Sie sind mein Glücksstern, Georgina

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Einen kecken Jungen beim wilden Cricketspiel mit zwei Kindern beobachtet der seriöse Bankier Jesmond Fitzroy. Als er beim Spaziergang durch den Park des Landsitzes, den er im Jahr 1821 gerade geerbt hat, der Gruppe näherkommt, entdeckt er verblüfft, dass der Knabe mit den rotbraunen Locken eine junge Frau ist: Georgina Herron, seine Nachbarin. Tadelnd sagt ihr Jasmond, dass er ihr Verhalten missbilligt, obwohl ein erster Blick in ihre grünen Augen sein Herz höher schlagen lässt. Auch Georogina entdeckt in den folgenden Wochen heiße Gefühle für den gut aussehenden Jesmond und lässt sich von ihm zu einer zärtlichen Liebesstunde im Park verführen. Überraschend taucht jedoch ein Bekannter von Georgina auf, der sittenlose Gelehrte Dr. Maynard Shaw. Gewaltsam versucht er, Georgina zu seiner Geliebten zu machen…


  • Erscheinungstag 30.11.2012
  • Bandnummer 306
  • ISBN / Artikelnummer 9783954460236
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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1. KAPITEL

“Hast du schon das Neueste gehört, Georgie? Der Erbe von Jesmond House ist aufgetaucht. Du solltest besser nicht mehr mit den Kindern im Jesmond Park spielen.”

Georgie – oder richtiger Georgina – war damit beschäftigt, die Saiten der alten Gitarre ihres verstorbenen Halbbruders nachzuziehen. Ihr gegenüber saß ihre verwitwete Schwägerin, die zwar nur einige Jahre älter als sie selbst, aber eine kränkliche Frau war und ihr Leben auf dem Sofa zubrachte.

“Wer ist denn der neue Besitzer?”

“Keine Ahnung.” Caro Pomfret seufzte. “Mir gegenüber hat Miss Jesmond nie irgendwelche Verwandten erwähnt. Du hattest doch den Kontakt zu ihr.” Sie sah ihre Schwägerin missbilligend an. “Glaubst du, das ist die richtige Kleidung, um mit den Kindern in den Park zu gehen?”

Georgie lächelte nachsichtig. Sie trug ein Hemd, eine Kniebundhose und Stiefel – Reitkleidung, die einst ihrem Halbbruder John gehört hatte. Ihr kastanienbraunes Haar war kurz geschnitten, so wie es vor ein paar Jahren Mode gewesen war – aber Georgie richtete sich selten nach der gängigen Mode. Kleidung und Frisur mussten lediglich praktisch sein.

“Ich spiele mit Gus und Annie hinten im Park.” Georgie schlug versuchsweise ein paar Akkorde an. “Dort, wo uns nur Vögel und Eichhörnchen beobachten.”

“Mag ja sein. Du vergisst nur, dass dieser Teil des Parks an Miss Jesmonds Anwesen grenzt. Stell dir vor, irgendein Gentleman begegnet dir dort. Was würde er von Miss Pomfret aus Pomfret Hall halten, die wie ein Stallbursche herumläuft.”

“Ach, Caro, nun übertreib aber nicht. Außerdem bin ich nicht mehr Miss Pomfret, sondern die respektable Witwe von Charles Herron aus Church Norwood, die zurzeit in unserem beiderseitigen Interesse hier lebt.”

Das stimmte zwar nicht ganz, denn das Interesse lag mehr bei Caro Pomfret. Die Pomfrets waren nie reich gewesen, und als Georginas Halbbruder John nach einem Jagdunfall verstorben war, hatte er seiner Frau Caro und den Zwillingen gerade genug zum Leben hinterlassen. Nur um der beiden Kinder ihres Halbbruders willen hatte Georgina sich entschlossen, in ihr Elternhaus zurückzukehren und mit ihrer Schwägerin zusammenzuleben, die seit dem plötzlichen Tod ihres eigenen Mannes kränklich war. Georgie selbst hatte ein ansehnliches Vermögen von ihrer Mutter – der zweiten Frau ihres Vaters – geerbt. Und auch ihr Mann hatte ihr eine respektable Summe hinterlassen einschließlich eines Hauses, das zurzeit an einen reichen Inder vermietet war. Georgina war zwar erst fünfundzwanzig, dennoch hatte sie nicht den Wunsch, wieder zu heiraten.

“Kein Gentleman würde dich so für eine respektable Frau halten, Georgie”, stöhnte Caro.

“Ob respektabel oder nicht, mich interessieren die Männer nicht”, erklärte Georgie abschließend und stimmte, glücklich, dass sie die Gitarre wieder zum Leben erweckt hatte, mit ihrer weichen Altstimme ein Lied an. Dann stand sie auf. “Verzeih, Caro, aber ich möchte die Kinder nicht warten lassen.”

“Denk dran, dass ihr nicht über Miss Jesmonds Grundstück geht. Wir wollen unseren neuen Nachbarn doch nicht gleich zu Anfang verärgern.”

“Ich denke immer daran, was du mir sagst”, log Georgie. “Ruh dich aus, dann können wir heute Abend alle zusammen Karten spielen.”

“Wenn ich nicht wieder Kopfschmerzen habe”, jammerte Caro. Sie sah ihrer Schwägerin kopfschüttelnd nach. Georgie ist flach wie eine Bohnenstange, sodass man sie in den alten Kleidern ihres Bruders leicht für einen Jungen halten kann, dachte Caro hämisch und schon im Halbschlaf. Es verwunderte sie nicht, dass ihre Schwägerin einen ältlichen Mann geheiratet hatte – wohl aus finanziellen Gründen, und, wie Caro vermutete, weil kein anderer Georgie genommen hätte.

Währenddessen wanderte Georgie durch den kleinen Park, in dem niemand die gepflegten Rasenflächen betreten durfte. Gus und Annie rannten fröhlich hinter ihr her. Die drei waren auf dem Weg zu einem großen Rasenstück am äußersten Ende des Jesmond Parks. Dort konnten die Kinder nach Herzenslust Kricket spielen, weit entfernt von den missbilligenden Blicken ihrer Mutter.

Der neue Besitzer von Jesmond House stand derweil an der Terrassentür seines Hauses und schaute hinaus in einen verwilderten Garten und einen verwahrlosten Park, in dem ein kleiner, halb verfallener Pavillon stand. Die mahnenden Worte seines früheren Arbeitgebers klangen Jesmond Fitzroy in den Ohren: “Wissen Sie, worauf Sie sich einlassen? Es ist hoffentlich keine Laune.” Damals hatte er Ben Wolfe gerade mitgeteilt, dass er das Anwesen seiner Großtante geerbt hatte und von seinen Pflichten entbunden werden wollte, um einen neuen Anfang zu wagen, weit weg von dem geschäftigen Leben in London. “Nein, keine Marotte”, erinnerte sich Jesmond geantwortet zu haben. “Der Grund ist auch nicht, dass ich nicht mehr für Sie arbeiten will – ich verdanke Ihnen mehr, als ich Ihnen je entgelten kann.” Ben Wolfe hatte bescheiden abgewehrt: “Sie schulden mir längst keinen Dank mehr. Ich will nur sicher gehen, dass Sie Ihren Schritt sorgfältig überlegt haben. Aber Sie wissen ja, Sie sind jederzeit willkommen.” Jesmond hatte darauf nur geantwortet: “Ich werde unsere Zusammenarbeit vermissen”, und Ben freundschaftlich die Hand gedrückt.

Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Beide waren groß und stattlich, aber Ben war ein grauäugiger, schwarzhaariger Bär, der eher wie ein Faustkämpfer denn wie ein reicher Mann aus einer alten Familie aussah. Jesmond dagegen war blauäugig und hellhäutig, im klassischen Sinne attraktiv, mit der Figur und der Haltung eines Athleten. Bens Frau Susanna hatte die beiden einmal, was das Äußere anbetraf, Schwert und Degen genannt. Im Geschäftsleben jedoch waren beide gleich gewieft – Jesmond, weil der etwas ältere Ben ihn dazu gemacht hatte, und Ben von Natur aus.

“Finanziell werden Sie ja keine Schwierigkeiten haben”, hatte Ben mit leicht gehobenen Brauen geäußert. “Und falls doch …” Jesmond hatte das Angebot zu schätzen gewusst, aber sorglos geantwortet: “Meine Großtante hat mir Kapital hinterlassen, und ich selbst bin auch nicht ganz unvermögend.”

Diese Antwort war allerdings mehr Ausflucht als Lüge. Ben brauchte nicht zu wissen, dass Jesmond selbst reich geworden war, weil er dem Beispiel seines Arbeitgebers gefolgt war. Genau wie Ben hatte er 1815 Aktien gekauft und nicht wie viele andere verkauft. Seitdem hatte er immer wieder klug investiert, und obwohl er nicht so vermögend wie Ben war, so war er doch wohlhabender als die meisten Menschen. Seine wahre finanzielle Lage verheimlichte Jesmond, denn bereits als junger Mann hatte er gelernt, seine Karten niemals offen auf den Tisch zu legen. Damals hatte Ben Wolfes freundschaftlicher Rat ihn vor dem Bankrott gerettet.

Heute war Jesmond allerdings der Ansicht, dass er nicht länger Bens mächtigen Beistandes bedurfte. Nur wenn er die altbekannten Pfade verließ, glaubte Jesmond auch eine Frau finden zu können. Er hatte allerdings keine Ahnung gehabt, was ihn am Ende seiner Reise in den Süden von Nottinghamshire erwarten würde. Als Kind war er gerne zu seiner Großtante gefahren. Mit den Jahren war der Kontakt zu ihr abgebrochen, nur manchmal hatte er sich etwas wehmütig an fast vergessene Zeiten erinnert. Bis dann eines Tages der Brief ihres Anwalts mit der Mitteilung gekommen war, dass sie Jesmond das Haus und ein kleines Vermögen an Bargeld vererbt hatte.

Seine erste Reaktion war gewesen, das Haus unbesehen zu verkaufen. Doch eine plötzliche Eingebung hatte ihn anders entscheiden lassen. Und nun stand er in diesem vom Zerfall gekennzeichneten Haus, das ihn kaum noch an das gepflegte prächtige Anwesen seiner Jugend erinnerte.

Nun gut! Es würde der gesamten Ersparnisse seiner Großtante und eines Teils seiner eigenen bedürfen, um das Haus wieder in dem alten Glanz erstrahlen zu lassen. Und so passte es, dass an diesem Punkt seiner Überlegungen Twells, das betagte Faktotum seiner Großtante, sich ehrfürchtig näherte und murmelte: “Um diese Stunde am Nachmittag pflegte Miss Jesmond ihren Tee zu nehmen. Wollen Sie diese Sitte beibehalten, Sir?”

Jesmond wollte schon ablehnen, als er sich plötzlich an die sonnigen Sommernachmittage seiner Kindheit erinnerte. An die Großtante, mit der zusammen er Tee getrunken hatte, an einen jungen Twells, der ihr zur Hand gegangen war. Diese Erinnerung und die Vorstellung, wie beängstigend und verwirrend seine Gegenwart für den alten Mann sein musste – obwohl Jesmond sofort nach seiner Ankunft den wenigen verbliebenen Bediensteten seiner Großtante ihr Verbleiben im Haus zugesichert hatte –, brachte ihn zu dem Meinungswechsel.

“Gerne, Twells. Und anschließend mache ich einen Spaziergang durch den Park bis zu dem Feld, wo früher die Dienerschaft Kricket spielte.”

Der alte Mann strahlte ihn an. “Daran erinnern Sie sich noch, Sir? Bei Ihrem letzten Besuch waren Sie ja noch ein junger Spund und ich war auch noch flinker auf den Beinen. Ich bringe den Tee sofort.” Und während er davoneilte, murmelte er unentwegt: “Mrs Hammond wird sich freuen.”

Nachdem Twells gegangen war, bereute Jesmond fast seinen übereilten Entschluss, einen Spaziergang zu machen. Er trug nämlich immer noch seine Stadtkleidung – modisch enge Pantalons, eleganter Gehrock mit passender Weste und hochgeschlungenem Krawattentuch, das er eigenhändig gebunden hatte. Sein Kammerdiener hatte ihn nämlich verlassen, um die Gastwirtschaft seines Vaters in Devon zu übernehmen, und Jesmond fragte sich manchmal, ob er nicht deshalb so plötzlich London und seine alten Gewohnheiten aufgegeben hatte. Auf dem Land konnte er sich lässiger kleiden als in der Stadt, wo ein Mann nach seinem Äußeren beurteilt wurde.

Da saß Jesmond Fitzroy nun, an einem milden Mainachmittag, trank Tee, aß Törtchen mit Konfitüre, und staunte, dass Mrs Hammonds sich an die Vorliebe seiner Kindheit erinnerte. In London hätte er um diese Zeit an seinem Schreibtisch gesessen oder wäre dabei gewesen, einen delikaten – oder weniger delikaten – Auftrag für Ben Wolfe zu erledigen. Es war für Jesmond ungewohnt, dass ihm der Tag ganz allein gehörte, und er wusste nicht so recht, was er mit dieser neuen Freiheit anfangen sollte.

Er stand auf, ging langsam über die Terrasse, schlenderte die Treppe und die Böschung hinunter, an den vernachlässigten Blumenbeeten vorbei. Schließlich erreichte er ein schief in den Angeln hängendes Holztor, durch das man, wie er sich erinnerte, zum Kricketplatz kam. Helle Kinderstimmen und ein Ruf “Gut gefangen!” machten ihn neugierig.

Im Stillen musste Jesmond lachen. Vermutlich spielten Kinder aus dem Dorf auf der Wiese, wo in seiner eigenen Kindheit ein betagter Esel gegrast hatte. Es galt nur noch ein kleines Gehölz zu durchschreiten, bis er den Platz erreichte, wo die Eindringlinge sich vergnügten.

Trotz des fröhlichen Geschreis waren es nur drei, wie er feststellte. Ein etwa zehnjähriger Junge und ein gleichaltriges Mädchen – der Kleidung nach Pächterskinder – und ein ähnlich gekleideter Jüngling mit kastanienbraunem Haar. Sie spielten mit einem groben Kricketschläger und nur einem Tor. Die drei waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie Jesmond zunächst gar nicht bemerkten, bis das Mädchen, das gerade im Ballbesitz war, von dem Jungen geschlagen wurde.

Jesmond klatschte anerkennend in die Hände. “Guter Schlag. Darf ich mitspielen?”

Die drei sahen sich erstaunt um. “Sie müssen der neue Besitzer von Jesmond House sein”, sagte der Jüngling. “Entschuldigen Sie, dass wir hier spielen, aber es ist der einzige Rasenplatz in der Nähe. Vermutlich möchten Sie, dass wir gehen.”

Ein hübscher Junge – wie Fitzroy feststellte – mit einem kecken Gesicht und einer klaren angenehmen Stimme, der trotz seiner derben Kleidung sauber und ordentlich aussah.

“Ach, Georgie!”, rief der kleine Junge vorwurfsvoll. “Er hat doch gesagt, er will mitspielen. Gib ihm deinen Schläger, Annie. Oder wollen Sie lieber fangen, Sir?”

Aha, noch so ein wohlerzogener Bauernlümmel, dachte Jesmond. “Ich war nie ein guter Fänger, bin aber kein schlechter Schlagmann.”

Annie reichte ihm ihr Schlagholz. “Beurteilen Sie Georgies Fänge nicht nach dem, was ich bekommen habe.” Gus, der ihr mit einer Geste bedeutete, den Mund zu halten, hielt sie davon ab, mehr zu verraten.

Vor diesem Georgie muss ich mich also in Acht nehmen, dachte Jesmond und fand, dass er selbst, in seiner engen Hose und der modisch steifen Krawatte, die ihm kaum erlaubte, den Kopf zu drehen, für ein zünftiges Spiel nicht angemessen gekleidet war. Andererseits war Georgie schmächtig – obwohl manchmal die Schmächtigen die erfolgreichsten und geschicktesten Ballmänner waren. Jesmond befreite sich von seiner Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf, bevor er Habachtstellung einnahm.

Der Anlauf des Jungen war kurz, der Ball, gekonnt geworfen, sauste auf Jesmond zu, der ihn hoch, wegen der jugendlichen Mitspieler, aber nicht zu kräftig, schlug. Gus schrie vor Begeisterung, Annie verfolgte, den Finger im Mund, staunend die Flugbahn des Balles, gleichzeitig rannte Georgie los, verpasste jedoch um Zentimeter die Aufschlagstelle. Der Ball rollte ins Gebüsch. Mit offener Jacke und fliegenden Rockschößen spurtete der Halbwüchsige hinterher.

Jesmond hielt den Atem an. Es war nicht zu übersehen! Georgie war kein Halbwüchsiger, sondern ein Mädchen in Jungenkleidern. Und so wie Miss Georgie auf den Knien nach dem Ball suchte, ein richtiger Wildfang.

Ein Urteil, das sich bestätigte, als sie den Ball mit gestrecktem Arm warf. “Gus! Dein Wurf!”

Gus fing den Ball. “Oh, Georgie, gegen den Dandy habe ich keine Chance!”

Amüsiert, dass Gus ihn für einen mondänen Müßiggänger hielt, hob Jesmond sein Schlagholz zum Salut. Der Junge belohnte ihn mit einem kämpferischen Blick und ein paar schwachen Würfen, die Jesmond mit mehr Respekt beantwortete, als ihnen zukam. Gus’ vierten Wurf ließ Jesmond jedoch passieren, wurde aber von Georgie – oder besser Georgina – abgepasst. Sie lachte triumphierend.

“Fabelhaft, Georgie! Der kann ja richtig spielen!”, schrie Gus.

Sofort wurde Georgie wieder ernst. “Was soll das, Sir?”, fragte sie etwas beleidigt, während sie den Ball mit gestrecktem Arm hielt. “Wollten Sie das Spiel beenden?” Doch bevor Jesmond antworten konnte, fuhr sie fort: “Oh, entschuldigen Sie meinen rauen Ton. Sie müssen Miss Jesmonds Erbe sein. Wir sind lediglich ganz gewöhnliche Eindringlinge. Es ist also Ihr gutes Recht, mir einen Fallrückzieher anzubieten. Es war ausgesprochen zuvorkommend, dass Sie Gus die Tore haben schlagen lassen. Nochmals, entschuldigen Sie.”

Jesmond, der inzwischen Annie das Schlagholz zurückgegeben hatte, schmunzelte über Miss Georgies impulsiven Redeschwall. “Absolut nicht!”, sagte er, während er über den Platz auf sie zuging. Als er ihr gegenüberstand, verbeugte er sich formvollendet, um das Bild des eleganten Dandys zu bestätigen. “Entschuldigen Sie, dass ich es übertrieben habe. Ich hätte wissen sollen, dass Master Gus einen guten Lehrmeister hat. Könnten wir uns wohl einen Moment alleine unterhalten?”

Georgie sah ihn prüfend an. Eine beeindruckende Gestalt, groß und breitschultrig, ganz anders als ihr verstorbener Mann, der ein schmächtiger Wissenschaftler gewesen war. Der Erbe von Jesmond House war überaus attraktiv. In der Umgebung von Netherton gab es keinen Mann, der ihm auch nur im Entferntesten das Wasser reichen konnte. Goldblond, blaue Augen, eine gerade Nase und ein schmaler, etwas spöttisch verzogener Mund, wie Georgie verwirrt bemerkte – so stellte man sich den Prinzen im Märchen vor. Auch seine Stimme war angenehm, obwohl es eine Stimme war, die gewohnt war, zu befehlen. Georgie überlegte, was er ihr wohl zu sagen hatte, während sie die Zwillinge bat, alleine weiterzuspielen.

Jesmond musterte sie kritisch. Von Nahem konnte man sie nicht für einen Jungen halten, obwohl sie die Jacke zugeknöpft hatte, sodass sich ihre kleinen Brüste unter dem Hemd nicht mehr abzeichneten. Er nahm an, dass sie noch nicht zwanzig war. Später erkannte er, wodurch er sich hatte täuschen lassen: durch ihre natürliche Art, ihre Unbefangenheit und ihren offenen Blick.

“Mein Name ist Jesmond Fitzroy, und ich bin, wie Sie richtig vermutet haben, der neue Eigentümer von Jesmond House. Miss Jesmond war meine Großtante und ich bin auf einer ersten Inspektionstour über meinen Besitz. Ich habe durchaus nichts dagegen, dass Sie und Ihre Geschwister auf meinem Land spielen. Nur ein wenig verwundert bin ich und besorgt, dass ein junges Mädchen in Jungenkleidern herumläuft. Heutzutage treiben sich überall eine Menge Gauner herum. Ich halte es deshalb für meine Pflicht, Ihre Eltern darauf hinzuweisen, wie gefährlich es für Sie sein kann. Wären Sie so freundlich, mir Ihren Namen zu nennen?”

Anfänglich hatte Georgina ihn noch freundlich angelächelt, doch gegen Ende seiner wohlgemeinten, aber so gänzlich misslungenen Ratschläge war ihr Blick finster und zornig. Sie biss sich auf die Lippen – und schwieg.

Jesmond wartete, und da sie offensichtlich nicht antworten wollte, wiederholte er seine Frage etwas nachdrücklicher. “Ihren Nachnamen bitte, Miss Georgina?”

“Reden Sie immer so geschwollen, Mr Fitzroy?”, fragte sie leise, aber sichtlich wütend. “Gus und Annie sind nicht meine Geschwister. Und Ihre Predigten können Sie in Zukunft jemand anderem halten, denn selbstverständlich werde ich Ihr Anwesen nicht wieder betreten – weder in Röcken noch in Hosen.” Ihr Temperament brannte mit ihr durch. “Nur zu Ihrer Information, Sir! Meine Eltern sind tot, und ich bin durchaus fähig, für mich selbst zu sorgen.” Ehe er antworten konnte, kehrte sie ihm den Rücken. “Gus, Annie! Sammelt Schläger und Tore ein! Wir gehen!”

“Einen Moment, bitte”, versuchte Jesmond sie zu halten.

“Moment?”, schrie Georgie unbeherrscht. “In einem Moment sind wir weg!”

“Nein!”, befahl Jesmond ganz entgegen seiner üblichen ausgeglichenen Art. “Sie werden mir sofort sagen, wie Sie heißen und wo Sie wohnen. Irgendjemand in Ihrer Umgebung wird doch so viel Verstand besitzen, Sie zur Ordnung zu rufen.”

“Oh ja!”, erwiderte sie und dachte wütend an Caro und deren ständiges Gejammer. “Sicher gibt es jemanden. In Pomfret Hall – dort finden Sie auch uns drei! Und nun wünsche ich Ihnen einen schönen Tag! Ich nehme an, dass Sie Gentleman genug sind, mich nicht weiter aufzuhalten.”

“Oh ja!”, bestätigte er ihr wütend. Sie hatte seinen Vorsatz zunichtegemacht, in jeder Situation die Beherrschung zu bewahren. “Ich hege durchaus nicht den Wunsch, eine Hosen tragende Kratzbürste aufzuhalten. Einen schönen Tag noch! Und etwas mehr Einsicht in Zukunft!”

Auf dem Weg zurück nach Pomfret Hall bedauerte Georgie ihre harschen Worte, rot vor Scham gedachte sie ihrer Begegnung mit dem neuen Besitzer von Jesmond House. Was hatte sie nur dazu gebracht, sich so danebenzubenehmen? Sie fand keine Antwort, denn sie wollte sich nicht eingestehen, dass Miss Jesmonds Erbe sie vom ersten Moment an aus der Fassung gebracht hatte. Wie eine ungezogene Göre hatte er sie behandelt. Ihr Stolz war zutiefst verletzt.

2. KAPITEL

“Georgina, was ist los? Du bist ja so still.” Caro hatte wie immer ein wenig gejammert, bevor sie sich dann doch überreden ließ, Karten zu spielen. Und nun, nach einem frühen Abendessen, hatte sie sich in ihre bevorzugte Ruhestellung auf dem Sofa begeben mit einem Buch ihrer Lieblingsautorin, in dem sie lustlos blätterte.

Georgina war dabei, ein Puppenkleidchen zu flicken, das Caros Mops Cassius, der normalerweise ähnlich schläfrig war wie sein Frauchen, in einem ungewöhnlichen Temperamentsausbruch zerrissen hatte.

“Du könntest mir schon eine Antwort geben”, mahnte Caro vorwurfsvoll.

Georgie nahm eine Stecknadel aus dem Mund und seufzte. “Entschuldige, irgendwie bin ich heute Abend geistesabwesend.” Ein wenig verwundert überlegte sie, was sie Caro antworten sollte, denn normalerweise hätte sie ihrer Schwägerin sofort von dem Zusammentreffen mit Jesmond Fitzroy erzählt. Gus und Annie hatten glücklicherweise von dem heftigen Wortwechsel nichts mitbekommen und ihrer Mutter nur von dem fremden Mann im Park berichtet. Und Caro, die wie üblich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, hatte ihren Kindern wieder einmal nicht zugehört.

Georgies ungewöhnliche Schweigsamkeit schien Caro aber zu beunruhigen. “Du hast dich doch nicht erkältet? Dr. Meadows meint nämlich, ich dürfe mich in meinem angegriffenen Zustand nicht anstecken.”

“Nein, ich werde nicht krank. Wir haben heute Nachmittag beim Kricketspielen auf der Wiese Miss Jesmonds Erben getroffen.”

Caro setzte sich beleidigt auf. “Und davon hast du bis jetzt nichts gesagt? Sehr rücksichtslos, Georgina! Endlich passiert einmal etwas in Netherton, und du behältst es für dich!”

“Nun übertreib aber nicht, Caro. Wir hatten doch noch gar keine Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu reden.”

“War das der fremde Gentleman, von dem die Kinder sprachen?”, lenkte Caro ab.

“Hm. Jesmond Fitzroy, Miss Jesmonds Großneffe”, antwortete Georgie wortkarg.

“Und? Wie sieht er aus? Wie alt ist er? Ein Gentleman?”

Georgie dachte an den perfekt gekleideten Mr Jesmond Fitzroy, an seine exquisite städtische Garderobe. “Absolut.”

“Das kann doch nicht alles sein. Du musst wissen, ob er jung oder alt ist!”

“In den Dreißigern. Sehr attraktiv.”

“Hat er was von einer Frau gesagt?” Der plötzliche Eifer in Caros Stimme überraschte Georgina.

“So lange haben wir nicht miteinander gesprochen. Er war alleine dort und hat uns erlaubt, auch weiterhin auf der Wiese Kricket zu spielen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das Angebot annehmen sollen.”

“Unsinn! Warum denn nicht? Ein attraktiver junger Mann – möglicherweise ohne Frau – ein Gewinn für Netherton. Ob er wohl reich ist? Wir müssen ihn unbedingt zum Dinner einladen. Am besten machst du ihm einen formellen Besuch.” Caro sah Georgina etwas ängstlich an. “Hat er etwa deine Breeches bemerkt?”

“Natürlich”, erwiderte Georgie patzig. “Selbstverständlich ziehe ich ein Kleid an, falls ich ihm überhaupt einen Besuch abstatten sollte.”

“Wieso falls? Du hast doch sonst nichts zu tun! Du würdest mir eine große Freude machen, und das würde endlich ein wenig Abwechslung in mein eintöniges Leben bringen. Wir sollten uns seiner Freundschaft versichern, bevor Mrs Bowlby das tut. Die reißt in letzter Zeit sowieso alles an sich. Schließlich bin ich immer noch Mrs John Pomfret von Pomfret Hall!”

Höflich hielt sich Georgie zurück. Wenn ihre Schwägerin ihr Leben nicht auf der Chaiselongue zubringen würde, wäre es für Mrs Bowlby bestimmt nicht so leicht, die grande dame von Netherton zu spielen. Dass Caro überhaupt noch ein gesellschaftliches Leben führte, hatte sie Georgie zu verdanken. Und die tat es im Grunde nur im Andenken an ihren Bruder und für Annie und Gus, die sonst ganz vernachlässigt würden.

Und so willigte sie schließlich ein, obwohl sie keine große Lust hatte, Mr Fitzroy einen Besuch abzustatten. “Wenn du Mrs Bowlby unbedingt ausstechen willst, weshalb machst du dann nicht selbst einen Besuch? So weit ist es doch nicht zu deinem nächsten Nachbarn.”

Caro stöhnte leidend. “Du weißt genau, Georgie, weshalb ich so wenig ausgehe. Die Anstrengung ist viel zu groß. Ich kann einfach nicht in Netherton herumlaufen und überall Einladungen zum Dinner verteilen. Außerdem tust du das doch gerne.”

Aber nicht bei Mr Jesmond Fitzroy, dachte Georgie mürrisch. Wieso zeigte Caro überhaupt plötzlich so viel Interesse an ihrem Nachbarn? Richtig! Caro war fast dreißig, John drei Jahre tot, und es gab wenige Männer in diesem Teil von Nottinghamshire, die Caro wohl für passend hielt, eine Mrs John Pomfret zu ehelichen. Deshalb der Rückzug auf das Sofa? Das Erscheinen eines jungen attraktiven Mannes, nur wenig älter als sie selbst und vermögend, gab ihr wohl eine völlig andere Perspektive als die derben Landedelmänner aus der Umgebung.

Irgendwie bekümmerte Georgie dieser Gedanke. Seltsam, denn eigentlich war ihre Erinnerung an Mr Jesmond Fitzroy eher unangenehm. Möglicherweise gaben er und Caro aber ein gutes Paar ab, ihre gemeinsame Kritik an ihr würde sie bestimmt vereinen.

“Bevor halb Netherton bei Mr Fitzroy vorspricht, stattest du ihm morgen Vormittag einen Höflichkeitsbesuch ab. Dieser Banker Bowlby tut ja so, als habe er die Position übernommen, die Gus einmal zusteht, wenn er erst alt genug ist.” Sie sank erschöpft in ihre Kissen zurück. “Du kannst Mr Fitzroy und seine Gattin, wenn er eine hat, ja morgen zum Dinner einladen.”

Georgie wollte auf jeden Fall ein weiteres tête-à-tête mit ihrem neuen Nachbarn vermeiden, Caros Bitte aber auch nicht ablehnen, da dies nur zu langatmigen Diskussionen geführt hätte. Also beschloss sie, am nächsten Morgen einen Diener mit einer Dinner-Einladung für den kommenden Freitag nach Jesmond House zu schicken. Die zwei Tage bis dahin würden Mr Fitzroy etwas Zeit geben, sich einzuleben, obwohl er nicht danach aussah, als brauche er Zeit zum Einleben. Dieser Mann konnte sich bestimmt sofort überall zurechtfinden – ob in Netherton oder anderswo.

Netherton war der Einwohnerzahl nach ein Dorf, dennoch hatte es kleinstädtisches Flair. Es gab einige gute Geschäfte, zwei Posthaltereien, eine Bank, und obwohl Netherton kein offizielles Heilbad war, besaß es eine prächtige Wandelhalle, wo man das Heilwasser trinken konnte, das von der nahen St.-Anne-Quelle herbeigeschafft wurde. An zwei Nachmittagen in der Woche wurde in der Grand Hall sogar Tee und Kuchen zu den Klängen eines Streichquartetts serviert.

Neben Pomfret Hall und Jesmond House gab es in der näheren Umgebung noch eine Reihe anderer respektabler Landsitze, deren adelige Eigentümer der kleinen Stadt zu einem regen gesellschaftlichen Leben verhalfen. Und so machte denn auch die Nachricht, dass der Erbe von Jesmond House eingetroffen war, schnell die Runde.

Am Nachmittag nach Georginas Zusammentreffen mit Jesmond hielt Mrs Bowlby, die Frau des Bankiers, in ihrem Empfangszimmer im Kreise ihrer Busenfreundinnen Hof.

“Bist du ganz sicher, dass er wirklich hier seinen Wohnsitz nehmen will, Letithia?” Mrs Bowlby konnte ihre Begeisterung über die Ankunft des Neulings kaum unterdrücken. “Ich möchte mich nämlich nicht zum Narren machen, indem ich ein leer stehendes Haus besuche und mich obendrein noch von diesem arroganten Butler abfertigen lassen muss. Den wird der Erbe sowieso als Erstes entlassen.”

“Der Gentleman ist schon eingezogen”, versicherte Miss Letithia Markham, eine verarmte Cousine der Bowlbys, die bei ihnen lebte. “Bereits vor zwei Tagen ist er angekommen, hat seine Köchin unserer Köchin erzählt. Er möchte erst Haus und Hof inspizieren, deshalb hat er seine Ankunft nicht publik gemacht. Und den Butler, den hat er nicht entlassen, und auch die alten ehemaligen Bediensteten wieder eingestellt. Damit musst du dich wohl abfinden, Maria.” Diese kleinen Stiche, die sie ihrer Cousine hin und wieder versetzen konnte, waren für Miss Markham ein ungeheurer Genuss. Leider war sich Mrs Bowlby nie ganz sicher, ob diese kleinen Bosheiten mit Absicht oder aus Versehen geäußert wurden.

“So ein Narr! Weißt du mehr? Familie? Geld? Alter? Verheiratet?”

Miss Letithia lächelte. “Oh ja. Mr Jesmond Fitzroy ist Miss Jesmonds Großneffe. Verheiratet ist er nicht. Über Familie oder Vermögen konnte unsere Köchin nichts berichten.”

“Fitzroy!”, murmelte die alte Miss Walton von Walton Court. “Seltsamer Name! Ja, ich erinnere mich dunkel.”

“Königssohn bedeutet der Name”, verkündete Mrs Bowlby.

“Oh, wie romantisch”, flötete Mrs Firth.

“Mrs Pomfret hat Mr Fitzroy schon eine Dinner-Einladung geschickt, die er – so sagt unsere Köchin – erfreut angenommen haben soll.”

“Soso! Wer hätte das gedacht! Immer leidend – und dennoch so schnell!” konnte sich Mrs Bowlby nicht verkneifen zu sagen.

“Ist sonst noch jemand eingeladen?” erkundigte sich Miss Walton mit fragendem Blick in die Runde.

“Würde mich nicht überraschen, wenn er ihr einziger Gast ist”, meinte Mrs Bowlby mit einem höhnischen Lächeln. Ganz offensichtlich schien sie zu befürchten, ihre Stellung, Nethertons tonangebende Dame zu sein, wieder zu verlieren, da Caro Pomfret wohl beschlossen hatte, ihre Chaiselongue zu verlassen. Mrs Bowlby hatte schon eine weitere bitterböse Bemerkung auf der Zunge, als der Butler Mrs Charles Herron ankündigte.

Georgie sah sehr charmant aus in ihrem grünen Ausgehkleid, eine Farbe, die ihr rotbraunes Haar und ihre grünen Augen besonders zur Geltung brachte. Bei einem Blick in den Spiegel hatte sie sich selbst so hübsch gefunden, dass sie am liebsten Mr Jesmond Fitzroy mit einem überraschenden Besuch verwirrt hätte. Nur um ihm zu zeigen, wie falsch es war, die Frau des Professors Charles Herron als Wildfang in Reithosen abzustempeln.

Georgina war immer wieder erschrocken und amüsiert zugleich über das leere Geschwätz, welches das Leben in der Provinz beherrschte. Ihre Ehe mit einem angesehenen Wissenschaftler, einem Professor der Universität zu Oxford, hatte sie mit einer ganz anderen Gesellschaftsschicht in Berührung gebracht. Zwar war es notwendig gewesen, sich äußerlich in eine zurückhaltende konventionelle Ehefrau zu verwandeln, aber das hatte sie als gerechten Ausgleich für ihren Eintritt in die Welt der Wissenschaft betrachtet, in der ihr Mann eine so hervorragende Stellung gehabt hatte. Nach ihrer Rückkehr nach Netherton verspürte Georgina diese Leere nun umso deutlicher. Aber weder das noch dass ihr Rückfall in ihren vorehelichen ungezwungen fröhlichen Lebensstil eine Art stille Rebellion gegen die Langeweile in Netherton war, konnte sie Caro anvertrauen.

Also schenkte Georgina Mrs Bowlby ein liebenswürdiges Lächeln und tat, als hätte sie keinen größeren Wunsch, als in diesem Empfangszimmer zu sitzen, einen dünnen Tee zu trinken und sich an einem Schwatz über abwesende Nachbarn zu beteiligen.

“Wie ich gehört habe, soll Mrs Pomfret unseren neuen Nachbarn zum Dinner eingeladen haben”, ging Mrs Bowlby direkt zum Angriff über. “Darf man fragen, ob Sie ihm schon begegnet sind, Mrs Herron?”

Nachdem sie einmal darüber geschlafen hatte, fand Georgina, dass sie an diesen Mr Fitzroy viel zu viele Gedanken verschwendete, und so fiel es ihr auch leicht, der Medusa – wie sie das weibliche Ungeheuer, dem sie gegenüber saß, im Stillen nannte – Rede und Antwort zu stehen. “Oh ja. Rein zufällig! Ich ging mit den Kindern spazieren, als wir ihn auf einer Wiese zwischen Pomfret Hall und Jesmond House trafen.” Sie hielt inne, um die erwartungsvollen Gesichter um sich herum zu studieren.

“Und was halten Sie von ihm?” wollte Miss Walton in ihrer üblichen direkten Art wissen.

“Er macht einen sehr zuvorkommenden Eindruck. War nach Londoner Mode gekleidet”, erzählte Georgie lächelnd, als ob sie mit Mr Fitzroy Artigkeiten ausgetauscht und sich nicht mit ihm ein Wortgefecht geliefert hätte.

“Er soll so um die dreißig sein”, meinte Mrs Bowlby. “Hat er etwas von seiner Familie oder einer Ehefrau gesagt?”

“Wir haben nur kurz miteinander gesprochen, für persönliche Fragen war es weder die rechte Zeit noch der rechte Ort. Sicherlich werden wir bald alles erfahren. Bis dahin müssen wir uns eben gedulden.” Das Lächeln, das sie diesmal den versammelten Damen bot, war das von Mrs Charles Herron aus Church Norwood – kühl und gebieterisch, keinen Widerspruch duldend. Es tötete das weitere Gespräch über Jesmond Fitzroy, und die Damen richteten ihr Interesse auf den Gesellschaftsball, der in zwei Wochen stattfinden sollte. Georgie verabschiedete sich bald darauf, und prompt klatschte das Damenklübchen nun über sie.

“Mrs Herron scheint mir für ihr Alter etwas zu selbstsicher”, meinte Mrs Bowlby bemerken zu müssen.

“In Pomfret Hall soll sie ja in Breeches herumlaufen”, tat Mrs Firth kund.

Die Klatschbasen sahen einander schockiert an und Miss Wanton gab ihren abschließenden Kommentar: “Man kann nur hoffen, dass Mr Fitzroy sie nicht in diesem Aufzug gesehen hat. Welchen Eindruck müsste er von den Menschen in Netherton haben!”

An jenem Tag, an dem Jesmond Fitzroy abends zum Essen nach Pomfret Hall geladen war, fuhr er früh morgens mit der Gig nach Netherton. Sein extravagantes Curricle hatte er vorerst nicht mit in die Provinz gebracht. Um keinen Preis auffallen, war seine Devise – nicht mittellos, aber auch nicht überdurchschnittlich reich wollte er erscheinen. Und das war genau der Eindruck, den er bei seinem ersten Auftreten im Innenhof des “Weißen Löwen” machte, als er einem eifrigen Stallknecht die Zügel übergab.

Autor

Paula Marshall
Als Bibliothekarin hatte Paula Marshall ihr Leben lang mit Büchern zu tun. Doch sie kam erst relativ spät dazu, ihren ersten eigenen Roman zu verfassen, bei dem ihre ausgezeichneten Geschichtskenntnisse ihr sehr hilfreich waren. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie fast die ganze Welt bereist. Ihr großes Hobby ist das...
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