Sinnliche Küsse unterm Mistelzweig

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Hollys kühnster Wunsch geht in Erfüllung: Ihr Chef, der attraktive Connor Knight, küsst sie unterm Mistelzweig – und verführt sie dann zu einer leidenschaftlichen Nacht. Doch mehr ist unmöglich! Denn Holly hat ein dunkles Geheimnis, das Connor niemals erfahren darf.


  • Erscheinungstag 26.11.2021
  • Bandnummer 1480
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501521
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Connor Knight kochte vor Wut.

Fluchend warf er den Bericht seines Privatdetektivs auf den Schreibtisch, sodass der Packen Papier auf der polierten Mahagoniplatte über die Tischkante rutschte und die Blätter auf den dicken Teppich seines Arbeitszimmers flatterten.

Durch die geöffnete Terrassentür hörte er, wie die Barkasse sich mit dem Überbringer dieser schlechten Nachrichten an Bord langsam von seinem Privatanleger entfernte und dem Hafen von Auckland zusteuerte.

Connor konnte es kaum fassen, dass ihm seine Exfrau so übel mitgespielt hatte. Ihre unersättliche Gier nach Partys und Glücksspiel waren die vier Jahre ihrer Ehe hindurch schon schwer genug zu ertragen gewesen, aber das, wofür er den Beweis jetzt unwiderleglich hatte, übertraf alles. Gerade einmal sechs Monate nach ihrer Hochzeit hatte sie ihr gemeinsames Baby abtreiben lassen, ein Kind, von dem sie wusste, dass er es sich wünschte. Und bei dieser Gelegenheit hatte sie sich auch gleich noch sterilisieren lassen.

Von all dem hätte er nie etwas erfahren, hätte er nicht auf einem Wohltätigkeitsfest die abfällige Bemerkung einer ihrer Freundinnen aufgeschnappt, die ihn veranlasste, seinen Privatdetektiv einzuschalten. Die Gewissheit hielt er nun in Händen, oder vielmehr lag sie auf dem Fußboden verstreut vor ihm. Die Geschichte mit der Fehlgeburt, die sie ihm aufgetischt hatte, war eine glatte Lüge gewesen. Die Beweise waren lückenlos. Das Aufnahmeformular der Privatklinik fehlte in den beigefügten Unterlagen seines Privatermittlers ebenso wenig wie die detaillierten Rechnungen für die Anästhesie, den Eingriff und den stationären Aufenthalt.

Und von all dem hatte er keine Ahnung gehabt.

Jetzt hatte sie sich gerade wieder gemeldet. Vermutlich wollte sie wie üblich Geld von ihm. Er hätte es ihr sogar gegeben, um sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Aber da kannte er diesen Bericht noch nicht.

Connor hörte nebenan das Schlagen der alten Wanduhr. Verdammt, schon neun, dachte er. Die Zusammenkunft mit dem Boten der Detektei hatte ihn mehr Zeit gekostet, als er beabsichtigt hatte. Für seinen ersten Termin an diesem Tag in der Kanzlei war es bereits zu spät.

Über die Direktleitung rief er in seinem Büro an. „Holly, ich bin aufgehalten worden und komme etwas später. Liegt irgendetwas Dringendes vor?“

„Nichts Besonderes. Ihre Telefonkonferenz mit New York habe ich abgesagt und auf einen späteren Zeitpunkt verlegt“, erklärte seine Assistentin. Ihre beruhigende, freundliche Stimme war eine wahre Wohltat nach den Turbulenzen dieses Morgens. Es gibt halt doch noch Menschen, auf die man sich verlassen kann, dachte Connor befriedigt.

Er zog das Jackett an und verließ, ohne sich darum zu kümmern, dass er auf die auf dem Boden liegenden Papiere trat, durch die Terrassentür das Haus. Dann schlug er den Weg zum Landeplatz ein, auf dem sein Hubschrauber bereits wartete, um ihn in die City zur Arbeit zu bringen.

Noch ein Christstern mit Schleifchen und ich bekomme einen Anfall, dachte Holly Christmas. Aber da ihr Geburtstag auf den Heiligen Abend fiel, war das nun einmal ihr Schicksal. Sie kannte das bereits. Genauso wie diese Schübe von Rührung, die sie trotzdem jedes Mal überkamen und gegen die sie tapfer ankämpfte, wenn die Kollegen mit Glückwünschen erschienen. Selbstmitleid war etwas, das sie nicht ausstehen konnte. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, passte das auch gar nicht zu ihr. Reiß dich zusammen, rief sie sich im Stillen zur Ordnung und fragte sich, warum ihr das in diesem Jahr besonders schwerfiel.

„Ein Christstern, wie schön!“, rief Holly aus, und ihre Begeisterung wirkte überzeugend. Wenigstens hatten ihre Kollegen überhaupt an sie gedacht. Heute war nicht nur Heiligabend, sondern auch der letzte Arbeitstag, bevor der größte Teil der Firma über die Feiertage in die Betriebsferien ging. Holly straffte die Schultern.

„Sehen wir uns nachher auf der Party?“, fragte eines der Mädchen aus dem Büro.

„Na klar“, versprach Holly. Sie durfte auf dieser Abschlussfeier nicht fehlen – allein schon deswegen nicht, weil sie es war, die für einen reibungslosen Ablauf sorgte. Ihre Aufgabe war es, sich darum zu kümmern, dass diejenigen, die genug getrunken hatten, in ein Taxi verfrachtet wurden oder dass aufgewischt wurde, wenn ein Glas zu Bruch gegangen oder eine Flasche umgestoßen worden war. Schon das dritte Jahr war das ihr Job an diesem Abend.

Holly liebte ihre Arbeit, und sie war sehr gut in ihrem Job. Sie hatte sich vom Pool der Schreibkräfte hochgearbeitet und war schließlich die Assistentin von Connor Knight geworden, der die Rechtsabteilung des Knight-Imperiums leitete.

Von den Fahrstuhltüren her ertönte ein „Ping“, und die Mädchen eilten an ihre Plätze, während der hochgewachsene Connor Knight durch den Korridor ging. Holly stellte den Blumentopf zu zwei anderen, die genauso aussahen, hinter sich auf das Bord. Sie biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, wie sie diese Pflanzen alle mit dem Bus nach Hause bekommen sollte.

„Guten Morgen, Holly.“

Holly stellten sich die Nackenhaare auf. Von dem Tag an, als sie mit Connor das Einstellungsgespräch über ihre neue Stelle als seine persönliche Assistentin geführt hatte, hatte diese dunkle, melodische Stimme sie elektrisiert. Und es war nicht allein seine Stimme. Sie hatte es längst aufgegeben, sich zu fragen, warum seine bloße Anwesenheit sie in Aufregung versetzte. Aber sie war sehr auf der Hut, sich ja nichts anmerken zu lassen. Die Liebe auf den ersten Blick, von der alle jungen Mädchen schwärmten, war für Holly eine tägliche qualvolle Prüfung.

Sie bekam ihren Puls schnell wieder unter Kontrolle. Sie hatte längst Übung darin und konnte sicher sein, dass Connor nicht die geringste Ahnung von dem hatte, was in ihr vorging, wenn er auftauchte.

„Mr. Tanaka hat aus Tokio angerufen und wollte wissen, wie weit die Verhandlungen gediehen sind. Er klang ein bisschen gereizt.“

Connor hörte ihr zu, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. „Das glaube ich gern, wenn er um diese Zeit anruft. Es muss jetzt bei ihm halb sechs Uhr morgens sein.“ Er trat durch die schwere Doppeltür in sein geräumiges Büro mit den zwei über Eck liegenden Fensterfronten. „In Ordnung, rufen Sie ihn an und stellen Sie ihn zu mir durch, wenn Sie ihn erreicht haben.“

Holly erlaubte sich den Luxus, einen Hauch seines Eau de Cologne einzuatmen, während er an ihr vorüberging – herb, frisch, mit einer besonderen Note, die verriet, dass es teuer war. Ein Hauch des Verbotenen schwang darin mit, verboten vor allem für jemanden wie sie. Sie ging an ihren Schreibtisch und stellte die Verbindung mit Tokio her. Als sie sicher war, dass Connor abgehoben hatte, und hörte, wie er Mr. Tanaka fließend auf Japanisch begrüßte, stand sie auf und schloss leise die Türen.

Sie unterdrückte einen leisen Seufzer. Für Connor Knight war sie nicht mehr als eine gut funktionierende Maschine. Als sie angefangen hatte, für ihn zu arbeiten, war er gerade frisch von seiner Jetset-Frau geschieden, und sie, Holly, schien wie alle anderen Frauen Luft für ihn zu sein.

Da sie davon ausgehen konnte, dass das Gespräch mit Mr. Tanaka Connor noch für einige Zeit beanspruchen würde, ging sie ein letztes Mal die Einzelheiten für die beiden Weihnachtspartys durch, die heute noch in der Firma stattfinden sollten, die für die Kinder und anschließend die für die Belegschaft. In diesem Jahr hatte sie sich selbst übertroffen. Die Cafeteria war in eine Märchengrotte verwandelt worden und sah einfach fantastisch aus. Und um halb sieben hatte Connor seinen Auftritt als Santa Claus.

Holly warf einen Blick auf den antiken Garderobenständer in der Ecke, an dem das leuchtend rote Kostüm hing. Eine Spur Bosheit lag in ihrem Lächeln. Bisher hatte Mr. Knight senior die Rolle übernommen. In diesem Jahr hatte er jedoch die sich verschlimmernde Arthrose in seinem Knie vorgeschützt. Aber er bestand darauf, dass ein Mitglied der Familie den Santa für die Kinder spielte. Als jüngster Sohn hatte Connor schlechte Karten, und alles Sträuben half nichts. Es war das einzige Mal, dass Holly erlebte, wie ihr Chef sich in sein Schicksal ergeben musste.

„Ach du liebe Zeit!“

Die Stimme hinter ihr ließ Holly aus ihren Gedanken aufschrecken und herumfahren.

Der Blick, mit dem Connor auf den Garderobenständer starrte, sprach für sich. „Er erwartet doch wohl nicht im Ernst von mir, dass ich das hier anziehe?“

„Warum nicht? Sie sind bestimmt perfekt als Weihnachtsmann“, wagte Holly zu bemerken.

Anstelle einer Antwort schob er ihr einen Stapel Papiere hin mit einer Kassette obendrauf. „Machen Sie mir das bitte fertig. Aber bevor Sie damit anfangen, sehen Sie nach, ob der Konferenzraum frei ist. Wenn ja, möchte ich das Team dort in einer halben Stunde sehen.“

„Gibt es Ärger?“, fragte Holly. Im Kopf ging sie rasch seine Termine durch, um die abzusagen, die für heute Vormittag noch anstanden. Wenn Connor die ganze Abteilung antreten ließ, musste es sich um etwas Ernstes handeln.

„Nichts, was sich nicht bewältigen ließe. Nur ist der Zeitpunkt nicht gerade der glücklichste …“ Er warf einen weiteren Blick auf das rote Kostüm und fuhr sich durch das dunkle Haar. „Ich fasse es einfach nicht …“

Holly musste sich ein schadenfrohes Lächeln verkneifen. Der unerschütterliche, erfolgsverwöhnte Mr. Knight, der es bei seinen Transaktionen mit ganzen Scharen von Juristen aus Übersee aufnahm, fürchtete sich offenbar vor ein paar Kindern, die artig Schlange standen, um sich nacheinander auf seinen Schoß zu setzen und ihm ihre Wünsche ins Ohr zu flüstern. Andererseits sollte gerade sie das Thema Kinder lieber meiden. Anders als für ihre Altersgenossinnen war für sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren die Frage erledigt. Den langen Rest ihres Lebens würde sie vermutlich ohne Kinder verbringen müssen, wenigstens, solange die Fragen nach ihrer eigenen Kindheit noch unbeantwortet blieben.

Das war auch der Grund, warum sie Weihnachten am liebsten aus dem Kalender streichen würde. Die Festtagsstimmung erinnerte sie nur daran, dass die meisten Menschen etwas hatten, was sie nicht hatte und nie gehabt hatte: eine Familie.

Helles Kinderlachen erfüllte den Raum. Der Clown, den Holly engagiert hatte, kam bei den Kindern gut an. Trotzdem war sie beunruhigt. Sie schaute auf ihre Uhr. In fünf Minuten sollte Santa Claus kommen. Connor müsste also eigentlich schon neben ihr stehen, aber von ihm war nichts zu sehen. Vielleicht hatte er Schwierigkeiten mit seinem Kostüm?

Holly wandte sich an ihre Mitarbeiterin Janet, ein ruhiges junges Mädchen, das gerade erst die Ausbildung beendet hatte, sich aber sehr gut anstellte. „Janet, wenn ich nicht in fünf Minuten mit Mr. Knight wieder hier bin, musst du dem Clown ein Zeichen geben, dass er noch ein bisschen weitermachen muss.“

„Kann ich sonst noch etwas tun?“

„Nein. Es wird schon alles in Ordnung sein. Wahrscheinlich ist unserem Weihnachtsmann nur ein wichtiger Anruf dazwischengekommen.“

Während sie mit dem Fahrstuhl hinauffuhr, ging sie in Gedanken noch einmal den Ablauf des heutigen Abends durch. Alles musste laufen wie am Schnürchen. Die Verzögerung jetzt passte ihr gar nicht. Bei allem Verständnis für Connor Knights Abneigung, den Weihnachtsmann zu spielen, konnte er sich nicht davor drücken und die Kinder enttäuschen. Sollte er es womöglich versuchen, würde sie ihm gehörig die Meinung sagen, auch wenn er ihr Boss war.

Hastig eilte sie zu seinem Büro. Sie klopfte an die Tür, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern stieß sie gleich auf.

Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben.

In der Mitte des Raums stand Connor Knight und kämpfte mit einer viel zu weiten roten Hose, die ihm jeden Augenblick herunterzurutschen drohte. Holly schluckte. Rasch versuchte sie ihren Blick von dem Waschbrettbauch und der braun gebrannten, muskulösen Brust abzuwenden, aber so einfach war das nicht. Unglaublich, was sich so unter einem Armani-Anzug verbergen kann, dachte sie. Sie gab sich einen Ruck und blickte ihm ins Gesicht. Sie konnte nur hoffen, dass ihr nicht anzusehen war, was in ihr vorging. Ihre Wangen glühten dermaßen, dass sie vermutlich leuchtete wie eine Tomate.

Weswegen war sie hierhergekommen? Ach ja, um ihn daran zu erinnern, dass er gleich seinen großen Auftritt hatte!

„Nur noch fünf Minuten, Mr. Knight.“

„Ich weiß“, erwiderte er. „Aber dieses Ding ist viel zu weit für mich. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Das Einzige wäre … Sie könnten mir helfen, Holly. Stopfen Sie mir einfach ein paar Kissen in die Hose. Den Kindern ist ein dicker Weihnachtsmann wahrscheinlich sowieso lieber.“

„Das glaub ich auch.“ Holly ging zur Couch und kehrte mit einigen weichen, runden Sofakissen zurück. „Meinen Sie, damit wird es gehen?“

„Warum nicht? Los, rein damit.“ Er zog den elastischen Hosenbund weit nach vorne.

Holly zögerte. „Worauf warten Sie noch?“

Offenbar machte sich Connor keinen Begriff davon, dass Holly nicht nur seine Assistentin, sondern auch eine Frau war. Sie musste sich zusammenreißen.

„Das fällt vermutlich unter die ‚sonstigen Aufgaben‘ in meiner Arbeitsplatzbeschreibung“, meinte sie leichthin, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Gleich darauf biss sie sich auf die Zunge. Diese Bemerkung war wirklich nicht nötig gewesen.

Connor stutzte. Dann erschienen ein paar Fältchen in seinen Augenwinkeln, und er lachte, was nicht allzu häufig vorkam. „Vermutlich. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass man dabei speziell diesen Job im Auge hatte, als die Musterverträge entworfen wurden.“

Vorsichtig trat sie näher. War es sein nackter Oberkörper, der diese Hitze ausstrahlte, oder waren es ihre Wangen, die so glühten? Sie konzentrierte sich darauf, nicht nach unten zu sehen, und schob ihm das erste Kissen in die Hose. Hoffentlich merkte er nicht, dass ihr die Hände zitterten.

„Nur zu – ich beiße nicht.“

Dass er sich auch noch über sie lustig machte, kam überhaupt nicht infrage. Das nächste Kissen versenkte sie schon schwungvoller und merkte erst, als es zu spät war, dass sie mit den Fingern die Härchen unterhalb seines Nabels streifte. Hörbar holte er Luft, als sie ihn berührte, und mit einem Ruck zog sie die Hand zurück. Gänsehaut überlief sie. Holly gab sich Mühe, die Fassung zu bewahren und ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. „Das müsste jetzt aber reichen.“

„Ich brauche noch mehr.“

Wenn das so weitergeht, brauche ich auch bald mehr, dachte Holly, mehr als nur ein flüchtiges Kitzeln auf der Haut. Er hat keinen Schimmer, was er hier anrichtet. Sie biss sich auf die Unterlippe und schob das dritte Kissen an seinen Platz, wobei sie Mühe genug hatte, der Versuchung zu widerstehen, die „zufällige“ Berührung zu wiederholen. „Fertig, passt!“, erklärte sie und versetzte dem unförmigen Wulst über seinem Bauch einen respektlosen Klaps.

Sie half Connor in die rote Jacke und gönnte sich dabei noch einen Blick auf seine breiten Schultern. Dann wurde der schwarze Gürtel umgebunden. Connor eilte zum Schreibtisch, auf dem der Wattebart und die Mütze lagen, klebte sich den Bart an und setzte die Mütze auf. Dann drehte er sich zu Holly um und fragte: „Und, wie sehe ich aus?“

Holly rang nach Worten. Es war schwer zu beschreiben. Ganz sicher glich er nicht den Weihnachtsmännern, vor denen sie als Kind eine panische Angst gehabt hatte und vor denen sie am liebsten weggelaufen wäre, hätten ihre Pflegeeltern sie nicht festgehalten. Außerdem stand sie noch immer unter Schock, weil sie Connor halb nackt gesehen hatte.

„Die Augenbrauen fehlen noch“, sagte sie.

„Oh nein, bitte nicht diese furchtbaren weißen Würmer“, stöhnte er auf.

„Ohne Augenbrauen kein Santa Claus. Es muss sein“, entgegnete Holly unerbittlich. Sie ballte die Hände kurz zu Fäusten und öffnete sie wieder. Danach gelang es ihr einigermaßen, ohne zu zittern, die Schutzfolien abzuziehen und ihm die Wattegebilde anzukleben. Connor beugte den Kopf nach vorn. Plötzlich waren sie sich ganz nahe. Ihre Lippen waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Wenn sie jetzt tat, wovon sie manchmal heimlich träumte, war sie ihren Job los. Was nicht geschehen durfte, weil sie dann Andreas Arztrechnungen nicht mehr hätte bezahlen können.

Holly beeilte sich und wich sicherheitshalber einen Schritt zurück. „Perfekt! Sie sehen großartig aus.“

„Fein. Also, gehen wir.“ Schweigend fuhren sie hinunter in den achten Stock, in dem sich die Cafeteria befand.

„Warten Sie noch einen Moment hier“, bat sie ihn. „Ich muss erst Bescheid sagen, damit Sie den Kindern angekündigt werden.“

Täuschte sie sich, oder war er blass geworden? Sollte er etwa Angst haben? Angst – Connor Knight? Das war doch nicht möglich. Und doch entdeckte sie deutliche Zeichen von Anspannung in dem Teil seines Gesichts, der nicht von weißer Watte verdeckt war. Instinktiv hatte sie das Bedürfnis, ihm Mut zu machen.

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Sie schaffen das schon. Die Kinder werden Sie lieben.“

„Aber Sie bleiben doch an meiner Seite, oder?“

Die Aufforderung überraschte sie. Holly hatte eigentlich vorgehabt, während dieses Programmteils diskret zu verschwinden. Kleine Kinder, die darauf warteten, Santa Claus auf den Schoß klettern zu dürfen – das war noch immer eine Vorstellung, die ihr großes Unbehagen bereitete.

„Ich müsste mich eigentlich noch um ein paar andere Sachen kümmern“, antwortete sie. „Aber ich werde wieder da sein, bevor Ihr Auftritt beendet ist“, fügte sie rasch hinzu.

„Sie bleiben bei mir.“

Das war eine Anordnung, die keinen Widerspruch duldete. Connor blickte an ihr vorbei. Wie sollte er auch wissen, was in ihr vorging? Jeder freute sich über Weihnachten mit allem, was dazugehörte. Jeder – bis auf ein kleines Mädchen, das keinen richtigen Familiennamen besaß, sondern nur einen Namen hatte, den ihr irgendein Mitarbeiter des Jugendamtes gegeben hatte, einen Namen, der sie ständig an das traumatischste Erlebnis ihres Lebens erinnerte. Keiner Menschenseele hatte Holly je erzählt, dass sie von einer Pflegefamilie zur nächsten gezogen war. Für Holly hatte ihr Leben erst richtig mit ihrem achtzehnten Geburtstag begonnen, als sie aus der staatlichen Obhut entlassen war.

„Holly?“

Sie fuhr aus ihren Gedanken hoch. Dann blickte sie Connor an. Sie war außerstande, Erklärungen abzugeben. Also nickte sie nur kurz und sagte: „Bringen wir es hinter uns.“

Die Kinder gaben Connor gar nicht die Gelegenheit, an sein Lampenfieber zu denken. Ihre Freudenschreie erfüllten den Raum. Nach einer Weile merkte Holly, wie die Situation für sie immer unerträglicher wurde. Ihre Nerven waren bis aufs Äußerste angespannt. Warum, um alles in der Welt, hatte sie nur eingewilligt hierzubleiben?

Connor saß auf einer Art Thron, den man für Santa Claus aufgestellt hatte. Gerade hob er ein kleines Mädchen mit dunklem Wuschelkopf auf seinen Schoß. Die Kleine, die kaum vier Jahre alt sein mochte, blickte unsicher in die Runde der Umstehenden. Ihre Unterlippe begann zu zittern.

Holly merkte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach, und sie fürchtete, ihre Knie könnten nachgeben. Sie presste sich an die Wand, um Halt zu suchen. Sie holte tief Luft und kämpfte mit aller Macht gegen die Angst an, die ihr ein Schwindelgefühl verursachte. Aber sie war stärker als sie.

Die Bilder von damals kamen zurück. Sie sah sich als kleines Mädchen auf den Knien von Santa Claus sitzen. Verzweifelt suchte sie in der gaffenden Menge der Kaufhauskunden das Gesicht ihrer Mutter. Aus Unruhe wurde Panik, als sie es nicht finden konnte. Endlich, nach zahllosen Versuchen, sie zu beruhigen und aus ihrem Schluchzen und Gestammel klug zu werden, holte jemand eine Frau von der Geschäftsleitung, aber da war es längst zu spät. Ihre Mutter war in dem Menschengewimmel verschwunden.

Bis auf den heutigen Tag hatte Holly diesen Schrecken nicht verwunden, und in Augenblicken wie diesem waren der Schock des Verlustes und das Gefühl der Verlassenheit so gegenwärtig wie damals. Sie hatte sich nie die Frage beantworten können, was für eine Mutter das war, die es fertigbrachte, ihr Kind am Tag vor Weihnachten einfach einer anonymen Menschenmenge und einem ungewissen Schicksal zu überlassen.

In Sekundenschnelle war dieser Film vor ihrem inneren Auge abgelaufen. Ihr Herz begann zu rasen, ihr Atem ging flach und zu schnell. Sie suchte irgendwo nach einem Halt – und fand ihn überraschenderweise, als sie Connor anschaute. Der hatte in unendlicher Geduld die Eltern des Mädchens, das auf seinem Schoß saß, ausfindig gemacht und zeigte sie ihr, wodurch er dem beunruhigten Kind ein strahlendes Lächeln entlockte.

Langsam beruhigte sich auch Holly wieder und lockerte die unwillkürlich zu Fäusten verkrampften Finger. Sie fing einen fragenden Blick von Connor auf, als ob er ahnte, dass irgendetwas mit ihr nicht in Ordnung war. Holly nickte ihm aufmunternd zu, und Connors Aufmerksamkeit kehrte wieder zu dem Kind auf seinen Knien zurück, dem er feierlich ein liebevoll eingewickeltes Päckchen überreichte, bevor er es zu seinen Eltern entließ. Connor machte das wirklich perfekt. Jedes Kind bekam sein Geschenk und durfte ihm seine Wünsche ins Ohr flüstern, um dann freudig zu den Eltern zurückzulaufen.

Als das letzte Päckchen seinen Abnehmer gefunden hatte, beendete Holly mit einer kurzen Ansage die Kinderparty. Der lebhafte Applaus der Kinder und Erwachsenen bestätigte, dass Connor seine Aufgabe bravourös gemeistert hatte. Hollys Anspannung löste sich. Noch eine Party, dann ist es geschafft, dachte sie. Dann war Weihnachten für sie vorüber, und sie hatte wieder für ein Jahr davor Ruhe.

„Was war denn mit Ihnen los?“, hörte sie plötzlich Connors Stimme hinter sich.

Sie drehte sich um. „Nichts. Ist doch alles wunderbar gelaufen. Sie waren großartig.“

„Sie waren weiß wie eine Wand. Als hätten Sie ein Gespenst gesehen.“

Holly seufzte. Sich jetzt herauszureden war nicht einfach. Die Fähigkeit, andere zu durchschauen, gehörte zu seinem Beruf, und darin war er besser als die meisten anderen.

„Das war wohl nur eine kleine, vorübergehende Schwäche. Die letzten Tage waren ziemlich hektisch.“ Einen Moment lang dachte sie, er würde sich damit zufriedengeben.

„Danach sah es mir aber nicht aus.“ Seine braunen Augen funkelten. „Ich hatte schon befürchtet, Sie kippen um. Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ja, ganz bestimmt.“

„Vielleicht haben Sie sich in letzter Zeit wirklich etwas viel zugemutet. Es wird besser sein, Janet übernimmt für den Rest des Abends Ihren Job.“

„Nicht nötig. Mit mir ist alles in Ordnung – wirklich“, versicherte sie.

Connor sah sie durchdringend an. „Wir werden sehen. Jetzt bereiten wir uns erst einmal auf die nächste Runde vor.“

Holly blickte ihm nach, als er zum Fahrstuhl ging. Wie konnte er gemerkt haben, dass sie sich nicht gut fühlte?

Sie schaute sich um. Inzwischen war ein Reinigungstrupp dabei, die Cafeteria und die Räume für die nächste Weihnachtsfeier herzurichten. Es war Hollys Idee gewesen, die Dekoration vom Kinderfest im Wesentlichen beizubehalten. Ein bisschen Märchenatmosphäre konnte auch den Erwachsenen nicht schaden. Obendrein war es praktisch und sparte Zeit. Hier wurde sie nicht länger gebraucht.

Oben in ihrem Büro angekommen, holte Holly ihr Abendkleid, das in einer Hülle auf dem Bügel hing, aus dem Garderobenschrank. Sie öffnete den Knoten in ihrem Haar und bürstete die lange seidige Mähne durch. Während sie sich dabei im Spiegel betrachtete, dachte sie daran, wie lange es her war, dass sie ihr Haar offen getragen hatte. Wann war sie das letzte Mal ein wenig aus sich herausgegangen? Aber es hatte keinen Zweck, mit dem Schicksal zu hadern. Es war nun einmal so: Zu viel hing von ihr ab, als dass sie es sich leisten konnte, sich gehen zu lassen.

Holly band ihr langes schwarzes Haar zu einem etwas weniger strengen Knoten zusammen, als sie ihn sonst gewohnt war zu tragen – ein Kompromiss gewissermaßen. Ein anderes Zugeständnis war ihr Lippenstift, dessen Rubinrot deutlich auffälliger war als der Farbton, den sie normalerweise benutzte. Sie schnitt eine Grimasse im Spiegel. War das zu gewagt? Aber man musste zugeben, dass die Farbe ihre schön geschwungenen, vollen Lippen gut zur Geltung brachte. Und überhaupt: Heute war ihr Geburtstag, und sie hatte ein Recht darauf, sich für diesen Tag herauszuputzen.

Zeit, lange darüber nachzudenken, blieb ihr ohnehin nicht mehr. Sie nahm ihre Sachen und eilte damit in den Waschraum der Damen. Sie schlüpfte aus ihrem Bürokostüm, zog vorsichtig den Reißverschluss der Kleiderhülle auf und holte ein langes, enges, scharlachrotes Abendkleid heraus. Das Kleid war von schlichter Eleganz, hochgeschlossen zwar, aber mit einem tiefen, v-förmigen Rückenausschnitt. Holly hakte ihren BH auf und verstaute ihn im Kleidersack. Dann stieg sie in ihr Kleid.

Sie strich den eng anliegenden, fließenden Stoff glatt und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Holly fragte sich, ob ihre Aufmachung nicht ein bisschen zu auffällig war. Normalerweise lieh sie sich zu Gelegenheiten wie diesen ein kleines Schwarzes aus. Aber als sie dieses Kleid im Schaufenster entdeckt hatte, hatte es sie wie magisch angezogen. Lange hatte sie gezögert, ob sie die Ausgabe dafür verantworten konnte. Aber andererseits wurde sie nicht gerade mit Geschenken überhäuft – genauer gesagt, es gab überhaupt keine. Wer sollte ihr auch etwas schenken? Sie hatte weder Familie noch einen Liebhaber. Und so beschloss sie, sich dieses eine Mal selbst zum Geburtstag zu beschenken.

Autor

Yvonne Lindsay
Die in Neuseeland geborene Schriftstellerin hat sich schon immer für das geschriebene Wort begeistert. Schon als Dreizehnjährige war sie eine echte Leseratte und blätterte zum ersten Mal fasziniert die Seiten eines Liebesromans um, den ihr eine ältere Nachbarin ausgeliehen hatte. Romantische Geschichten inspirierten Yvonne so sehr, dass sie bereits mit...
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