Sinnliche Versuchung in Italien

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Annabelle kann ihr Glück kaum fassen: Sie ist das neue Model für eine aufregende Kampagne an der wunderschönen Amalfi-Küste! Tolle Eindrücke, neue Freundschaften - und hoffentlich keinen Ärger mit Männern, wünscht sie sich. Doch dieser Traum erfüllt sich nicht. Denn sie teilt ihre malerische Villa mit dem Piloten Lucca Cavezzali. Ein italienischer Traummann, der Annabelle in romantische Restaurants mit Meerblick einlädt, dessen Küsse im Sommerwind wie eine zärtliche Versuchung sind. Und dem doch "Vorsicht, nicht verlieben!" ins Gesicht geschrieben steht …


  • Erscheinungstag 22.04.2012
  • Bandnummer 1945
  • ISBN / Artikelnummer 9783864941436
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Annabelle Marsh stand am Waschbecken und begann sich abzuschminken. In der Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Ihr blondes schulterlanges Haar glänzte fast unnatürlich, die blauen Augen wirkten fast violett, Brauen und Wimpern dunkler, als sie in Wirklichkeit waren. Dank Make-up und Puder machte ihr Teint den Eindruck, makellos zu sein. Rouge betonte ihre hohen Wangenknochen, und der diskret aufgetragene Konturenstift ließ die Lippen voller und sinnlicher erscheinen. Nein, das war nicht sie. Das war das Werk einer Maskenbildnerin.

Gleich ein ganzer Schwarm guter Feen bemühte sich zurzeit darum, aus Annabelle das Beste zu machen. Die Kleider, die sie während der Fotoaufnahmen in Italien trug, stammten von einem römischen Couturier und der dazu passende Schmuck von einem bekannten Juwelier. Vor vier Tagen hatte das Shooting auf einer Luftwaffenbasis in der Nähe der Hauptstadt begonnen, wo sie vor einem MB-Viper-Kampfjet posieren musste. Das Modeln machte ihr Spaß. Sehr viel Spaß sogar. Insgesamt drei Wochen sollte sie das Amalfi – Girl spielen.

„Danach dürfen Sie sich, wenn Sie darauf bestehen, wieder in Ms Marsh zurückverwandeln“, hatte Giulio Cavezzali gesagt.

„In ein Aschenputtel, meinen Sie wohl.“

Annabelle hatte nach ihrer kurzen Ehe und der Scheidung vor zwei Jahren wieder ihren Mädchennamen angenommen. Doch ihr Selbstvertrauen war noch immer angeknackst.

„In ein Aschenputtel? Sie? Wenn Sie das wären, hätte ich Sie wohl kaum für das wichtigste Projekt meines Lebens ausgesucht.“

Diesen Tag vor zwei Monaten, an dem der temperamentvolle Wagenbauer nach Los Angeles gekommen war, um mit ihrem Chef Mel Jardine über die Auslieferung der nächsten Modelle zu sprechen, würde Annabelle wohl nie vergessen.

Mel gehörte der Autohandel, der die meisten Amalfis in den Vereinigten Staaten verkaufte, und Annabelle war seine persönliche Assistentin. An diesem Tag hatte sie ihre Arbeit liegen lassen, um sich ausschließlich darum zu kümmern, es dem Gast so angenehm wie möglich zu machen. Doch Guilio bestand darauf, dass sie auch bei den Verhandlungen dabei war. Die Aufmerksamkeit, mit der er sie bedachte, ließ sie zunächst befürchten, der verheiratete ältere Mann habe ein Auge auf sie geworfen. Eine Annahme, die sich rasch in Luft auflöste, als er Mel deutlich machte, er wolle Annabelle als Fotomodell für eine Werbekampagne engagieren.

Sie fand das völlig abwegig, Mel aber meinte, sie solle sich den Vorschlag des Autoherstellers wenigstens anhören.

„Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum Ihre Wahl auf mich gefallen ist.“

„Das ist ganz leicht zu erklären. Die Cavezzali-Familie baut seit den fünfziger Jahren Autos, wie Sie wissen. Gute, solide, luxuriöse Autos. Ein Sportwagen gehörte zu unserer Produktlinie bislang nicht, obwohl ich seit Langem von der Herstellung eines tiefergelegten zweisitzigen Cabriolets geträumt habe. Jetzt ist es endlich so weit, dass es in Serie gehen kann. Wissen Sie, was das für mich als Designer bedeutet? Meine Visionen bezüglich der Gestaltung der Karosserie haben sich nicht nur als umsetzbar erwiesen, sondern dank meiner Konstrukteure ist es auch gelungen, diesen Prototyp mit einer exzellenten Technik auszustatten. Das betrachte ich als Krönung meines Lebenswerks, denn normalerweise geht man von dem umgekehrten Prozess aus. Man stellt erst die Funktion in den Vordergrund und passt ihr dann die Form an. Das ist eine Grundregel guten Designs. Und Sie verkörpern in meinen Augen die ideale Fahrerin für dieses Auto. Sie sind das geborene Amalfi – Girl.“

Sie lachte ungläubig.

„Endlich habe ich gefunden, was mir vorschwebte, um meinen Wagen bekannt zu machen: Sie.“

Die charmante Art und die Überschwänglichkeit des attraktiven gut sechzigjährigen Italieners wirkte ansteckend.

Sie schüttelte den Kopf.

„Doch. Ich meine es ernst. Ich suche schon seit Monaten nach der richtigen jungen Frau. Dabei hatte ich nicht einmal eine bestimmte Vorstellung von ihr. Ich habe nur gehofft, ihr irgendwann zu begegnen.“ Er strahlte sie an. „Und jetzt sitzt sie mir gegenüber. Sie sind einzigartig, so einzigartig wie mein Wagen. Mel kann Ihnen bestätigen, dass ich bisher noch keins unserer Modelle mit einem weiblichen Wesen beworben habe.“

Das stimmte. Annabelle kannte die Kataloge, Anzeigen und Werbespots sämtlicher Automarken der Firma.

„Ich fühle mich geschmeichelt, Mr Cavezzali. Aber …“

„Nennen Sie mich bitte Guilio“, unterbrach er sie.

„Gut, Guilio. Warum haben Sie sich diesmal für eine Frau entschieden? Ihr bisheriges Marketingkonzept war doch ansprechend und erfolgreich.“ Das meinte sie völlig ernst.

Der Mann legte die Fingerspitzen aneinander. „Das freut mich zu hören, und grundsätzlich will ich es auch dabei belassen. Sie brauche ich für eine besondere Kampagne, die wie ein Paukenschlag den Sportwagen ankündigen soll. Ich habe ihn nämlich zu Ehren meines Sohnes entworfen und dann konstruieren lassen. Es ist meine Art, ihm meine Anerkennung auszudrücken. Das muss deutlich werden.“

Sein ernster, ruhiger Ton verriet Annabelle, wie sehr er ihn lieben musste.

„Lucca ist mit achtzehn zur Luftwaffe gegangen und ein hoch dekorierter Kampfflugzeugpilot geworden.“ Guilios Augen wurden feucht. „Er ist mein Ein und Alles. Ich habe den Wagen Amalfi-MB-Viper genannt, damit er erfährt, wie sehr ich bewundere, was er erreicht hat.“

Ah … Nun verstand sie. Der Sportwagen sollte den Namen des Flugzeugtyps tragen, den sein Sohn flog.

Guilio schaute sie lange an. „Mit dem Amalfi – Girl möchte ich vor allem die Händler für das Cabriolet begeistern. Es soll auf Plakaten und Kalendern zu sehen sein, die wir an die Niederlassungen in aller Welt verschicken wollen. Wenn wir das Auto der Öffentlichkeit präsentieren, wird nicht nur mein Sohn dabei sein, sondern auch Sie sollen live in Erscheinung treten. Mehr verlange ich nicht von Ihnen, Annabelle. Sie brauchen also keine Sorge zu haben, dass Sie überall Ihrem Abbild begegnen oder man Sie auf der Straße als Amalfi – Girl anspricht. Außerdem verspreche ich, Ihnen das dreiwöchige Shooting so leicht wie möglich zu machen und Ihnen jeden Wunsch zu erfüllen.“

Annabelle war eine Weile sprachlos.

Was würde Ryan dazu sagen, wenn er sie in Seide gehüllt und mit Juwelen behängt auf einem Plakat oder in einem Kalender entdeckte? Und in dem lässig an ein Cabriolet gelehnten Luxusgeschöpf seine langweilige Exfrau wiedererkannte? Da bliebe ihm wohl die Spucke weg. Schon während seiner Ausbildung zum Facharzt hatte er von einem spritzigen Sportwagen geträumt und sich regelmäßig die neuesten Modelle vorführen lassen. Von dieser Leidenschaft hatte sie gewusst, nicht aber von der zu einer ihrer Kolleginnen. Seine Affäre hatte ihr das Herz gebrochen und ihr den geliebten Beruf als Krankenschwester vergrault. Denn natürlich war es unmöglich gewesen, mit ihm und seiner Neuen im gleichen Spital weiterzuarbeiten.

Dass Guilio sie so attraktiv fand, um mit ihr für seinen neuen Wagen zu werben, empfand sie als Balsam für ihr lädiertes Selbstvertrauen. „Es ist mir eine Ehre“, sagte sie schließlich.

„Während der Aufnahmen werden Sie bei mir und meiner Frau Maria wohnen und auch meine Brüder und meine Stiefsöhne kennenlernen, die ebenfalls für das Unternehmen arbeiten. Sie alle leben mit ihren Familien ganz in unserer Nähe.“

„Darauf freue ich mich. Doch ich möchte Ihnen auf keinen Fall zur Last fallen.“

„Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich Sie auch in einem Hotel unterbringen. Selbstverständlich im besten von Ravello.“

„Eine einfache und ruhige Pension würde mir besser gefallen. Am liebsten irgendwo auf dem Land.“

„Herrje. Sie sind aber eigensinnig. Das erinnert mich an meinen Sohn“, meinte er dann und nickte. „Also gut, ich werde Ihnen den Wunsch erfüllen.“ Dann wandte er sich an Mel. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Annabelle für ein paar Wochen entführe? Letztlich wird es auch Ihrem Geschäft nützen.“

Mel lächelte. „Nicht, wenn Sie mir versprechen, Sie mir nicht ganz abspenstig zu machen. Ohne sie komme ich nicht mehr zurecht. Sie wollen doch sicher nicht, dass ich wieder einen Herzinfarkt bekomme.“

Guilio schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Cielo. Nur das nicht.“

Alle drei mussten lachen.

Das war vor acht Wochen gewesen. Vier Tage hatte sie nun schon vor der Kamera gestanden und war heute gleich nach den Aufnahmen von Rom nach Ravello gebracht worden, wo die Familie Cavezzali im steilen Vorgebirge hoch über dem Golf von Salerno lebte. Die Stadt, nordöstlich von dem Kurort Amalfi gelegen, nach dem die Cavezzalis ihre Autos benannt hatten, war zwar nicht groß, konnte aber auf eine traditionsreiche Geschichte zurückblicken.

Sie wurde gegen Ende der Römerzeit gegründet. Nicht nur ihre Lage und der weite Blick über das Meer machten sie zu einer Attraktion der Halbinsel Sorrent, sondern auch ihre schönen Häuser und Gärten. Im neunzehnten Jahrhundert kamen bedeutende Künstler aus dem europäischen Ausland dorthin. Inzwischen machten hier Adlige, Filmstars und Scheichs gern Urlaub. Ihre Jachten lagen in den kleinen Häfen unterhalb der Steilküste.

Trotzdem hatte es Annabelle weiter ins Landesinnere gezogen, in die Einsamkeit, wo das Leben noch bescheidener war. Sie brauchte unbedingt Erholung. Seit ihrer Hochzeitsreise nach Mexiko vor vier Jahren hatte sie keinen Urlaub mehr gemacht. Italienische Landschaften und die typischen Bauernhäuser hatten sie schon fasziniert, als sie diese nur von Filmaufnahmen kannte, und eine besondere Sehnsucht in ihr ausgelöst. Deshalb war sie dankbar, dass Guilio ihr dieses Haus zur Verfügung gestellt hatte. Es gehörte zu einem stillgelegten Hof, den der Vater von Guilios erster Frau seinem Enkel Lucca hinterlassen hatte. Seit fünfzehn Jahren stand es schon leer.

Wunderschön war es hier. Zwar blätterte der terrakottafarbene Putz schon von den Mauern, und auch das Türkis der Fensterläden war von der Sonne ausgeblichen, doch das von einem Teppich blühender Gänseblümchen umgebene Gebäude machte keineswegs einen verwahrlosten Eindruck, sondern fügte sich wunderbar in die idyllische Umgebung ein. Morgen früh, bevor sie ein Fahrer um elf Uhr abholte, wollte sie das Gelände erkunden.

Auch von innen gefiel Annabelle ihre Bleibe. Durch die Eingangstür gelangte man unvermutet direkt in die Küche. Sie sah aus, als könnte man hier nach Herzenslust kochen und mit der Familie oder Freunden zusammensitzen und essen. Der Blick von der mit Blumen umwucherten Terrasse auf der Rückseite reichte bis zum Meer. Nach dem Trubel und Lärm in Rom war dies für sie genau der richtige Ort, um sich zu entspannen.

Nachdem sie sich ganz abgeschminkt hatte, ging Annabelle unter die Dusche. Danach fühlte sie sich herrlich erfrischt, zog sich ihren blauen Bademantel an, föhnte sich das Haar und steckte es lose auf. Am nächsten Tag würde die Maskenbildnerin vor dem Shooting wieder eine perfekte Frisur daraus machen.

Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass es das Amalfi – Girl nicht mehr gab. Wenigstens für die Nacht nicht.

Konnte man sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren überhaupt noch als Mädchen bezeichnen? Gelang es den Verwandlungskünstlern, in deren Hände sie sich seit ein paar Tagen begab, tatsächlich die Spuren ihres bewegten Lebens mit Make-up wegzuzaubern? Oder brachte die Kamera sie doch ans Licht? Für Guilio stand fest, dass sie die Richtige für die Aufnahmen war. Er glaubte an sie. Und sie war inzwischen so für ihn eingenommen, dass sie um seinetwillen hoffte, dass er recht behielt. Dafür gab sie ihr Bestes.

Sicherlich würde sein Sohn zutiefst gerührt sein, wenn er erfuhr, was sein Vater zu seinen Ehren alles unternommen hatte. Und sie fühlte mit Guilio mit. Er konnte es kaum erwarten, Lucca zu überraschen, und war über die Maßen auf dessen Reaktion gespannt. Zwei Monate – bis zum August – musste er sich noch gedulden. Der Termin, an dem der Sportwagen in Mailand vorgestellt werden sollte, war auf den Beginn von Luccas Jahresurlaub festgelegt worden.

Extra zu diesem Ereignis wollte Guilio sie wieder nach Italien holen. Sie durfte nicht fehlen bei diesem Spektakel, zu dem natürlich auch die italienischen Fernsehsender und die Presse eingeladen waren. „Die Präsentation wird einschlagen wie ein Blitz“, prophezeite Guilio. „Das tue ich alles nur für meinen Lucca.“

Allmählich wurde Annabelle neugierig auf den Mann. Wahrscheinlich war er ähnlich charmant, tatkräftig und begeisterungsfähig wie sein Vater. Guilio hatte schon angekündigt, dass er ihr unbedingt Fotos von seinem Sohn zeigen wollte. Er hatte dessen ganzes Leben in Alben dokumentiert, bis hin zur Verleihung von Auszeichnungen.

Annabelle schaute aus dem offenen Fenster hinaus in die Dunkelheit, lauschte den Zikaden und konnte wieder nicht fassen, wie viel Glück sie hatte. Es war zwar anstrengend und ungewohnt, vor der Kamera zu stehen, doch immerhin ermöglichte es ihr den Aufenthalt in Italien und in diesem bezaubernden Haus mitten in der Natur. Sie wollte alles in vollen Zügen genießen und nicht darüber nachdenken, dass sie in gut zwei Wochen wieder nach Los Angeles zurückkehren musste.

Nachdem sie ihre Zähne geputzt hatte, schloss sie Fenster und Läden im Bad, knipste das Licht aus und ging in das größte der drei Schlafzimmer, wo sie das Bett schon frisch bezogen vorgefunden hatte. Die kuschelige Atmosphäre ihrer Umgebung hüllte sie ein. Hier hatten über Generationen hinweg Menschen gewohnt und ihre Spuren hinterlassen.

Mit einem Seufzer schlug sie die Decke zurück und ließ sich aufs Bett sinken. Schade, dass sie nicht bei geöffnetem Fenster schlafen durfte. Die Nachtluft war so verführerisch mild und weich wie Seide. Doch Guilio hatte ihr ausdrücklich davon abgeraten.

„Die Gegend ist recht einsam. Man kann nie vorsichtig genug sein.“

Wahrscheinlich hatte er recht. Am nächsten Tag wollte er ihr ein Auto zur Verfügung stellen, damit sie in ihrer Freizeit unabhängig und in der Lage war, allein die Landschaft zu erkunden. Darauf freute sie sich schon.

Als sie die Augen schloss, verspürte sie ein Gefühl von Geborgenheit. Vielleicht waren die Menschen, die hier einmal gelebt hatten, glücklich gewesen, hatten sich geliebt und miteinander gelacht …

Dort, wo sein Land an die Straße grenzte, die sich in Serpentinen den Berg hochwand, forderte Lucca den Fahrer auf, den Wagen anzuhalten. Dann bezahlte er, stieg mühsam aus, nahm seinen schweren Seesack aus dem Kofferraum und wartete, bis er die Rücklichter des Taxis nicht mehr sah.

Der Vollmond schien. Es war längst nach Mitternacht und kein Mensch weit und breit zu sehen, der sich wundern könnte, warum hier jemand um diese Uhrzeit noch unterwegs war. Lucca schaute sich um und atmete die würzige Luft ein. Sofort wurden Erinnerungen an seine Kindheit wach, als seine Mutter noch gelebt und er sich hier zu Hause gefühlt hatte.

Dann begann er mit dem Aufstieg. Jeder Schritt kostete ihn Kraft. Früher war er zwischen den Orangen- und Zitronenbäumen behände wie eine Gämse den Hang hochgeklettert.

Mehr als das Bein quälte ihn, dass er den Absturz überlebt hatte und sein bester Freund, der mit ihm in der Maschine gesessen hatte, dabei ums Leben gekommen war. Unter solchen Schuldgefühlen litten viele Überlebende, wie er inzwischen wusste. Dass nicht menschliches Versagen, sondern technische Fehler die Unfallursache gewesen waren, wie eine Untersuchung bald ergeben hatte, tröstete ihn überhaupt nicht. Auch das sei ganz normal bei Jet-Piloten, hatte ihm der Psychologe versichert. Das machte es allerdings keineswegs leichter.

Er brauchte ein neues Ziel. Nicht nur, weil er als Pilot für die Fliegerei untauglich geworden war. Eine neue Aufgabe würde ihm vielmehr in jeder Hinsicht guttun.

Schon als Jugendlicher hatte er seinem Vater gegenüber geäußert, dass er Landwirt werden wolle. Doch Guilio hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. „Das kommt gar nicht infrage. Deine Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits waren es, bis mein Vater die Amalfi – Werke gegründet hat. Ich werde nicht zulassen, dass mein Sohn einen solchen Rückschritt macht und sich unter glühender Sonne von morgens bis abends abrackert, nur um sich gerade über Wasser halten zu können. Das dulde ich nicht. Schlag dir das aus dem Kopf, und hör auf mich. Du bist ein Cavezzali und ein hervorragender Schüler, der das Zeug zu etwas Besserem hat. Ich möchte, dass du einmal in meine Fußstapfen trittst.“

Nach dieser Standpauke hatte er nie wieder über diesen Berufswunsch gesprochen und war gegen den Willen seines Vaters Offizier geworden. Er hatte aber den Plan, Landwirt zu werden, nicht aufgegeben und seit Jahren etwas von seinem guten Verdienst zur Seite gelegt. Nun war die Zeit gekommen, es zu investieren.

Außer Atem vor Anstrengung blieb er stehen. Hatte sein Großvater Lorenzo auch bei jedem Schritt solche Schmerzen gehabt? Wenn ja, dann ohne jemals ein Wort darüber zu verlieren. Er hatte bis zu seinem Tod hier gearbeitet, obwohl er schwer verletzt aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause gekommen war und ohne Krücke nicht hatte laufen können.

Als Kind war Lucca ihm gern zur Hand gegangen, wie auch seine Mutter, solange sie lebte. Schon sie war hier aufgewachsen und hatte das Landleben geliebt. Ihr wäre es recht gewesen, wenn er die Tradition fortsetzte und hier arbeitete und wohnte.

Der Seesack schien plötzlich immer schwerer zu werden, und Lucca hätte ihn gern eine Weile abgesetzt. Er war sich aber unsicher, ob er in der Lage wäre, ihn wieder auf die Schulter zu heben. Es gab hier zwar genug Obstbäume, an deren Äste er ihn hätte hängen können. Doch hielten sie das Gewicht auch aus? Wahrscheinlich nicht. Jahrelang waren sie nicht mehr beschnitten worden. Sobald er schmerzfrei sein würde, wollte er das vom Großvater geerbte Land wieder in Schuss bringen. Zum Leben reichte es aber wohl nicht. Er brauchte deshalb den Weinberg und den Olivenhain, die sein Vater damals erhalten und bisher verpachtet hatte. Wenn Guilio sie ihm und nicht einem Fremden verkaufte, konnte er den Anfang wagen und später weitere Ländereien erwerben.

Wie gut, dass er seinem Vater schon bei ihrem letzten kurzen Treffen ein Angebot gemacht hatte. Obwohl dessen Reaktion darauf typisch gewesen war: „Wenn du schon Geld in Land investieren willst, Lucca, dann solltest du ein Baugrundstück in der Stadt in Betracht ziehen. Das wäre wenigstens eine gewinnbringende Anlage.“ Statt wie früher so häufig eine Diskussion anzufangen, hatte er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen und seinen Vater nur darum gebeten, mit dem Verkauf noch bis zu seinem Jahresurlaub im August zu warten. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Guilio seiner Bitte nachgekommen war.

Wie gut, dass niemand sah, wie er sich jetzt als Invalide nach Hause schleppte. Am nächsten Tag, wenn er ausgeschlafen und in passabler Verfassung, also schmerzfrei, war, würde er seinen Vater aufsuchen, um mit ihm über das Land zu sprechen. Er musste sich auf ein anstrengendes Gespräch gefasst machen und damit rechnen, dass Guilio ihm sein Vorhaben, von der Landwirtschaft zu leben, auszureden versuchte. Er hatte noch nie Verständnis für ihn gehabt.

Endlich, nach einer Ewigkeit, hatte er den Aufstieg geschafft und stand vor seinem Haus. Wie verlassen es wirkte! „Ungepflegt“, hätte seine Mutter gesagt. Überall befand sich Unkraut zwischen den Blumen, die bis an das Terrassengeländer wucherten. Es war kaum noch zu erkennen, was ihr Tränen in die Augen getrieben hätte. Und erst der Anblick ihres Sohnes. Wie ein Wrack kam er sich vor mit seinen dreiunddreißig Jahren. Um ihn stand es kaum besser als um den Hof. Doch er würde es schaffen, das zu ändern. Wenn ihm nur sein Vater die Zusage nicht verweigerte.

Noch ehe er die Eingangstür erreicht hatte, zog er den Schlüssel aus der Tasche. Er hatte ihn schon lange nicht mehr benutzt. In der Freizeit traf er seinen Vater meist nur für ein paar Stunden in Mailand oder Rom. Das war nun vorbei. Endlich war er wieder zu Hause.

Hier wollte er bleiben, um von dem Land und seiner Hände Arbeit zu leben.

Unerwartet ordentlich sah es in der Küche aus. Er bezahlte zwar eine Frau aus der Nachbarschaft, damit sie alle paar Wochen nach dem Rechten schaute und sauber machte. Jetzt schien es so, als wäre sie gerade erst hier gewesen, was er nicht zu hoffen gewagt hatte. Und endlich konnte er seinen Seesack abstellen. Auf dem Tisch am besten, dann brauchte er sich nicht zu bücken, wenn er ihn auspackte.

Von der Last befreit, hinkte er weiter in den Flur, ließ das Wohnzimmer links liegen und betrat den Raum, in dem er schon als Kind geschlafen hatte, solange seine Mutter noch lebte, und auch später, wenn er bei seinem Großvater übernachtete und nicht bei seinem Dad, der mit ihm fortgezogen war. Auch ohne Licht zu machen, merkte er, dass sich seitdem nichts verändert hatte. Alles stand nach wie vor da, wo es sich immer befunden hatte.

Ob er die Kraft fand, noch das Bett zu beziehen? Jetzt sehnte er sich vor allem nach frischer Luft und dem Zirpen der Zikaden. Deshalb öffnete er das Fenster und stieß die Läden auf. Mit dem Duft und den nächtlichen Geräuschen strömte auch das Mondlicht herein. So schön wie hier war es nirgends auf der Welt. Er konnte das durchaus beurteilen, weil er schon viel von ihr gesehen hatte.

Während er dastand und tief einatmete, wurde der Schmerz in seinem Bein noch stärker. Das lag bestimmt an seiner Erschöpfung. Ohne Tabletten würde er nicht einschlafen können.

Diavolo! Sie befanden sich im Seesack in der Küche. Ein weiter Weg für einen Mann in seinem Zustand. Ihm fiel die Krücke seines Großvaters ein. Bewahrte er sie nicht mit den anderen Erinnerungsstücken im Schrank auf? Gott sei Dank, da war sie tatsächlich. Hoffentlich würde er sie nicht bis ans Ende seiner Tage brauchen wie der alte Lorenzo.

Auf das kostbare Erbstück gestützt schleppte er sich zurück, holte die Pillen hervor und spülte zwei davon mit einem Glas Wasser hinunter. Es schmeckte köstlich und löschte den Durst.

Danach humpelte er mit seinem Waschzeug in der Hand ins Bad und putzte sich die Zähne. Auf dem Rückweg ins Schlafzimmer rutschte ihm auf den Fliesen im Flur plötzlich die Krücke weg. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

Ein dumpfer Schlag weckte Annabelle auf. Irgendetwas musste hinuntergefallen sein. Dann hörte sie einen Schrei und eine Reihe unverständlicher Flüche auf Italienisch. Sie sprang aus dem Bett. Jemand – es hatte nach einem Mann geklungen – musste im Haus sein und sich wehgetan haben. Guilio war es wohl nicht. Er hätte vorher angerufen. Vielleicht gab es so etwas wie einen Hausmeister hier, von dem sie nichts wusste.

Mit klopfendem Herzen warf sie sich den Bademantel über, lief zur Tür und riss sie auf. Eine dunkle Gestalt lag auf dem Boden und versuchte ächzend, wieder auf die Beine zu kommen.

Offenbar war der Eindringling verletzt und hilflos. Deshalb traute sie sich, das Licht einzuschalten. Überrascht wandte der nächtliche Besucher den Kopf und blinzelte, weil ihn die Helligkeit blendete. Es war tatsächlich ein Mann. Er hatte ein Gesicht, in das sich tiefe Linien eingegraben hatten, die sie nur von Schmerzpatienten her kannte, und einen muskulösen Körper, der zwar abgemagert war, ihr aber dennoch Furcht einflößte.

Beherzt griff sie nach der Krücke auf dem Boden und hielt sie ihm drohend entgegen. „Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, und vielleicht verstehen Sie auch kein Englisch, aber wenn Sie noch eine Bewegung machen, werde ich Sie hiermit aufhalten“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor und machte einen Schritt auf ihn zu.

„Das wäre unfair, Signorina. Man schlägt niemanden, der schon am Boden liegt.“

Die Stimme des Fremden klang tief und angenehm, sein Englisch mit leichtem italienischem Akzent war perfekt. Doch dass er sie trotz seiner misslichen Lage und seiner offensichtlichen Behinderung verspottete, gefiel ihr ganz und gar nicht. Deshalb musste sie ihn unbedingt in seine Schranken weisen und durfte ihm ihre Angst nicht zeigen.

„Sie befinden sich auf fremdem Grund und Boden, Signore.“

Er richtete den Oberkörper auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und streckte die langen Beine aus. Wenn er aufstand, konnte er gut und gern einsneunzig groß sein. Und seine Schultern waren breiter, als sie zunächst vermutet hatte.

„Nicht ich, sondern Sie gehören hier nicht her, Signorina. Da ich jetzt unbedingt allein sein möchte, bitte ich Sie, das Feld zu räumen.“

Annabelle schnaufte vor Ärger. „Zufällig weiß ich, dass in diesem Haus seit Jahren niemand mehr wohnt.“

Er schloss die Augen. Auf seiner Stirn und Oberlippe hatten sich Schweißperlen gebildet. Der Mann schien erschöpft zu sein und Schmerzen zu haben. Widerwillig empfand sie Mitgefühl für ihn.

„Trotzdem bin ich der Besitzer und will wissen, was Sie hier verloren haben, Signorina.“

Das fand sie unverschämt. „Sie sind hier eingedrungen. Deshalb stelle ich die Fragen“, fuhr sie ihn an. „Aber vorher möchte ich Ihren Personalausweis sehen.“

Er öffnete mühsam die Lider und schaute Annabelle durch pechschwarze Wimpern an. „Wie schade. So jung und schon so misstrauisch.“

Vor Zorn stieg ihr das Blut in die Wangen. „Was heißt hier schon?“

„Sie sind noch nicht einmal verheiratet“, er deutete mit dem Kinn auf ihre ringlose rechte Hand, „und benehmen sich bereits, als hätten Sie nichts als Enttäuschungen hinter sich. Bei einer Vierzigjährigen könnte ich das ja verstehen.“

Das hätte er nicht sagen dürfen! „Und ich verstehe nicht, wie einer in Ihrem Alter schon zum Zyniker geworden ist. Hat keine Sie genommen, oder konnte es keine mit Ihnen aushalten? Doch das sollte mir eigentlich egal sein. Eins lassen Sie sich allerdings gesagt sein: Sie brauchen einen Rollator und keine Krücke, die Ihnen wegrutschen kann.“

Er presste die Lippen zusammen. Weil ihn ihre Worte getroffen hatten? Oder weil er Schmerzen hatte?

„Signorina“, er schien am Ende seiner Geduld zu sein, „geben Sie doch endlich zu, dass Sie eine abgebrannte Touristin sind, die sich kein Hotelzimmer leisten kann und deshalb in der Gegend nach einem unbewohnten Haus gesucht hat, um sich dort einzunisten.“

Das war eine gemeine Unterstellung. „Und wenn es so wäre?“, fuhr sie ihn an. „Haben Sie sich besser verhalten? Sie schleichen sich nachts in ein verlassenes Gebäude, um Ihre Wunden zu lecken.“

„Wie ein geprügelter Hund, meinen Sie?“

Das klang bitter, und sie bemerkte – daran bestand kein Zweifel –, dass es dem Mann schlecht ging. Es war also sinnlos, sich gegenseitig zu beleidigen.

„Man hat mir das Haus zur Verfügung gestellt. Ich bin hier als Gast und heiße Annabelle Marsh. Und wer sind Sie?“

Er ließ den Kopf gegen die Wand sinken. „Das geht Sie nichts an.“

Weil er seine Augen geschlossen hielt, nutzte sie die Gelegenheit, um ins Schlafzimmer zu laufen und ihr Handy zu holen. Bei ihrer Rückkehr fiel ihr auf, dass seine Lider flatterten, als wäre er in der Zwischenzeit eingenickt.

„Was haben Sie vor?“, murmelte er.

„Ich rufe meinen Arbeitgeber Guilio an. Er wird mir sagen, was mit Ihnen zu tun ist.“

„Kommt nicht infrage!“ Er schnellte auf sie zu, riss sie zu Boden und legte die Beine wie eine Schraubzwinge um sie. Dabei glitt ihr die Krücke aus der Hand und fiel zu Boden. Das Handy gleich hinterher.

„Um diese Zeit belästigt man niemanden mehr.“ Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, als er das sagte.

Es dauerte eine Weile, ehe sie sich von dem Schreck erholt hatte und begriff, dass sie nun in seiner Gewalt war. Warum hatte der Mann sie so plötzlich attackiert? Ihr Mitgefühl für ihn war verschwunden, stattdessen jagte er ihr jetzt noch mehr Angst ein.

„Was haben Sie vor?“ Sie versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen.

„Mich unsichtbar zu machen. Jedenfalls für den Rest dieser Nacht. Und Sie verhalten sich ruhig. Ich lasse nicht zu, dass Sie alles kaputt machen.“

„Ist denn die Polizei hinter Ihnen her?“

Er stöhnte auf und nahm sie mit seinen Beinen noch mehr in die Zange.

„Das wollen Sie natürlich nicht zugeben, weil ich sonst fragen würde, weshalb.“

Er stieß einen qualvollen Laut aus. „Ich stehe auf keiner Fahndungsliste. Verraten Sie mir jetzt vielleicht, wie lange Sie sich schon hier aufhalten?“

Er hielt sie so fest an sich gepresst, dass sie im Rücken seinen Herzschlag spürte. Er war zu schnell. Das Ganze kostete ihn offenbar große Anstrengung und verstärkte gewiss seine Schmerzen.

„Ich bin erst heute Abend in Ravello angekommen“, sagte sie, und sie musste sich eingestehen, dass auch sie sich nichts anderes gewünscht hatte, als unsichtbar zu sein nach den strapaziösen Tagen im ungewohnten Scheinwerferlicht.

„Wann werden Sie ihn wiedersehen?“

Meinte er Guilio? Kannte er ihn etwa?

„Um elf Uhr schickt er jemanden, der mich abholt. Ihn selbst werde ich wohl erst im Lauf des Tages sehen.“

„Was machen Sie denn für ihn?“ Obwohl seine Stimme müde klang, ließ sie seine Beunruhigung erkennen.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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