Sexy Spiele in Las Vegas

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Verkleidet als aufreizende Blondine reist Gwen nach Las Vegas, um einen Millionendieb in die Falle zu locken. Kaum in der Glitzermetropole angekommen, trifft sie den Sportreporter Del Redmond. Ist er in den Diebstahl verwickelt? Für ihre Ermittlungen muss sie ihm sehr nah kommen - so nah, dass ihr schwindlig wird vor Verlangen...


  • Erscheinungstag 17.06.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776640
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Gwen Chastain schaute auf ihre Karten und nagte an ihrer Unterlippe. „Hast du Buben?“

Der Mann ihr gegenüber fuhr sich durch das graumelierte Haar und runzelte die Stirn. „Hm, das weiß ich nicht. Sind das die mit der Krone?“

„Nein, die mit der Krone sind die Könige.“

„Ach so.“ Er nickte nachdenklich. „Und die Frau?“

Gwen kicherte. „Du weißt genau, was ein Bube ist, Grampa.“

„Tja, wenn das so ist, dann nimm dir eine Karte.“

Gwen griff gerade nach dem Kartenstapel, als die Küchentür aufging und ihre Mutter hereingerauscht kam. Sie war in leuchtenden Farben gekleidet und hatte sich einen orange-rot gemusterten Turban um den Kopf gewickelt.

„Gwennie, wieso bist du noch nicht fertig? Wir müssen zur Bücherei.“

„Kann ich nicht solange bei Grampa bleiben?“ Sie wollte nicht vor einem Saal voller Kinder stehen und von ihrem Leben in Afrika erzählen. Zwar wusste sie, dass sie sich eigentlich freuen sollte, denn das sagte ihre Mutter ihr ja oft genug, aber sie kam sich bei solchen Veranstaltungen eher komisch vor. Und sie hasste es, wie ein Tier im Zoo angestarrt zu werden.

Ihre große Schwester Joss kam in die Küche gerannt. Joss war neun, ein Jahr älter als Gwen, und sie fand nie irgendwas komisch. Ganz im Gegenteil. Joss liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, und so wie sie das Leben in Afrika beschrieb, hörte es sich supercool an.

Dabei war Afrika mehr als Zebras und Elefanten. Afrika bedeutete vor allem Hitze und Fliegen. Gwen war viel lieber hier, bei ihren Großeltern, von deren Küchenfenster sie direkt auf die San Francisco Bay blickte. In Afrika musste sie mit ihren Eltern, die dort beide als Ärzte arbeiteten, in staubige Dörfer fahren, wo sie von allen Leuten begafft wurde und jeder unbedingt ihr weiches Haar und ihre weiße Haut berühren wollte.

In Afrika war sie überall anders als die anderen.

„Lass die Kleine doch bei mir, Glynnis“, schlug ihr Großvater vor. „Ich spiele mit ihr, bis Mark zurück ist, und dann holen wir euch bei der Bücherei ab.“

Ihre Mutter zögerte, und Gwen war klar, dass sie sich umziehen und mit ihr mitfahren sollte, aber sie wollte nicht. Viel lieber blieb sie bei Grampa, der mit ihr Poker spielte und sie manchmal sogar gewinnen ließ.

„Wir müssen los, Mom“, sagte Joss.

„Na gut, dann bleibt Gwen eben hier“, sagte Glynnis lächelnd und strich ihrer jüngeren Tochter übers Haar.

Gwen hatte ein schlechtes Gewissen, denn natürlich wusste sie, dass die Arbeit, die ihre Eltern in Afrika leisteten, wichtig war. Trotzdem wünschte sie sich oft ein ganz normales Leben hier in Amerika.

Verlegen strich sie über die Wachstuchtischdecke. In Mozambique saßen sie gewöhnlich auf Hockern an einem geölten Holztisch, der nur zu besonderen Anlässen mit einem gebleichten Tischtuch bedeckt wurde.

Einige der Mitarbeiter der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ wohnten in einem speziellen Camp, aber Gwens Eltern zogen es vor, unter den Menschen zu leben, denen sie helfen wollten. Und ihre Mutter betonte gern, wie gut es für die beiden Töchter sei, unter solchen Bedingungen aufzuwachsen. Angeblich wurden sie dadurch zu anderen Menschen.

Aber Gwen wollte nicht anders als andere sein.

1. KAPITEL

„Du hattest wo Sex?“ Gwen Chastain starrte ihre Schwester entsetzt an. Joss lehnte lässig am Tresen der kleinen Teeküche hinter dem Briefmarkengeschäft und zupfte an den Trägern ihres sehr knappen roten Sommerkleides.

Gwen fand, dass ein hautenges Sommerkleid nicht unbedingt die passende Bekleidung für eine Verkäuferin in einem Fachgeschäft für Briefmarkensammler war, doch das sagte sie lieber nicht laut.

„Im Fahrstuhl des Hyatt Regency, und jetzt entspann dich, Gwen, wir sind schließlich nicht erwischt worden.“

„Normale Menschen haben keinen Sex in gläsernen Aufzügen.“

Joss verdrehte die Augen. „Geh endlich mal mit einem richtigen Kerl aus, dann wirst du sehen, was normale Menschen alles tun. Ich versteh überhaupt nicht, wieso du dich heute schon so benehmen musst, als wärst du sechzig.“

„Und ich begreife nicht, warum du dich aufführst wie eine Sechzehnjährige. Ein Glück, dass Mom und Dad in Afrika sind“, murmelte Gwen und schenkte sich Kaffee ein. Sie trug ein schlichtes graubraunes Kostüm, dezentes Make-up, das ihre blauen Augen betonte, und eine schlichte, aber stilvolle Brille. Zugegeben, sie wirkte tatsächlich älter als vierundzwanzig.

Joss lachte. „Machst du Witze? Unsere Mutter hat viel verrücktere Sachen angestellt.“

„Darüber will ich gar nichts wissen“, sagte Gwen und gab Sojamilch in ihren Kaffee.

„Hast du sie etwa nie gefragt, wie sie früher war?“

„Nein, und das werde ich auch nicht.“

„Na, dann spitz mal die Löffel: Als Mom und Dad frisch verliebt waren …“

Gwen hielt sich die Ohren zu. „La-la-la, ich hör dich nicht!“, sang sie laut.

„Komm schon, du willst doch nicht behaupten, dass du nicht neugierig bist.“

„Nicht, was irgendwelche Sexabenteuer angeht. Aber ich schätze, du hast sie ausgefragt.“

„Na klar“, bestätigte Joss. „Manchmal frage ich mich, wie wir beide Schwestern sein können, wo du bei allem und jedem ausflippst, was Mom und ich machen.“ Sie angelte sich eine Coladose aus dem Kühlschrank.

„Tröste dich, ich frage mich selbst öfter, ob wir tatsächlich verwandt sind.“

Die Frage war durchaus berechtigt, wenn man bedachte, wie sehr Gwen Normalität schätzte, während ihre Mutter damals begeistert mit Mann und Kindern in den afrikanischen Busch aufgebrochen war.

Außerdem waren sich Gwen und Joss nicht einmal äußerlich ähnlich. Joss hatte krauses dunkles Haar, das sie am liebsten in einer wilden Mähne trug. Gwen hatte ihr mittelblondes Haar immer zu einem Knoten aufgesteckt.

Verwunderlich war es natürlich nicht, dass sie sich beide so unterschiedlich entwickelt hatten. Gwen war mit vierzehn Jahren in die Staaten zurückgekehrt, wo sie bei den Großeltern gelebt und das College absolviert hatte, während Joss bei den Eltern in Afrika geblieben war.

Gwen hatte sich mit Freuden dem Einfluss ihrer etwas wilden, wenn auch liebenswerten Mutter entzogen. Deren Vorliebe für alles, was verrückt und anders war, passte so gar nicht zu Gwen, die am liebsten überhaupt nicht auffiel.

Gwen sorgte bewusst dafür, auf den ersten Blick unscheinbar zu wirken, und hasste es, Aufmerksamkeit zu erregen.

„Du hast eben die konservativen Gene der Chastains geerbt“, sagte Joss und öffnete ihre Cola. „Angeblich überspringen solche Eigenschaften eine Generation, und wir alle wissen, dass Daddy sie nicht abbekommen hat.“

„Ja, und Grampa ist nicht unbedingt froh darüber.“ Gwen ging nach vorn in den Laden.

„Grampa ist vor allem unglücklich, weil sein einziger Sohn eine Frau geheiratet hat, die in einer Kommune aufgewachsen ist“, sagte Joss grinsend und folgte ihrer Schwester. „Er meint, es ist Moms Schuld, dass sein Sohn lieber die Sonnenaufgänge über der Savanne anguckt als farbige kleine Papierquadrate.“

„Einige dieser farbigen kleinen Papierquadrate sind so viel wert wie eine halbe Savanne“, wandte Gwen ein. Sie tippte den Zahlencode in die Schließanlage für die Ladentür.

„Schon gut, Grampa gehört zu den ganz Großen im Geschäft, aber Dad wäre kreuzunglücklich, müsste er den Laden übernehmen. Du solltest ihn erben, schließlich machst du sowieso schon die meiste Arbeit.“

„Niemand erbt das Geschäft.“ Gwen stellte ihren Kaffeebecher auf dem Ladentisch ab. „Sobald Grampa und Grandma von der Reise zurück sind, werden sie es verkaufen.“ Sie holte die Schlüssel aus der Schublade und schloss die Vordertür auf. Dann ging sie hinaus und schloss das Gitter auf, mit dem das Schaufenster gesichert war.

Sie sah sich auf der belebten Clement Street um, ehe sie wieder hineinging. „Wie ich sehe, kommt Jerry mal wieder zu spät. Wie schön, dass er so zuverlässig ist.“

„Nun hack doch nicht immer auf Jerry rum“, sagte Joss. „Der ist okay, glaub mir.“

„Du findest ihn bloß deshalb okay, weil er scharf auf dich ist.“

„Oh bitte, sag bloß, du bist eifersüchtig.“

„Wohl kaum.“ Gwen fand Jerry sogar richtig unangenehm, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was sie an ihm störte. Er war ihr einfach zu glatt und einen Tick zu freundlich, aber das allein sprach ja noch nicht wirklich gegen ihn.

Sie hatte seine Zeugnisse überprüft, und auch das Telefonat mit seinem früheren Arbeitgeber in Reno hatte nichts ergeben, was ihr Unbehagen bestätigte. Also hatte sie ihn eingestellt, weil sie jemanden brauchte, der mit Joss die Stellung hielt, während sie, Gwen, in Chicago bei der Auktion war.

„Ich mag ihn einfach nicht“, sagte sie.

„Tja, du musst ja auch nicht jeden lieben, der für dich arbeitet“, entgegnete Joss.

Ursprünglich sollte Gwen jemanden fest einstellen, der ihr im Laden half, während die Großeltern verreist waren. Dann war in letzter Minute Joss aufgetaucht, die mal wieder dringend einen Job brauchte. Es grenzte fast an ein Wunder, dass ihre Schwester ganze zwei Wochen durchgehalten hatte, bis sie verkündete, sie langweile sich in dem Laden zu Tode und Gwen solle jemand anders einstellen.

Trotzdem ärgerte sich Gwen, dass sie sich dazu hatte überreden lassen, ausgerechnet Jerry zu nehmen.

„Natürlich nicht, und ich könnte auch nicht sagen, was mich an Jerry stört. Ich finde ihn eben unangenehm“, sagte Gwen und tippte ihren Code in die Computerkasse ein.

„Woraus du auch kein Geheimnis machst. Ich glaub, es trifft ihn, dass du ihm absichtlich aus dem Weg gehst und nur hinten arbeitest, wenn er da ist.“

„Dafür hat er ja dich zur Unterhaltung. Schließlich war das die Abmachung, oder? Du machst vorn den Laden, ich kümmere mich um unsere Investmentkunden.“

„Du tust immer so, als wäre der Laden nur Nebensache“, beschwerte sich Joss. „Wir haben einiges Geld verdient, als du weg warst. Jerry ist nämlich ein guter Verkäufer.“

„Daran zweifle ich nicht.“ Gwen nahm sich ihren Kaffeebecher. „Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst. Ich muss die neuen Marken katalogisieren und einschließen.“

Gwen blickte durch die Lupe auf die blaue Briefmarke. Auf dem Bild fuhr eine Dampflok von links nach rechts statt von rechts nach links, wie es eigentlich hätte sein sollen. Gwen sah sich die Perforation genau an und drehte die Marke mit einer Pinzette um.

Diesen Teil des Geschäfts liebte sie besonders: Neuerwerbungen prüfen, eintragen und dabei vielleicht die eine oder andere Besonderheit entdecken. Von denen hatte die neue Sammlung, die sie aus Chicago mitgebracht hatte, einige zu bieten.

Nachdem sie die Marke abgelegt hatte, streckte sie sich einmal und rückte das Headset wieder gerade, das sie trug, um beim Telefonieren die Hände frei zu haben. Für einen Moment genoss sie die Stille des kleinen Hinterzimmerbüros. Sie hatte das Geschäft ihres Großvaters immer geliebt, schon als sie mit vierzehn begonnen hatte, gelegentlich auszuhelfen. Und seit sie ihren Abschluss in Betriebswirtschaft und Buchführung hatte, war sie für ihren Großvater unentbehrlich geworden.

Hugh Chastain war mit seiner Frau auf eine viermonatige Reise nach Neuseeland, Australien und Polynesien, „um schon mal für die Pensionierung zu üben“, wie er lachend gesagt hatte.

Hinterher sollte das Geschäft zügig aufgelöst werden, und dann musste Gwen sich nach einem neuen Job umsehen. Sie versuchte, nicht traurig darüber zu sein, zumal sie eigentlich längst in einer großen Firma sein und sich die Karriereleiter hinaufarbeiten sollte.

Aber sie bereute keinen Tag der letzten drei Jahre, die sie hier verbracht hatte. Sie hatte viel über Geldanlagen gelernt und ihre Liebe zu den kostbaren Briefmarken vertieft. Wahrscheinlich teilte sie mit den Anlegern, die neben den klassischen Anlageobjekten in eine Sammlung investierten, einen besonderen Sinn für Romantik.

Wer in seltene Briefmarken investierte, wollte einen Wert, den man ansehen und bewundern konnte. Und dabei handelte es sich um teilweise extrem hohe Werte. Gwen sah hinüber zu dem Wandsafe ihres Großvaters. Ihr wäre wohler gewesen, wenn die teuersten Sammlungen in einem Bankschließfach gelegen hätten, doch in diesem Punkt war ihr Grampa unbelehrbar.

Mit einem leisen Seufzer wandte sie sich wieder ihren Errungenschaften von der Chicagoer Auktion zu. In dem Katalog waren diverse interessante Objekte aufgeführt gewesen, aber sie hatte nicht damit gerechnet, einen Vierersatz früher Cayman-Marken zu ergattern. Allein die würden im Verkauf einiges einbringen.

Sie wollte gerade nach dem Katalog greifen, als ihr Telefon läutete.

„Hallo Gwen, hier ist Ray Halliday.“

„Hi, Ray.“

„Warst du bei der Cavanaugh-Versteigerung?“

Natürlich wusste er, dass sie da gewesen war, denn solche Dinge sprachen sich in Fachkreisen sehr schnell herum. „War ich. Ich dachte, es könnte sich lohnen.“

„Und? Hast du was Interessantes ersteigert?“

Auch darauf kannte er die Antwort bereits. „Vielleicht. Ich sehe mir die Marken gerade erst an. Aber hast du nicht einen Kunden, der sich auf karibische Marken spezialisiert hat?“

„Ja, warum?“

„Weil ich hier einen hübschen Vierersatz früher Cayman-Marken habe.“

„Die waren nicht im Katalog.“

Gwen lächelte. „Nein, und genau das ist der Grund, weshalb man ab und zu vor die Tür gehen sollte, Ray.“

„Hm, dann wird’s wohl teuer für mich.“

„Na ja, ich muss natürlich meine Spesen wieder reinbekommen“, sagte sie. „Die Frage ist, was sind dir die Marken wert?“

Sie hatten recht schnell einen für beide Seiten akzeptablen Preis ausgehandelt. Nach elf Jahren im Geschäft versuchte niemand mehr, Gwen Chastain auszutricksen, denn sie hatte bei ihrem Großvater gelernt.

„Hast du sonst noch was, das mich interessieren könnte?“

„Nein, ich denke nicht. Die südafrikanischen Marken, die eventuell infrage kommen, habe ich schon jemand anderem zugesagt.“

„Stewart Oakes?“, fragte er säuerlich.

„Also, Ray, was wäre ich für eine Geschäftsfrau, wenn ich dir all meine Geheimnisse verrate?“

„Eine wohlhabendere. Ich zahl dir mehr, als er bietet.“

„Wenn ich Geld brauche, wirst du’s als Erster erfahren, versprochen.“

Sie lachte, als sie auflegte. Dann überlegte sie, dass sie am besten gleich bei Stewart Oakes anrufen sollte, und wählte.

„Stewart Oakes.“

„Du hast einiges verpasst bei der Cavanaugh-Auktion.“

„Gwennie!“, rief Stewart erfreut. So durften nur die engsten Familienmitglieder sie nennen – und der Mann, der sie nach ihrer Rückkehr aus Afrika mit der amerikanischen Lebensweise vertraut gemacht hatte.

Stewart war lange bei ihrem Großvater angestellt gewesen und mit seinen damals fünfunddreißig Jahren noch jung genug, um eine scheue Vierzehnjährige mit Grunge-Musik, Thai-Essen und einer Kultur vertraut zu machen, die ihr vollkommen fremd gewesen war.

„Ich hab ein paar interessante Marken für dich, Stewie. Du wirst sie lieben.“

„Das möchte ich wetten.“

„Wetten? Ich dachte, das hast du aufgegeben.“

„Na hör mal, ich bin nach L.A. gezogen und habe meine Pokerrunde zurückgelassen, oder nicht?“

„Oh ja, und wir vermissen dich jede Woche.“

„Schön, dass wenigstens ihr an mich denkt.“

„Na ja, wir denken vor allem wehmütig an das Geld, das wir dir beim Spiel abknöpfen konnten.“

„Jetzt wirst du gemein.“

Sie lachte, als die Gegensprechanlage piepte. „Bleib kurz dran, Stewie“, sagte sie und drückte den Knopf der Sprechanlage. „Was gibt’s, Joss?“

„Ich habe den Laden voller Kunden. Kannst du kurz rauskommen?“

„Wo steckt Jerry?“

„Ist noch nicht aufgetaucht.“

„Bin gleich da“, sagte Gwen und fragte Stewart: „Kann ich dich zurückrufen? Ich muss nach vorn in den Laden.“

„Klar, ich bin den ganzen Tag zu erreichen.“

Gwen packte die Alben zusammen und legte sie in die oberste Schreibtischschublade. Dann verschloss sie die Schublade und steckte den Schlüssel in ihre Jackentasche. Ihr war nicht wohl dabei, so teure Marken hinter einem Schloss zu verwahren, das jedes Krabbelkind knacken könnte, aber es war ja nur für kurze Zeit.

Gwen saß wieder hinten im Büro, als es vier Uhr schlug. Vorn zog Joss das Gitter vor die Auslage und machte Schluss für heute. Es war ein guter Tag gewesen, dachte Gwen zufrieden. Sie hatte drei Viertel der Sammlung fertig katalogisiert, die besten Stücke für ihre wichtigen Kunden aussortiert und Händler gefunden, die mit Freuden den Rest übernehmen würden. Sie empfand es als einen kleinen Triumph, dass sie die Neuerwerbungen alle mit Gewinn weiterverkaufen konnte.

Joss steckte den Kopf zur Tür herein. „Vorne ist alles verriegelt.“

Gwen war gerade zum Wandsafe gegangen und klappte das Whiteboard davor zurück. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und gab die Zahlenkombination ein.

„Morgen früh werde ich Jerry feuern“, sagte sie. „Und danach gebe ich eine Anzeige im Stellenmarkt auf.“

„Kannst du ihn einfach so rausschmeißen?“, fragte Joss. „Vielleicht ist ihm ja was dazwischengekommen.“

„Und wieso hat er dann nicht angerufen? An siebzehn von zwanzig Tagen ist er zu spät gekommen, und heute fehlt er unentschuldigt.“

„Hast du etwa jedes Mal aufgeschrieben, dass er zu spät war?“

„Und ob. Ich bin seine Arbeitgeberin, da ist es mein Job.“

Gwen öffnete den Safe und starrte mit stummem Entsetzen hinein.

„Warst du während meiner Abwesenheit am Safe?“, fragte sie Joss.

„Nein.“ Joss trat zu ihr und sah auf den Stapel Alben. „Warum?“

„Weil jemand die Alben umsortiert hat. Sie sind immer in derselben Reihenfolge gestapelt. Joss, schwörst du, dass du nichts angerührt hast?“

„Ja, das schwöre ich.“

Gwen versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Vielleicht war Joss doch am Safe gewesen und hatte die Bücher nicht wieder so hineingepackt, wie sie vorher gewesen waren. Aber das war mehr als unwahrscheinlich.

Sie holte die Alben aus dem Safe und ging damit zum Schreibtisch, wo sie sie mit zitternden Fingern aufschlug. Das blaue Album mit dem Ladeninventar und das grüne mit ihren eigenen Marken ließ sie zunächst außer Acht. Am wichtigsten waren die burgunderroten mit der Sammlung ihres Großvaters – sie enthielten seine Schätze, sein Lebenswerk, das ihn nicht bloß mit Stolz erfüllte, sondern darüber hinaus seine Altersversorgung darstellte.

Sie schlug das erste Album auf der letzten Seite auf und zwang sich hinzusehen. „Sie sind weg.“

„Wer ist weg?“

Gwen wurde schlecht. „Grampas wertvollste Marken – die Blaue Mauritius, die One-Penny-Mauritius, die British-Guyana-One-Cent und wahrscheinlich noch mehr.“

Sie schloss kurz die Augen und ermahnte sich, Ruhe zu bewahren. Warum musste ihr Großvater auch darauf bestehen, seine Sammlung in greifbarer Nähe aufzubewahren anstatt in einem Bankschließfach? Natürlich kannte sie den Grund, denn sie wusste, wie viel Freude es ihm bereitete, seine Besitztümer immer mal wieder anzusehen.

Joss starrte sie an. „Das waren seine richtig teuren Marken. Mein Gott, wir reden hier über vierzig- oder fünfzigtausend Dollar, stimmt’s?“

„Nein. Die letzte Blaue Mauritius ist fast eine Million Dollar wert.“

Nach einer halben Stunde hatte Gwen alle Alben durchgesehen und eine erste Bilanz des Schadens erstellt. Er war weit höher, als sie befürchtet hatte. Die vier wichtigsten Markensätze ihres Großvaters waren weg: vier Marken, die praktisch einzigartig waren, sowie ein Zwanzigersatz. Der Gesamtwert belief sich auf rund viereinhalb Millionen Dollar. Aus den Inventarbüchern fehlten außerdem weitere Markensätze im Wert von dreißig- bis vierzigtausend Dollar.

„Grampa hat doch noch andere Vermögenswerte, oder? Das hier ist nur ein Teil seines Besitzes“, versuchte Joss, sie beide zu beruhigen.

Doch Gwen schüttelte den Kopf. „Er meint, er kennt sich nur mit Briefmarken aus, und anderen Wertanlagen traut er nicht.“

„Dann ist das alles, was er an Altersfinanzierung hat?“

„Hatte. Übrig ist vielleicht noch eine Million in kleineren Sammlungen.“

Joss griff nach dem Telefon. „Ich ruf die Polizei.“

„Nein!“, schrie Gwen, und Joss erstarrte. „Das dürfen wir auf keinen Fall machen.“

„Wie bitte? Wir haben einen Millionen-Diebstahl, da müssen wir etwas unternehmen.“

„Trotzdem können wir die Polizei nicht einschalten.“

„Wieso nicht?“

„Weil Grampas Ruf ruiniert wäre, wenn bekannt wird, dass seine Sammlung nicht diebstahlgesichert ist. In dem Fall würden einige der Investoren ihre Konten bei ihm auflösen wollen, was wiederum bedeutet, dass er sie ausbezahlen müsste. Um das zu können, müsste er Marken unter Katalogwert verkaufen und den Investoren die Differenz aus eigener Tasche erstatten. Damit wäre dann die letzte Million, die er noch hat, ebenfalls weg.“

Ihr wurde plötzlich eiskalt. Wieder betrachtete sie die leeren Flecken in den Alben. Wer immer die Marken gestohlen hatte, kannte sich aus. Natürlich konnte er die richtig wertvollen nicht verkaufen, ohne dass irgendjemand Fragen stellte, aber wenn er sich in Sammlerkreisen auskannte, würde er auch einen Käufer finden.

„Jerry“, sagte Gwen.

„Jerry?“

„Nur er kommt infrage. Die Alarmanlage war eingeschaltet, und eine Störung wurde uns nicht gemeldet. Er muss es gewesen sein.“ Sie stand auf und ging wieder zum Safe. „Die Schlösser sind völlig unversehrt.“ Sie drehte sich um und sah Joss an. „Sag nicht, er hat dich überredet, ihm den Schlüssel und die Kombination zu geben.“

„Jetzt hör doch auf! Ich habe beides sicher hier verwahrt.“

„Hier? Wo?“

„In der Schreibtischschublade“, sagte Joss. „Und die war immer abgeschlossen.“

Gwen war sprachlos.

„Ich wollte sie nicht verlieren“, rechtfertigte Joss sich. „Ich dachte, sie wären da drin am besten aufgehoben. Und außerdem wissen wir ja noch gar nicht, ob Jerry damit was zu tun hatte.“

Gwen wusste, dass ihre Schwester nicht versuchte, Jerry zu verteidigen. Sie wollte vielmehr sich selbst verteidigen, denn wenn Jerry der Dieb war, würde sie sich die Schuld geben.

Dabei war es letztlich Gwens Schuld, denn sie hatte ihn eingestellt. Und sie hatte es so eilig gehabt, nach Chicago zu kommen, dass sie Joss den Laden mitsamt Safe anvertraute.

„War er irgendwann allein im Geschäft?“, fragte sie Joss.

„Natürlich nicht“, erwiderte Joss schnippisch. „Ich habe jeden Morgen aufgeschlossen und jeden Abend abgeschlossen.“

„Und er war nie allein?“

„Nie.“ Joss machte eine Pause. „Bis auf …“

„Bis auf wann?“

„Gestern. Gestern Mittag konnte der Eckladen nicht liefern, und Jerry meinte, er bezahlt, wenn ich uns das Essen hole. Na ja, und da ich blank bin, war ich einverstanden.“

„Wie lange warst du weg?“

„Fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten. Ich musste anstehen, weil sie unsere Bestellung verlegt hatten.“

„Wie passend.“

„Wie hätte ich denn etwas ahnen sollen?“, fragte Joss verzweifelt. „Wir hatten ihn eingestellt, und ich dachte, wir vertrauen ihm. Es muss eine Erklärung geben.“ Sie nahm das Telefon und tippte eine Nummer ein.

Nach einer Weile sagte sie: „Jerrys Handy ist abgemeldet“ und legte wieder auf.

Gwen schluckte. „Warum sollte jemand seine Handynummer ändern, wenn nicht, um abzutauchen?“ Dann fiel ihr etwas ein. Sie ging an ihren Computer und startete eine E-Mail-Rundfrage an andere Händler, ob sie in letzter Zeit eine Ben-Franklin- oder eine kolumbianische Marke angeboten bekommen hätten. Vielleicht konnte sie so Jerrys Spur aufnehmen.

„Dieses Schwein“, sagte Joss, eilte zum Wandschrank und holte ihre Handtasche heraus. „Gib mir deine Autoschlüssel.“

„Wo willst du hin?“

„Jerry suchen.“

„Woher weißt du, wo er wohnt?“, fragte Gwen.

„Wir waren zusammen bei einem Konzert, während du in Chicago warst, und hinterher hat er mich auf einen Drink zu sich eingeladen“, erklärte Joss und fuhr bedenklich schnell über die Hügel von San Francisco.

Gwen blickte sie entsetzt an. „Du hast doch nicht mit ihm …“

„Natürlich nicht. Das Haus ist schon von außen so schäbig, dass ich mir den Anblick des Inneren ersparen wollte.“

Sie bog in eine kleine Straße ein und parkte vor einem Haus im viktorianischen Stil, das schon bessere Zeiten gesehen hatte.

„Er war zwar immer gut angezogen, aber er wohnt in einem Loch“, stellte Gwen fest.

„Jetzt weißt du, warum ich nicht mit reingegangen bin.“

Es handelte sich um eine Pension, die Sorte, in der für gewöhnlich kleine Vertreter abstiegen. Gwen machte sich Vorwürfe, dass sie seine Adresse nicht überprüft hatte, denn dann wäre sie vielleicht gleich misstrauisch geworden.

Sie mussten vierzig Dollar hinblättern, damit die mürrische Frau am Empfang sie zu Jerrys Zimmer führte.

„Was wollen Sie von ihm?“, fragte sie.

„Er hat etwas, das uns gehört“, antwortete Gwen.

„Willkommen im Club. Die Miete hat er auch noch.“

Die Frau führte sie eine dunkle Treppe hinauf und einen Flur hinunter, in dem es modrig roch.

Jerrys Zimmer wirkte beinahe freundlich, da die Spätnachmittagssonne durch das kleine Fenster hereinschien. Der Raum war sehr klein und mit einem Bett, einem Schreibtisch, einer Kommode und einem ungemütlich aussehenden Stuhl möbliert.

„Ich frag ihn nach der Miete, und er sagt morgen“, grummelte die Frau.

Die Schubladen der Kommode standen offen. Alles war ausgeräumt. Gwen tastete sie sicherheitshalber trotzdem ab, denn Briefmarken ließen sich leicht verstecken.

„Haben Sie viele Mieter?“, fragte Joss.

„He, ich bin hier nur angestellt. Glauben Sie mir, wenn mir das Haus gehören würde, würd’s hier anders aussehen.“

„Haben Sie zufällig eine Ahnung, wohin er sein könnte?“, fragte Gwen.

„Nein. Wer hier auszieht, hinterlässt keine Nachsendeadresse.“

Gwen zeigte auf den Papierkorb. „Darf ich da mal einen Blick reinwerfen?“

„Wenn’s Ihnen Spaß macht. Der Typ war ein echtes Schwein. Den meisten Müll hat er einfach auf den Boden geworfen.“

Jerry allein war gewiss nicht Schuld an dem Zustand des Teppichbodens, dachte Gwen und begann, im Papierkorb herumzustochern. Darin fanden sich leere Zigarettenschachteln, die Verpackung einer Zahnbürste und dergleichen. Dann aber stieß sie endlich auf etwas Brauchbares. Ganz unten waren Pappschnipsel, als hätte jemand den Rückendeckel eines Schreibblocks zerschnitten. Daraus musste er ein Behältnis für die Marken gebastelt haben. Gwen nahm die Schnipsel heraus und zeigte sie Joss.

Die Frau nahm den Papierkorb. „Okay, jetzt haben Sie alles gesehen. Ich muss weiter sauber machen.“

Gwen nickte. „Ja, danke, wir haben alles, was wir brauchen.“ Da stieß sie mit dem Fuß gegen eine offene Streichholzschachtel. „Clement Street Liquors“ stand auf der Schachtel. Sie war aus dem Getränkemarkt gleich neben dem Briefmarkengeschäft.

Auf der Innenseite der Schachtel stand etwas. Gwen hob sie auf.

„Was ist das?“, fragte die Frau.

„Streichhölzer. Kann ich die mitnehmen?“

„Meinetwegen.“

„Danke. Auf Wiedersehen.“

Erst draußen zeigte Gwen Joss die Schachtel.

„Na und? Er kauft seine Zigaretten da.“

„Kaufte. Jerry ist längst über alle Berge.“

„Und wie kriegen wir raus, wohin er verschwunden ist?“

Gwen schob die Streichholzschachtel auf und zeigte Joss, was darin notiert war – ein Name und eine Telefonnummer. „Das wird uns hoffentlich Rennie verraten.“

Autor

Kristin Hardy
Kristin Hardy studierte Geologie und Physik und arbeitete nach ihrem Abschluss in Connecticut im Auftrag der NASA an der Entwicklung eines Telekops mit, dass mittlerweile die Erde umkreist. Doch der Drang zu schreiben wuchs.
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