Schritt für Schritt zurück ins Glück

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Herz, Fuß, Stolz – alles ist angeknackst, und die Ballerina Kat ist auf Hilfe angewiesen. Es scheint, als könne Rye Harmon nicht nur ihr altes Tanzstudio, sondern auch ihr Herz reparieren … Aber wird Kats zartes Vertrauen in Rye auch sein großes Geheimnis überstehen?


  • Erscheinungstag 27.07.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522939
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Kat Morehouse rückte ihre Sonnenbrille zurecht und blickte dem Zug nach, der schnaufend den winzigen Bahnhof verließ. Vom Parkplatz stieg wabernde Hitze auf, und sie zupfte an ihrem Seiden-T-Shirt, das ihr am Körper klebte. Schwarz war vielleicht nicht unbedingt die richtige Farbe für eine Reise nach Hause – jedenfalls nicht in diesem ungewöhnlich heißen Frühjahr. Andererseits – sie war eine Tänzerin aus New York, und sie trug immer schwarz. Sich für einen kurzen Besuch in Eden Falls, Virginia, neue Klamotten zu kaufen, musste nun wirklich nicht sein.

Ihr Fuß in der Gehschiene juckte bereits höllisch, und sie widerstand dem Drang, die Zehen zu bewegen. Das machte es immer nur noch schlimmer. Ein Haarriss im Gelenk, hatten die Ärzte gesagt, herbeigeführt durch Überlastung. Da halfen nur die blaue, starre Plastikschiene und mehrere Wochen Zwangspause vom Ballett.

Kat verzog das Gesicht und setzte sich mit ihrem kleinen Rollkoffer in Bewegung. Lange würde sie sowieso nicht hierbleiben – nur lange genug, um ihrer Mutter ein wenig zur Hand zu gehen, die ihren Vater nach einer schweren Lungenentzündung gesund pflegte. Und um auf ihre Nichte aufzupassen, während sich deren Mutter, Kats Zwillingsschwester, wieder mal sonst wo herumtrieb. Bei der Gelegenheit konnte sie auch in der Ballettschule ihrer Mutter vorbeischauen, wo sie selbst vor so vielen Jahren mit dem Tanzen angefangen hatte. Also würde sie vielleicht fünf oder sechs Tage in Eden Falls bleiben, allerhöchstens eine Woche.

Ein wenig ungeduldig blickte Kat auf ihre Armbanduhr. Sie wohnte zwar schon lange nicht mehr hier, aber den Zugfahrplan kannte sie noch immer auswendig. Was kein Kunststück war, denn so viele Züge fuhren hier gar nicht: einer nach Süden um halb zwei und einer nach Norden um Viertel nach zwei. Jetzt war es Viertel vor, und ihre Mutter, die sie eigentlich hatte abholen wollen, war nirgendwo zu sehen. Bis auf eine andere Frau, die mit Kat zusammen ausgestiegen war, lag der Parkplatz völlig verlassen da. Die Frau war groß, breitschultrig und kam Kat irgendwie bekannt vor. Wahrscheinlich gehörte sie zu den Harmons, einer alteingesessenen Familie in Eden Falls.

Achselzuckend zog Kat ihr Handy aus der Handtasche, um zu Hause anzurufen. Doch auf dem Display tat sich nichts – bis schließlich die Meldung auftauchte, dass es hier kein Netz gab. Na toll, jetzt war sie eine ganze Woche lang vom Rest der Zivilisation abgeschnitten. Sie freute sich ja wirklich darauf, ihre Eltern wiederzusehen und ihrer Mutter zu helfen – aber so würde ihr die Zeit wirklich lang werden.

Kat kniff die Augen zusammen, als ihr das Handy immerhin noch eine SMS von Haley, ihrer Mitbewohnerin in New York, anzeigte. Die war wohl noch im Zug durchgekommen.

Horror! A + S sind hier.

A, das stand für Adam, Kats Freund, dem sie vor einer Woche den Laufpass gegeben hatte. Nach drei Jahren Beziehung hatte er sich ein wenig Abwechslung gesucht und etwas mit Selene Johnson angefangen, der neuen Startänzerin im Corps. Für die stand das S.

Fünf Minuten später hatte Haley eine zweite SMS geschickt: Einfach eklig.

Genau das war auch Kats Meinung. Adam hatte nicht mal die Größe besessen, zuzugeben, dass er mit Selene schlief. Auch dann noch nicht, als Kat ihm den Seidenslip gezeigt hatte, den sie unter seinem Kissen gefunden hatte, und der definitiv nicht ihr gehörte. Selene hatte ihn wahrscheinlich absichtlich dort platziert, damit Kat ihn fand.

Selbst jetzt musste sie schwer schlucken, als sie daran dachte. Sie hatte wirklich gedacht, dass Adam und sie füreinander geschaffen waren. Hatte gedacht, dass nur er sie wirklich verstand, dass er all die verrückten Opfer, die man als Tänzerin bringen musste, unterstützte. Er war der einzige Mann, mit dem sie je eine Beziehung eingegangen war. Weil sie gedacht hatte, er wäre es wert, dass sie ihm ein wenig ihrer sorgfältig eingeteilten Zeit und Energie widmete.

Wie hatte sie sich nur so täuschen können? Denn in Wirklichkeit hatte Adam offenbar nur auf die nächste jüngere, fittere, beweglichere Tänzerin gewartet. Mittlerweile tat ihr jede Minute leid, die sie in ihre Beziehung investiert hatte. Es war schade um jede Sekunde, die Adam sie von ihrer wahren Leidenschaft abgehalten hatte, ihrer Leidenschaft fürs Tanzen. Sie schloss kurz die Augen und sah wieder diesen grässlichen Seidenslip in Adams Bett vor sich. Einfach eklig traf es wirklich gut.

Kat steckte das nutzlose Handy wieder in ihre Handtasche und wischte sich die feuchten Handflächen an ihrer schwarzen Jeans ab. Wenigstens trug sie die Haare hochgesteckt. Ob es hier irgendwo eine Telefonzelle gab, von der aus sie ihre Mutter anrufen konnte? Oder vielleicht auch ihre Cousine Amanda, die sie immer gern chauffierte, wenn sich Kat alle Jubeljahre mal für ein Wochenende in ihre Heimatstadt verirrte.

Noch bevor sie jedoch ihre Geldbörse gefunden hatte, bog ein riesiger silberner Pick-up auf den Parkplatz ein. Die andere Frau reckte lächelnd ihren Daumen in die Luft, als wollte sie per Anhalter fahren. Der Fahrer – der mit seinen breiten Schultern und dem vollen rotbraunen Haar bestimmt ebenfalls zur Familie Harmon gehörte – stieg lachend aus, umarmte die Frau und wirbelte sie einmal im Kreis herum, bevor er sie wieder absetzte, ihr die Beifahrertür öffnete und ihren schweren Koffer auf die Ladefläche hievte.

Als er gerade ebenfalls einsteigen wollte, bemerkte er Kat.

„Hey“, rief er über den Parkplatz, „du bist Kat, richtig? Kat Morehouse?“

Überrascht, dass er sie offenbar kannte, schaute sie ihn sich ein wenig genauer an und zuckte zusammen. Was? Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Ausgerechnet Rye Harmon war der erste Mann, der ihr hier in Eden Falls über den Weg lief?

Als er auf sie zukam, vergaß sie für einen Moment ihren Wortschatz. Ja, das war er wirklich, wie sie nur allzu deutlich an den tiefdunklen Augen erkannte. Und an seinem breiten, freundlichen Lächeln, umrahmt vom verwegenen Dreitagebart. Ach ja, und an der braun gebrannten, kräftigen Hand, die er ihr hinstreckte – vermutlich, um ihre zu schütteln, wie es sich gehörte?

Kats Magen drehte eine Pirouette, die ihr den Atem nahm, deshalb reagierte sie so langsam. Rye Harmon hatte in der Schulaufführung von Oklahoma Curly gespielt, kurz bevor Kat auf die Akademie in New York gewechselt war. Obwohl sie einige Jahrgänge unter ihm war und eigentlich bei der Aufführung gar nicht hätte mitmachen dürfen, hatte die Theaterlehrerin ihr angeboten, die Rolle der Laurey in der berühmten Traumsequenz zu tanzen. Für eine angehende Ballerina war es ein Traumpart und Kats erste große Bühnenerfahrung. Zum ersten Mal Kostüme, Make-up, Scheinwerfer – und mittendrin Rye Harmon.

Er war der Star des Baseballteams gewesen, besaß aber auch einen umwerfenden Bariton, der ihn für das Stück qualifizierte. Vom Tanzen hatte er zwar keine Ahnung, aber dank der ausgeklügelten Choreografie bekam das Publikum davon nichts mit. Wochenlang war Kat in ihn verknallt gewesen, obwohl sie genau wusste, dass sie nie ein Paar werden würden – schließlich war sie auf dem besten Weg zu einer Tanzkarriere in New York, während er zum echten Urgestein von Eden Falls gehörte und seine Heimatstadt niemals verlassen würde.

In den vergangenen Jahren hatte Kat auf vielen Bühnen in aller Welt getanzt. Sie hatte geküsst und war geküsst worden, in ihrer jeweiligen Rolle und im wirklichen Leben. Sie war eine erwachsene, kompetente Frau, die für ein paar Tage in ihre Heimatstadt zurückkehrte, um ihrer Familie auszuhelfen. Aber sie war auch immer noch das Kind, das hier zur Schule gegangen war, das schüchterne Mädchen, das sich nach der Aufmerksamkeit des unerreichbaren Schulstars gesehnt hatte.

Und deshalb reagierte sie ganz im Stile einer New Yorkerin vom klassischen Ballettcorps. Sie hob das Kinn, richtete den Blick direkt auf ihn und neigte den Kopf leicht zur Seite. Dann fragte sie: „Entschuldigen Sie, kennen wir uns?“

Rye Harmon blieb unvermittelt stehen, als Kat Morehouse ihn mit ihren silbergrauen Augen durchbohrte. Jetzt war er sich ganz sicher, dass er Kat vor sich hatte und nicht ihre Zwillingsschwester Rachel. Kat war immer schon durch ihre vornehme Zurückhaltung und ihren angeborenen Stolz aufgefallen, selbst bevor sie mit vierzehn Eden Falls verlassen hatte. Das musste über zehn Jahre her sein … Er erinnerte sich gut an den kleinen Aufruhr, den es verursacht hatte, dass ein Mädchen aus Eden Falls sich so jung nach New York aufmachte, um Tänzerin zu werden.

Seitdem hatte er sie nicht gesehen. Dafür hatte er Zeit mit ihrer Zwillingsschwester Rachel verbracht, war sogar drei stürmische Wochen lang mit ihr ausgegangen, ein halbes Jahr, nachdem sie die Highschool abgeschlossen hatte. Sie hatte ihn geradezu verfolgt – ihn bei der Arbeit überrascht, mitten in der Nacht Steinchen an sein Fenster geworfen, damit er herrunter kam. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihm aufgegangen war, dass sie sich nur an einem seiner Kommilitonen rächen wollte. Josh Barton hatte mit ihr Schluss gemacht, weil sie ihm zu verrückt war, wie er sagte. Nach ein paar Tagen hatte Rye dasselbe festgestellt, aber auch er hatte ein paar Wochen gebraucht, um sich aus Rachels durchgeknalltem melodramatischen Leben wieder zu verabschieden. Bis sie dann nach zwei Monaten wieder aufgetaucht war – und zwar schwanger.

Er erinnerte sich nur zu gut an die eisige, ungläubige Kälte, die in ihm aufgestiegen war, als ihm klar wurde, dass das das Ende all seiner Träume bedeutete. Trotzdem hatte er ihr das Versprechen gegeben, für Rachel da zu sein und sich um sein Kind zu kümmern. Die überwältigende Erleichterung, als sie ihm ins Gesicht lachte, würde er auch nie vergessen. Sie hatte gesagt, das Kind wäre von Josh und damit automatisch Miterbe des legendären Barton-Vermögens, es gäbe also keinen Grund zur Sorge.

Da war er gerade noch mal so davongekommen.

Wenn er der Vater von Rachels Tochter gewesen wäre – wie hieß sie noch gleich? Jessica? Jennifer? –, hätte er die Stadt niemals verlassen können. Hätte nicht nach Richmond ziehen können, um seine eigene Baufirma zu gründen. Mit einem Kind hätte er das Versprechen, das er sich selbst gegeben hätte – nämlich mit dreißig mit seiner eigenen Firma erfolgreich und unabhängig zu sein –, niemals erfüllen können.

Deshalb war es gut gewesen, sich vor sechs Jahren von Rachel zu trennen – und er war sich nach wie vor absolut sicher, dass er jetzt vor Kat stand. Selbst als Zwillingsschwestern unterschieden sich die beiden völlig voneinander.

An Kats wache silbergraue Augen erinnerte er sich aus der Schulzeit noch gut, aber ansonsten hatte sie sich völlig verändert. Damals war sie ein Kind gewesen. Jetzt war sie eine Frau.

Sie war mindestens einen Kopf größer als damals und noch schlanker. Ihre nackten Arme, die langen Beine und der grazile Hals wirkten wie aus Marmor gemeißelt. Die schwarzen Haare hatte sie oben auf dem Kopf zu einer Art fransigem Knoten gebunden, aber man konnte sehen, dass sie sonst lang und glatt waren. Sie trug ein eng anliegendes, ärmelloses T-Shirt und schwarze Jeans, die aussahen, als wären sie in Italien oder Paris für sie maßgefertigt worden. Und am linken Fuß hatte sie eine knallblaue Gehschiene. Eine von der modernen Sorte aus Plastik, wie auch er sie schon ein paar Mal getragen hatte – die bei so einer Hitze wie heute höllisch juckten und es sehr schmerzhaft machten, auf einem unebenen Parkplatz zu stehen und auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten, die sich offenbar mächtig verspätet hatte.

Als ihm klar wurde, dass er immer noch mit ausgestreckter Hand vor ihr stand und sie anstarrte wie ein Weltwunder, reckte er die Schultern und strich mit den Handflächen seine Jeans glatt. Offenbar erinnerte sie sich überhaupt nicht an ihn. Nun ja, das ließ sich ändern.

Er trat einen weiteren Schritt vor. „Rye“, erläuterte er. „Rye Harmon. Wir kennen uns aus der Highschool. Ich meine, ich war auf der Highschool und du in der Mittelstufe. Ich war Curly. In Oklahoma. Dem Stück, meine ich.“

Wow, wie tiefsinnig. Als ob sie wirklich denken könnte, du hättest den Staat Oklahoma gemeint.

Zur Nationalen Ballettakademie hatten auch eine Menge Schauspielklassen gehört, und jetzt war ein guter Moment, ihre Kenntnisse im realen Leben anzuwenden. Kat setzte ein strahlendes Lächeln auf, als hätte sie ihn plötzlich wiedererkannt.

„Rye! Natürlich!“

In ihren eigenen Ohren klang das total unecht und aufgesetzt, aber sonst würde das wohl niemand merken. Na ja, ihre Mutter vielleicht und ihr Vater. Aber sonst bestimmt niemand, schon gar nicht jemand, der praktisch ein Fremder war wie Rye Harmon.

Und der jetzt sagte: „Willst du zu deiner Familie? Ich kann dich dort absetzen.“

Er griff nach ihrem Rollenkoffer, als wäre damit alles geklärt.

„Nein!“, protestierte sie. „Das wäre doch ein Umweg für dich!“

Als Kat ihrerseits nach dem Koffer griff, kam ihre Hand auf seiner zu liegen, und sie zuckte heftig zusammen. Was war denn nur los mit ihr? Sie war doch sonst nicht so schreckhaft.

Aber sonst saß sie ja auch nicht in Eden Falls, Virginia, fest.

„Das geht schon in Ordnung“, erwiderte er mit diesem unbekümmerten Lächeln, das ihr damals schon so gut gefallen hatte. „Deine Eltern wohnen nur drei Blocks von meinen entfernt, und da bringe ich Lisa jetzt hin.“

Am liebsten hätte Kat trotzdem Nein gesagt – schließlich war sie es seit zehn Jahren gewohnt, ihre Probleme selbst zu lösen. Auch wenn ihr die in letzter Zeit ein wenig über den Kopf zu wachsen schienen – wie die Gehschiene eindrucksvoll bewies. Genau wie die Kisten in einer Ecke ihres Schlafzimmers, die Adam abholen sollte, während sie weg war.

Aber was blieb ihr in diesem Fall schon anderes übrig? Wenn sie Rye wegfahren ließ, stellte sich am Ende heraus, dass sie gar kein Kleingeld bei sich hatte oder es am Bahnhof keine Telefonzelle gab. Oder dass ihre Eltern gar nicht zu Hause waren, weil ihre Mutter Termine durcheinandergebracht hatte.

„Na gut“, sagte sie, wobei ihr etwas verspätet auffiel, dass ihre Hand noch immer auf seiner lag und sie noch immer beide ihren Koffer festhielten. „Dann vielen Dank.“

Sie überließ ihm den Koffer und humpelte hinter ihm her zu dem silbernen Truck. Lisa rückte in die Mitte der durchgehenden vorderen Sitzbank und begrüßte sie freundlich.

„Hi“, erwiderte Kat und wurde sich dabei bewusst, dass sie den New Yorker Akzent angenommen hatte, der immer so klang, als wäre man in Eile. Na ja, das stimmte ja auch. Sie war fast sechshundert Kilometer gefahren, um hier zu sein – und hier, das war ihre einsame, unglückliche Kindheit, wo sie immer die Außenseiterin gewesen war, die Tänzerin, die früher oder später sowieso die Stadt verlassen würde.

Sie war mit dem festen Vorsatz nach New York gegangen, ihre Traumkarriere zu machen. Jetzt war sie zurück im Süden und fühlte sich, als wäre ihr ganzes Leben plötzlich in Treibsand geraten – sie musste sich langsamer bewegen, war in Erwartungen und Konventionen gefangen und sollte ein Leben führen, dem sie damals gerade so entkommen war.

Entschlossen, wieder die Zügel in die Hand zu nehmen, drehte sie sich zur Beifahrertür um, um sie zuzuziehen. Dort stand jedoch Rye, und sie wich mit einem überraschten „oh“ zurück, woraufhin ihr die Handtasche vom Schoß rutschte und ihren Inhalt im Fußraum ergoss. Stumm ihre ungewohnte Ungeschicklichkeit verfluchend, beugte Kat sich vor, um alles wieder einzusammeln. Rye versuchte, von draußen zu helfen, doch sie blockte ihn mit der Schulter ab, um sich wenigstens diese Peinlichkeit zu ersparen.

„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er gedehnt, griff an ihr vorbei in den Wagen und reichte ihr den Sicherheitsgurt.

„Hast du ja auch nicht.“ Hatte er natürlich doch. Und wenn sie ihm noch länger widersprach, würde er sich noch länger entschuldigen, und sie kamen nie hier weg, während ihr die Zeit davonlief. Möglicherweise hatte er an diesem Tag nichts anderes zu tun als gemütlich zum Bahnhof zu fahren – so viele andere Beschäftigungen gab es in Eden Falls ja auch nicht. Aber sie war hier, um ihre Familie zu unterstützen, und sie wollte endlich damit anfangen.

Sie schnallte sich an und hob den Kopf. „Alles gut. Und wenn es dir nichts ausmacht – ich hab’s ein bisschen eilig.“

Als ihr klar wurde, wie unhöflich das klang, stöhnte sie innerlich auf. Aber es war nun mal so.

Rye verstand eine Abfuhr, wenn er sie hörte, und schloss sorgfältig die Tür. Kopfschüttelnd ging er zurück zur Fahrerseite und stieg ein. Kat Morehouse war damals schon ein Mädchen gewesen, das wusste, was es wollte – und jetzt war sie zu einer beeindruckenden Frau geworden.

Beeindruckend. Das war nicht gerade der Typ Frau, mit dem er sonst ausging – nette, unkomplizierte Kleinstädterinnen ohne große Ansprüche. Oder wie Rachel, die ständig alle Regeln gebrochen und Grenzen ausgetestet hatte. Seine Brüder hatten ihn schon damit aufgezogen, dass er nach Richmond gezogen war, weil alle Frauen in Eden Falls ihn zu gut kannten.

Dabei hatte er im letzten Jahr nach der Erfahrung mit Marissa gar kein Interesse an Frauen gehabt. Marissa Turner … allein der Name verursachte ihm einen bitteren Geschmack im Mund. Zwei lange Jahre war sie seine Freundin gewesen, Jahre, in denen er seine Pläne für sie geändert, seine Firmengründung vernachlässigt und sich um ihren Schönheitssalon gekümmert hatte. Jedes Mal, wenn es darum ging, dass er in Richmond ein eigenes Unternehmen gründen wollte, war sie ausgeflippt. Und weil er wollte, dass sie glücklich war, hatte er sich nach ihr gerichtet. Das war einfacher gewesen. So schlimm war es ja in Eden Falls auch nicht, und schließlich hatte er seit dem Highschool-Abschluss als einfacher Handwerker gearbeitet.

Bis sie die Möglichkeit bekam, als Visagistin bei einem Hollywoodfilm mitzuarbeiten. Sie hatte sofort die Stadt verlassen und sich nicht mal die Zeit genommen, telefonisch mit ihm Schluss zu machen. Seitdem war er allein und kam sich ziemlich dämlich vor.

Zum Glück hatte er dann doch noch die Kurve gekriegt und war endlich nach Richmond gezogen. Dort fand er das perfekte Büro für seine neue Firma und eine nette kleine Wohnung und lebte endlich sein eigenes Leben. Nicht das seiner Familie oder das seiner Freundin.

Jedenfalls die meiste Zeit.

„Nein, es ist wirklich kein Umweg“, versicherte Lisa gerade Kat, als er sich hinters Steuer klemmte. „Rye ist ganz aus Richmond hergefahren, um mich abzuholen, da fallen die drei Blocks mehr wirklich nicht auf. Er ist dieses Wochenende unser guter Samariter und kümmert sich um Jordanas Hundepension, weil sie auf einer Hochzeit ist. Und vertritt Noah als Baseballtrainer.“

Kopfschüttelnd hörte Rye seiner Schwester zu. Kein Wunder, dass er ganz nach Richmond hatte ziehen müssen, um endlich Zeit für seine eigene Firma zu haben. Natürlich liebte er seine Familie und fühlte sich ein wenig geschmeichelt, dass sich alle an ihn wandten, wenn Not am Mann war. Aber hier in Eden Falls gab es immer einen Bruder oder eine Schwester, die ihn mal ganz dringend brauchten, Cousins und Cousinen, Onkel, Tanten, Freunde – jede Menge Menschen, die ihn von seiner eigentlichen Arbeit abhielten. Er wohnte jetzt erst seit einem Monat in Richmond und war schon sechs Mal nach Eden Falls gefahren, um den Retter in der Not zu spielen. Das musste in Zukunft anders werden.

Lisa gab ihm einen Rippenstoß. „Stimmt doch, oder? Sag sofort, dass es kein Problem ist, sonst steigt Kat noch an der nächsten Ampel aus und läuft nach Hause!“

Nun musste er doch lächeln. Ja, seine Familie war speziell, aber er hätte sie um nichts auf der Welt eingetauscht.

„Kein Problem“, bestätigte er bereitwillig. „Und mit der Schiene solltest du sowieso nicht so viel laufen. Ist der Fuß gebrochen?“

„Ein Haarriss. Wegen Überlastung.“

„Autsch. Unser Bruder Logan hatte das auch mal. Er spielt Baseball für die Eagles. Er musste einen Monat pausieren, bevor er wieder aufs Spielfeld durfte. Tut mir leid für dich.“

Kat verzog das Gesicht. „Ja, mir haben die Ärzte auch vier Wochen Pause verordnet. Da dachte ich mir, das ist eine gute Gelegenheit, herzukommen und meinen Eltern zu helfen.“

Rye warf ihr einen mitfühlenden Seitenblick zu. „Wie geht’s deinem Vater?“

„Gut.“ Wieder übte sie sich im einstudierten Lächeln. Ihrem Vater ging es gut, ihrer Mutter auch und ihrer Nichte Jenny sowieso. Alles war in bester Ordnung, und sie würde in spätestens einer Woche wieder nach New York zurückfahren.

„Darmkrebs ist keine Kleinigkeit.“

„Die Ärzte sagen, dass sie es rechtzeitig entdeckt haben.“ Wie immer unterdrückte sie die aufsteigenden Ängste. Ihr Vater hatte viel länger gebraucht als gedacht, um wieder auf die Beine zu kommen, hatte die letzten sechs Monate fast ständig im Krankenhaus verbracht. Nun war auch noch diese Lungenentzündung dazugekommen …

Aber zumindest Rye schien sie überzeugen zu können, denn er fragte nicht weiter. Stattdessen sagte er: „Alle hier machen sich große Sorgen um ihn. Meine Mutter hat mich letzte Woche mit ihrer Hühnermandelsuppe zu ihm geschickt. Für sie ist das die Geheimwaffe gegen jede Krankheit. Er wird im Nullkommanichts wieder auf den Beinen sein.“

Wow, hier gab es noch Menschen, die für einen kranken Bekannten kochten. Das kannte sie aus der Großstadt nicht.

Sie erinnerte sich an die Höflichkeitsregeln, die ihre Mutter ihr vor Jahren beigebracht hatte. „Und bestimmt ist sie auch noch besonders lecker. Das war sehr nett von dir, dass du sie vorbeigebracht hast.“

Hatte er Kat irgendwie verärgert? Sie klang so steif – und bei genauerer Betrachtung saß sie auch ziemlich steif da. Aufrecht wie ein Soldat, sodass ihr Rücken die Lehne nicht berührte, die Hände ordentlich im Schoß gefaltet. Wenn sie an bekannten Straßen vorbeikamen, blitzten ihre Augen auf, und bei jeder Kreuzung schluckte sie.

Dann kam ihm die Erkenntnis: Sie war nicht ärgerlich, sie hatte Angst. Und wenn er in dreißig Jahren eins gelernt hatte, dann Geschwister und Cousins von ihrer Angst abzulenken. Einfach, indem er mit ihnen sprach. Eden Falls war ein dankbares Thema. Auch wenn er selbst nicht mehr hier wohnte, er wusste genug über seine Heimatstadt.

Mit dem Kopf deutete er zu einer Reihe kleiner Läden, an denen sie gerade vorbeikamen. „Miss Emily hat vor einer Weile ihre Zoohandlung geschlossen.“

Sie blickte nur kurz auf, und einen Moment lang sah es so aus, als würde sie nicht darauf eingehen. Schließlich hakte sie aber doch nach.

„Warum denn?“

„Sie hat es nicht mehr ertragen, die Tiere in Käfigen zu sehen. Deshalb hat sie alle Hamster und Kaninchen und Fische verkauft und stattdessen nur noch kleine Kätzchen angeboten, die sie frei im Laden herumlaufen ließ. Die wollte sie dann aber nicht verkaufen, weil sie Angst hatte, dass sie in schlechte Hände geraten, also hat sie sie verschenkt, und zwar immer nur, wenn sie sicher war, dass sie ein gutes Zuhause bekommen. Irgendwann wurde ihr dann schließlich klar, dass es so keinen Sinn ergibt, Ladenmiete zu bezahlen, und jetzt geht man einfach zu ihr nach Hause und klingelt, wenn man ein Kätzchen von ihr haben möchte.“

Na also, schon besser. Tatsächlich lächelte Kat jetzt leicht. Lisa verdrehte natürlich die Augen, aber immerhin widersprach sie ihm nicht. Da es so gut lief, deutete er auf die Grundschule auf der anderen Straßenseite.

„Da, erinnerst du dich noch an deine alte Schule? Letztes Jahr mussten sie die Weihnachtsaufführung ausfallen lassen, weil die Boa Constriktor der vierten Klasse entwischt war. Die Eltern haben sich geweigert, die Schule zu betreten. Jetzt müssen die Schüler wahrscheinlich zum Osterumzug ‚Jingle Bells‘ singen.“

„Hat sich die Schlange wieder eingefunden?“

Autor

Mindy Klasky
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