen auffordern.“ Sie deutete mit dem Kinn zu einem dünnen Rothaarigen hinüber, der eine Zahnspange trug. „Er zeigt mit dem Finger auf mich.“

„Er wäre einer der Helfer bei deiner Hochzeit gewesen. Er zeigt mit dem Finger auf dich, damit jeder mitkriegt, dass du hier bist.“

„Oh.“ Nun ja, war das nicht total daneben? Nein, es war okay. Sollen sie doch glotzen. Cassie reckte ihr Kinn vor. Die würden schon noch merken, was für eine souveräne Diva sie war. „Ich bin aus Teflon.“

Leo sah sie erstaunt an. „Wie bitte?“

„Ich bin aus Teflon. Alle blöden Kommentare gleiten an mir ab.“

„Ist das einer der Sprüche, die du deinen gestressten Klienten einimpfst?“

„Es funktioniert.“

„Wie denn? Indem man sich selbst belügt?“

„Eine Selbstlüge kann ein sehr effektives Mittel zur Bewältigung von Drucksituationen sein“, antwortete Cassie.

„Das heißt aber noch lange nicht, dass sie gut für dich sind. Da kannst du jeden Exjunkie fragen, der mal versucht hat, mit einem Motorrad zu schlafen.“

„Wovon redest du?“

Leo lächelte verschmitzt. „Morgen Abend habe ich ein Date mit einem Biker. Ich versuche nur, mich in Gedanken schon mal darauf einzustellen.“

„Manchmal machst du mir Angst.“

„Und du machst mir ständig Angst. Deshalb verstehen wir uns so blendend.“ Leo ließ ihren Blick über die Menge schweifen – offensichtlich auf der Suche nach einem Mann, mit dem sie das neue Jahr würde einläuten können – ihr tief ausgeschnittener Pullover und ihr Hüftwackeln ließen daran wenig Zweifel.

„Und? Hast du dich auf heißen Dates getummelt, während ich weg war?“ Leos ausschweifendes Liebesleben war genau das richtige Thema, um sie von dem Gedanken abzulenken, dass diese Party eigentlich ihr erster Auftritt als Mrs. Drew Smothers hätte sein sollen und sie ihn nun stattdessen allein, verbittert und kaum gebräunt absolvierte. Das jedenfalls würden vermutlich Außenstehende annehmen. In Wahrheit jedoch war sie von tiefer Dankbarkeit erfüllt, dass sich ihr Leben als ein einziges großes Wunder präsentierte.

„Oh, das Übliche. Viele Dates, aber keins davon heiß genug, um eine verbitterte geschiedene Frau wie mich befriedigen zu können.“ Leo straffte die Schultern und richtete ihren Blick auf die gegenüberliegende Ecke der Halle. „Aber jetzt, da du auch Single bist, können wir zusammen losziehen und die Männerwelt erobern.“

Das Lächeln verschwand von Cassies Gesicht. „Ich bin erst seit drei Wochen Single. Nach vier Jahren in einer festen Beziehung bin ich noch nicht so weit, mich wieder mit Männern zu verabreden. Und schon gar nicht mit Bikern.“

„Zu dem Date habe ich dich auch nicht eingeladen. Den will ich für mich allein.“ Leo schaute sie eindringlich an. „Ich denke allerdings, dass du wieder raus in die Wildbahn solltest.“

„Falsch gedacht.“ Es war lächerlich, das zu sagen.

„Wirklich?“

„Absolut.“ Cassie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich brauche keinen Mann.“

„Du hast Angst.“

„Ich habe keine Angst.“

Ein paar Vorurteile, weil der lüsterne Bock, den sie vier Jahre lang geliebt und fast geheiratet hätte, ihr das Herz aus der Brust gerissen hatte? Schon eher …

Angst, ihren Instinkt, was Männer anbelangte, nicht mehr trauen zu können? Nur wenn es sich auf lebende Exemplare bezog.

Angst, dass sie als alte Jungfer enden würde, die mangels anderweitiger Gesellschaft mit ihren Küchengeräten plauderte? Durchaus möglich.

Aber Angst vor einem Date? Sie doch nicht!

„A… ha!“ Leo griff Cassies Arm. „Da drüben stehen zwei scharfe Typen, die ich nicht kenne. Lass uns rübergehen und uns vorstellen.“

„Typen?“ Während Leo sie um die Tanzfläche herum mitschleifte, spürte Cassie, wie sich ihre Kehle zuschnürte und sie kaum mehr Luft in die Lungen bekam. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich loszureißen. „Lass mich los.“

„Nein!“ Leos Griff wurde noch fester. „Du siehst wie eine Idiotin aus, wenn du dich so sträubst. Lächle und sei sexy!“

„Ich hasse dich“, konnte Cassie ihr noch zuflüstern, bevor Leo in einer schummrigen Ecke stehen blieb, in der zwei Anzugträger mit breiten Schultern und schmalen Hüften standen.

„Hi, ich bin Leo.“

Beide Männer nickten und murmelten etwas, das Cassie bei der wummernden Musik und dem lauten Geplapper der umstehenden Partygänger nicht verstehen konnte. Ihr blieb nur, den rechten der beiden anzustarren. Er überragte seinen Freund um mindestens die Länge einer Familienpackung Oreo-Kekse. Sein Haar war dunkel, seine Augen kohlschwarz, und der Schatten frischer Bartstoppeln umrahmte sein Kinn.

Zu Cassies Erstaunen hatte er seinen Blick nicht auf Leo geheftet, in der Hoffnung, ein Lächeln von ihr zu ergattern. Er musterte Cassie, wie nur ein Mann eine Frau mustert. Ui! Seit Jahren schon hatte niemand sie mehr auf diese Weise angesehen.

Das musste wohl an ihrem Single-Status liegen. Anscheinend sendete sie unbewusst Paarungssignale aus, auf die nur die besten Männer mit dem stärksten Sex-Appeal ansprangen. Cassie-Pheromone in Verbindung mit ihrem wunderbar gebräunten Teint bildeten ganz offensichtlich eine wirkungsstarke Kombination. Sie hatte es nicht nötig, verheiratet zu sein. Diese ganze Dating-Geschichte würde ein Kinderspiel für sie sein.

„Wir gehen tanzen. Bis später“, rief ihr Leo zu und hakte sich bei dem anderen Mann ein.

„Was?“, kreischte Cassie. Super, Cassie. Warum nicht gleich die Panik noch deutlicher durchklingen lassen, mit dem heißesten Typen, den sie seit Jahren – besser Jahrzehnten – gesehen hatte, alleine zurückzubleiben?

Da hatte sie den Eindruck einer höflichen, kultivierten und psychisch gesunden Frau bereits verspielt.

Leo war schon mit ihrer neuesten Eroberung im Schlepptau in der tanzenden Menge verschwunden.

Cassie räusperte sich und überlegte fieberhaft, was ein weiblicher Single wohl zu einem wahnsinnig attraktiven Mann auf einem Silvesterball sagen würde. Während der letzten vier Jahre, als sie in ihrer Beziehung glücklich gewesen war, hatte sie mühelos lockere Gespräche mit jedermann anfangen können. Aber jetzt, da sie Single war, schien es ihr, als ob ihr Hirn sie im Stich gelassen hätte, um Pingpong spielen zu gehen, und ihre Zunge mitgegangen wäre, um das Spiel zu verfolgen.

„Ich bin Ty.“ Offensichtlich litt er nicht unter der gleichen Störung wie sie, denn er streckte ihr die Hand entgegen und machte den Eindruck, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein.

„Hi.“ Sie schüttelte seine Hand und war überrascht, wie fest sein Händedruck war. Als läge unter seiner Haut ein Schraubstock verborgen, der sie auf allerlei interessante Art und Weise greifen und festhalten könnte …

„Und wie heißt du?“, half Ty ihr auf die Sprünge.

„Oh. Ja. Ich …“ Warum hatte sie Leo nur den Schokotoffee mitnehmen lassen? „Mein Name … ist … Cassie.“ Puh! Den schwierigen Teil hatte sie hinter sich gebracht.

Ty nickte.

Sie lächelte.

Die Musik plärrte.

Mann, war sie nicht eine glänzende Unterhalterin? Nur so sprühend vor Geist. Es war erstaunlich, dass sie nur diesen einen Heiratsantrag bekommen hatte.

„Also, äh …“

Er wandte seinen Blick von der Tanzfläche ab. „Ja?“

„Ich …“ Wo hatte sie nur ihr Hirn gelassen? „Netter Anzug.“

„Ich bin direkt von der Arbeit hierhergekommen.“

„Arbeit? Aber es ist …“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, die leider den sichtbaren Beweis, dass sie eine wunderbar sonnengebräunte Haut hatte, verdeckte. Vielleicht sollte sie die Uhr lieber an das andere Handgelenk binden. „Es ist fast elf Uhr am Silvesterabend. Was machst du denn beruflich?“

„Ich bin Finanzberater.“

„Oh.“ Lass dir eine interessante Antwort einfallen. „Ich hatte als Kind ein Sparschwein.“

Er zog amüsiert eine Augenbraue hoch. „War es rosa?“

„Ja, ich nannte es Wilhelmina und …“ Cassie hielt inne. „Oh, Moment mal. Du machst dich über mich lustig.“

„Überhaupt nicht. Ich hatte ein ‚Knack-und-Back‘-Männchen-Sparschwein. Es inspiriert mich immer noch.“ Doch Ty lächelte nun über beide Ohren, und seine Augen funkelten.

Cassie schnitt eine Grimasse. „Schon gut, es war nicht gerade der eleganteste Anmachspruch.“

„Du wolltest mich anmachen?“ Er schaute sie prüfend an.

„Dich anmachen …“

„Wieso hatte sie ihre Zunge heute Abend nicht zu Hause gelassen?“ Als Allererstes am Montagmorgen würde sie das Ding chirurgisch entfernen lassen. „Nein. Ich meine … äh … es war nur einfach eine Bemerkung …“

Ty brummte etwas, und sie spürte wieder, wie sein Blick auf ihr ruhte. „Wo bist du so braun geworden?“

Ein warmes Glücksgefühl strömte durch Cassies Körper. Er hatte ihre sonnengeküsste Haut bemerkt. Nicht einmal Leo war sie aufgefallen. Den Kerl solltest du dir schnappen und nie wieder loslassen.

Ach! Haltet die Klappe, Hormone. Sie war nicht an einem Mann interessiert. Sie war Single und verdammt glücklich darüber. „Ich bin gerade erst von den Bahamas zurück. Meine Flitterwochen.“

Ihre Flitterwochen? Wie konnte sie eigentlich nur einem attraktiven Mann gegenüber, der aufmerksam genug war, ihre Bräune zu bemerken, den Anschein erwecken, verheiratet zu sein? Das war doch total idiotisch. Besser gesagt, es wäre idiotisch, wenn sie die Absicht hätte, ihn zu beeindrucken. Was nicht der Fall war.

Tys Blick wanderte zu ihrer linken Hand. Eine seiner Augenbrauen zuckte, als er ihren ringlosen Finger bemerkte.

Verschämt versteckte Cassie ihre Hand hinter dem Rücken. „Äh … es waren nicht wirklich meine Flitterwochen. Ich meine, es sollten eigentlich meine Flitterwochen sein. Ich bin allein gefahren.“

Nun hatte er seine beiden dichten, dunklen Augenbrauen hochgezogen, und sein Blick ruhte nicht mehr auf Cassies Sonnenbräune. Er schaute ihr unverwandt in die Augen, als ob er unbedingt herausfinden wollte, welche Geheimnisse hinter ihrer Stirn wohnten.

Oder sie hatte Halluzinationen von zu viel Schokolade.

„Wie kam es dazu, dass du allein auf Hochzeitsreise gegangen bist? Hört sich nach einer interessanten Geschichte an.“

„Du bist anscheinend neu hier in der Stadt.“

Von dem abrupten Themenwechsel vermutlich überrumpelt, blickte er sie erstaunt an. „Ich lebe seit sechs Monaten hier“, antwortete er. „Warum?“

„Bist du ein Einsiedler? Anders wäre es nicht zu erklären, dass du hier wohnst und nicht von meiner tollen beziehungsweise ausgefallenen Hochzeit gehört hast.“

„Muss ein gefundenes Fressen gewesen sein, was?“

„Im Vergleich zu den anderen interessanten Geschichten, die in dieser Stadt im Dezember passieren, schon.“ Sie sah ihn fragend an. „Also, was nun? Bist du ein Einsiedler?“

Er warf ihr einen raschen Blick zu. „Ich arbeite eben viel.“

„Willst du damit sagen, dass du nie ausgehst und keine Ahnung hast, was hier in der Stadt passiert, und dass du auch keine Freunde hast?“ Nicht zu glauben! Es gab tatsächlich noch einen Menschen in der Stadt, bei dem ihr Ruf noch nicht ruiniert war! Ein Wahnsinnsgefühl!

Er kniff die Augen zusammen und schien von ihrer Therapie zum Nulltarif nicht unbedingt begeistert zu sein. „Also? Schieß los, was war denn mit der Hochzeit?“ Doch gleich darauf berührte er ihren Arm. „Es sei denn, du willst nicht darüber reden. Ich wollte nicht aufdringlich sein.“

Sie wäre fast auf der Stelle zerschmolzen. Ein echt heißer Typ, der zudem auch noch ihre Privatsphäre respektierte. Was konnte eine Frau denn mehr verlangen?

Langsam begann sie, Geschmack am Single-Dasein zu entwickeln.

„Cassie? Bist du das?“ Die Stimme ihres Exverlobten riss sie brutal aus ihren Träumen.

Ich habe dich nicht gehört.

„Cassie?“

Mistkerl. Sie hatte es gehört. Hau ab!

Doch seine näselnde Stimme rückte näher, und sie wusste, dass sie der Konfrontation mit der ekligen Pestfratze nicht mehr entfliehen konnte. Er war auf dem Weg zu ihr. Mit einer Hand suchte sie Halt an der Wand, beugte sich vor und versuchte, Kraft zu sammeln, während ihr der Magen in die Knie zu rutschen schien – sogar noch weiter, bis in die Füße hinunter, um dann langsam durch ihre Schuhsohlen zu sickern.

Sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um herauszufinden, dass sie doch noch nicht in der Lage war, Drew gegenüberzutreten. Es wäre unvergleichlich günstiger gewesen, es zu wissen, bevor sie ihm – und Ty – vor die Füße spie. Nicht etwa, dass sie sich wirklich übergeben würde. Sie war emotional natürlich viel zu gefestigt, um so etwas Lächerliches zu tun.

Das hoffte sie zumindest.

Nur für den Hinterkopf: Manchmal waren Selbstlügen keine gute Sache. Zum Beispiel wenn sie glauben würde, sie könne fliegen und würde daraufhin vom Empire-State-Building springen. Das war ein sonnenklares Beispiel für die Schädlichkeit von Selbstlügen.

Oder man stelle sich vor, man besuche einen Ball, wo der Exverlobte aufkreuzt. Man dachte, man wäre auf die Begegnung vorbereitet, nur um feststellen zu müssen, dass dem keineswegs so war.

Ein nettes kleines Gedankenspiel, das sie auf jeden Fall in ihre zukünftigen Stressbewältigungsstrategien einbauen würde.

Na bitte! Aus jeder Situation ließ sich noch etwas Gutes gewinnen. War ihre Stärke nicht beneidenswert?

„Alles in Ordnung?“ Der amüsierte Blick war aus Tys Gesicht gewichen. Er sah sie mit einer zu Herzen gehenden besorgten Miene an. Oder sie wäre zumindest zu Herzen gehend gewesen, wenn Cassie nicht so speiübel gewesen wäre. Was war nur mit der Schokolade los? Offensichtlich zeigte die bei ihr im Moment keinerlei gute Wirkung mehr. Er berührte ihre Schulter. Seine Hand fühlte sich durch den Angorapulli hindurch warm und beruhigend an. „Du siehst nicht besonders gut aus.“

„Vielen Dank. Gesagt zu bekommen, sie sehe nicht besonders gut aus, hört jede Frau gern.“ Tief einatmen. Tief einatmen.

Auf Tys Wangen zeigte sich ein rötlicher Schimmer. So schien es Cassie zumindest. In dem schummrigen Licht, während ihr Blick verschwamm und der Saal anfing sich zu drehen, hätte sie es nicht mit Sicherheit beschwören können. „Ich wollte damit nicht sagen, dass du nicht gut aussiehst. Du siehst gut aus. Hübsch sogar. Nicht, dass es mir aufgefallen wäre. Ich wollte nur sagen, dass du aussiehst, als sei dir nicht gut.“

Sie hätte ihm gerne tröstend den Arm getätschelt, doch sie war vollauf damit beschäftigt, sich an die Wand zu klammern. „Es ist nur eine kleine Magenverstimmung. Es geht mir gut. Wirklich.“

„Cassie! Du bist es!“ Eine höchst unwillkommene Hand legte sich auf ihren Arm. „Ich wusste gar nicht, dass du wieder da bist.“

Sie sah, wie Ty über ihre Schulter blickte, und erkannte, dass dies ihr großer Moment war. Die Augen aller Anwesenden waren auf sie gerichtet. Alle hofften auf einen Skandal, eine Szene … um sich die Mäuler zerreißen zu können.

Sie könnte sich umdrehen, Drew ihr Knie in den Schritt rammen und danach wie eine echte Diva hocherhobenen Hauptes den Saal verlassen. Oder sie könnte daran denken, dass sich unter den Anwesenden auch zukünftige Klienten befanden, die nicht sehr beeindruckt von einer Stresstherapeutin wären, die Gewalt gegen das schwächere Geschlecht ausübt.

Zu allem Überfluss hatte es die Ironie des Schicksals so gewollt, dass sich ihre Notration an Schokolade für sie unerreichbar in Leos Tasche auf der Tanzfläche befand. Nichts zu machen. Cassie holte tief Luft und reckte ihr Kinn vor.

Sie verzog ihren Mund zu einem breiten Lächeln und drehte sich zu ihrem Exverlobten Drew Smothers um. „Hi, Drew.“

Da stand er in seiner ganzen blonden Pracht. Sein Anzug … hm … schien nicht so gut zu sitzen wie Tys. Und er war herrlich blass – ein Opfer des Dezemberwetters in Gardenbloom.

„Hast du unsere Tickets doch nicht genommen?“, fragte er.

Sie runzelte die Stirn. „Doch.“

„Schlechtes Wetter gehabt?“

Bastard. Cassie schob ihre Armbanduhr beiseite und streckte ihm ihr Handgelenk entgegen. „Noch irgendwelche Fragen?“

„Oh, verstehe. Na ja, deine Haut hat die Sonne noch nie gut vertragen.“

„Ty ist meine Bräune aufgefallen.“

„Ty?“, wiederholte Drew verblüfft.

Der süße, wundervolle Ty schlang seinen linken Arm um ihre Taille und streckte Drew die rechte Hand entgegen. „Ty Parker. Nett, Sie kennenzulernen.“

Gütiger Gott. Ty war nicht nur ein echter Wahnsinnstyp, sondern dazu auch noch aufgeweckt. Unglaublich.

Drew schüttelte Ty unbeholfen die Hand und starrte Cassie an. „Er ist … er ist mit dir hier? Aber … ich dachte, du wärst allein.“

„Ist sie nicht.“ Ty schlang seinen Arm noch enger um Cassies Taille. Sein Daumen strich wie zufällig über ihre Hüfte. Und er duftete verdammt gut – unwiderstehlich lecker, wie würziges Holz. Kräftig und maskulin, dabei jedoch raffiniert und zart. Sie atmete den Duft tief ein und versuchte verzweifelt, es sich nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, dass er ihr völlig die Sinne raubte.

Sie würde das vielleicht in ihre Liste der Anti-Stress-Mittel aufnehmen: Beruhigende Düfte … die selbstverständlich von Mensch zu Mensch variieren würden.

Sie wusste, welcher Duft bei ihr wirkte. Vielleicht könnte sie Tys in Flakons abfüllen und ihn auf ihrem Frisiertisch deponieren.

Oder neben ihr Bett.

Autor

Stephanie Rowe
Mehr erfahren