Seit ich dich gefunden habe

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Der Frühstücksspeck verbrannt und ein Feuermelder, der einen Höllenlärm veranstaltet. Wenn das kein gelungenes Katerfrühstück ist. Honey ist genervt und dann mischt sich auch noch ihr unausstehlicher Nachbar Hal ein und beschimpft sie. Er könnte ja zumindest anbieten ihr zu helfen. Stattdessen lässt er sie einfach stehen und verschwindet wieder in seiner Wohnung. Trotzdem, irgendwie hat Honey das Gefühl, dass sich mehr hinter seiner abweisenden Art verbirgt und beschließt nicht einfach aufzugeben und sich mit ihm anzufreunden. Schließlich ist er Koch, da kann er ihr bestimmt einiges beibringen. Doch dann erkennt Honey: Hal ist Blind. Ist es vielleicht eigentlich er, der ihre Hilfe braucht?

Ein erfrischend lustiges und wahrhaft herzerwärmend romantisches Lesevergnügen

Miranda Dickinson


  • Erscheinungstag 10.06.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495601
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kat French

Seit ich dich gefunden habe

Roman

Aus dem Englischen von
Andrea Härtel

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

The Piano Man Project

Copyright © 2015 by Kat French

erschienen bei: Avon, an Imprint of HarperCollins

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Christiane Branscheid

Titelabbildung: Dollarphotoclub / Seamartini Graphics

ISBN eBook 978-3-95649-560-1

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Irgendwie traurig, sich selbst so etwas zum Valentinstag zu schenken, findest du nicht?“ Honey griff nach einem Vibrator-Modell in grellem Pink und beäugte es angewidert.

„Warum?“ Tash lachte. „Mein letzter war der beste Freund, den ich je hatte. Als er den Geist aufgab, hab ich ihn hinten im Garten beerdigt und ihm zu Ehren einen phallischen Kaktus auf das Grab gepflanzt.“

„Wie hast du’s überhaupt geschafft, dass er kaputtging?“ Stirnrunzelnd betrachtete Honey das dicke neonfarbene Plastikteil in ihrer Hand, das ziemlich robust aussah.

„Er hat wahrscheinlich überdurchschnittlich viel zu tun bekommen“, meldete sich Nell zu Wort. Mit den großen braunen Rehaugen und dem formvollendeten Haarknoten wirkte sie neben den beiden Freundinnen wie die Verkörperung reinster Perfektion.

„Wir können ja nicht alle unser Leben mit Plätzchenausstechen verbringen, Nelly“, tadelte Tash.

„Bisher habt ihr euch noch nie beklagt, wenn meine Plätzchen in eurem Küchenschrank gelandet sind“, gab Nell schnippisch zurück.

„Stimmt“, lenkte Tash ein. „Aber du solltest nicht gerade hier nach neuen Ausstechförmchen suchen. Obwohl … warum eigentlich nicht? Ich würde zu gern sehen, wie deine Schwiegermutter einen Kekspenis in ihren Tee tunkt.“

Nell bedachte die Freundin mit einem ironischen Schmunzeln, doch insgeheim traf Tashs gutmütige Neckerei sie trotzdem ein wenig. War ihr Leben wirklich zu durchschnittlich geworden? Beim Anblick all dieser fremdartigen Gegenstände in den Regalen um sie herum lag der Verdacht durchaus nahe. Nachdenklich starrte sie vor sich hin. Sie hatte genügend Zeitschriften und Bücher gelesen, um zu wissen, dass es von einer schal gewordenen Ehe bis zur endgültigen Katastrophe nur noch ein kleiner Schritt sein würde.

Was Aussehen und Lebensführung betraf, konnten Tash und Nell gegensätzlicher nicht sein, während Honey sich selbst irgendwo zwischen den beiden einordnete. Bemühte man das Bild einer Ampel, hätte Tash wohl das Grün verkörpert – blitzende smaragdgrüne Augen und ein kokettes Lächeln, bei dem ihr die Männer in Scharen zu Füßen lagen. Nell wäre das Rot – stopp, nicht einfach nach vorn streben, wäre ihre direkte, klare Ansage. Für Honey blieb die Farbe Gelb. Warm, nie ganz eindeutig. Ihr durfte Mann sich nur mit Vorsicht nähern. Nun, angesichts des Nichtvorhandenseins anständiger Männer in ihrem Leben vielleicht sogar am besten gar nicht.

„Er ist rostig geworden.“ Tash, der widerspenstige rote Locken bis über die Schultern fielen, ließ den kundigen Blick über die Regale schweifen. „Fragt mich lieber nicht. Ah, Gott sei Dank, ein wasserfester.“ Sie griff nach einem leuchtend türkisfarbenen Vibrator und drückte einen Kuss auf die Verpackung. „Hallöchen, mein Hübscher, genau dich brauche ich.“ Grinsend ließ sie ihn in den Korb fallen. „Was ist mit dir, Honeysuckle? Irgendwas Nettes für das Wochenende?“ Mit ausladender Geste deutete sie auf die Armee von Vibratoren, die wie ein Trupp einsatzbereiter Soldaten aufgereiht vor ihnen standen.

„Kein Bedarf.“ Honey stellte das pinkfarbene Modell wieder zurück.

„Komm schon, du musst ja nicht gleich die Nase rümpfen“, meinte Tash. „Immerhin ist ja schon eine ganze Weile vergangen seit deinem letzten … äh …“

„So lange nun auch wieder nicht“, gab Honey aufgebracht zurück. Vor mehr als zwölf Monaten hatte sie sich von ihrem letzten Freund getrennt – nicht, dass Mark diese Bezeichnung wirklich verdient gehabt hätte. Sie schien ein Talent dafür zu haben, immer die falschen Männer anzuziehen; Männer, die sich mehr für Fußball und Bier als für Blumen und Romantik interessierten. Oder für den nächsten Orgasmus – natürlich nur den eigenen.

Ihre einzige längere Beziehung hatte sie zu Unizeiten geführt, mit einem Biologiestudenten namens Sean, für den ihr Körper die Erweiterung seiner Fachbücher gewesen war, etwas, an dem man das Ursache- und Wirkungsprinzip studieren konnte. Kein Wunder, dass sich ihr Körper unter einer solch akribischen Begutachtung geweigert hatte zu funktionieren.

„Honey?“ Nell holte sie aus ihren Gedanken, und Honey merkte, dass die beiden Freundinnen gespannt auf eine Antwort warteten.

„Ich weiß nicht. Ein Jahr vielleicht?“ Sie zuckte die Schultern und wandte den Blick ab, als die beiden Frauen sie ungläubig ansahen.

„Verdammt! Ein ganzes Jahr ohne Sex?“ Tash warf einen weiteren Vibrator in den Korb. „Den kauf ich dir. Als Geschenk. Du hast ein bisschen Spaß nötiger als ich.“

„Haha.“ Honey stellte ihn wieder ins Regal. „Vielen Dank, aber verschwende dein Geld nicht. So etwas funktioniert bei mir nicht.“

„Das funktioniert bei jedem, Honey.“

„Nicht bei mir.“

„Hast du’s denn schon mal versucht?“

„Das brauche ich nicht, okay?“ Honey kehrte ihr den Rücken zu, es war ihr unangenehm, welche Wendung das Gespräch genommen hatte. „Ich kann einfach nicht … na ja, ihr wisst schon.“

Zeitgleich drehten die beiden sie wieder zu sich herum.

„Was kannst du nicht?“ Nell runzelte die Stirn.

„Zum Orgasmus kommen?“, flüsterte Tash.

„Starrt mich nicht an, als wäre das ein Verbrechen“, murmelte Honey. Ein Sexshop war kaum der richtige Ort, um darüber zu diskutieren. Sie fühlte sich wie eine Atheistin in der St. Paul’s Cathedral. „Ich bin nicht prüde, ich mag Sex. Ich hab nur nie einen Orgasmus dabei. Nicht weiter wichtig.“

Tash starrte Honey an, als hätte diese plötzlich zwei Köpfe. „Nicht weiter wichtig? Es ist sogar verdammt wichtig! Ich würde sterben, wenn ich nicht wenigstens einmal am Tag komme!“

„Gilt das auch, wenn du mit echten Männern zusammen bist?“, fragte Nell. Ihr mit Brillanten besetzter Ehering funkelte, als sie am oberen Knopf ihrer gepunkteten Seidenbluse zu spielen begann.

Tash tippte mit dem Finger auf die Schachtel in ihrem Korb. „Hiermit stelle ich euch meinen echt tollen neuen Freund vor.“

Honey wandte den Blick ab. Glitzernde rote Herzen hingen überall von der Decke, aber in Reizwäsche gekleidete Puppen, die überall herumstanden, ließen den Laden eher wie eine Lasterhöhle denn wie ein romantisches Liebesnest wirken.

„Was ist das bloß alles für ein Zeug?“, murmelte Nell und machte große Augen, als sie durch den Spalt eines schweren Samtvorhangs traten. Schon schlang sie sich eine dunkle Perlenschnur ums Handgelenk. „Ich wusste gar nicht, dass es hier auch Schmuck gibt.“ Bewundernd betrachtete sie das Armband. „Das würde perfekt zu meinem neuen violetten Kleid passen.“

Tash lachte. „Wie umsichtig von den Herstellern, dass man ihre Analketten so vielseitig verwenden kann.“

Nell nahm die Schnur hastig ab und lief dunkelrot an. „Das ist ja widerlich!“

„Kein vorschnelles Urteil, solange du es nicht selbst probiert hast, mein Liebe.“ Wissend zog Tash die Augenbrauen hoch.

Nell setzte sich hin und schlug züchtig wie eine Schulmeisterin die Beine übereinander. „Ich glaube, ich warte hier auf euch, bis ihr fertig seid.“

„Tu das. Aber nur zu deiner Information, du sitzt auf einer Sexcouch.“ Tash zwinkerte ihr zu.

„Du liebe Güte!“ Nell sprang auf und strich sich den dunkelblauen Bleistiftrock glatt. „Ist denn hier gar nichts normal?“

„Das ist normal, Nell. Simon wäre wahrscheinlich entzückt, dich in einem Ouvert-Slip zu sehen.“

„Ganz sicher nicht. Er würde mich auffordern, das Ding umzutauschen, weil daran etwas fehlt.“

Seufzend schüttelte Tash den Kopf. „Weißt du, damit hast du wahrscheinlich sogar recht.“

Honey streifte die Handschellen ab, die sie anprobiert hatte, und schmunzelte. Simon und Nell waren das perfekte Paar. Eine Sandkastenliebe. Mr. und Mrs. Blümchensex. Er würde vermutlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn Nell etwas Gewagteres als ein weißes Höschen anzog. „Komm, Nell, wir gehen. Tash, wir treffen uns in fünf Minuten nebenan.“

„Also, Honey, was die Sache mit den Orgasmen angeht …“, begann Tash, als sie sich zehn Minuten später in der gut besuchten Bar zu den anderen an den Tisch setzte.

Honey seufzte. „Um Himmels willen, fang bloß nicht damit an. Ich muss wirklich nicht darüber reden.“

„Also gut, wie du willst“, beschwichtigte Nell. „Aber … als du sagtest, du könntest nicht … hast du doch nicht gemeint, du hättest noch nie … oder?“

Honey griff resigniert nach ihrem Weinglas. „Es macht mir wirklich nichts aus.“

„Oha, das sollte es aber. Unter anderem ist es nicht gut für die Gesundheit.“

„Nein, Tash. Es wäre wohl eher nicht gut für deine Gesundheit. Ich kann doch nichts vermissen, was ich nie gehabt habe.“

„Bist du hundertprozentig sicher, dass du noch nie …?“, wollte Nell wissen.

„Liebe Güte, Nell, wenn sie einen gehabt hätte, ohne es zu bemerken, dann würde mit ihr in der Tat etwas nicht stimmen!“

Honey räusperte sich. „Falls ihr es vergessen habt: Ich bin noch da, ja?“

„Ich verstehe nur einfach nicht, warum es nicht einmal im Eifer des Gefechts klappt, wenn ich ehrlich sein soll.“ Tash sah aufrichtig verblüfft aus. „Du musst mit den falschen Männern geschlafen haben.“

„Es gibt keinen Grund“, erwiderte Honey gleichgültig.

„Möglicherweise bist du einfach zu verkrampft, um dich richtig zu entspannen.“ Nell sah sie nachdenklich an.

Honey schüttelte den Kopf. „Könntet ihr bitte damit aufhören? Ich bin nicht verkrampft, sondern absolut entspannt. Ich rechne nicht damit, dass es passiert, und es passiert auch nicht. Anderes Thema?“

„Ich kann nicht fassen, dass wir seit zehn Jahren befreundet sind und du uns noch nie davon erzählt hast!“

„Das liegt daran, dass es keine große Sache ist.“

Nell und Tash griffen nach ihren Gläsern, mit einem Gesichtsausdruck, der verdächtig nach Mitleid aussah.

Tash runzelte die Stirn. „Wann hast du das letzte Mal mit einem Mann geflirtet?“

Honey spielte mit ihren Armreifen, einer klimpernden Ansammlung von Gold und buntem Metall. Männer, die einen Flirt wert gewesen wären, waren ziemlich dünn gesät in ihrem Alltag. Sie hatte flüchtig daran gedacht, mit Eric zu flirten – dem Lüstling, der gelegentlich in ihren Wohlfahrtsladen kam –, aber schon bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht. Er versuchte ohnehin dauernd, ihr den Hintern zu tätscheln. Nur die allerkleinste Ermutigung ihrerseits, und sie konnte in seiner betreuten Wohngemeinschaft die Bekanntschaft mit seinen alten Feinrippunterhosen machen. Nein, beim besten Willen nicht.

„Du kannst dich gar nicht mehr daran erinnern, oder?“

Honey schüttelte seufzend den Kopf. „Ich treffe einfach keine Männer, mit denen ich flirten könnte. Ich bediene den ganzen Tag über liebe alte Leutchen. Und die halbwegs interessanten Typen, denen ich begegne, erweisen sich ziemlich schnell als Idioten.“

„Du bist eben immer mit den Falschen zusammen gewesen“, tröstete Nell.

Dem konnte Honey nicht widersprechen. Die wenigen Männer, mit denen sie geschlafen hatte, hätten nicht gerade Preise in der Kategorie „Wie man eine Frau am besten glücklich macht“ gewonnen, doch tief im Innern wusste sie, dass es nicht allein an ihnen gelegen hatte. Sie war einfach ohne das Orgasmus-Gen zur Welt gekommen, daran gab es nichts zu rütteln.

„Lass uns einen Mann für dich aussuchen“, schlug Tash vor.

„Kommt nicht infrage!“ Honey konnte sich die Typen genau vorstellen, die ihre Freundinnen ihr präsentieren würden – dauergebräunte Playboys oder aber Lehramtsreferendare in Jesuslatschen.

„Weißt du, was du brauchst?“ Tash schwenkte ihr Glas in Honeys Richtung. „Ein ganz bestimmtes Kriterium, um zwischen all den Muttersöhnchen die waschechten Kerle herauszupicken.“

„Ich kann dir nicht ganz folgen.“

„Nun, nimm mich, zum Beispiel. Mein Kriterium ist Geld. Kein Geld, keine Tash.“

„Du bist so was von oberflächlich!“, rief Nell.

Tash tat gleichmütig. „Ich würde es eher realistisch nennen.“

„Also, Geld ist für mich nicht wichtig.“

„Nein, aber irgendetwas, was dir an dem Mann fürs Leben wichtig ist, muss es doch geben?“

„Ein guter Vater sollte er sein. Das war bisher mein Kriterium.“ Ein verträumtes Lächeln lag auf Nells Lippen; zweifellos dachte sie an Simon und ihre kleine einjährige Tochter. Ihren eigenen Vater hatte sie nie kennengelernt, daher war Simon für sie Geliebter, Freund und Held in einem.

Michael Bublés schmachtende Stimme erscholl gerade aus dem Lautsprecher hinter Honey. „Glaubt ihr, ihr könntet mich vielleicht mit Michael Bublé verkuppeln?“

„Ein bisschen viel verlangt, Süße.“ Mit einem Mal saß Tash kerzengerade. „Aber das bringt mich auf eine großartige Idee für dein Kriterium!“ Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein, und ihre Augen funkelten. „Du musst dir einen Pianisten suchen.“

Nell lachte. „Und wo zum Teufel soll sie hier bitte schön einen Pianisten auftreiben?“

„Halt, wenn ihr mich mit Bublé oder Robert Downey Junior verkuppelt, bin ich dabei“, warf Honey ein.

„Überlegt doch nur mal: Wer von früh bis spät Tonleitern übt, der weiß seine Hände in gewissen Stunden garantiert äußerst geschickt einzusetzen.“ Tash erwärmte sich immer mehr für ihren Einfall. „Und nur kluge, sensible Männer machen sich die Mühe, Klavierspielen zu lernen.“

„Tash hat recht, Honey“, pflichtete Nell der Freundin bei. „Du solltest dir einen Pianisten angeln.“

„Tja, ich kenne aber keinen.“

„Noch nicht …“ Tash zwinkerte. „Aber bald.“

„Und wie soll ich das anstellen?“ Honey griff nach der Weinflasche, um Tashs Glas aufzufüllen.

„Keine Ahnung.“ Nell schmunzelte. „Wir müssen uns eben mal ein paar Datingseiten im Internet ansehen.“

„Auf keinen Fall!“ Vor Schreck verschüttete Honey ein wenig Wein. „Ich werde mich bestimmt nicht bei einem dieser Flirtportale anmelden!“

Die zwei Komplizinnen sahen sich an. „Natürlich nicht“, erwiderte Nell, und Tash räusperte sich.

Honey warf beiden einen misstrauischen Blick zu. „Kreuzt ihr etwa die Finger hinterm Rücken?“

Nell schüttelte den Kopf, löste aber erst danach die gekreuzten Finger wieder.

„Mir fällt noch nicht mal ein berühmter Klavierspieler ein, geschweige denn ein ganz gewöhnlicher.“ Honey runzelte die Stirn.

„Elton John?“, schlug Tash vor.

„Der ist schwul. Und verheiratet. Ich will aber weder einen verheirateten noch einen, der auf Männer steht.“

„Liberace?“

„Toll. Tot und schwul.“

„Stimmt“, schaltete Nell sich ein. „Wir suchen also einen ganz normalen lebenden Pianisten mit einem Faible für etwas ausgeflippte Blondinen.“

„Und einen wahnsinnig attraktiven“, warf Honey ein. „Er muss wahnsinnig gut aussehen.“

„Genial“, bemerkte Tash, „es ist dir mit einem Schlag gelungen, neunundneunzig Prozent der männlichen Bevölkerung aus dem Rennen zu werfen und nur einen winzigen Teich übrig zu lassen, um den Fang des Tages rauszufischen.“

Honey lachte und schüttelte den Kopf, um das Bild von sich selbst in Anglerhosen zu vertreiben, wie sie einen widerstrebenden Michael Bublé an Land zog. „Ein Pianistenfisch. Der Traum eines jeden Mädchens.“

Hal vernahm das Gelächter mehrerer Frauen draußen im Hausflur vor der Wohnung, eine Türe knallte. Es war bereits weit nach Mitternacht. Seufzend zog er sich das unbequeme Kissen über den Kopf.

Großartig. Seine neue Nachbarin lachte wie eine Straßenkatze und hatte obendrein keinerlei Respekt vor anderen Bewohnern des Hauses. Wäre er in milderer Stimmung gewesen, hätte er vielleicht eingeräumt, dass sie von seinem Einzug am Nachmittag noch gar nichts wissen konnte, aber ihr Lachen ging ihm mächtig auf die Nerven. Genau wie Menschen im Allgemeinen. Lachende Menschen aber waren ein ganz besonderer Albtraum. Er wohnte hier noch nicht einmal einen Tag, aber er hasste dieses Haus jetzt schon.

2. KAPITEL

Honey blinzelte in der grellen Morgensonne. Tatsächlich war es bereits Nachmittag. Nachdem sie die Vormittagsstunden auf dem Sofa verbracht hatte, wich ihr Kater allmählich dem dringenden Bedürfnis nach einem Sandwich mit gebratenem Speck und nach einem riesigen Pott Kaffee.

Wenig später brutzelte Speck in der Pfanne, und Honey fühlte sich gleich etwas weniger schrecklich. Als das Telefon klingelte, beeilte sie sich, abzunehmen, ehe sich der Anrufbeantworter einschalten konnte.

„Hallo?“

„Du hörst dich so schlimm an, wie ich mich fühle“, brummte Tash. „Was haben wir gestern Abend bloß in uns reingeschüttet? Crystal Meth?“

„Der Tequila war deine Idee.“ Honey verzog das Gesicht. „Bist du gut nach Hause gekommen?“

„Klar doch. Der Taxifahrer hat mich zwar gezwungen, während der ganzen Fahrt für den Fall der Fälle den Kopf aus dem Fenster zu halten, aber ich bin gut gelandet.“

Honey lachte, als sie sich Tash vorstellte, wie sie wie ein Familienhund während eines Ausflugs aus dem geöffneten Autofenster sah. „Ich frage mich, wie es Nell wohl geht.“

„Ganz sicher bestens. Sie wird vor dem Schlafengehen zwei Liter Wasser getrunken haben, und heute Morgen stand bestimmt schon Simon mit Alka-Seltzer und einer Schale selbst gemischtem Müsli parat. Die Glückliche.“

Honey kannte Tash gut genug, um echte Zuneigung aus der brummigen Bemerkung herauszuhören. „Wir sind selbst schuld“, gab sie schmunzelnd zu. „Nell hat keinen Tequila getrunken. Das Durcheinandertrinken ist es, was einen umbringt.“

„Muss sie denn immer so furchtbar vernünftig sein?“

„Na ja, aber in wessen Haut möchtest du heute lieber stecken?“

„Und neben Simon aufwachen, dem langweiligsten Kerl der Welt?“, gab Tash zu bedenken. „Nein, da bleibe ich bei Tequila und Kopfschmerzen, vielen Dank.“

Erschrocken stieß Honey einen Schrei aus, als ein Kreischen ertönte.

„Was zum Teufel ist das für ein Lärm?“, rief Tash.

„Verdammt, der Rauchmelder! Ich muss auflegen, Tash, Küsschen!“

Honey stürzte in die Küche. Rauch und verbrannter Speck. Schon wieder, verdammt! Wenigstens waren noch keine Flammen zu sehen. Sie schleuderte die Pfanne in die Spüle und verzog das Gesicht, weil der ohrenbetäubende Lärm des Rauchmelders ihre Kopfschmerzen noch zusätzlich verstärkte. Hastig kletterte sie auf einen Stuhl und drückte den Reset-Knopf. Sie fühlte sich ganz schwach vor Erleichterung, als der Lärm verstummte. Halt – er war nicht vollständig abgeebbt. Donnerwetter, sie hatte ganze Arbeit geleistet. Als sie die Wohnungstür öffnete, gellte der Alarm in voller Lautstärke im Flur, und an diesen Rauchmelder an der hohen Decke kam sie nicht heran.

Sie hielt sich die Ohren zu und erschrak fast zu Tode, als die Tür der Wohnung gegenüber plötzlich aufgerissen wurde.

„Brennt etwa das verdammte Haus?“

Hoppla, wo kam der denn her?

„Nein, Entschuldigung. Ich hab nur meinen Speck anbrennen lassen. Gib mir eine Minute …“ Honey versuchte, sich nichts von ihrer Überraschung darüber anmerken zu lassen, dass ein zerzauster Typ, der Johnny Depp ähnelte, sie in ihrem eigenen Flur anbrüllte. Nun ja, genau genommen gehörte der Flur zu beiden Wohnungen, aber da die andere monatelang leer gestanden hatte, war er fast zu ihrem eigenen geworden.

Sie betrachtete den Mann eingehend. Dunkle Sonnenbrille zur Mittagszeit – oha, das ließ auf einen Leidensgenossen in Sachen Kater schließen. Vielleicht war er ein berühmter Rockstar, der sich hier verstecken wollte. Träum weiter. Wer immer er auch sein mochte, das verblichene schwarze T-Shirt schmiegte sich an seinen durchtrainierten Körper. Irgendwie sexy, dachte sie, als ihr die Tätowierungen auf seinen Armen auffielen. Ausgesprochen schade, dass er eine Art an sich hatte, die einfach durch und durch abstoßend war.

„Jetzt stell gefälligst diesen verdammten Krach ab, ja? Ich versuche nämlich zu schlafen.“

„Hm …“ Mit einer gewissen Panik starrte Honey den Rauchmelder an. Sie hatte hämmernde Kopfschmerzen, hier draußen war das Ding sogar noch lauter als in ihrer Küche. „Das würde ich ja gern, aber ich komme nicht dran. Könntest du eventuell …?“ Er war über eins achtzig groß, wenn er sich etwas streckte, würde er es problemlos schaffen.

„Nein, ich kann verdammt noch mal nicht! Welche erwachsene Frau schafft es denn nicht, Speck zu braten? Löffel die Suppe gefälligst selbst aus, die du dir da eingebrockt hast!“ Damit knallte er ihr die Tür vor der Nase zu.

Honey fühlte sich etwas benommen. Sie kannte einen Haufen Leute, die im Großen und Ganzen freundliche menschliche Wesen waren. Einem derart unausstehlichen Typen zu begegnen versetzte sie geradewegs in einen Schockzustand.

„Also gut“, rief sie laut. „Dann mache ich es eben selbst.“ Sie unternahm einen halbherzigen Versuch, hochzuspringen und auf den Melder zu schlagen. Aussichtslos. Mit einer Körpergröße von eins sechzig und ohne sportliches Talent war das Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.

Plan B musste her. Honey zog sich einen Schuh aus und warf ihn hoch, aber er verpasste den Melder um bestimmt dreißig Zentimeter. Ihr Blick fiel auf den langen, rot gepunkteten Regenschirm im Schirmständer neben ihrem Eingang. Bingo! Ob sie mit der Metallspitze den Reset-Knopf erreichen konnte? Sie versuchte es, aber das verdammte Ding schwankte zu sehr, sie traf den Knopf einfach nicht. Außerdem verstärkte sich langsam, aber sicher das Gefühl, dass ihr jeden Moment die Trommelfelle platzen würden.

Mist! Wenn sie das nächste Mal Appetit auf Speck hatte, würde sie ins Café an der Ecke gehen. Honey seufzte und bereitete sich auf die letzte Option vor, die ihr noch blieb. Sie schwang den Schirm über dem Kopf und schlug den Rauchmelder kurzerhand von der Decke. Er prallte gegen die Wohnungstür des neuen Nachbarn, landete mit einem quäkenden Ton auf dem Boden und verstummte schließlich ganz. Erleichtert schloss Honey die Augen.

Johnny Depp riss erneut die Tür auf. „Was?“, grollte er.

„Wie was?“

„Du hast an meine Tür geklopft.“

„Ich habe nicht geklopft. Der Rauchmelder ist beim Runterfallen gegen die Tür gedonnert.“

„Du hast ihn heruntergeschlagen?“

Tatsache, Sherlock.

„Ich schlage vor, du lässt das mit dem Kochen in Zukunft, sonst fackelst du womöglich noch das ganze Haus ab.“ Seine versteinerte Miene verriet ihr, dass er das alles ganz und gar nicht lustig fand. Die erneut zugeschlagene Tür verriet ihr dasselbe. Schon wieder. Was für ein Ekel!

„Ich kann sehr gut kochen, vielen Dank“, schrie sie wütend. Das hier war ihr Zuhause, er befand sich auf ihrem Terrain! Wenn dieser Kerl sich einbildete, er könne sich hier wichtigmachen, hatte er sich geirrt.

Mit einem letzten tapferen Aufbäumen klappte der Rauchmelder auseinander, und die Batterie rollte langsam gegen Honeys Fuß. Honey musste plötzlich lachen. Sie hatte das Ding brutal ermordet.

Ihr Blick fiel auf die Tür gegenüber.

Hallo, neuer Nachbar. Hat mich ebenfalls gefreut, dich kennenzulernen.

Eines stand fest – der Typ war definitiv kein Mann wie Simon. An ihm war nichts, aber auch gar nichts Gütiges oder Mildes. Tash würde ihn lieben – vorausgesetzt, er war auch noch stinkreich. Das weinlastige Gespräch vom vergangenen Abend fiel ihr wieder ein. Ihr Kriterium.

Sie klopfte an seine Tür. „Ähm … du spielst nicht zufällig Klavier, oder?“, rief sie und wusste, Tash und Nell würden sich kringeln vor Lachen, wenn sie ihnen davon erzählte.

Er brauchte gar nicht öffnen, sein gebrülltes „Hau endlich ab!“ war nicht zu überhören.

Auf der anderen Seite der Tür ging Hal langsam durch den Flur. Zehn Schritte zur Küchenanrichte, wo er letzte Nacht die halb leere Whiskyflasche hatte stehen lassen. Das kühle Glas in seiner verschwitzten Hand beruhigte seine strapazierten Nerven. Das Heulen des Rauchmelders hatte ihn in höchste Alarmbereitschaft versetzt.

Diese dumme Gans! „Könntest du vielleicht …?“ Ihre Frage schien ihn immer noch zu verspotten. Er setzte die Flasche an die Lippen, und das rauchige Brennen in der Kehle glättete die Wogen seines Zorns vorerst.

Sie hatte nach Erdbeer-Shampoo und verbranntem Speck gerochen, und das versteckte, aber allgegenwärtige Lachen in ihrer Stimme ließ darauf schließen, dass sie das Leben nicht sonderlich ernst zu nehmen schien.

Nun, das sollte sie aber.

Er tastete sich vor in sein Schlafzimmer und ging weiter, bis er mit dem Schienbein ans Bett stieß. Das zerknitterte Laken fühlte sich kratzig an, als er sich ausstreckte, die Whiskyflasche in der einen Hand, die andere frustriert zur Faust geballt. Er hasste dieses Haus! Und dieses Erdbeermädchen hasste er noch viel mehr.

3. KAPITEL

Am Montagmorgen leerte Honey die neu eingetroffenen Müllsäcke aus und wühlte in getragenen Polyesterblusen und Röcken aus Elastan. Zu Beginn ihrer Arbeit im Wohlfahrtsladen war es ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen, die unscheinbar aussehenden schwarzen Müllsäcke auszukippen – in der Hoffnung, dabei auf irgendwelche Schätze zu stoßen; vielleicht hatte ja irgendein Model seine gesamte Prada-Sommerkollektion ausgemustert, um Platz für die Winterklamotten zu schaffen.

Doch schon bald hatte die Ernüchterung eingesetzt, als Honey darauf gekommen war, dass die edlen Spender im Durchschnitt um die achtzig sein mussten – oder Familien, die die Habseligkeiten eines verstorbenen Verwandten weggaben. Röcke, Blusen und Hosen aus billigen Kaufhäusern. Mottenzerfressene Kleider und Anzüge, aufbewahrt aus sentimentalen Gründen, die nun mit ihren Besitzern gestorben waren. Billiger Schmuck mit abgebrochenen Verschlüssen. Angeschlagene Teetassen, zu denen es schon lange keine Untertassen mehr gab. Steife Handtaschen aus Kunstleder, in denen vielleicht noch eine Eintrittskarte lag oder ein vergilbter Brief, den die Verwandten achtlos darin zurückgelassen hatten. Honey brachte es nie übers Herz, solche Erinnerungsstücke einfach wegzuwerfen, daher verstaute sie sie in der Schublade des alten Schreibtisches, den sie sich im kleinen Hinterzimmer des Ladens hergerichtet hatte.

„Tee?“ Lucille, ein Traum in braunen Stützstrumpfhosen und dottergelbem Sommerkleid, einen Strassgürtel um die etwas füllige Taille geschnallt, kam aus der Teeküche. Sie und ihre Schwester Mimi waren die guten Seelen des Wohlfahrtsladens; Vollzeitfreiwillige, die für ihre Arbeit nichts verlangten außer Gesellschaft und dass gelegentlich einige bunte Perlenschnüre für sie abfielen. Wie Elstern waren sie hinter allem her, was auffällig war oder glitzerte. Man hätte sie auch mit einem bunten Kanarienvogelpärchen vergleichen können, das Schlager aus alten Kriegszeiten zwitscherte – so, wie die zwei von einem Kunden zum anderen flatterten und jeden mit gekonntem Augenaufschlag zu einem Kauf anregen wollten.

Honey vergötterte die beiden; sie waren ein fabelhafter Tantenersatz geworden. „Vielen Dank.“ Sie nahm Lucille die zierliche Teetasse und den Unterteller ab. „Mimi ist heute Morgen nicht in Sicht?“

Lucille bückte sich und zog ein paillettenbesetztes Kleid aus dem Stapel zu Honeys Füßen. Sie schüttelte es aus und hielt es auf Armeslänge vor sich, um es zu begutachten. „Sie war gestern Abend aus.“ Kritisch spitzte die Trophäenjägerin die perfekt geschminkten Lippen, sodass diese aussahen wie eine kleine säuerliche Himbeere, und suchte nach dem Markenetikett des Kleides.

„Tatsächlich?“ Honey stieß einen leisen Pfiff aus. „Etwa wieder mit Billy, dem Kerl mit den Ringelsocken?“

Lucille schnaubte. Für ihren Geschmack war ihre Schwester viel zu hingerissen von Billy. Was Mimi an ihm fand, mit seiner lächerlichen Haartolle und der violetten Röhrenhose, die geradezu unanständig eng war für einen Mann von über achtzig, blieb ihr ein Rätsel.

Honey sah zu Boden, um ein Schmunzeln zu verbergen. Sowohl Lucille als auch Mimi lebten in der beständigen Furcht, die andere könnte eines Tages einfach fortgehen, doch die eigenen Erfahrungen hätten sie eigentlich eines Besseren belehren sollen. Männer waren gekommen und gegangen in ihrer beider Leben, doch dem festen Band zwischen den Geschwistern hatten romantische Verstrickungen nie etwas anhaben können. Honey kannte die Kraft einer solchen Verbindung, hatte sie doch ihre prägenden Jahre warm und geborgen zwischen ihrer älteren Schwester Bluebell und der jüngeren, auf den nicht minder fantasievollen Namen Tigerlily getauften Schwester verbracht. Ihre Mutter Jane Jones, eine gescheiterte Schauspielerin, die früher sehr unter dem Spitznamen „unscheinbare Jane“ litt, hatte dafür gesorgt, dass ihre Töchter niemals diese Würdelosigkeit der Anonymität ertragen mussten.

Honey sortierte die Kleidungsstücke zu zwei Stapeln, einen zum Waschen, einen zum Bügeln, und machte sich dann daran, das Klebeband von einem alten, eingedrückten Karton abzuziehen. Der moderige Geruch nach schon lange ausrangierten Habseligkeiten schlug ihr entgegen, als sie den Deckel hochklappte. Gerade wollte sie die oberste Lage vergilbten Zeitungspapiers entfernen, als im Büro das Telefon klingelte.

„Das ist wahrscheinlich Mimi, die sagen will, dass sie immer noch unpässlich ist“, vermutete Lucille und zog empört die Augenbrauen hoch.

Honey musste schmunzeln bei der Vorstellung, dass jemand sich im reifen Alter von dreiundachtzig Jahren so sehr von der Leidenschaft hatte mitreißen lassen, dass er deshalb nicht zur Arbeit gehen konnte. „Das will ich doch schwer hoffen.“

Doch als sie den Hörer abnahm, wurde sie gleich doppelt enttäuscht. Erstens war keine liebestrunkene Mimi am Apparat, sondern – und das bescherte ihr die zweite Enttäuschung – Christopher, der Leiter des Ladens und der daran angeschlossenen Seniorenresidenz. Ein Mann mit großem Einfluss und keinerlei Charisma, was er hinter einer Fassade schon beinahe krankhaften, unhöflichen Arbeitseifers verbarg.

„Personalsitzung. Siebzehn Uhr. Kommen Sie pünktlich, sonst fange ich ohne Sie an.“

„Aber wir schließen erst um fünf.“

„Dann schließen Sie eben früher. Sie sind schließlich nicht gerade ein Supermarkt, oder? Und bringen Sie die beiden alten Frauen nicht mit. Nur bezahltes Personal. Verstanden?“

„Laut und deutlich, Christopher, laut und deutlich.“ Honey seufzte, nachdem er einfach aufgelegt hatte. „Jawohl, machen Sie’s auch gut“, murmelte sie ins Nichts. Würde es den Mann umbringen, wenn er wenigstens so tat, als besäße er einen Funken Anstand? Der Himmel wusste, wie er es schaffte, dass Menschen ihre gebrechlichen Verwandten in seine Obhut gaben; Honey hätte ihm nicht einmal einen Hamster anvertraut. Eine Schande, dass ihre finanzielle Sicherheit ausgerechnet in seinen kleinen, verschwitzten Händen lag.

Einige lange und ereignisreiche Stunden später stellte Honey zwei Einkaufstüten draußen auf der Stufe vor der Haustür ab und rieb sich die schmerzenden Finger. Konservendosen mit Baked Beans und Tomaten waren zwar nicht sonderlich leicht zu tragen, aber dennoch unverzichtbar auf der Einkaufsliste einer nicht kochenden Köchin.

Sie erschrak, nachdem sie die Tüten wieder aufgenommen hatte und die Tür beim Aufdrücken über knirschendes Glas schrammte. Verdammt, hatte man bei ihr eingebrochen? Honey betrachtete verwirrt die intakten Buntglasscheiben der Haustür, bis sie die rosa Tulpen entdeckte, die überall auf dem Boden verstreut lagen – dieselben Tulpen, die sie in ihrer Lieblings-Glasvase erst vor ein paar Tagen in den Flur gestellt hatte, damit er etwas einladender wirkte. Zumindest war es ihre Lieblingsvase gewesen – bis jetzt, denn sie ließ sich garantiert nicht mehr zusammenkleben. Wer auch immer sie zerbrochen hatte, hatte ganze Arbeit geleistet.

Der großen Wasserpfütze auf dem Boden nach zu urteilen, musste das Ganze erst vor kurzer Zeit passiert sein, und da alles andere auf dem gemeinsamen Flur tipptopp aussah, kam wohl nur ein potenzieller Täter infrage. Nur einer würde hier hereinkommen und die Vase zerschlagen, ohne sich die Mühe zu machen, hinterher den Schaden zu beseitigen oder wenigstens einen Entschuldigungszettel zu hinterlassen.

Tausend Dank, Johnny Depp.

Honey schob die Haustür mit dem Rücken zu und lehnte sich dagegen. Dieser Tag war von Stunde zu Stunde immer schrecklicher geworden. Christophers Worte während der Personalversammlung hallten in ihr nach: „Mittelkürzungen. Drohende Schließung. Sechs Monate Frist.“

Dem Laden stand das Wasser bis zum Hals, und wenn sie nicht bald neue Mittel auftrieben, würden sie schon innerhalb weniger Monate schließen müssen. Nicht nur der Wohlfahrtsladen, das ganze Seniorenheim war davon betroffen: Den über dreißig Bewohnern drohte die Zwangsräumung. Was sollte man tun, wenn man mit siebenundneunzig plötzlich obdachlos wurde? Honey hatte keine Ahnung, und Christopher hatte darauf auch keine Antworten geben können.

Der Tag war noch schlimmer geworden, als sie mit den schweren Einkaufstüten im überfüllten Bus neben einem betrunkenen Teenager gestanden hatte, der mindestens zweimal ihr Hinterteil begrapscht hatte. Zu seinem Glück war keine Bohnendose an seinem Kopf gelandet, Honey hatte einfach keine Kraft mehr zum Streiten gehabt. Bis jetzt.

Der Anblick der im Flur verstreuten vertrocknenden Blumen und ihrer kaputten Vase wurden für sie zum berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

„Hey, Rockstar!“, brüllte Honey zur Wohnung des neuen Nachbarn hinüber, während sie sich vorsichtig einen Weg über die Scherben bahnte. Sie stellte die Tüten vor ihrer Wohnungstür ab. „Das war meine Lieblingsvase, nur damit du Bescheid weißt!“

Sie hielt inne. Stille, obwohl sie sich sicher war, eine Bewegung hinter der Tür wahrgenommen zu haben.

„Also gut, ich schicke dir die Rechnung, ja?“ Eigentlich hatte sie die Vase im Laden entdeckt und für nur fünfzig Pence gekauft, aber sie war hübsch gewesen. Dass der neue Nachbar es offensichtlich vorzog zu schweigen, machte sie umso wütender. Sie war davon überzeugt, dass er zu Hause war, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, ob sie Licht in seiner Wohnung gesehen hatte, als sie vorhin an seinen Fenstern vorbeigegangen war. Neuer Tag, neue Katerbekämpfung. So ein Pech aber auch.

„Du bist nicht der Einzige, der heute einen miesen Tag hatte, weißt du. Ich verliere womöglich meinen Job!“ Sie verzog das Gesicht, kaum dass ihr die Worte über die Lippen gekommen waren. Weshalb gestand sie einem völlig Fremden ihre Sorgen? Schlimmer noch, sie brüllte jemandem zu, der eindeutig vom Scheitel bis zur Sohle arrogant war und sich garantiert nicht im Geringsten dafür interessierte.

Hal lag auf dem Sofa, die Augen hinter der dunklen Brille geschlossen. Obwohl er hellwach war, bemühte er sich krampfhaft, ganz ruhig zu bleiben. Viel lieber wäre er nach draußen gestürmt und hätte das Erdbeermädchen in Stücke gerissen. Diese bescheuerten, verdammten Blumen!

Nach draußen stürmen. Sehr lustig. Am Nachmittag hatte er fast zehn Minuten gebraucht, um über den Flur zu gehen. Er hatte nur die verdammte Haustür aufmachen wollen, um den Vertreter draußen davon abzuhalten, weiterhin so lautstark dagegenzuhämmern, dass einem fast die Schädeldecke zersprang.

Wer zum Teufel stellte überhaupt frische Blumen in einen öffentlichen Hausflur? Woher hätte er wissen sollen, dass sie da waren? Regel Nummer eins im Zusammenleben mit einem Blinden: Stelle nie unerwartete Hindernisse in den Weg. Andererseits hatte das Erdbeermädchen wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt, dass er blind war. Ein Glück, denn sonst hätte sie sicher sofort in den gleichen Modus geschaltet wie die meisten anderen Leute heutzutage in seiner Umgebung: in diese Übelkeit erregende Mischung aus Anteilnahme und den verzweifelten Versuchen, ihm bei jeder kleinsten Kleinigkeit zu helfen. Er wollte nicht das Stocken ihrer Stimme hören, wenn ihr klar wurde, dass er nicht sehen konnte, also blieb er still auf dem Sofa liegen und hörte stattdessen zu, wie sie ihn beschimpfte. Aber selbst wenn er gewollt hätte, sollte er sich besser nicht draußen sehen lassen. Nicht mit einer nassen Hose und blutverschmierten Händen, die er sich völlig zerschnitten hatte beim Versuch, die Scherben aufzusammeln.

Hal wusste ganz genau, was sie denken würde. Er roch nach Whisky und sah zweifellos so aus, als hätte er versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Und obendrein erweckte er sicher den Eindruck, als hätte er sich in die Hose gemacht. Ein neuer Tiefpunkt, selbst in seinem neuen Leben.

Und sie glaubte, einen schlechten Tag gehabt zu haben! Sie hatte ja keine Ahnung, wie ein wirklich schlechter Tag aussah.

Honey stellte ihre Einkäufe auf die Arbeitsplatte in der Küche und kehrte mit Besen und Kehrschaufel in den Flur zurück. Kurz hatte sie gehofft, ihr kleiner Wutausbruch hätte vielleicht das schlechte Gewissen des Mannes gegenüber geweckt und ihn dazu veranlasst aufzuräumen, aber sie hatte kein Glück. Seine Wohnungstür blieb weiterhin geschlossen, und die Blumen lagen noch immer verstreut herum. Honey sammelte sie vorsichtig auf und fing dann an, die Scherben zusammenzufegen. Auf nassem Boden war das ein etwas schwieriges Unterfangen.

Etwas Rotes fiel ihr auf, das sich mit Wasser und Glassplittern vermischte. Sie runzelte die Stirn und hielt inne. Wenn das Blut war, hatte er vielleicht doch versucht aufzuräumen. Oder, o Gott, er hatte sich vielleicht verletzt und ihre Blumen versehentlich umgeworfen; vielleicht hatte er irgendeinen Anfall gehabt oder sich an den Scherben die Schlagadern aufgeschnitten und lag in diesem Moment sterbend in seiner Wohnung, und dann waren allein ihre Tulpen daran schuld. So, wie sich dieser Tag entwickelte, erschien es ihr keineswegs unmöglich, dass sie selbst aus Versehen ihren Nachbarn ermordet hatte.

Als der Boden wieder sauber war, trat sie ein paar Schritte auf seine Tür zu und lauschte. Nichts. Sie hob die Hand, um anzuklopfen, hielt aber im letzten Augenblick inne. Was sollte sie denn sagen, wenn er öffnete? Wenn Sie tot oder verletzt sind, tut mir das leid, aber wenn nicht, scheren Sie sich zum Teufel?

„Hallo?“, rief sie zögerlich. Weiterhin blieb alles still, und sie geriet langsam, aber sicher in Panik. „Hallo?“ Sie versuchte es noch einmal, diesmal etwas energischer. Immer noch keine Reaktion. Kraftvoll hämmerte sie mit der Faust an seine Tür. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Sie presste ein Ohr an die Tür und lauschte angestrengt. War das ein Rascheln?

Hal fluchte lautlos vor sich hin und richtete sich mühsam auf. Das Erdbeermädchen entpuppte sich langsam als echte Nervensäge. Warum hämmerte die Frau unentwegt an seine Tür? Wollte sie allen Ernstes Geld für diese bescheuerte Vase?

„Hallo, ich weiß, dass du da bist! Ich habe gerade gehört, wie du dich bewegt hast.“

Hal schüttelte den Kopf. Das war ja, als wohnte man Tür an Tür mit Miss Marples übereifriger Enkelin! Sie musste unmittelbar an seiner Tür lauschen.

„Antworte bitte, ja? Ist alles in Ordnung?“

Verdammt. Sie mischte sich jetzt schon ein und wusste noch nicht einmal, dass er blind war. Er nahm sich fest vor, das auch möglichst lange vor ihr geheim zu halten. Heftiger Schmerz durchzuckte ihn, als er die verspannten Schultern straffte und die verletzten Hände bewegte.

Sie musste ihn auch dabei gehört haben, denn sie hämmerte noch lauter an seine Tür. „Brauchst du Hilfe?“, rief sie, während er sich zur Wohnungstür vortastete. Herrje, sie klang, als sorge sie sich um einen alten Nachbarn, der vielleicht über seinen Rollator gestürzt war.

Sein Ärger nahm zu. „Was muss ich tun, damit du verschwindest?“, grollte er hinter der geschlossenen Tür und hörte sie pusten, als hätte sie vorher den Atem angehalten. Wie dramatisch.

„Bist du immer so unhöflich?“ Ihr Tonfall klang schlagartig nicht mehr besorgt, sondern scharf.

„Nur zu Leuten, die mir auf die Nerven gehen.“ Sie sog geräuschvoll die Luft ein, und zum ersten Mal seit seinem Umzug musste er lächeln.

„Ich gehe dir auf die Nerven? Hast du deshalb meine Vase zerbrochen und die Blumen auf dem Boden liegen lassen? Weil ich dir auf die Nerven gehe?“ Die Tatsache, dass sie ihn anbrüllte, bereitete ihm ein geradezu absurdes Vergnügen. Niemand hatte ihn in letzter Zeit mehr angeschrien.

„Ja, das trifft es in etwa.“

Diesmal trat sie vor Zorn mit dem Fuß gegen die Tür. „Du Ekel! Was habe ich dir denn getan? Außer dass ich die Frechheit besessen habe, den Rauchmelder auszulösen und dich dabei zu stören, deinen verdammten Kater auszukurieren?“ Ihr unnatürlich schnell gehender Atem verriet, wie wütend sie war. „Nun, du hast dir definitiv den falschen Tag ausgesucht, um dich mit mir anzulegen!“

Hal hätte beinahe laut aufgelacht. Miss Marple Junior hatte sich soeben in Rambo verwandelt. Er verschränkte die Arme, lehnte sich an die Tür und wartete, dass sie fortfuhr.

„Im Gegensatz zu deinem besteht mein Leben nicht nur aus Partys und Katern. Ich trage Verantwortung. Ich habe einen Job. Menschen sind auf mich angewiesen.“

Ihre Worte lösten eine so plötzliche Wut in Hal aus, dass er nach der Klinke tastete und die Tür aufriss. „Eine einzige große Party? Sieht das für dich danach aus?“, schnauzte er sie an und wies mit dem Arm in seine Wohnung.

„Nein“, konterte sie bissig, „ich würde eher sagen, das ist deine Höhle. Ein Ort, wo du dich verkriechen und dich von deinem Kater erholen kannst.“

Hal hörte die Verachtung aus ihrer Stimme heraus und wusste, dass ihr sein heruntergekommenes Aussehen aufgefallen sein musste.

„Sieh dich doch bloß an! Du stinkst nach Alkohol und was weiß ich wonach noch. Du müsstest dich mal rasieren und dich umziehen …“

Sie verstummte, und ihm war klar, dass sie lauter falsche Schlüsse zog. Das machte ihn rasend. Vor dem Unfall hatte er nicht zu hysterischen Anfällen geneigt, aber seitdem fiel es ihm sehr viel schwerer, Ruhe zu bewahren. Die Vorwürfe dieser Frau wirkten auf ihn, als hätte ihm jemand eine Handgranate mit gezogenem Stift entgegengeschleudert.

„Meine Höhle?“, brüllte er. „Meine verdammte Höhle?“ Er spürte, wie ein Lachen ganz tief in seinem Innern aufstieg, nur fühlte es sich eher wie etwas Dunkles und Hässliches an, das sich den Weg nach oben bahnte, und als es seinen Mund verließ, war es eine Mischung aus Gelächter und einem wütenden Aufschrei. „Das ist nicht meine Höhle“, stieß er hervor, als er wieder sprechen konnte. „Das ist mein gottverdammtes Gefängnis.“

Das Erdbeermädchen schwieg, aber ihr flacher Atem verriet ihm, dass es immer noch da war und ihn ansah.

„Wie soll ich das bitte verstehen?“, sagte sie irgendwann. Der Zorn war aus ihrer Stimme gewichen, stattdessen schwangen darin jetzt Verwirrung und vielleicht sogar eine Spur von Furcht mit.

Hal hörte das und wusste, dass er sie am Haken hatte. Jetzt würde es ein Leichtes sein, ihr den Rest zu geben, ihr zu enthüllen, dass er blind war – und sie dazu zu bringen, sich tausendfach zu entschuldigen. In seinem früheren Leben hatte er immer danach gestrebt, alles unter Kontrolle zu haben, und dieses Bedürfnis gewann jetzt auch in Bezug auf sie die Oberhand. Seine aggressive Art hatte ihm zu einem kometenhaften Aufstieg zu einem der berühmtesten Starköche des Landes verholfen. Und er hatte alles daran geliebt. Das Geld. Die teuren Autos. Die Mädchen. Ein Mädchen ganz besonders. All das hatte er auf einen Schlag durch einen winzigen Moment der Ablenkung verloren.

Mit einem Schlag war das Leben völlig anders. Es bestand aus den vier Wänden dieser Wohnung, aus dem Tagesprogramm im Fernsehen, das er zum Glück nicht sehen konnte und am liebsten auch nicht hören wollte, und aus Mikrowellenessen, das nach den Behältern schmeckte, in denen es geliefert wurde.

Er rieb sich über das Gesicht und seufzte. Alles, alles hatte er verloren, aber das war nicht die Schuld des Erdbeermädchens. Fast alles hatte sich in seinem Leben verändert, aber Frauen Angst einzujagen war noch nie seine Art gewesen – und er wollte jetzt auch nicht damit anfangen.

„Nein“, befand er schließlich, „du hast recht. Du verstehst das nicht, und ich hoffe dir zuliebe, dass du es nie verstehen musst. Kann ich jetzt gehen, nachdem du die hilfreiche Pfadfinderin gespielt und nach deinem bedürftigen Nachbarn gesehen hast?“

Hal hörte, wie sie Luft holte und um Antwort rang, doch er schloss die Tür, damit er die Erwiderung nicht hören musste.

4. KAPITEL

Es war schrecklich, Nell. Seine Hände waren voller Blut, und er sah hundeelend aus.“ Honey saß auf dem Barhocker an Nells Küchentresen und hielt deren schlafende Tochter Ava im Arm.

„Vielleicht ist er ein Vampir.“ Nell machte die Spülmaschine zu und drehte sich erschrocken um. „Gott, glaubst du, er hat versucht, sich …?“

Honey schüttelte den Kopf. „Da waren keine Schnitte an seinen Handgelenken, falls du das meinst. Ich hab nachgesehen. Blutig waren nur seine Hände, aber alle beide. Seltsam, oder? Ich glaube, er hat versucht, die Scherben im Flur aufzusammeln – aber warum hat er sich dabei so ungeschickt angestellt und dann offenbar alles stehen und liegen lassen?“

„Es ist genauso seltsam, die eigene Wohnung mit einem Gefängnis zu vergleichen“, bemerkte Nell.

Honey sah sich in der warmen, einladenden Küche um. Nells gepflegtes, wunderschönes Haus schien jeden zu umarmen, der zur Tür hereinkam. Allein schon hier zu sein war wie Balsam für ihre angegriffenen Nerven. „Er sah wütend aus. Richtig wütend.“

Nell runzelte die Stirn. „Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass du allein Tür an Tür mit ihm wohnst.“

„Das ist noch so etwas Seltsames.“ Honey griff mit der freien Hand nach dem Kaffeebecher vor sich. „Ich habe keine Angst vor ihm. Er tut mir höchstens leid.“

Die Freundin lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und wärmte die Hände an ihrem dampfenden Becher. „Mir eher nicht. Von dem Tag seines Einzugs an ist er nur unverschämt zu dir gewesen.“

„Nun, ich werde ihn gewiss nicht für die Wahl zum Nachbarn des Jahres nominieren.“ Honey streichelte die zarten Finger des schlafenden Babys. Wie verletzlich und unschuldig die Kleine doch wirkte! Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann, mit dem sie nun das Haus teilte, jemals so gewesen sein konnte. Wer immer er war, irgendetwas musste ihm zugestoßen sein. Etwas Schreckliches, das aus ihm den zornigsten, gefühlskältesten Mann gemacht hatte, dem sie je begegnet war.

„Tash hat mir heute Morgen eine Mail aus Dubai geschickt“, wechselte Nell das Thema.

Honey sah aus dem Fenster in den Regen hinaus. „Die Glückliche. Sie jammert zwar ständig über ihren Job, aber wenigstens bekommt sie ab und zu die Sonne zu sehen.“

„Sie hat einen Pianisten für dich aufgetrieben.“

Honey fuhr zu ihr herum. „Liebe Güte, Nell, das war ein Scherz! Sie meint das doch wohl nicht ernst?“

Nell zuckte die Schultern und versuchte offensichtlich, ein Schmunzeln zu unterdrücken. „Ich glaube schon. Sie will dich morgen anrufen, wenn sie wieder zu Hause ist.“

„Also im Ernst! Ich verliere vielleicht meinen Job, und Freddy Krueger ist bei mir nebenan eingezogen. Meinst du wirklich, ich könnte im Moment noch mehr Stress gebrauchen?“ Ava bewegte sich im Schlaf, wahrscheinlich spürte sie Honeys Erregung.

„Vermutlich nicht“, räumte Nell ein. „Aber was, wenn er wie Michael Bublé aussieht?“

Honey grinste. „Dann darf er mich zum Abendessen einladen.“

Nell nahm ihr das halb wache Baby ab und nahm es selbst auf den Arm, wo es sofort wieder zufrieden einschlief. „Dann warte doch einfach mal ab, ja?“ Sie zwinkerte der Freundin zu und brachte Ava nach oben ins Bett.

Honey seufzte. Das trübe Wetter draußen passte perfekt zu ihrer Stimmung. Ein Blind Date mit irgendeinem Wildfremden ertragen zu müssen, nur um Tashs und Nells lächerlichen Wunsch zu erfüllen, machte ihr das Leben nicht gerade leichter.

Auf dem Nachhauseweg ging Honey erst an der Apotheke vorbei, machte dann aber kehrt und trat ein. Wenig später kam sie mit einer Einkaufstüte wieder heraus. Nachdem sie ihre Haustür aufgeschlossen hatte, ging sie geradewegs zur Tür ihres Nachbarn.

„Hallo?“, rief sie, ohne anzuklopfen, denn bestimmt hatte er sie gehört, als sie aufgeschlossen hatte. Musik lief im Hintergrund, dem Klang nach Heavy Metal. Als er nicht öffnete, klopfte sie an; laut genug, dass er es hören musste, aber hoffentlich nicht so laut, dass er sich darüber ärgerte. Sie wartete einen Moment ab, und als er immer noch nicht antwortete, klopfte sie erneut. „Ich habe etwas für dich!“, rief sie.

Er jedoch drehte die Musik auf volle Lautstärke und machte damit jeden weiteren Versuch zunichte, ein Gespräch anzufangen. Honey schnaubte und schüttelte frustriert den Kopf. Der neue Nachbar entpuppte sich als wahrer Albtraum. Sie bückte sich und lehnte die Tüte an seine Tür. Ein paar Sekunden verharrte sie noch unsicher, dann drehte sie sich um und schloss ihre Wohnungstür auf. Sollte er doch in seinem eigenen Elend schmoren.

Hal saß auf dem harten, unbequemen Sessel und hielt sich die Ohren zu, um den Lärm auf MTV und das Klopfen des Erdbeermädchens auszublenden. Erst als er kurz davor war, den Fernseher einzutreten, schaltete er ihn ab. Die plötzliche Stille war fast genauso ohrenbetäubend wie die Musik zuvor. Er verhielt sich ganz still und lauschte eine Weile, bis er sicher sein konnte, dass sie wirklich gegangen war. Noch eine Weile blieb er so sitzen, den Kopf in die geschundenen Hände gestützt. Er brauchte etwas zu trinken! Wie er sich nach einem Whisky sehnte – aber die Flasche stand leer auf dem Nachttisch, seit er sie in der vergangenen Nacht ausgetrunken hatte. Im Kopf ging er die verbleibenden Möglichkeiten durch. Ohne Whisky auskommen? Keine Option. Er konnte jemanden anrufen, aber wen?

Seine engsten Freunde fühlten sich bestimmt verpflichtet, seiner besorgten Familie zu verraten, wo er steckte; und für diejenigen, denen er im Grunde gleichgültig war, zählte Klatsch sicher mehr als Freundschaft. Der arme alte Hal – hauste in einer schäbigen Wohnung und hatte niemanden zum Reden außer einer Whiskyflasche. Was für eine Schande.

Nein, jemanden anzurufen, den er kannte, kam nicht infrage. Vielleicht konnte er einfach vor die Haustür gehen und darauf hoffen, dass irgendein freundlicher Passant genug Mitleid zeigte, um seinen Zwanzig-Pfund-Schein zu nehmen und für ihn den Whisky zu besorgen? Wütend schlug er auf die Armlehnen des Sessels. Wie tief musste er denn noch sinken? Es machte ihm Angst, dass er, obwohl er schon so tief gesunken war, durchaus in noch tieferen Abgründen versinken konnte. Genau genommen gab es nur eine Möglichkeit, die ihm schon in den Sinn gekommen war, als er sich andere Alternativen überlegt hatte. Das Erdbeermädchen. Er rieb sich die Stirn, setzte seine dunkle Brille auf und stemmte sich aus dem Sessel, bevor er durch den Flur ging, der ihm längst vertraut geworden war.

Er hielt inne, als er die Türklinke ertastet hatte. Seit der Sache mit den Blumen hatte er keinen Fuß mehr vor die Wohnungstür gesetzt. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, aber er schob es beiseite. Ein Feigling wollte er auf keinen Fall werden.

Hal öffnete die Tür, tat einen Schritt nach vorn, stolperte dann jedoch über irgendetwas und fiel der Länge nach hart auf den Fußboden.

Honey hörte das laute Krachen, als sie gerade im Bademantel und mit einem Handtuch-Turban aus ihrem Badezimmer kam. Ohne nachzudenken rannte sie zur Wohnungstür, riss sie auf und sah ihren Nachbarn bäuchlings auf dem Boden liegen, umgeben vom Verbandszeug und den desinfizierenden Salben, die sie für ihn gekauft hatte.

„Geh wieder rein und mach deine verdammte Tür zu!“, herrschte er sie an, ohne den Kopf zu heben, und tastete den Boden nach irgendetwas ab.

„Wie bitte? Nein, lass mich helfen …“ Ratlos hob Honey die Hände. Es widerstrebte ihr zutiefst, ihn einfach allein zu lassen, aber sie gab sich keinen Illusionen hin – er hatte es genau so gemeint, wie er es gesagt hatte. Sie trat einen Schritt nach vorn und stieß gegen irgendetwas. Als sie zu Boden sah, merkte sie, dass sie beinahe auf seine Sonnenbrille getreten wäre, die glücklicherweise heil geblieben war. „Hier.“ Sie hob sie auf und streckte sie ihm entgegen.

Beim Klang ihrer Stimme hörte er auf, den Boden um sich herum abzutasten, und erstarrte. „Meine Brille?“

Honey nickte, und plötzlich stockte ihr der Atem, als sie begriff, weshalb er ihr diese Frage stellen musste.

Er streckte einen Arm aus, ohne den Kopf zu heben. „Gib sie mir.“ Honey ging einen Schritt auf ihn zu und legte sie ihm in die Hand. Er nahm die Brille, setzte sie sich auf und drehte sich auf den Rücken. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, rutschte er im Sitzen zurück bis zur Wand, wo er die Ellenbogen auf die angewinkelten Knie stützte und den Kopf auf seine Hände sinken ließ.

Schweigend sammelte Honey die Medikamente und das Verbandszeug ein und stellte die Tüte auf den kleinen Tisch im Flur. Mist. Sie hätte die Sachen von Anfang an dort hinlegen sollen. „Ich habe dir Verbandszeug und etwas zum Desinfizieren gekauft – für deine Hände“, fügte sie unnötigerweise hinzu. „Es tut mir leid.“

Er gab einen erstickten Laut von sich und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich habe mich geirrt, als ich dich eine Pfadfinderin genannt habe. Du bist viel mehr als das. Du bist eine verdammte Mutter Teresa.“

Honey zögerte; sie wusste nicht so recht, ob sie gehen oder bleiben sollte. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“

„Keine weiteren Hindernisse in den Flur zu stellen wäre für den Anfang gar nicht schlecht.“

„Abgemacht.“ In diesem winzigen Moment des Waffenstillstands wurde ihr bewusst, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wie er hieß. „Ich bin übrigens Honey.“

„Das ist ja albern. Und wie heißt du richtig?“

„Ich heiße wirklich so. Nun, Honeysuckle, genau genommen.“

„Scheiße, das ist ja noch alberner.“

Honey war es durchaus gewohnt, sich Bemerkungen wegen ihres Namens anhören zu müssen, doch dieser unverhohlene Spott ärgerte sie. „Dann ist das eben noch eine weitere Seite an mir, über die du dich aufregen kannst, Rockstar.“

„Rockstar?“

„Ja. So nenne ich dich. Hauptsächlich, weil du ein arroganter Mistkerl bist, der ununterbrochen flucht und zum Frühstück Whisky in sich hineinschüttet.“

„Akzeptiert“, sagte er. „Oder auch Hal – nur für den Fall, dass du dich je genötigt fühlst, deinen Eindruck von mir zu revidieren.“

„Wo wolltest du eigentlich eben hin?“

„Zu dir.“

„Um dich wegen der Blumen zu entschuldigen?“

„Eher unwahrscheinlich. Hast du irgendeinen Whisky?“

Honey überlegte sich ihre Antwort gut. Sie besaß keinen, stattdessen aber eine fast volle Flasche Tequila ganz hinten in ihrem Schrank. Der Gedanke, einen Alkoholiker in seinem Konsum zu unterstützen, fühlte sich jedoch nicht sonderlich gut an. War er überhaupt Alkoholiker? Auf jeden Fall schien er genug zu trinken, um sich für diese Bezeichnung zu qualifizieren. „Keinen Whisky, nein.“

„Aber etwas anderes?“

Honey seufzte. Er mochte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen können, aber ihre Stimme hatte sie offensichtlich verraten. Zu lügen war ohnehin nicht gerade ihre Stärke. „Ich habe Tequila.“

„Gott sei Dank, verdammt. Kann ich den haben?“

„Mutter Teresa würde ihn jemandem wie dir nicht geben.“

„Gibst du ihn mir, wenn ich mich entschuldige?“

„Für das Zerschlagen meiner Vase oder dafür, dass du mich Mutter Teresa genannt hast?“

„Was du willst. Beides. Herrje, ich entschuldige sogar, dass deine Mutter dich Honeysuckle genannt hat, wenn du mir den Tequila überlässt.“

„Hast du Zitronen und Salz?“

Er hob langsam den Kopf, und obwohl die Brille seine Augen verbarg, konnte Honey seinen ungläubigen Gesichtsausdruck erkennen. Eine Sekunde lang dachte sie, er würde wieder losbrüllen, doch im nächsten Moment fing er zu lachen an. Kein leises Lachen, sondern eins, das tief aus seinem Bauch zu kommen schien. Erst bebten lediglich seine Schultern, dann wurde sein ganzer Körper davon geschüttelt. Er lachte hemmungslos, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Honey stimmte nicht in das Gelächter ein, weil ihr geheimnisvoller Nachbar trotz seines momentanen Verhaltens ganz eindeutig nicht amüsiert war. Sie verschwand in ihrer Wohnung, um den Tequila aus dem Schrank zu holen. Als sie in den gemeinsamen Flur zurückkehrte, war Hal aufgestanden und schien sich wieder einigermaßen gefasst zu haben, obwohl seine Wangen immer noch vor Lachtränen glänzten.

„Tequila“, Honey berührte ihn leicht am Arm. Mit einem gemurmelten Dank nahm Hal die Flasche entgegen. „Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Du weißt schon, bei irgendetwas behilflich sein?“

Er schnaubte. „Fang nicht wieder mit diesem Mutter-Teresa-Gefasel an, nur weil du jetzt weißt, dass ich blind bin.“

„Keine Sorge. Ich halte dich immer noch für einen arroganten Mistkerl, der zu viel trinkt.“

Ein belustigtes Zucken seiner Mundwinkel folgte. „Und ich halte dich nach wie vor für eine frustrierte Pfadfinderin mit höchst albernem Namen.“

„Gut. Dann sind wir uns ja einig.“

„Hämmer nie wieder gegen meine Tür.“

Honey beobachtete, wie er sich umdrehte und sich in seine Wohnung vortastete. „Einverstanden. Aber ruf, wenn du etwas brauchst.“

„Ich brauche nichts von dem, was du mir möglicherweise geben könntest, Honeysuckle“, erwiderte er leise mit rauer Stimme.

Die Tür gegenüber fiel ins Schloss, und Honey blieb allein im Flur zurück – ein wenig klüger als zuvor, ein wenig aufgewühlt und seltsamerweise auch ein wenig leidenschaftlich berührt.

5. KAPITEL

Lucille und Mimi starrten Honey, deren Hände zitterten, fassungslos an.

„Ich fürchte also, wenn keiner kommt und den Laden kauft, wird er geschlossen. Und das Seniorenheim ebenfalls“, schloss Honey ihren Bericht. Sie hatte bis zum Ende des Tages damit gewartet, da sie wusste, die beiden alten Damen würden eine solche Nachricht erst einmal in Ruhe verarbeiten müssen.

„Das können sie uns doch nicht antun!“, rief Lucille mit verängstigter Miene aus.

Honey lächelte traurig. „Bis dahin dauert es ja noch sechs Monate, Lucille. Lass uns einfach auf ein Wunder hoffen.“

„Die schließen unseren Laden nur über meine Leiche.“ Mimi straffte die schmalen Schultern, die sie an diesem Tag in ein zartgrünes Twinset aus Kaschmir gehüllt hatte. Wie so oft hatte Lucille sich passend zu ihrer Schwester gekleidet, sie trug ein identisches Twinset in Pastellgelb. Beide Damen hatten lange Perlenketten um, und an ihren zerbrechlich wirkenden Fingern funkelten große Ringe. Ihre Aufmachung erinnerte an Sonne, Sommertage und süße Zuckerwatte, aber ihre Mienen wollten so gar nicht dazu passen. Lucille standen Tränen in den großen blauen Augen, während Mimi ein so trotziges Gesicht machte, dass die berühmte Suffragette Emmeline Pankhurst stolz auf sie gewesen wäre.

Hoffnungsvoll wandte sich Lucille an ihre Schwester. „Meinst du, wir sollten dagegen vorgehen?“

„Natürlich, was spricht denn dagegen?“, erwiderte Mimi und sah von Lucille zu Honey.

Honey runzelte die Stirn. Sosehr sie die Vorstellung hasste, dass der Laden geschlossen werden sollte – auf die Idee eines aktiven Widerstands war sie noch gar nicht gekommen. Konnte das überhaupt zu ihren Gunsten ausgehen? Trotz seines Geredes, dass über die Schließungen noch beraten werden würde, hatte Christopher sich am vergangenen Abend ganz so angehört, als sei alles schon beschlossene Sache. Wahrscheinlich hatte man ihm einen guten Anreiz angeboten, um ihn an Bord zu halten; irgendeine Belohnung, damit er sicher dafür sorgte, dass niemand das Boot doch noch zum Kentern brachte. Auf jeden Fall hatte er nicht sonderlich betroffen auf die anstehende Not der Bewohner reagiert. „Umverteilung“ war das Wort, das er benutzt und das Honey geflissentlich vermieden hatte, als sie Lucille und Mimi zu erklären versuchte, dass die Bewohner in anderen Einrichtungen untergebracht werden würden.

„Untergebracht. Das klingt, als wären wir unerwünschte Streuner“, klagte Lucille und rang die zarten Hände. „Niemand will alte Tiere, deshalb werden sie eingeschläfert. Passiert das mit uns auch?“

Lucilles gequälter Gesichtsausdruck tat Honey in der Seele weh. Sie wünschte, sie hätte der Freundin echte Hoffnungen machen können, aber im Moment konnte sie ihr nicht viel mehr bieten als eine Umarmung und eine Tasse mit heißem, süßem Tee.

„Was ist, wenn sie uns nicht zusammen unterbringen können, Mimi?“, fragte Lucille, und Honey nahm ihr die heftig wackelnde Teetasse samt Unterteller ab, damit die alte Dame den Tee nicht auf dem elfenbeinfarbenen Plisseerock verschüttete. Die Schwestern hatten im Heim in den letzten sieben Jahren aneinander angrenzende Zimmer mit einem eigenen Badezimmer bewohnt und sich dort ein neues Leben unter den anderen Bewohnern aufgebaut. Bei der freiwilligen Arbeit im Laden waren sie aufgeblüht. Unvorstellbar der Gedanke, vielleicht bald voneinander getrennt sein zu müssen, als wären sie zur Adoption freigegebene Geschwister, die getrennt wurden, um besser vermittelbar zu sein.

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