Schön wie ein griechischer Gott

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Bei einem letzten gemeinsamen Urlaub auf einer romantischen Insel in der Ägäis wollen Sapphira und Athanasios prüfen, ob ihre Ehe noch zu retten ist. Aber alles scheint vergebens - bis sich ihr kleiner Sohn verletzt und Sapphira erkennt, wie sehr ihr Mann und ihre Kinder sie brauchen …


  • Erscheinungstag 01.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758912
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sapphira trug ein schlichtes weißes Kleid mit einem runden Halsausschnitt, das mit seinen kurzen Ärmeln und dem weiten Rock ihre überschlanke Figur kaschierte. Weiße Kleidung bot den besten Schutz gegen die Wärme der starken Sonne Griechenlands.

Trotz der flimmernden Hitze des frühen Nachmittags ging Sapphira wie eine Schlafwandlerin die verlassenen Straßen entlang. Statt Weiß müsste ich eigentlich Schwarz tragen, ging es ihr mit dieser seltsamen Teilnahmslosigkeit durch den Sinn, die sie seit dem Gerichtsbeschluss erfasst hatte. Schwarz, die Farbe der Trauer, denn hatte sie nicht fast alles auf der Welt schon verloren, wofür sie gelebt hatte? Und war sie nicht jetzt auf dem Weg, um auch noch das Letzte aufzugeben?

Der Fußmarsch würde ihr Zeit geben, sich die Worte zu wiederholen, die sie Athanasios sagen wollte. Sie war fest entschlossen, es dabei nicht zu Tränen oder Anschuldigungen kommen zu lassen. Wenigstens hatte sie inzwischen ein bisschen ihres gebrochenen Stolzes wieder gefunden. Es hatte sie drei schlaflose Nächte gekostet, die Wahrheit zu begreifen und zu akzeptieren, den Schmerz zu verarbeiten und diese qualvolle Entscheidung zu treffen.

Sapphira bog von der Straße ab und nahm den von hohem Gras und Wildblumen gesäumten Weg zur Villa. So früh im Jahr waren die Pflanzen noch nicht von der Sonne verdorrt. Sie folgte dem Weg durch den herrlichen Wildgarten mit den Steinplattenkarrees auf verschiedenen Ebenen, seinen Steinsäulen und einer Fülle von Stockrosen, Dahlien, Rosen und Gladiolen, zwischen denen ultramarinfarbene Winden, Bougainvillea-Büsche und orangefarbene Trompetenblüten leuchteten. Dann stand sie vor dem hohen Portal mit der zweiflügeligen Tür aus Olivenholz und nahm die große Sonnenbrille ab.

Den Kopf mit den hochgesteckten aschblonden Haaren über ihre Schultertasche geneigt, suchte sie nach dem Schlüssel.

Verärgert biss sie die Zähne zusammen. Jetzt hatte sie doch tatsächlich vergessen, dass sie nicht mehr ganz nach Belieben kommen und gehen konnte. Sie war in der Villa Andromeda nicht mehr die Hausherrin, sondern nur noch ein Gast.

Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Tasche wieder und drückte auf den Klingelknopf.

„Kyria Stavrolakis …“ Eine Frau in mittleren Jahren öffnete die Tür und grüßte in einem Ton, der gleichzeitig Freude, Trauer und Verlegenheit verriet.

„Ich glaube, der Kyrios erwartet mich, Ephimi?“, sagte Sapphira, während sie in die kühle Halle trat und die Hausangestellte hinter ihr die Tür schloss.

Sie hätte „mein Mann“ oder auch „Kyrios Athanasios“ sagen können, stattdessen hatte sie die förmlichste Anrede gewählt. Förmlichkeit und Höflichkeit standen auf der Tagesordnung, Emotionen und Hysterie – Zeichen der Leidenschaft – gehörten der Vergangenheit an. Um Leidenschaft empfinden zu können, musste man leben, und seit dem Gerichtsbeschluss fühlte sie sich wie tot. So unbegreiflich ihr mit ihrem englischen Gerechtigkeitssinn die Entscheidung auch vorkommen mochte, so unanfechtbar war sie.

„Wenn die Kyria warten möchte …“ Verlegen biss sich Ephimi auf die Lippen und fuhr dann aufgeregt fort: „Ich glaube, der Kyrios duscht gerade.“

„Es besteht kein Grund zur Eile.“ Mit hocherhobenem Haupt wandte Sapphira sich zum Wohnzimmer. Unwillkürlich erhob sich vor ihrem geistigen Auge das Bild von Athanasios, wie er nackt und verletzbar unter dem Wasserstrahl stand. Nein, nicht verletzbar, das zeugte von Schwäche, und die besaß dieser Mann, den sie gerade geheiratet hatte, keineswegs. Es waren seine Willensstärke und seine Zielstrebigkeit gewesen, von denen sie sich vor fünfeinhalb Jahren angezogen gefühlt hatte.

Sie war damals siebzehn, und es war Heiligabend gewesen.

Sie nahm auf der großen dickgepolsterten Couch aus Fichtenholz Platz, während ihre Gedanken zurückwanderten zu dieser ersten Begegnung im reizvollen Westengland.

Sapphira war mit ihren Freunden von der Kunsthochschule, wo sie Textildesign studierte, auf einer Weihnachtsparty gewesen.

Lustig beschwipst kam sie nach Hause und ging mit vom Champagner geröteten Wangen ins Wohnzimmer. Der schwach beleuchtete Raum war jedoch nicht leer, wie sie erwartet hatte. Stattdessen traf sie auf ihren Bruder.

„David, Darling! Ich dachte, du verbringst Weihnachten mit Marcia!“ In ihrer Überraschung bemerkte sie nicht gleich die andere Gestalt, die sich bei ihrem Eintritt erhob.

„Das dachte ich auch“, antwortete David bedauernd. „Aber sie bekommt erst den zweiten Ferientag dienstfrei. Deshalb dachte ich, ich verbringe ein paar Tage zu Hause. Außerdem habe ich einen Freund mitgebracht, der die Festtage über bei uns sein wird.“

„Wie herrlich!“ Auf ihren Wangen bildeten sich zwei kleine Grübchen. Bei der Aussicht auf ein paar schöne Tage strahlte sie ihn mit der ganzen übersprudelnden Lebensfreude der Jugend an. „Das ist für mich das erste Weihnachtsgeschenk dieses Jahr!“

Ihr erster Fehler bestand darin, anzunehmen, dass der Gast in Davids Alter sei. David war zwanzig. Der Fremde musste ungefähr dreißig sein. Als er sie prüfend ansah, wünschte sie plötzlich, ihren Bruder nicht so überschwänglich begrüßt zu haben. Obwohl in seinem Blick nichts Unhöfliches lag, begann sie auf einmal, die Wahl ihres Kostüms zu bereuen.

Undine, der Wassergeist. Sie hatte sich dazu beglückwünscht, dass ihr ein Kostüm eingefallen war, das leicht anzufertigen, fantasievoll und attraktiv zu tragen war. Auf einem fleischfarbenen Bodystocking hatte sie Streifen aus Seidenchiffon in blassen Grün- und Blautönen befestigt, unterbrochen von Silberlamestreifen. Dazu hatte sie in ihre taillenlangen blonden Haare feine Silberkordeln geflochten.

Auf der Party hatte das Kostüm auch tatsächlich riesigen Beifall gefunden. In der Gegenwart dieses Mannes jedoch, der mit seinem beharrlichen Blick ihr die Haltung zu rauben drohte, fühlte sie sich plötzlich kindisch und unreif. Es waren seine Augen, die sie aus der Fassung brachten. Er hatte tief liegende grüne Augen, die von langen schwarzen Wimpern umrahmt wurden.

„Sapphira“, sagte David, ohne etwas von ihren aufgewühlten Gefühlen zu ahnen. „Das ist Athanasios Stavrolakis. Er hat hier am College Computertechnik studiert. Da er noch über Weihnachten in England bleibt, wollte ich ihm zeigen, wie wir Engländer dieses Fest feiern.“

„Bei uns in Griechenland ist Ostern das wichtigste Fest.“ Seine tiefe Stimme verriet lediglich durch einen kleinen Akzent seine südländische Herkunft. Lächelnd sah er Sapphira mit einem unwiderstehlichen Blick an.

„Ja, ich weiß“, versuchte sie, diesen imponierenden Fremden mit ihren spärlichen Kenntnissen zu beeindrucken.

Ihr wurde schwach in den Knien, als er ihre ausgestreckte Hand ergriff.

„Sapphira“, wiederholte er leise ihren Namen. Es klang wie eine Zärtlichkeit. Zitternd und mit wildklopfendem Herzen wagte sie nicht, die Botschaft in seinen Augen zu entziffern, als er nach einem prüfenden Blick über ihr Kostüm wieder in ihre Augen sah. „Das ist doch sicher keiner der üblichen englischen Namen, oder täusche ich mich?“

„Er ist biblischen Ursprungs“, antwortete sie spröde. „Mein Vater macht sich nicht viel aus Neuerungen. Sapphira war die Frau von Ananias.“

„Ach, ja.“ Er nickte. „Der Mann, der log und den Betrug mit dem Leben bezahlte. Wenn ich mich recht erinnere, teilte seine Frau freiwillig das Schicksal mit ihm.“

„Eine solche Strafe für Loyalität halte ich für grausam.“ Sapphira sah ihn herausfordernd an, bereit, die Frau zu verteidigen, deren Namen sie trug. „Wenn ich einen Mann liebe, würde ich auch immer zu ihm stehen, sogar bis ins Grab!“

„Was für ein glücklicher Mann.“ Er lächelte amüsiert, als er ihren trotzigen Blick bemerkte. „Aber wie ich sehe, kopieren Sie heute nicht Ihre unglückliche Namensschwester. Sind Sie vielleicht eine Wasserrose?“

„Nein!“ Sie lachte, froh darüber, ein Ventil für ihre innere Spannung gefunden zu haben. „Ich bin eine Nymphe – ein Wassergeist.“

Ihre Blicke trafen sich, und Sapphira fühlte sich plötzlich wie in ein magnetisches Feld gezogen, in dem Fantasie stärker als die Realität war.

„Und sind Sie vielleicht für mich das Weihnachtsgeschenk?“, fragte er belustigt.

Du lieber Himmel, was soll David über diese Flirterei denken? Fragte sie sich entgeistert, als sie sich plötzlich wieder an ihren Bruder erinnerte. Der schenkte sich jedoch gerade einen Drink ein und murmelte nur etwas über die Prüfungen und Leiden, die die Freundschaft mit einer Krankenschwester mit sich brachte.

Sie antwortete nicht auf die Frage, sondern lächelte nur höflich. Athanasios Stavrolakis war wirklich der bestaussehende Mann, dem sie je begegnet war, auch wenn ein etwas zu harter Zug um seinen schön geschwungenen Mund lag und tiefe Linien von der Nase zu den Mundwinkeln führten. Was seine Augen mit den dunklen Wimpern betraf, konnte man in ihrer unergründlichen Tiefe regelrecht versinken.

Sapphira wusste kaum, was sie tat, als sie ihren Blick abwärts gleiten ließ. Er trug ein weißes Hemd, das breite Schultern und eine muskulöse Brust verdeckte, hatte schmale Hüften und lange Beine.

„Wenn einem das Weihnachtsgeschenk nicht gefällt, kann man es dann vielleicht auch wieder umtauschen?“, fragte er mit trügerisch sanfter Stimme und funkelnden Augen.

„Manche Leute tun so etwas“, gab sie leichthin zurück, wünschte jedoch, ihr Herzschlag würde sich normalisieren und das Zittern ihrer Hände aufhören. „Aber bei uns gilt, dass es die Geste ist, die zählt.“

Bewusst versuchte sie, sich zu entspannen. An der Zustimmung ihrer Eltern, einen unerwarteten Gast zu beherbergen, war nichts Ungewöhnliches. Da das Haus allerdings nur vier Schlafzimmer besaß, musste sie ihr Zimmer frei machen und solange zu ihrer älteren Schwester Abigail ziehen. „Ich nehme an, David hat Ihnen schon gesagt, wo Sie schlafen werden, Mr. Stavrolakis …?“

Er nickte. „Ich werde in Ihrem Bett schlafen, Sapphira… wenn Sie keine Einwände haben?“

„Nehmen Sie es – es gehört ganz Ihnen!“ Eine schwache Erinnerung an die griechische Gastfreundschaft hatte sie zu dieser unbesonnenen Antwort verleitet. Aber es klang fast so wie: „Nehmen Sie mich – ich gehöre Ihnen“, und sie konnte ein erregendes Vorgefühl nicht unterdrücken. „Ich wünsche Ihnen angenehme Träume, Mr. Stavrolakis.“

„Danke“, erwiderte er ernst, als ahnte er ihren Gedankengang und wäre nicht überrascht. „Wenn ich schon das Fest mit Ihrer Familie verbringe, kann ich Sie vielleicht dazu überreden, mich zu duzen und Athanasios zu nennen?“

„Athanasios …“ Sie legte mutwillig den Kopf zur Seite. „Ein wirklich ungewöhnlicher und sehr attraktiver Name …“

Ihr Instinkt warnte sie, dass sie ein gefährliches Spiel wagte, ganz offen einen Mann zu reizen, der so viel erwachsener und erfahrener als sie war. Aber mit siebzehn war sie zu jung und behütet, um tatsächlich zu erkennen, wie aufreizend ihre Haltung auf den attraktiven Griechen wirkte.

Sie probierte begeistert ihre gerade entdeckte Weiblichkeit an einem erwachsenen, reifen Mann aus, und in ihrer Unerfahrenheit lachte sie ihm übermütig ins Gesicht.

Sapphira zwang ihre Gedanken aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Die Villa Andromeda lag am Abhang eines Berges am Stadtrand von Kethina, einer kleinen Stadt in der Nähe von Athen. Durch die geöffneten Glastüren fiel der Blick über die terrassenförmigen Ländereien der umliegenden Kleinbauern. Wie still und friedlich, als wenn alles Leben sich in der Schwebe befände. Ruhelos ließ sie den Blick durch den hübschen Raum gleiten, in dem sie saß.

Nichts hatte sich verändert, seit sie sich vor neun Monaten entschieden hatte, die Villa zu verlassen, und zu Lorna gezogen war. Auf den kühlen Fußbodenfliesen war nicht ein Fleck zu sehen. Die geschmackvoll gepolsterten Möbelstücke aus Fichtenholz könnten sich ohne Weiteres in einer Zeitschrift für exklusives Wohnen sehen lassen, und die Wände mit den Bogen und Nischen boten den gleichen erfreulichen Anblick wie immer. Warum sollte sich auch etwas geändert haben? Fragte sie sich, und es versetzte ihr einen kleinen Stich, als sie der Realität ins Angesicht sah. Sie hatte sich nie viel um den Haushalt gekümmert, dafür war Ephimi zuständig, Athanasios’ tüchtige Haushälterin.

Sie selbst hatte einen besonderen, einmaligen Platz in seinem Leben eingenommen … oder zumindest hatte sie das einmal geglaubt. Ein Gefühl der Trostlosigkeit erfasste sie, und sie umklammerte krampfhaft die Handtasche auf ihrem Schoß. Sie hatte sich in diesem freundlichen Raum immer so wohl gefühlt. Sie würde ihn vermissen.

Die Türklinke bewegte sich, und Sapphira drehte sich nervös um, wobei ihr die Handtasche aus den Händen glitt und auf den glänzenden Mosaikboden fiel. Verärgert presste sie die Lippen zusammen.

Sie bückte sich, um die weiße Ledertasche aufzuheben, und zählte langsam bis drei, um Zeit zu gewinnen und ihre Fassung wieder zu finden. Als sie sich aufrichtete, blickte sie in das feindselige Gesicht des Mannes, der wie ein Rachegott im Raum stand und sie finster beobachtete.

Verwirrt stellte sie fest, dass, wenn auch sonst nichts, zumindest Athanasios sich verändert hatte. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, unter der Bräune seiner Haut schimmerte Blässe, und um seine Mundwinkel lag ein müder Zug.

Unverändert jedoch waren seine stolze Körperhaltung, das hochmütig erhobene Kinn und der harte Gesichtsausdruck.

Plötzlich schwankte sie und Dunkelheit stürzte auf Sapphira ein. Bevor sie zu Boden stürzte, war Athanasios bei ihr und nahm sie in seine Arme.

Sie verlor nicht völlig das Bewusstsein. Noch bevor er sie auf die Couch legte, war der Schwächeanfall vorüber. Und sie hatte geglaubt, einer Begegnung mit Athanasios gewachsen zu sein. Sie hatte ganz eindeutig die Macht seiner Nähe oder vielleicht auch das Ausmaß ihrer eigenen Schwäche unterschätzt!

„Hier. Das wird dich ein bisschen stärken.“ Er reichte ihr ein Glas Cognac.

„Metaxa? Für mich?“, fragte sie herausfordernd mit wieder erwachten Lebensgeistern. „Aber der Tag des Heiligen Dominikus ist doch im Januar und nicht im Juni?“

Er hielt das Glas fester, sodass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten. Gut, der kleine Seitenhieb hatte gesessen! Als er sie das letzte Mal mit einem Drink in der Hand sah, hatte er ihr mit beißendem Sarkasmus vorgehalten, wohl an jedem Tag dem Heiligen Dominikus huldigen zu wollen. Da sie die Bedeutung nicht kannte, hatte er ihr mit kalter Überlegenheit erklärt, dass dieser Tag von den griechischen Frauen als Hebammentag gefeiert wurde.

„Dieser Tag hat den dubiosen Ruf, der einzige Tag im Jahr zu sein, an dem unsere Frauen mehr trinken dürfen, als es ihnen bekommt, ohne für ihre Ausschweifung kritisiert zu werden“, hatte er unmissverständlich erklärt. Die ungerechtfertigte Spitze hatte sie tief verletzt. Es stimmte zwar, dass sie es sich seinerzeit angewöhnt hatte, jeden Abend vor dem Schlafengehen ein kleines Glas Cognac zu trinken, um besser schlafen zu können. Aber deshalb als Trinkerin gebrandmarkt zu werden, damit hatte sie nicht gerechnet, und die versteckte Beleidigung nagte noch immer in ihr.

„Du erinnerst dich also daran?“ Er entspannte sich. „Du überraschst mich, Sapphira. Ich dachte, du fändest die Bräuche und die Kultur meines Landes langweilig.“

„Ich denke, eine Ungerechtigkeit vergisst man nicht“, erwiderte sie knapp. „Griechenland hat mich nie gelangweilt.“

„Dann wohl nur die Griechen – oder sollte ich sagen, ein bestimmter Grieche?“ Seine spöttische Miene reizte sie zu einer wütenden Antwort.

Sie nahm sich zusammen und zuckte bloß die Schultern. „Wenn es das ist, was du unbedingt glauben willst. Ich habe kein Bedürfnis, mit dir zu streiten.“

„Das ist ein echter Fortschritt!“ Er hielt ihr erneut das Glas hin. „In dem Fall nimm deine Medizin – und lächle!“

„Nein, ich kann nicht.“ Hastig hob sie abwehrend die Hand. „Es wäre nicht klug, auf nüchternen Magen Alkohol zu trinken, besonders nicht in dieser Hitze.“

„Du hast noch nicht zu Mittag gegessen?“, fragte er gereizt.

Weder zu Mittag noch Frühstück, und auch das Dinner gestern Abend hatte sie ausfallen lassen, was er aber nicht zu wissen brauchte. Essen war in den letzten drei Tagen völlig unwichtig geworden. Dennoch wurde ihr unter dem kritischen Blick, mit dem Athanasios ihre überschlanke Gestalt musterte, unwohl.

„Mir war nicht nach Essen“, gestand sie schulterzuckend in der Hoffnung, dass er das Thema fallen ließ. „Das passiert mir manchmal. Die Hitze nimmt mir den Appetit.“

Ungeduldig setzte er das Cognacglas auf dem Couchtisch ab, wandte sich mit großen Schritten zur Tür und rief nach Ephimi.

Wenig später stand er wieder vor ihr. Diesen dominanten Mann mit seinen ein Meter neunzig hatte sie einmal für das begehrenswerteste Wesen gehalten, das die Welt hervorgebracht hatte. Jetzt ließ sein Anblick sie unberührt. Von den Gefühlen, die sie einmal für Liebe gehalten hatte, war nur ein dumpfer Schmerz übrig geblieben, der zu ihrem täglichen Begleiter geworden war.

„Ephimi bringt einen Imbiss“, erklärte er kurz. „Du wirst eine Kleinigkeit essen, Sapphira. Ein Widerspruch wäre unter den gegebenen Umständen unverantwortlich. Wenn du schon nicht um deiner selbst willen Angst davor hast, am Lenkrad ohnmächtig zu werden, dann denke daran, dass du meine Tochter bei dir im Wagen haben wirst!“

Den Kopf mit den schwarzen widerspenstigen Locken gebeugt und die Hände tief in den Taschen der hellen langen Hose vergraben, wanderte er rastlos auf und ab.

„Ich bin nicht mit dem Auto hier, ich bin zu Fuß gegangen“, gestand sie ruhig und spürte einen leisen Triumph, als er wie festgewurzelt stehen blieb.

„Zu Fuß!“, wiederholte er entgeistert. „Gütiger Himmel! Den ganzen Weg von der Stadt? In dieser Hitze? Kein Wunder, dass du halb tot aussiehst!“

„Vielen Dank, Athanasios.“ Sie lächelte gezwungen. Die wenig schmeichelhafte Bemerkung entsprach der Wahrheit. Ein Blick in den Spiegel ihres Schlafzimmers in Lornas Wohnung bestätigte ihr jeden Morgen, wie unattraktiv sie aussah. Mit dem hageren Gesicht, den tiefen Kuhlen über den Schulterknochen und den blassen dünnen Armen erinnerte sie in nichts mehr an die wohlgeformte Wassernymphe.

„Was für Pläne hast du also?“, fragte Athanasios schroff. „Spielt der allgegenwärtige Michael den Chauffeur … oder hast du vor, ein Taxi zu nehmen?“ Als sie nicht sofort antwortete, verfinsterte sich sein Blick. „Du erwartest doch hoffentlich nicht, dass ich dich fahre?“

Vor seinem unterdrückten Zorn presste Sapphira sich instinktiv tiefer in die Kissen der Couch. Als wenn sie sich so weit erniedrigen würde, ihn um einen Gefallen zu bitten! Schon ihn sehen zu müssen bedeutete eine Qual, die sie nur auf sich nahm, weil ihr Ehrgefühl es verlangte.

„Ich erwarte gar nichts von dir“, erklärte sie in eisigem Ton. „Ich habe vor, den gleichen Weg zurückzunehmen, den ich gekommen bin.“

„Zu Fuß?“, brüllte er wütend. „Mit einem dreijährigen Kind?“ Bevor sie begriff, was er vorhatte, war Athanasios mit wenigen Schritten bei ihr, packte sie an den Oberarmen und zog sie von der Couch. „Du hast tatsächlich vor, Victoria mitzunehmen, nicht wahr, Sapphira? Du bist gekommen, um mir meine Tochter zu rauben, nicht wahr?“

„Würdest du mir denn deinen Sohn geben?“, fragte sie herausfordernd mit blitzenden Augen.

„Nein.“ Schwer atmend hielt er sie mit hartem Griff fest. „Nein“, wiederholte er leise. „Wenn du darauf gehofft hast, dann vergiss es. Ich würde dir niemals meinen Sohn geben. Stephanos gehört nach dem Gesetz mir – und er bleibt mein!“ Auf seinem Gesicht lag ein gequälter Ausdruck. „Bist du deshalb gekommen? Willst du mich um Stephanos bitten?“

„Nimm die Hände von mir!“ Sapphira war über ihren Mut selbst erschrocken und überrascht, dass Athanasios der Aufforderung nachkam und wortlos zusah, wie sie automatisch die schmerzenden Arme rieb.

„Du irrst dich“, sagte sie mit einer Ruhe, die sie nicht empfand. „Ich bin nicht gekommen, um dich um unseren Sohn zu bitten. Im Gegenteil, ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich bereit bin, auf das Sorgerecht für unsere Tochter zu verzichten.“ Sie schwieg einen Moment, nicht um den dramatischen Effekt zu erhöhen, sondern weil ihr die Worte schwerfielen. „Du kannst beide Kinder haben.“

Sapphira hatte ihre Rede den ganzen Vormittag über eingeübt, warum also musste sie jetzt plötzlich weinen? Auch ohne verweinte Augen und gerötete Nase sah sie unattraktiv genug aus.

Hastig tupfte sie sich mit einem Taschentuch die Augen trocken, als Ephimi ein Tablett mit Obst, Eiern und Käse, selbst gebackenem Brot und Kuchenstückchen hereinbrachte.

Zögernd legte sie sich ein Stück von dem noch ofenwarmen Kuchen auf den Teller. Dass Athanasios nichts aß, überraschte sie nicht. Es war lange her, seit sie eine Mahlzeit zusammen eingenommen hatten und noch viel länger, dass sie eine solche ohne Groll und Bitterkeit beenden konnten.

Athanasios brach das Schweigen zuerst. „Du hast dich also entschlossen, deine Kinder aufzugeben. Seltsam, das Einzige, woran ich nie gezweifelt habe, war deine Liebe zu Victoria und Stephanos. Wer hat dir diesen Gedanken eingeredet? Deine teure Freundin oder ihr Bruder?“, fragte er verärgert mit einem bitteren Unterton.

„Es war meine Entscheidung.“ Ohne sich anmerken zu lassen, wie schmerzhaft seine Verachtung brannte und wie sehr die Herabsetzung ihrer Freunde sie traf, korrigierte sie beherrscht: „Und es sind unsere Kinder, Athanasios, nicht bloß meine.“

„Ja, unsere Kinder“, bestätigte er mit durchdringendem Blick. „Mit der freundlichen Genehmigung des Gerichts eines für dich und eines für mich. Ein salomonisches Urteil, Sapphira … und du wendest dich dagegen. Warum? Weil du beschlossen hast, in Sünde mit deinem Freund zu leben? Hast du vor, die Kinder im Stich zu lassen, um auf ihre Kosten deine eigene Befriedigung zu finden?“

„Um Himmels willen, Athanasios!“ Zorn stieg in ihr auf, der den Kummer verdrängte. „Du verstehst das nicht, nicht wahr?“ Sie blickte in das stolze Gesicht, dessen angespannte Miene nicht einen Funken Verständnis zeigte. „Das hat überhaupt nichts mit Lorna oder Michael zu tun. Lorna will mich nur glücklich sehen, und Michael war nie mehr als ein Freund, der rein zufällig auch noch ein Mann ist!“

Athanasios’ Miene blieb unbeweglich, und sie wusste, dass ihr Protest auf taube Ohren gestoßen war. Sie seufzte bei so viel Starrsinnigkeit. „Es ist nichts so, dass ich Victoria nicht bei mir haben möchte …“ Die Stimme versagte ihr einen Moment. „Natürlich will ich sie haben – ich will alle beide haben! Sie sind doch Zwillinge! Verstehst du nicht, was das bedeutet? Wenn du die Kinder jemals richtig beobachtet hast, dann weißt du, dass die beiden sich viel mehr brauchen als mich! Ein salomonisches Urteil!“ Sie lachte bitter auf. „In England hätte ich das Sorgerecht für beide Kinder bekommen. Wie kann ein Richter nur auf die Idee kommen, Zwillinge zu trennen – sie zwischen ihren Eltern aufzuteilen? So etwas ist ein Werk des Teufels, und ich kann nicht zulassen, dass das geschieht!“

„In Griechenland nimmt man einem Vater nicht den Sohn weg!“, erklärte Athanasios mitleidlos. Nur die Linien um seinen Mund verrieten innere Anspannungen, und in seinen Augen lag ein schmerzvoller Ausdruck.

„Du hast die ganze Zeit geglaubt, dass du für beide Kinder das Erziehungsrecht bekommst“, sprach sie tonlos aus, was sie zum ersten Mal wirklich begriff.

„Ja“, gab er zu. „Ja, das habe ich. Hier zumindest ist der Mann das Oberhaupt der Familie und für sein eigen Fleisch und Blut verantwortlich.“

„Nun ist dein Wunsch ja in Erfüllung gegangen.“ Sapphira konnte nicht länger still sitzen. Erregt stand sie auf und strich das Kleid glatt. Welch eine kurzsichtige Närrin war sie gewesen, eine möglicherweise südländische Rechtsprechung nicht bedacht zu haben. Sie hatte tatsächlich geglaubt, einen Sieg errungen zu haben, als Athanasios eine gesetzliche Trennung vorschlug, nachdem er sich monatelang gegen eine Scheidung gesperrt hatte.

Wäre sie zu dem Zeitpunkt nicht so verzweifelt gewesen, hätte sie vielleicht erkannt, dass er damit auf das Sorgerecht für die Kinder spekulierte – genauso, wie sie selbst. Stattdessen war es zu dieser unbegreiflichen, irrsinnigen Entscheidung gekommen, die Zwillinge zu trennen, Geschwister, die vom Tag der Geburt an alles gemeinsam erlebten, deren Leben durch eine enge seelische Bindung verknüpft war.

Autor

Angela Wells
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