Schöne Duchess in Gefahr

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Sie gibt ihm den Laufpass? Verblüfft liest Matthew Addison, Duke of Camberly, den Brief seiner Verlobten Willa Reverly. Das darf nicht sein! Er braucht dringend ihre Mitgift, um das verschuldete Anwesen Mayfield zu erhalten, das offenbar durch Erpressung ruiniert wurde. All seinen maskulinen Charme setzt er ein, um Willa doch noch von sich zu überzeugen, und auch sein Verlangen nach ihr ist plötzlich unendlich viel mehr als ein Geschäftsabkommen. Doch kaum ist Willa seine Duchess, beginnen Matts Probleme erst! Denn seine Nachforschungen, wer hinter der Erpressung auf Mayfield steckt, bringen seine junge Ehefrau in größte Gefahr …


  • Erscheinungstag 21.04.2020
  • Bandnummer 352
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749194
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Mayfield, Landsitz des Duke of Camberly, 8. September 1813

Du stellst meine Geduld auf eine harte Probe, Matthew“, ertönte eine gebieterische Stimme an der Tür seines Arbeitszimmers. „Hast du vergessen, dass du zu deiner morgigen Hochzeit in London zu sein hast?“

Im fahlen Licht eines regnerischen Morgens hob Matthew Addison, kürzlich ernannter Duke of Camberly, den Kopf. Er saß an seinem Schreibtisch, wo er über den Geschäftsbüchern brütete, und blickte seiner Großmutter kühl entgegen. Minerva, Dowager Duchess of Camberly, im Alter von siebzig Jahren immer noch schön, besaß den Elan einer wesentlich jüngeren Frau. Ihr silbergraues Haar wirkte vornehm zur schwarzen Garderobe mit gelegentlich violetten Farbtupfern, die sie in Trauer um ihren verstorbenen Gemahl und ihren ältesten Sohn und Erben William stets trug, den sie vergöttert hatte. Beide waren im Abstand von weniger als sechs Monaten vor mehr als einem Jahr verstorben. Offenbar hatte sie soeben das Haus betreten und ihren Enkel umgehend aufgesucht, ohne Mantel, Hut und Handschuhe abzulegen.

Bedauerlicherweise hatte sie für ihren Besuch einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt gewählt. Beinahe als hätten seine argwöhnischen Gedanken sie heraufbeschworen.

„Guten Tag, Großmutter.“ Er stand nicht auf. „Wie könnte ich das vergessen? Seit Wochen bombardierst du mich mit Briefen, in denen du mich an meine Verpflichtungen mahnst.“

„Weil du in London sein solltest“, erwiderte sie spitz. „Die Leute reden schon und schließen Wetten ab, ob du überhaupt auftauchst. Leland Reverly ist nicht erfreut.“

„Die Fahrt nach London dauert drei Stunden, und morgen zur vereinbarten Stunde bin ich zur Stelle. Alle Welt weiß schließlich, dass ich Geld brauche. Ich habe gar keine andere Wahl.“

Matt war mit Miss Willa Reverly verlobt, der berühmten Reverly-Erbin, eine junge Frau, die er kaum kannte. Er hatte nichts gegen Miss Reverly. Sie war wie alle jungen Damen aus reichem Hause. Wenn ihn seine verschwommene Erinnerung nicht täuschte, war sie allerdings ansehnlicher als andere Erbinnen.

Was freilich nicht bedeutete, dass ihm die bevorstehende Heirat sonderlich behagte. Mittlerweile hasste er den Gedanken, der Duke of Camberly zu sein. Dieser verdammte, verarmte Adelstitel hatte ihm alles genommen, was ihm im Leben etwas bedeutete.

Minerva runzelte die Stirn, als ahnte sie, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Ihr Blick richtete sich auf die Geschäftsbücher auf seinem Schreibtisch. Sie zog die Tür zu, durchquerte den Raum und setzte sich kerzengerade auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. „Was ist mit dir los?“, fragte sie. „Wieso verkriechst du dich hier? Wie ich höre, hast du dich in letzter Zeit kaum aus deinem Arbeitszimmer bewegt.“

„Du irrst, Großmutter. Ich habe den Besitz von einem Ende zum anderen durchwandert.“

Sie sah ihn an, als hätte sie nie etwas derart Absurdes gehört. „Wieso in aller Welt hast du das getan?“

„Weil er mir gehört. Weil ich ein Chaos geerbt und keine Ahnung von Landwirtschaft, Ackerbau und Viehzucht habe.“ Und weil er gehofft hatte, seine Selbstachtung wiederzuerlangen, nachdem er sich wegen Letty Bainhurst im ton zum Gespött gemacht hatte. Er hatte sich vorgenommen, das Richtige zu tun und sich seines neu erworbenen Titels würdig zu erweisen.

Stattdessen war er auf ein Rätsel nach dem anderen gestoßen, bis er heute Morgen zu einer schrecklichen Einsicht gelangt war.

Aber davon wusste seine Großmutter nichts. Sie lächelte dünn. „Schön und gut, aber du heiratest Miss Reverly, deren Mitgift alles wieder ins Lot bringt.“ Das war der springende Punkt: Seinen Namen und seine Person durch Heirat zu verkaufen war die simple Lösung, gegen die Matt rebellierte. Er beschloss, direkt zur Sache zu kommen.

„Was ist mit dem Vermögen geschehen, Großmutter?“

Zum ersten Mal, seit sie in sein Zimmer gestürmt war, wirkte Minerva unsicher. „Das Vermögen?“

Matt klopfte mit dem Zeigefinger auf das offene Kontobuch. „Die Einkünfte aus dem Landgut.“

„Das weißt du doch. Es waren keine guten Zeiten für Mayfield. Darüber haben wir nach Henrys Tod mit George gesprochen.“ Henry war ihr verstorbener Gemahl, der alte Duke. George war Matts Cousin zweiten Grades und ein angesehener Rechtsanwalt. „Das Gut geriet in die roten Zahlen, die Geldreserven wurden aufgebraucht.“

„Das Geld ist verschwunden“, bestätigte Matt gereizt. „Einkünfte sind nicht in die Ländereien geflossen. Noch vor fünf Jahren gab es genug Geld für Reparaturen und Erneuerungen – und plötzlich war nichts mehr da. Rechtschaffene Pächter haben gekündigt, weil Zusagen für Dachreparaturen nicht eingehalten wurden. Gute Pferde wurden verkauft, Rinder und Schweine wurden ebenfalls verkauft, aber die erzielten Preise tauchen nicht in den Geschäftsbüchern auf. Schlimmer noch, ich musste feststellen, dass Großvater dem Hauspersonal und den Landarbeitern keine Löhne mehr bezahlt hat.“

„Die Verwaltung eines Landgutes verschlingt Unsummen. Ich habe dich gewarnt …“

„Ja, richtig. Du sagtest, alle Wertgegenstände wurden veräußert. Bücher, Porträts, das Mobiliar. Aber aus älteren Unterlagen geht hervor, dass diese Verkäufe nicht nötig gewesen wären.“

Seine Großmutter lachte beinahe schrill, womit sie ihn endgültig davon überzeugte, dass sie ihm die Wahrheit verbarg. „Was nützen schon Geschäftsbücher? Du weißt doch, dass Henry sich nicht mit Kleinigkeiten abgab.“

„Nun ja, Großvater hatte einen tüchtigen Verwalter, den er plötzlich entließ, weil er sich selbst um die Geschäfte kümmern wollte. Und es sieht ganz danach aus, als hätte er den Besitz absichtlich in den Bankrott getrieben.“

Die Dowager Duchess fuhr erschrocken hoch, die violette Feder an ihrem schwarzen Hut wippte bedenklich. „Er hat sein Bestes getan.“

Matt lehnte sich resigniert zurück. „Sein Bestes? Er hat kein Geld für Saatgut oder Löhne ausgegeben. Noch vor wenigen Jahren war Geld vorhanden, und nun sind die Kassen leer. Mein Großvater war kein Spieler, und falls er zu Huren ging …“

„So etwas hätte er nie getan.“

„Gut. In ganz England gäbe es nicht genügend Huren, die er mit diesen hohen Fehlbeträgen ausgehalten haben könnte.“

Sie reckte das Kinn. „Dein Ton gefällt mir nicht. Schon gar nicht, wie du über meinen verstorbenen Gemahl sprichst.“ Sie legte ein dramatisches Beben in ihre Stimme. „Du hast eben keine Ahnung von der Verwaltung eines großen Landbesitzes wie Mayfield. Du bist ein Gelehrter und ein Poet …“

„Großmutter, was ich nicht bin, ist ein Narr.“

Das brachte sie zum Schweigen.

Matt beugte sich vor. „Du weißt, was mit dem Geld geschehen ist. Du und Großvater, ihr seid ein Herz und eine Seele gewesen. Ihr habt sogar die angefangenen Sätze des anderen zu Ende gesprochen. Entweder wurde das Geld von den Konten geplündert oder absichtlich ausgegeben, und ich will wissen, wieso und wofür. Aus welchem Grund?“

„Aus gutem Grund“, antwortete sie mit schwacher Stimme.

„Und der wäre?“

Ihr Blick wurde hart. Sie fixierte einen Punkt in der Ferne, verschränkte die schwarz behandschuhten Finger im Schoß und schwieg.

Matt erhob sich und umrundete den Schreibtisch. Ein hochgewachsener Mann. „Morgen soll ich eine Frau heiraten, die ich kaum kenne, um Mayfield zu retten. Eines meiner Ziele im Leben bestand darin, aus Liebe zu heiraten.“

„Wie dein Vater?“ Minervas Ton klang bitter.

„Ja, wie mein Vater.“ Stephan, ihr zweitgeborener Sohn, hatte sich nie an Familienregeln gehalten.

„Er hat sich an eine Schauspielerin weggeworfen“, sagte sie angewidert.

„Er hat die Frau geheiratet, die er liebte“, korrigierte Matt sie. Seit Jahren verteidigte er seine Mutter hitzig gegen die abfälligen und spitzen Bemerkungen seiner Großeltern. „Und Vater hat seine Entscheidung nie bereut, auch dann nicht, als Großvater ihn verstoßen und enterbt hat.“

Es entstand wieder ein Schweigen, bevor Minerva sagte: „Sie war nicht einmal eine gute Schauspielerin.“

„Nein, aber sie war eine sehr gute Mutter.“

Minervas grau-blaue Augen ruhten auf ihm, als wollte sie prüfen, ob er scherzte. Er scherzte nicht.

Matt hatte seine Eltern geliebt. Er war das jüngste von fünf Kindern und der einzige Sohn. Seine zweitjüngste Schwester Amanda war acht Jahre älter als er.

Nachdem seine Eltern von einem tödlichen Fieber dahingerafft worden waren, hatten seine Schwestern den zehnjährigen Matt zu ihren Großeltern gebracht. Seine älteste Schwester Alice sagte ihm, dies sei die schwerste Entscheidung ihres Lebens, aber alle vier Schwestern waren sich darin einig, es wäre die beste Lösung für ihn.

Er wurde sehr kühl aufgenommen. Alice hatte sich überwinden müssen, die Großeltern um Hilfe zu bitten, aber nur sie waren finanziell in der Lage, Matt die Erziehung zukommen zu lassen, die ihm seinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft sicherte, wie Alice es nannte.

Die Jahre im Internat waren einsam und schwer für Matt. Die Großeltern und Onkel William interessierten sich kaum für ihn. Nur seine Schwestern waren für ihn da, die allerdings ihre eigenen Sorgen hatten. Drei verheirateten sich. Nur Kate ging zum Theater wie ihre Mutter. Matt machte die Erfahrung, dass das Leben die besten Voraussetzungen zerstören konnte.

Zum Glück erwies er sich als ausgezeichneter Schüler, zumal sein Großvater, der alte Duke, ihm klar zu verstehen gab, dass er von ihm keinerlei Rückhalt zu erwarten hatte. Und dann wurde sein Leben schlagartig auf den Kopf gestellt.

Matt arbeitete als Lehrer, als ihn die Nachricht von Williams Tod erreichte. Sein Onkel hatte sich bei einem Reitunfall das Genick gebrochen.

Das war der Zeitpunkt, an dem Matt zu seinen Großeltern gerufen wurde. Sie forderten seine Anwesenheit. Sie hatten Erwartungen an ihn. Denn nach Williams Tod war nun Matt der Erbe.

Er fügte sich nicht sogleich. Er brachte den Großeltern und seiner Rolle in der Erbfolge gemischte Gefühle entgegen. Seine Loyalität galt seinen Schwestern und dem Andenken an seine Eltern. Auch diesmal war es Alice, die ihn bedrängte. Mayfield sei sein Geburtsrecht, hatte sie gesagt.

Matt fragte sich oft, ob sein Vater ihr beigepflichtet hätte.

Andererseits war Matt auch neugierig auf die mysteriöse Welt des haut ton und seine Privilegien.

Mittlerweile wusste er mehr darüber als ihm lieb war.

Minerva blickte stirnrunzelnd zu Boden. „Ich dachte, du verkriechst dich hier in Mayfield und leckst deine Wunden wegen Letty Bainhurst“, murmelte sie mit tränenerstickter Stimme, als hätte er sie gekränkt. „Du hast dich ihretwegen zum Narren gemacht.“

„Das stimmt.“ So viel konnte er eingestehen. Matt und Letty Bainhurst, Gemahlin eines der einflussreichsten Männer Englands, waren ein Liebespaar gewesen. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sie zu bitten, ihren Ehemann zu verlassen und mit ihm durchzubrennen. Für sie hätte er liebend gern auf seinen Titel verzichtet.

Oder hatte er sich nur eine Liebe ersehnt, wie sie seinen Eltern vergönnt gewesen war? Eine Liebe, die sich über alle Konventionen hinwegsetzt?

Doch dann hatte Letty ihm den Laufpass gegeben. Sie hatte sich verleugnen lassen, seine Briefe nicht beantwortet, sein Flehen ignoriert …

Und das war der eigentliche Grund, warum er sich bereit erklärt hatte, die Reverly-Erbin zu heiraten. Wenn die Frau, der sein Herz und seine Seele gehörte, ihn nicht haben wollte, was kümmerte es ihn, wen er heiratete? Natürlich war ihm die Entscheidung nicht leichtgefallen. Einen Tag nach seiner Verlobungsfeier mit Willa Reverly hatte er sich in Mayfield verkrochen, weil er sich in London wie ein Narr vorkam.

Seine Flucht war hilfreich gewesen. Sobald er aufgehört hatte, sich in Selbstmitleid zu suhlen, hatte er allmählich begriffen, dass die Aussagen seiner Großmutter über die Finanzen von Mayfield nicht mit seiner Wahrnehmung der Dinge übereinstimmten. Er hatte begonnen, Fragen zu stellen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er Antworten erhielt.

„Was ist mit dem Geld geschehen?“, wiederholte er. „Wo ist es geblieben? Hatte Onkel William damit zu tun?“

Sein Name ließ sie hochfahren. „Er wusste nichts davon.“ Sie straffte die Schultern. „Und ich spreche nicht darüber.“

„Dann heirate ich die Reverly-Erbin nicht.“

Das brachte sie in Harnisch. „Du musst. Es ist deine Pflicht. Du kannst sie nicht vor dem Altar stehen lassen.“

Matt quittierte ihre Forderung mit einem Schulterzucken.

„Wenn du sie nicht heiratest, bist du ruiniert.“

Wir sind ruiniert“, konterte er.

Sie presste die Lippen aufeinander.

„Mach es mir doch nicht so schwer“, sagte er versöhnlicher.

Irgendwo im Haus schlug eine Uhr. Es war noch nicht Mittag … und dann sackte seine Großmutter in sich zusammen, ihr Gesicht zerknitterte in tausend Falten.

„Ein gewisser Hardesty hat uns erpresst.“

Alle möglichen Horrorszenarien hatte er sich ausgedacht, aber diese Antwort hätte Matt nicht erwartet. „Was?“

„Erpressung“, wiederholte sie unwirsch. „Du weißt, was das heißt.“

„Wer hätte Großvater erpressen können?“

Der alte Duke war ein regelrechter Pedant gewesen und hatte ein rechtschaffenes, moralisch einwandfreies Leben geführt. Mit der Erwähnung seines Großvaters im Zusammenhang mit Huren hatte Matt Minerva nur aus der Reserve locken wollen.

Sie streifte fahrig ihre Handschuhe ab. „Dieser Hardesty wusste um ein Geheimnis. Wir bezahlten für sein Schweigen. Es musste sein. Wir hatten keine andere Wahl.“

Matt ging neben ihrem Stuhl in die Hocke und nahm ihre Hand. Ihre Finger waren kalt. Sie begann zu zittern. „Großmutter, es wird alles gut.“

„Nichts ist mehr gut, seit dieser grässliche Mensch diese Briefe schrieb. Er wollte immer mehr.“

„Wer ist dieser Hardesty?“

„Das haben wir nie erfahren. Er verlangte Geld und gab Henry Anweisungen, wo er es zu deponieren hatte. Wir kamen ihm nie auf die Spur, obwohl Henry Männer auf ihn ansetzte.“

„Aber wieso habt ihr diesen Hardesty bezahlt?“ Das war das Geheimnis.

„Damit er schwieg.“ Ihre Finger krümmten sich um seine Hand. Sie wandte den Blick.

„Großmutter, sag es mir.“

„Ich wünschte, du würdest mich zufriedenlassen.“

„Das tue ich nicht. Sprich mit mir.“

Aus ihren grau-blauen Augen sah sie ihn ernst an. „Hardesty wusste peinliche Dinge über William und drohte, sie an die Öffentlichkeit zu bringen.“ William, ihr Lieblingssohn. Der Erbe.

Vor etwas mehr als sechzehn Monaten war er bei einem Reitunfall ums Leben gekommen. Er war am frühen Morgen ausgeritten und hatte sich bei einem Sturz das Genick gebrochen.

Sein Tod hatte Matts Großeltern schwer getroffen. Der Gesundheitszustand des alten Dukes hatte sich rapide verschlechtert. Henry hatte Matt bei ihrem letzten Gespräch wissen lassen, dass er William in keiner Weise auch nur das Wasser reichen könne.

„Was für peinliche Dinge konnte er über ihn wissen?“ Matt hatte ihn nicht gut gekannt, aber seines Wissens war William, Marquess of Tilbury, ein allseits bewunderter und geachteter, weltgewandter Herr von Welt gewesen.

Minerva holte tief Luft. Es war ihr deutlich anzusehen, wie schwierig ihr diese Unterredung fiel. „William war ein wahrer Gentleman.“

„Ja, das war er.“

„Ein Mann mit ungewöhnlichen Neigungen.“ Minerva sah Matt forschend an, ob er die Bedeutung ihrer Worte begriff. „Er wollte nie heiraten. Er hatte nie den Wunsch, sich einer Frau zuzuwenden, wobei er ein ausgesprochen maskuliner Mann war.“

Matt wusste genau, was sie zum Ausdruck bringen wollte.

Ausschweifungen waren in Adelskreisen an der Tagesordnung. Ehebruch wurde mit einer wegwerfenden Geste abgetan. Manch vornehme Dame wusste den Namen des leiblichen Vaters einiger ihrer Kinder nicht zu nennen. Solange sie einen männlichen Erben zur Welt brachte, war der Ehemann zufrieden und außerdem mit seinen eigenen Seitensprüngen beschäftigt, um lästige Fragen zu stellen. Spielsucht galt nicht als Laster, selbst wenn ein Vermögen am Spieltisch verloren wurde. Übermäßiges Trinken bis zur Unzurechnungsfähigkeit war eher die Regel als ein Ausnahmezustand.

Es gab nur ein Laster, das einen Mann erpressbar machte – seine „unnatürlichen“ Neigungen. Ein Verbrechen, das mit Gefängnis bestraft wurde. Allein das Gerücht darüber konnte den Ruf eines Mannes unwiderruflich ruinieren, ob Bauer, Bürger oder Aristokrat.

„Hat mein Onkel dir das selbst gesagt?“

„Nein, aber eine Mutter weiß so etwas. Lange Zeit glaubte ich, dass Henry nichts davon wusste oder auch nur ahnte. Nachdem Hardesty begann, seine grässlichen Drohbriefe zu schreiben und Henry mich ins Vertrauen zog, wurde uns beiden klar, dass wir in der Falle saßen. Ich liebte meinen Sohn und bewunderte ihn. Er war in jeder Hinsicht ein wertvoller Mensch“, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Matt ersparte sich den Hinweis, dass sie zwei Söhne gehabt hatte. Aber William war ihr Sonnenschein gewesen, während Matts Vater Stephen eine unverzeihliche Todsünde begangen hatte – er hatte unter seinem Stand geheiratet und sich auch noch dem väterlichen Diktat widersetzt.

„Womit fing die Erpressung an?“

Nachdem das schreckliche Geheimnis gelüftet war, gewann Minerva die Fassung zurück. „Henry erhielt einen Brief mit Berichten über Williams Aktivitäten und der Drohung, die Obrigkeit davon in Kenntnis zu setzen. Nicht auszudenken, welchen Skandal eine Anzeige ausgelöst hätte. Wir wollten William schützen. Mayfield steckte bereits in finanziellen Schwierigkeiten. Die Ernten waren schlecht. Geld war unklug ausgegeben worden. Dein Großvater hatte den Wunsch, erfolgreiche Rennpferde zu züchten und gab ein Vermögen für diesen Traum aus, der sich leider nie erfüllte. Pferdezucht ist ein mühsames Geschäft. Und dann kamen diese fürchterlichen Erpresserbriefe. Henry bezahlte, um den Mann zum Schweigen zu bringen. Anfangs verlangte Hardesty geringe Summen, doch allmählich forderte er immer mehr.“

„Wusste William von der Erpressung?“

„Er fand es heraus.“

„Wie?“

Minerva senkte den Blick und nestelte unwohl an ihren Handschuhen. „Ich habe es ihm gesagt“, gestand sie schuldbewusst und hob den Blick. „Ich hatte den Eindruck, dieser Hardesty hatte Henry völlig in der Hand. Dein Großvater war besessen davon, die Schande geheim zu halten. Ich verlor die Geduld und fand, William müsse davon wissen. Er würde dieser Hetzjagd ein Ende bereiten. Das wusste ich.“

„Wie hat mein Onkel reagiert, als er davon erfuhr?“

„Er war wütend und sah darin einen Angriff auf seine Ehre.“

„Hat er Hardestys Anschuldigungen bestritten?“

„Nein.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Hätte ich doch nie etwas gesagt! Meinetwegen hätte Hardesty uns fast Mayfield weggenommen. Aber ich habe damit …“ Ihre Stimme versagte. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Damit habe ich noch mehr Leid über uns gebracht.“

„Sprich weiter, Großmutter. Was ist passiert?“

„Ich glaube, Hardesty hat William ermordet.“

Erschrocken richtete Matt sich auf, entfernte sich ein paar Schritte und kehrte wieder um. „Ermordet? Er hat sich bei einem Reitunfall das Genick gebrochen.“

„William war ein glänzender Reiter. Er war noch nie abgeworfen worden. Kurz vor seinem Tod sagte er uns, er glaube zu wissen, wer dieser Hardesty sei und wollte ihn zur Rede stellen. Williams Leiche wurde nahe der Stelle gefunden, wo Henry immer das Geld für den Erpresser hinterlegte.“

„Hat William sich allein auf die Suche nach dem Erpresser gemacht?“ Einen Alleingang hielt Matt für höchst leichtfertig.

„Offenbar. Er war allein, als man ihn fand.“

„Wurden die Behörden von eurem Verdacht informiert?“

„Es sah doch aus wie ein Unfall“, betonte sie. „Wir hätten uns nur lächerlich gemacht, wenn wir den Verdacht geäußert hätten, dass es ein Mord gewesen sein könnte. Wir hätten den Konstablern auch nichts über Williams … Neigungen sagen können. Und dabei bleibt es!“ Den letzten Satz sprach sie im Befehlston. „Ich lasse nicht zu, dass der untadelige Ruf meines Sohns besudelt wird.“

Matt strich sich mit gespreizten Fingern durchs Haar und bemühte sich, klar zu denken. „Haben die Erpresserbriefe aufgehört?“

„Ja, nach Williams Tod. Wir hätten auch keinen weiteren Shilling bezahlt … selbst wenn wir dazu in der Lage gewesen wären.“

Matt durchmaß die Länge des Raums.

„Henry gab sich die Schuld an Williams Tod und war wütend auf mich“, gestand Minerva. „Sein Herz konnte den schweren Schicksalsschlag nicht verkraften. Ich habe ihn verloren.“ Sie wirkte um Jahre gealtert.

Matt wusste nichts zu sagen.

Sie sah ihn an. „Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist vorbei. Ehre bedeutete Henry alles im Leben. Und auch William. Und nun liegt es an dir, Mayfield zu retten.“

„Indem ich die reiche Reverly-Erbin heirate.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. Die Welt würde Matt danach beurteilen, ob es ihm gelang, Mayfield wieder aufzubauen. Die Verantwortung dieser überwältigenden Herausforderung lastete schwer auf ihm.

„Es ist deine Aufgabe“, sagte sie gelassen. „Du bist Camberly.“

Eine Aufgabe, die zu erfüllen sein Vater nicht bereit gewesen war. Bei diesem Gedanken stieg in ihm ungerechtfertigter Groll gegen seinen Erzeuger auf. Er war in dieser heiklen Situation, weil sein Vater sich in Rose Billroy verliebt hatte. Sein Vater hatte sich die Freiheit genommen, sich der Verantwortung gegenüber dem Namen Addison und dem Anspruch auf den Titel zu entziehen.

Aber Matt konnte diesen Schritt nicht tun. Er war Camberly. Und wie Alice einmal betont hatte, der Titel war sein Geburtsrecht.

Ein neuer Gedanke begann sich in seinem Kopf zu formen, von dem er das Gefühl hatte, Großvater und Onkel hätten ihn gutgeheißen. „Ich will wissen, wer dieser Hardesty ist.“

Minerva schnellte hoch. „Nein, Matthew, bitte nicht. Wir haben seit Williams Tod nichts von diesem schrecklichen Mann gehört. Lass die Sache ruhen.“

Dazu war er nicht bereit. „Mich würde interessieren, was George dazu sagt.“

„George …? Matthew, es ist vorbei. Ich bete, dass nie etwas davon ans Tageslicht kommt. Die Schande würde ich nicht überleben.“

„Ich bin anderer Meinung. Dieser Hardesty ist nichts als ein gemeiner Dieb und deiner Meinung nach sogar ein Mörder. Wenn es die Möglichkeit gibt, ihn ausfindig zu machen, vor Gericht zu bringen und ihn zu zwingen, das Geld zurückzugeben, werde ich nichts unversucht lassen …“

Es klopfte an der Tür. „Was ist?“, fragte Matt unwirsch.

„Ein Bote hat soeben einen Brief für Sie abgegeben, Euer Gnaden“, sagte das Hausmädchen durch die Tür. „Von Miss Reverly, soll ich Ihnen ausrichten.“

Er ging zur Tür, riss sie auf und nahm dem Mädchen den Umschlag ab. „Ich soll auch noch ausrichten, Miss Reverly meinte, der Bote soll nicht auf Antwort warten.“

Stirnrunzelnd wandte Matt sich an seine Großmutter, die sich sehr interessiert zeigte. „Danke“, murmelte er und schloss die Tür. Zerstreut brach er das Siegel, seine Gedanken waren nicht bei irgendeiner Botschaft seiner Verlobten. Nein, er dachte nur daran, wie er diesem Hardesty möglichst schnell auf die Spur kommen konnte.

Und dann änderten sich seine Pläne beim Überfliegen von Miss Reverlys Zeilen. Zugegeben, eine schöne Handschrift, ohne alberne Schnörkel, die viele Damen so elegant fanden. Miss Reverlys Handschrift war klar und ihr Stil direkt.

„Was schreibt sie?“, fragte Minerva.

„Sie schreibt, dass sie mich von meiner Zusage entbindet …“

„Sie gibt dir den Laufpass?“

„Offenbar.“ Verdutzt stellte er fest, dass ihm die Nachricht missfiel. Gut, die Heirat behagte ihm zwar nicht, aber an die Luft gesetzt zu werden, gefiel ihm noch weniger.

Noch dazu auf diese unhöfliche Weise … und nachdem er sich mit dem Gedanken angefreundet hatte, sie zu heiraten, weil er ihr Geld dringend brauchte.

Minerva trippelte aufgeregt im Zimmer hin und her. „Das kann sie nicht tun. Du musst sie daran hindern. Du musst sie augenblicklich aufsuchen und sie umstimmen. Wenn du zulässt, dass sie dir den Laufpass gibt, ist dein Ruf befleckt. Reiche Erbinnen sind selten. Man wird sich fragen, was mit dir nicht stimmt. Man wird wissen wollen, was geschehen ist. Es gibt bereits Gerüchte über dich und Letty.“

Damit hatte sie die magischen Worte gesprochen. Matt wollte nicht, dass Letty erfuhr, dass eine andere Frau ihn für ungeeignet erachtete.

„Ich reite unverzüglich nach London“, sagte er bereits im Gehen. Es war halb zwölf. Kurz vor vier konnte er an Miss Reverlys Tür klopfen.

„Ich lasse meine Kutsche vorfahren“, versprach Minerva. „Diese Hochzeit muss stattfinden, Matthew. Ganz London erwartet sie.“

2. KAPITEL

Willa atmete erleichtert auf, als es klopfte.

„Miss Willa, die Countess of Dewsberry wünscht Sie zu sprechen“, sagte ihre irische Zofe Annie durch die Tür.

„Bring sie augenblicklich zu mir.“ Willa erhob sich von ihrem Schreibtisch und den leeren Blättern Papier, über denen sie seit Stunden gebrütet hatte im vergeblichen Versuch, sich einen Reim auf ihr Leben zu machen, nachdem sie es ruiniert hatte. Mit klarem Kopf hatte sie zwei Briefe geschrieben. Mit dem ersten Brief am frühen Morgen hatte sie die Verlobung mit Camberly gelöst. Der zweite Brief war eine verzweifelte Bitte an ihre beste Freundin Cassandra gewesen: Komme sofort, sonst verliere ich den Verstand.

„Und lasse umgehend ein Tablett mit Tee und Süßigkeiten heraufbringen“, wies Willa die geschlossene Tür an. „Und Kuchen.“

Kuchen war ein Seelentröster. Jedenfalls für sie.

Willa betrachtete ihr Spiegelbild kritisch, kniff sich in die Wangen, um etwas Farbe in ihr bleiches Gesicht zu bekommen und drückte die Nadeln fester in ihren Nackenknoten. Dabei bemerkte sie die Tintenkleckse an ihren Fingern, da sie die Feder unschlüssig zwischen den Fingern gedreht hatte.

Sie eilte zum Waschtisch, wusch sich die Hände und schrubbte die Kleckse mit der Wurzelbürste weg.

Die Einrichtung ihres Zimmers hätte einem Königspalast alle Ehre gemacht. Weiche Teppiche lagen auf dem Parkettboden. Gefütterte Seidendraperien schimmerten in blau-grünen Farbtönen. In ihrem luxuriös und behaglich ausgestatteten Reich hatte sie mit Cassandra und ihrer anderen Freundin Leonie viele Stunden über Ballnächte geplaudert oder sich über illusorische Erwartungen ihrer Eltern beklagt.

Eines ihrer Themen drehte sich um den gemeinsamen Groll darüber, von den Klatschbasen als Goldjungfern bezeichnet zu werden. Was konnten sie dafür, dass ihre reichen Väter so großen Einfluss hatten, um nur die besten und hochrangigsten Aristokraten als Ehemänner für ihre Töchter in Betracht zu ziehen? Allerdings fielen Kandidaten, die diesen hohen Ansprüchen genügten, nun mal nicht wie reife Äpfel von den Bäumen. Es erforderte Zeit und Mühe, die richtige Wahl zu treffen. Aus diesem Grund befanden sich die Freundinnen nun bereits drei endlos lange Jahre auf dem Heiratsmarkt und hatten sich den Spitznamen Goldjungfern eingehandelt.

Jeder Vater hatte mehrere Anträge um die Hand seiner Tochter abgewiesen, weil er es sich leisten konnte, wählerisch zu sein. Leonies Vater war ein reicher Geschäftsmann. Cassandra war die Alleinerbin des Bingham-Vermögens. Willa war das einzige Kind des steinreichen Bankiers Leland Reverly.

Mittlerweile waren Leonie und Cassandra verheiratet und zum allgemeinen Erstaunen glücklich verheiratet. Beide liebten und achteten ihre Ehemänner. Ein Umstand, der Willas Hoffnung auf eigenes Glück genährt hatte – bis der Duke of Camberly ihre romantischen Träume zerstört hatte.

Ironischerweise hatte er als Hauptgewinn der Saison gegolten. Jede heiratsfähige junge Dame hatte ihm schöne Augen gemacht, sich um ihn bemüht, mit ihm kokettiert und geflirtet.

Und Willa hatte ihn bekommen.

Aber heute Vormittag hatte sie Camberly den Laufpass gegeben.

Es klopfte wieder. Willa flog zur Tür und riss sie auf. Die goldblonde, strahlende Cassandra stand im Flur.

Die beiden Freundinnen hätten vom Typ nicht unterschiedlicher sein können. Männer mussten sich strecken, um der weizenblonden Cassandra in die Augen blicken zu können.

Willa, in ihrem blassrosa Seidenkleid mit zartem Spitzenbesatz erreichte in Schuhen mit erhöhtem Absatz gerade mal eine Körpergröße von etwas über einen Meter fünfzig.

Ihr dunkelbraunes, langes Haar war der Fluch ihres Lebens. Ihre Zofe verbrachte Stunden damit, die schwere Fülle zu bürsten und zu flechten. Um es zu einem Nackenknoten zu bändigen, bedurfte es an die fünfzig Haarnadeln. Willa wünschte sich sehnlichst, ihr Haar nach der neuesten Mode abzuschneiden, doch ihr Vater ließ nicht zu, dass sie es auch nur um ein paar Fingerbreit kürzte.

Und der ganze Haushalt, einschließlich Willa, richtete sich strikt nach den Wünschen ihres Vaters.

„Danke, dass du gekommen bist“, sagte sie und zog Cassandra am Ärmel ins Zimmer. Annie und ein Diener folgten mit Kuchen und Tee.

„Willa, was ist los? Dein Brief …“, begann Cassandra, verstummte jedoch, da Willa sich warnend einen Finger an den Mund legte.

Bislang hatten die Freundinnen Willa, die kaum je ein Geheimnis hatte, ins Vertrauen gezogen … aber jetzt hatte sie eines. Doch dieses Geheimnis würde nicht lange geheim bleiben. Bald würde alle Welt wissen, was sie getan hatte.

Die beiden warteten in ungeduldigem Schweigen, bis die Bediensteten ihre Pflicht getan und sich zurückgezogen hatten.

Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, platzte Cassandra heraus: „Was ist passiert? Du schreibst, du musst mich dringend sprechen.“

„Setz dich.“ Willa wies auf die beiden Stühle vor dem Kamin, zwischen denen der Teetisch gedeckt war. „Fühlst du dich wohl?“

Cassandra hatte sie erst gestern wissen lassen, dass sie ein Kind erwartete. Außer ihrem Gemahl Soren war Willa die einzige Person, der sie die Glücksbotschaft anvertraut hatte.

„Mir geht es gut. Man sieht ja noch kaum etwas, gottlob. Ich will deine Hochzeit auf keinen Fall verpassen.“ Anders als Leonie, der die Ärzte in ihrem hochschwangeren Zustand von einer Reise abgeraten hatten.

„Ich hätte nichts bemerkt, wenn du es mir nicht gesagt hättest.“ Willa wollte der Freundin einen Polsterschemel unter die Füße schieben, sah aber davon ab, da Cassandra problemlos die Füße auf den Teppich stellen konnte, im Gegensatz zu ihr.

Cassandra ließ sich nicht beirren. Sie hielt Willa am Arm fest. „Was ist los? Wieso hast du mich so dringend gerufen?“

Willa vergaß Fußschemel und Kuchenplatte.

„Ich habe meine Verlobung mit dem Duke of Camberly gelöst.“

Cassandra sah Willa entgeistert an, als redete sie wirres Zeug. Und dann ließ sie sich mit schief geneigtem Kopf zurücksinken. „Wie bitte? Du hast die Verlobung gelöst? Mit dem Mann, den du morgen heiraten sollst?“

Willa nickte.

„Die Verlobung“, betonte Cassandra, als wäre sie immer noch nicht sicher, richtig verstanden zu haben, „derentwegen dieses Haus in heller Aufregung wegen der Hochzeitsfeier ist? Ein Ereignis, das schon jetzt Stadtgespräch Londons ist? Der Grund, warum Soren und ich aus Cornwall anreisten?“

Willa benagte ihre Unterlippe und nickte wieder, bevor sie flüsterte: „Ja, genau die“, gestand sie. „Ich habe sie gelöst, ich habe es getan.“ Und mit den letzten Worten durchströmte sie ein berauschendes Gefühl des Stolzes über ihren Wagemut.

„Grundgütiger, was für ein herrliches Gefühl“, erklärte Willa strahlend. „Ich habe die Verlobung gelöst. Ich bin fertig mit ihm. Ich bin frei.“ Sie breitete die Arme aus und verkündete ihrem Zimmer: „Ich werde Camberly nicht heiraten, der sich selbst so wichtig nimmt, dass ihm keine Zeit für mich bleibt. Ich habe ihm klargemacht, wozu das führt.“

Ihre Freundin zeigte allerdings nicht die erhoffte Reaktion. Cassandra machte den Mund auf, brachte aber vor Verblüffung kein Wort hervor.

Willa überbrückte das Schweigen, allerdings mit etwas weniger Überschwang. „Ich weiß, den Duke abzuservieren, ist nicht meine Art. Ich kann es selbst kaum glauben, dass ich den Mut dazu aufbrachte. Ich staune über mich. Ich bin beinahe so willensstark und unvorhersehbar wie du und Leonie.“

Endlich fand Leonie ihre Stimme wieder. „Ist das dein Ernst? Bitte sag mir, dass es nicht dein Ernst ist.“

„Aber ja. Ein Bote überbrachte ihm heute Vormittag meinen Abschiedsbrief. Die Hochzeit ist abgesagt.“

„Keine Hochzeit? Morgen? Oh Willa. Willa, Willa …“ Cassandra sprang so ungestüm auf, dass der Tisch mitsamt Teekanne und Kuchenplatte ins Wanken geriet. Geistesgegenwärtig bekam sie ihn zu fassen und setzte sich wieder. „Du hast dem Duke den Laufpass gegeben? Einen Tag vor eurer Hochzeit?“

Gekränkt über Cassandras verständnislose Reaktion sagte Willa knapp: „So kann man es auch sehen.“

„Man kann es nur so sehen, finde ich. Und ist dein Vater damit einverstanden?“

Willa setzte sich auf den zweiten Stuhl und verschränkte die Hände im Schoß. „Vater weiß noch nichts davon. Aber ich sage es ihm noch heute“, fügte sie eilig hinzu. „Ehrlich gestanden, bin ich ein wenig erstaunt über deine Reaktion.“

„Und ich bin völlig verblüfft über deine Aktion.“

„Aus deinem Mund klingt es so schrecklich. Ich gebe ihm nicht den Laufpass. Ich habe ihn nur freigegeben.“

„Freigeben, Laufpass geben, das ist doch ein und dasselbe in den Augen der Öffentlichkeit. Camberly hat um deine Hand angehalten und du …“

Willa fiel ihr mit einem Unmutslaut ins Wort. „Camberly hat mir eigentlich gar keinen Antrag gemacht. Er sprach mit Papa, und Papa hat seinen Antrag angenommen. Ich wurde nicht einmal gefragt.“

Cassandra beugte sich vor. „Warst du bei deiner Verlobungsfeier anwesend? Zu der zweihundert Gäste geladen waren? Soren und ich hörten sogar in der Wildnis von Cornwall von dem feierlichen Ereignis.“

„Natürlich war ich anwesend.“

„Willa, warum hast du damals nicht gesagt, dass du ihn nicht heiraten willst?“

Das war der springende Punkt.

„Du kennst so etwas doch, Cassandra. Ich fühlte mich geschmeichelt, einen Antrag von dem Mann zu erhalten, dem alle Debütantinnen schöne Augen machten. Und Papa freute sich über die Heirat. Ich hatte mir die besten Hoffnungen gemacht.“

„Dein Vater wird über deinen Entschluss nicht erfreut sein.“

Damit hatte Cassandra recht.

„Willa, mit deinem Einverständnis zur Verlobung hast du dein Versprechen gegeben.“

„Aber Camberly ist nicht der Mann, für den ich ihn gehalten habe.“

„Was soll das heißen?“

Willa stand auf, begab sich zur Kommode, zog aus der obersten Schublade unter Seidenwäsche ein schmales Buch hervor und brachte es Cassandra.

„Ein Buch, Willa?“ Die Freundin lachte verlegen. „Ich wusste gar nicht, dass du gerne liest.“

„Jedenfalls kann ich lesen. Ich mache nur nicht so viel Wind darum wie du. Jedenfalls hat mich dieses Buch tief berührt und meine Fantasie beflügelt.“

Cassandra nahm ihr das Buch ab. „Natürlich kannst du lesen“, sagte sie entschuldigend und schlug die Titelseite auf. Und dann fehlten ihr die Worte. Ungläubig hob sie den Blick. „Das ist Camberlys Gedichtband. Du hast ihn gefunden.“

Als der neuernannte Duke of Camberly in die Londoner Gesellschaft eingeführt wurde, hatte alle Welt sich fieberhaft darum bemüht, ein Exemplar des Gedichtbands Erfüllte Liebe von Matthew Addison zu ergattern. Er hatte die Gedichte als Student in Oxford verfasst. Das Buch war nur in kleiner Auflage gedruckt und veröffentlicht worden.

Nachdem der junge Poet zum Duke ernannt worden war, gab es keine Dame im ton, die es nicht lesen wollte. Alle Welt schwärmte davon, dass der junge, bildschöne Camberly sein Herz in seiner Poesie ausgeschüttet hatte.

Cassandra blätterte andächtig die Seiten um. „Ich habe alles darangesetzt, ein Exemplar zu ergattern. Wie hast du es geschafft?“

„Mit Papas Geld.“ Willa nahm wieder Platz auf der Stuhlkante, damit ihre Füße den Fußboden erreichten, und verschränkte die Arme. „Dieses Buch ist der Grund, warum ich einverstanden war, Camberly zu heiraten. Also, er machte mir vielleicht zweimal seine Aufwartung, bevor er und Papa diese Heirat beschlossen. Es ging alles sehr schnell. Ich hatte allerdings seine Gedichte gelesen, die mich tief berührten mit ihrer Empfindsamkeit und Leidenschaft. Er spricht davon, dass wahre, ewige Liebe ein geborgener Hafen vor den Stürmen des Lebens ist. Dass ein liebender Mann der Frau seines Herzens seine Aufrichtigkeit, seinen Rückhalt, seine Treue schuldet. Ich glaubte, der Mann Camberly wäre derselbe wie Camberly, der Poet.“

„Muss wohl so sein“, meinte Cassandra trocken. „Er hat sie verfasst.“

„Das kann nicht sein“, widersprach Willa. „Ich glaube es einfach nicht. Der Duke hat nichts mit dem Dichter gemeinsam. Und ich hätte mehr Verständnis von dir erwartet.“

Cassandra klappte das Buch zu. „Ich wäre eine schlechte Freundin, würde ich dir keinen ehrlichen Rat geben. Willa, deine Entscheidung wird nicht nur deinen Vater wütend machen …“

„Oh ja, er wird einen Tobsuchtsanfall bekommen.“ Willa war angst und bang vor dieser Unterredung.

„Und das zu Recht. Den Weg, den du einschlägst, wird dein Ruin sein. Camberlys Ruf leidet ebenfalls darunter. Und ich sehe keinen Sinn dahinter. Mal ehrlich, du, Leonie und ich hätten noch vor wenigen Monaten alles getan, um eine solche Partie zu machen. Du hast das große Los gezogen. Du wirst seine Duchess sein.“

Willa wies mit dem Zeigefinger auf den Gedichtband. „Ich will keine Duchess sein. Ich habe mir den Mann gewünscht, der diese Gedichte verfasste. Dieser Mann ist aufmerksam und gefühlvoll. Er respektiert Frauen. Er schätzt die Menschen. Camberly hat sich die Maske vom Gesicht gerissen. Er ist nicht der Richtige für mich.“

Cassandra begann einige Gründe aufzuzählen, warum sie sich irrte. „Er hat einen hochrangigen Titel …“

„Es gibt bessere Titel“, murmelte Willa und griff nach einem Sahnetörtchen. Süßigkeiten beruhigten sie zuverlässig.

„Er sieht gut aus …“

„Das will ich nicht bestreiten. Alle Frauen drehen sich nach ihm um. Mir ist noch keine begegnet, die ihn nicht angeschmachtet hätte.“

„Du bist eifersüchtig“, stellte Cassandra fest, als sei das ein Pluspunkt für Camberly.

„Bin ich nicht“, widersprach Willa eigensinnig. „Meinetwegen können ihm alle Frauen schöne Augen machen.“

„Manche haben es nicht dabei bewenden lassen.“

„Du sprichst von Lady Bainhurst.“ Willa war der Appetit plötzlich vergangen. Sie legte das Törtchen auf die Kuchenplatte zurück. „Das gefällt mir nicht sonderlich.“

„Kann ich dir nicht verdenken. Er war verrückt nach ihr. Aber so viel ich weiß, hat sie die Affäre Wochen vor deiner Verlobung beendet. Stellt er ihr immer noch nach?“

„Keine Ahnung. Ihr Name wurde im Zusammenhang mit einem anderen Mann erwähnt, aber es heißt, ihr Ehemann lässt sie nicht aus den Augen. Papa bestand darauf, die Bainhursts zur Hochzeit einzuladen. Er buhlt bei allen Leuten um ihre Gunst.“

„Lord Bainhurst ist ein einflussreicher Mann. Aber dennoch, sie zu deiner Hochzeit einzuladen?“

„Ich weiß.“ Willa tat ihre Bedenken mit einem Schulterzucken ab. „Gottlob sind sie verreist und kommen erst in ein paar Wochen zurück.“

Das heißt also, Camberly war in letzter Zeit nicht mit Letty zusammen.“

„Woher soll ich das wissen?“ Das Thema war ihr ausgesprochen lästig. Cassandra hatte den Gedichtband auf den Tisch gelegt. Willa hatte gute Lust, das Buch zu Boden zu schleudern. Sie starrte missmutig auf den Einband. „Letty ist verheiratet. Ein ehrenhafter Mann respektiert diese Grenze. Ich finde es skandalös. Abscheulich. Hätte ich die Gedichte nicht gelesen, hätte ich Camberly früher als den Menschen erkannt, der er wirklich ist.“

Cassandra schwieg.

Willa suchte ihren Blick. „Ich will keinen Mann wie meinen Vater heiraten. Er verhält sich respektlos meiner Mutter gegenüber mit seinen Mätressen, die er aushält. Würdest du dieses Verhalten bei Soren dulden?“

„Ich würde ihm ein Messer zwischen die Rippen jagen.“

Willa nickte. „Ich fürchte, ich würde genauso handeln. Du machst dir Sorgen um meine Reputation wegen meiner Entscheidung. Ich bin allerdings der Meinung, dass ich mich vor einer Anklage wegen Gattenmordes rette.“

„Das Gesetz kennt in dieser Hinsicht keine Gnade“, musste Cassandra ihr mit einem dünnen Lächeln beipflichten.

„Zu dumm“, fuhr Willa fort. „Vor Jahren hätte meine Mutter Papa gerne erdolcht, glaube ich. Mittlerweile ist er ihr gleichgültig. Nichts anderes wird von ihr erwartet, aber ihr Leben ist traurig und leer.“

„Viele Frauen nehmen sich Liebhaber.“

„Wir beide fanden ein solches Dasein doch immer armselig und traurig.“

Cassandra nickte und flüchtete sich wieder in die Liste ihrer Gegenargumente. „Zu guter Letzt muss ich dich daran erinnern, dass der Duke jung ist. Jung, adelig und umwerfend gut aussehend.“

„Und bankrott. Du vergisst, dass er kaum einen Shilling in der Tasche hat.“

„Gut. Aber du bist vermögend, und dein Vater ist wild entschlossen, sein Geld und seinen Einfluss darauf zu verwenden, dich mit einem Aristokraten zu verheiraten.“ Geradezu listig einschmeichelnd fügte sie hinzu: „Und er wird dich verheiraten, so oder so. Mit oder ohne deine Zustimmung. Du könntest eine schlechtere Wahl treffen als Camberly. Du könntest mit dem Marquess of Ellmore verheiratet werden, der seine besten Jahre längst hinter sich hat und ein übellauniger Griesgram sein soll. Nackt will ich mir ihn gar nicht vorstellen.“

Autor

Cathy Maxwell
Cathy Maxwell beschäftigt sich am liebsten mit der Frage, wie und warum Menschen sich verlieben. Obwohl sie bereits über 35 Romane veröffentlicht hat, bleibt die Liebe für sie weiterhin eines der größten Mysterien! Um weiter zu diesem Thema zu forschen, verlässt sie gerne ihr gemütliches Zuhause in Texas und reist...
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