Sinnliches Wiedersehen in Paris

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Im Licht schimmert ihre nackte Haut atemberaubend: Nur spärlich bekleidet lässt die wunderschöne Amethyst sich von Nathan malen, und die sinnliche Stimmung in seinem Atelier wächst … Dabei endete ihre Liebe vor zehn Jahren in London. Durch ihre Lügen hatte Amethyst einen Skandal heraufbeschworen, der Nathans Zukunft zerstörte. Nur ihretwegen fristet der englische Adlige jetzt das Leben eines mittellosen Künstlers in Paris. Doch die Sehnsucht nach Amethyst brennt stärker denn je in ihm. Stürmisch zieht Nathan sie an sich - und macht eine erschütternde Entdeckung!


  • Erscheinungstag 15.12.2015
  • Bandnummer 0563
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765729
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Madame, je vous assure, ich versichere Ihnen, es gibt keinen Grund, zu überprüfen die Küche.“

„Mademoiselle“, entgegnete Amethyst und schob sich entschieden an Monsieur Le Brun vorbei – oder Monsieur Le Citron, wie sie ihn insgeheim nannte. Er hatte sich diesen Spitznamen verdient, da er seinen Mund immer so säuerlich verzog, wenn sie einem seiner Vorschläge nicht brav zustimmte.

„Ist die Unterkunft nicht zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Die Räume, die ich bisher gesehen habe, sind äußerst angenehm“, gab sie zu. Doch ein klirrendes Geräusch hinter der zerschrammten Tür, die zu der Küche führte, ließ Amethyst aufhorchen. Es klang, als würde Geschirr zerbrechen.

„Das“, Monsieur Le Brun richtete sich zu seiner vollen Größe auf und setzte eine Miene auf, als hätte er in eine Zitrone gebissen, „ist ein sehr unbedeutendes Problem. Und außerdem ist es meine Pflicht, mich zu kümmern um die Angelegenheiten der Dienstboten.“

„Nicht in meinem Haushalt“, erwiderte Amethyst nur leise und stieß entschlossen die Tür auf.

Neben der Spüle kauerte ein Küchenmädchen. Es hatte den Blick auf einen Haufen Scherben gerichtet und weinte. Bei einer Tür, die in einen düsteren Hof führte, entdeckte Amethyst zwei erzürnte Männer, die ein intensives Gespräch führten, das nicht nur eine Flut unverständlicher Worte erforderte, sondern offenbar auch heftiges Armgefuchtel.

„Der Mann mit der Schürze ist unser Koch“, sagte Monsieur Le Brun so dicht an ihrem Ohr, dass Amethyst zusammenzuckte. Sie hatte sich so sehr darauf konzentriert, zu begreifen, was sich hier abspielte, dass sie ihn nicht hatte herankommen hören.

„Er hat den Ruf, zu sein ein Künstler“, fuhr Le Brun fort. „Sie sagten, ich soll einstellen nur die Besten, und das ist er. Der andere ist ein Störenfried, der wohnt im fünften Stock, der sollte vor die Tür gesetzt werden. Falls Sie mir erlauben wollen“, fügte er mit unverhohlenem Sarkasmus hinzu, „werde ich beseitigen das unbedeutende Problem.“

Als sie ihn mit erhobenen Augenbrauen ansah, ergänzte er aalglatt: „Schließlich Sie haben mich engagiert, um für Sie mit den Franzosen zu sprechen.“

Amethyst warf noch einen Blick auf die beiden Männer, auf deren hitziges Wortgefecht sie am liebsten – in welcher Sprache auch immer – verzichtet hätte.

„Nun gut“, gab sie widerwillig nach. „Ich werde auf mein Zimmer gehen und meine Reisetruhen auspacken.“

„Ich werde dorthin kommen und berichten, sobald ich bereinigt habe diese Angelegenheit.“ Er verbeugte sich auf seine durchaus geschickte Art, mit der er weniger seine Hochachtung für sie, sondern vielmehr seinen Spott zu vermitteln wusste.

„Genauso gut hätte er mir die Zunge dabei herausstrecken können“, bemerkte Amethyst ärgerlich zu ihrer Reisegefährtin Fenella Mountsorrel, als sie eines der Schlafzimmer der gemieteten Wohnung betraten. „Ich glaube, ich würde es sogar vorziehen, wenn er es täte.“

„Nun, ich könnte mir vorstellen, dass er seine Arbeit nicht verlieren möchte“, erwiderte Mrs Mountsorrel amüsiert. „Vielleicht“, fügte sie zaghaft hinzu, als sie sah, wie wütend Amethyst an der Schleife ihres Hutes riss, „sollten Sie ihn nicht so offen herausfordern.“

„Wenn ich es nicht täte, wäre er sogar noch unerträglicher.“ Sie schleuderte ihren Hut auf eine Frisierkommode, die neben der Tür stand. „Er würde uns herumkommandieren, als wären wir seine Bediensteten und nicht umgekehrt. Leider gehört er zu jenen Männern, die keiner Frau auch nur einen Funken Verstand zutrauen und annehmen, wir wünschten uns einen großen, starken Mann, an den wir uns anlehnen können und der uns sagt, was wir tun sollen.“

„Einige von uns“, meinte Fenella wehmütig, „hätten nichts gegen einen großen, starken Mann einzuwenden. Oh, nicht um uns von ihm herumkommandieren zu lassen, aber um uns an ihn anlehnen zu können, wenn … wenn das Leben schwierig wird.“

Amethyst verkniff sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Was hatte diese Einstellung ihrer Reisegefährtin eingebracht? Sie hatte dazu geführt, dass Fenella ganz allein in der Welt dastand, und das ohne einen Penny in der Tasche.

Um sich zu beruhigen, atmete Amethyst tief ein, was allerdings nicht viel half. Ungeduldig streifte sie die Handschuhe ab und warf sie gereizt auf ihren Hut.

„Wenn das Leben schwierig wird, finden wir erst heraus, was in uns steckt“, sagte sie und schüttelte ihre langen dunklen Haare – wobei sie zum wiederholten Mal wünschte, sie hätte es sich vor der Abreise kurz schneiden lassen. „Sie und ich, Fenella, sind aus so hartem Holz geschnitzt, dass wir keine anmaßenden, unzuverlässigen, unerträglichen Männer brauchen, die uns vorschreiben, wie wir unser Leben zu führen haben.“

„Und dennoch“, wandte Fenella beharrlich ein, „wären wir nicht so weit gekommen, ohne …“

„Ohne einen Mann für die lästigeren Kleinigkeiten einzustellen, die eine so weite Reise nun einmal mit sich bringt“, stimmte Amethyst zu. „Männer können manchmal sehr nützlich sein, das kann ich nicht leugnen.“

Fenella seufzte. „Nicht alle Männer sind schlecht.“

„Dabei beziehen Sie sich gewiss auf Ihren lieben verstorbenen Frederick“, entgegnete Amethyst scharf, lenkte dann allerdings ein. „Da Sie ihm so zugetan waren, nehme ich jedoch an, dass er über einige gute Eigenschaften verfügt haben muss.“

„Natürlich hatte auch er Fehler. Aber er fehlt mir so, und ich wünschte, er wäre am Leben, um Sophie aufwachsen zu sehen. Und um ihr vielleicht noch einen Bruder oder eine Schwester zu schenken.“

„Wie geht es Sophie jetzt?“, wechselte Amethyst schnell das Thema. Über Fenellas verstorbenen Gatten würden sie nie einer Meinung sein. Die schlichte, ungeschminkte Wahrheit war, dass er seine Witwe völlig mittellos zurückgelassen hatte – noch dazu eine schwangere Witwe. Doch Fenella war nur bereit zuzugeben, dass er nicht sehr weise mit Geld umzugehen vermochte.

Nicht sehr weise? Soweit Amethyst hatte herausfinden können, hatte der Mann Fenellas Mitgift durch einige unvernünftige Investitionen verloren und gleichzeitig weit über seine Verhältnisse gelebt. Nach seinem Tod war es an Fenella, völlig allein einen Weg aus dieser Katastrophe zu finden.

Doch es hatte keinen Zweck, sich über einen Mann zu ärgern, der nicht mehr da war, um sich zu verteidigen. Wann immer sie ihre Meinung offen geäußert hatte, war es ihr nur gelungen, Fenella zu betrüben. Und nichts lag Amethyst ferner.

„Sophie war noch immer fürchterlich blass, als Francine sie ins Bett brachte“, antwortete Fenella besorgt.

„Ich bin sicher, das Nickerchen wird ihr guttun, und nach einem leichten Imbiss wird sie gewiss wieder so munter sein wie eh und je.“

Nach nur zehn Meilen war ihnen klar geworden, dass Sophie die Reise nicht sehr gut bekam. So bequem die Federung der Kutsche auch war, ob Sophie sich nun in Fahrtrichtung setzte oder dagegen, sich hinlegte, den Kopf auf den Schoß ihrer Mutter oder auf ein Kissen bettete – nichts half, sie litt die ganze Zeit an Übelkeit.

So hatte die Reise doppelt so lange gedauert, als Monsieur Sauertopf geplant hatte, da Sophie nach jedem Reisetag einen Tag zur Erholung gebraucht hatte.

„Wenn wir die Termine verpassen, die Sie für uns arrangiert haben, dann ist es eben so“, hatte Amethyst erwidert, als Le Brun sie darauf hinwies, dass die Verzögerung sie um einige lukrative Verträge bringen könnte. „Falls Sie glauben, mir sind finanzielle Erwägungen wichtiger als das Wohlergehen dieses Kindes, irren Sie sich sehr.“

„Da ist aber auch die Frage der Unterkunft. Jetzt in diesem Herbst wollen so viele Menschen Paris besuchen, dass selbst ich“, und er schlug sich auf die Brust, um seine Worte zu unterstreichen, „werde Schwierigkeiten haben, etwas anderes zu finden, das Ihren besonderen Anforderungen entspricht.“

„Können Sie nicht schreiben, dass die vorbestellten Räume auf jeden Fall bezahlt werden, selbst wenn wir erst später ankommen? Und dann müssen Sie eben versuchen, neue Termine für uns zu vereinbaren.“

„Madame, Sie müssen wissen, dass Frankreich im Moment nahezu überflutet wird von Ihren Landsleuten. Alle sind darauf aus, Geschäfte zu machen. Schon seit mehreren Monaten. Selbst wenn wir pünktlich wären und Sie die Termine einhalten könnten, wer kann sagen, ob man auch Geschäfte mit Ihnen machen wird? Ihre Konkurrenten unterbieten Sie vielleicht …“

„Dann unterbieten sie mich eben“, hatte Amethyst ihn angefahren. „Möglicherweise werde ich sogar die Gelegenheit verpassen, meine Geschäfte auf dem Kontinent auszubauen. Aber das ist mein Problem, nicht Ihres. Wir werden dennoch Ihre Dienste als Reiseführer benötigen, falls es das ist, was Ihnen Sorge bereitet. Wir werden diese Reise einfach als Vergnügungsreise betrachten und sie genießen, statt sie nur als Vorwand für unseren Aufenthalt in Paris zu nutzen.“

Er hatte etwas Unverständliches gemurmelt, doch offenbar hatte er ihre Anweisungen ausgeführt, denn sie hatten problemlos eine Unterkunft gefunden. Auch warteten bereits mehrere Briefe von Händlern, die ein Interesse an den Waren aus Amethysts Fabriken bekundet hatten, auf sie.

In diesem Moment wurde sie durch ein Klopfen an der Tür aus ihren Gedanken gerissen. Es war das besonders überhebliche Klopfen des Monsieur Le Citron. Auf unerklärliche Weise gelang es ihm immer, den Eindruck zu vermitteln, als hätte er eigentlich das Recht, einfach so hereinzuspazieren, und als würde er sich nur aus Rücksicht auf die zart besaitete Natur seiner weiblichen Schützlinge zu einem Klopfen herablassen.

„Das Problem in der Küche“, sagte er, kaum dass er eingetreten war – und das, ohne darauf zu warten, hereingebeten zu werden, wie Amethyst gereizt feststellte –, „ist doch recht ernst, fürchte ich.“

„Ach?“ Es war natürlich ziemlich gemein von ihr, trotzdem genoss sie die Tatsache, dass etwas geschehen war, das sich seiner Kontrolle entzog – besonders, da er gern den Eindruck vermittelte, jede Situation in den Griff zu bekommen. „War es also nicht so unbedeutend?“

„Der Koch“, fuhr er fort, ohne auf ihren Einwurf zu achten, „sagt mir, es kann nicht das Mahl geben, das er seinem neuen Gast gern an Ihrem ersten Abend in Paris servieren würde.“

„Kein Abendessen?“

„Keins, wie es ihm gefallen würde, nein. Es liegt an dem Gemüse, Sie verstehen, das man eigentlich nicht mehr servieren kann, nicht einmal Engländern. Dafür entschuldige ich mich. Es sind seine Worte, nicht meine.“

„Natürlich nicht.“ Dennoch hatte es ihm offensichtlich große Freude bereitet, die Worte des Koches zu wiederholen.

„Weil“, fuhr er fort, und ein Zucken um seine Mundwinkel sah verdächtig nach dem Anflug eines Grinsens aus, „wir so viele Tage später gekommen sind, als er erwartete.“

Mit anderen Worten, dass es ein Problem gab, war natürlich ihre Schuld. Zweifellos glaubte er, dass keine Frau ein Geschäft leiten konnte und erst recht nicht versuchen sollte, es auch noch auszuweiten. „Ich will jedoch einen Vorschlag machen, wie wir dieses Hindernis überwinden können.“

„Ach?“

„In der Tat“, meinte er mit einem so selbstzufriedenen Lächeln, dass Amethyst kurz davor war, ihn auf der Stelle zu entlassen. Das würde ihm hoffentlich zeigen, wer hier das Sagen hatte.

Allerdings würde sie dann einen Ersatz für ihn finden müssen – der sehr wahrscheinlich ebenso von sich selbst überzeugt sein würde wie er. Sie selbst würde wieder von vorn anfangen und ihm alles über ihre Ware beibringen müssen, über die Preise, zu denen sie ein Geschäft eingehen würde, über die Produktionszeitpläne und noch so vieles mehr.

„Für heute Abend“, schlug er vor, „wäre es für Sie und Madame Mountsorrel gewiss etwas ganz Neuartiges, zu essen in einem Restaurant.“

Bevor sie darüber nachdenken konnte, ob er wieder die Gelegenheit ergriff, sich über ihre provinzielle Herkunft lustig zu machen, fuhr er fort: „Die meisten Ihrer Landsleute sind sehr darauf erpicht, an ihrem ersten Abend in Paris im Palais Royal zu speisen.“

Der Vorschlag war so vernünftig, dass es Monsieur Le Brun gelang, sie sofort zu überzeugen. Auf diese Weise würden sie genau wie jene gewöhnlichen Touristen wirken, für die sie gehalten werden wollten.

„Bevor Sie den Einwand hervorbringen, man könne Sophie nicht allein lassen“, fügte er rasch hinzu, „habe ich den Koch gebeten, dem Kind etwas zuzubereiten, das ihr schon einmal den Magen besänftigt hat, wie mir aufgefallen ist. Er hat mir zugesichert, dass es ihm ein Leichtes sein wird.“ Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich habe außerdem mit Mademoiselle Francine gesprochen, die bereit ist, statt Sophies Mama an dem Bettchen zu sitzen – dieses eine Mal – für den Fall, dass die Kleine aufwachen sollte.“

„Sie scheinen ja an alles gedacht zu haben“, gab Amethyst widerwillig zu.

„Dafür bezahlen Sie mich“, erwiderte er und hob hochmütig eine Augenbraue.

Das stimmte natürlich, aber musste er es so oft zur Sprache bringen?

„Was meinst du, Fenella? Bringst du es über dich, heute Abend auszugehen und Sophie zu Hause zu lassen? Vielleicht bist du ja zu müde?“

„Zu müde, um an einem jener Orte zu speisen, von denen wir so viel gelesen haben? Oh nein, ganz gewiss nicht!“

Kaum war Bonaparte besiegt und auf die winzige Insel Elba verbannt worden, strömten englische Vergnügungsreisende zuhauf nach Frankreich, einem Land, zu dem ihnen gut zwanzig Jahre lang der Zugang verwehrt gewesen war. Jetzt füllten sie Zeitungen und Journale mit Berichten über ihre Erlebnisse.

Je mehr schwärmerische Artikel sie über die Schönheiten von Paris gelesen hatte, umso mehr wuchs Amethysts Sehnsucht, dorthin zu reisen und alles mit eigenen Augen zu sehen. Also hatte sie ihren Geschäftsführer Mr Jobbings davon unterrichtet, dass sie herausfinden wollte, ob sie einen neuen Markt für ihre Waren erschließen könnte, nun, da die Handelssperre aufgehoben war. Und das beabsichtigte sie auch wirklich. Sie hatte bereits mehrere Verabredungen getroffen, zu denen sie Monsieur Le Brun als ihren Stellvertreter schicken würde, da sie annahm, dass französische Händler ebenso wenig geneigt waren, mit einer Frau Geschäfte zu machen, wie englische.

Dennoch wollte sie, so lange sie hier in dieser Stadt war, so viel sehen und erleben wie nur möglich.

„Dann ist es also abgemacht.“ Amethyst war so erfreut über Fenellas Begeisterung, dass sie ihren unablässigen Ärger über Monsieur Le Brun für einen Moment vergessen konnte.

Sie lächelte ihn sogar an. „Gibt es ein bestimmtes Etablissement im Palais Royal, das Sie uns empfehlen?“

„Ich?“ Er starrte sie an.

Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass er sie lächeln sah. Bisher hatte sie es nicht gewagt, in seiner Nähe unachtsam zu sein. Sie hatte immer zuerst jeden seiner Vorschläge hinterfragt und jede seiner Entscheidungen überprüft, um ganz sicherzugehen, dass er nicht versuchte, sie auf irgendeine Weise zu hintergehen.

Er hatte sie nach Paris gebracht, zwar nicht so schnell wie geplant, doch recht bequem. Bisher hatte er sich kein einziges Mal unredlich benommen.

Allmählich glaubte sie, davon ausgehen zu können, dass er es auch in Zukunft nicht wagen würde. Außerdem ließ sie Fenella jedes Schreiben überprüfen, das er für sie verfasste. Fenella konnte man gewiss nicht nachsagen, sie verstünde kein Französisch. Nach Monsieur Le Bruns Reaktion zu schließen, als er sie das erste Mal sprechen hörte, musste es ausgezeichnet sein.

Inzwischen hatte er sich offenbar von seiner Verblüffung erholt. „Das beste, das wirklich allerbeste, wäre wohl das ‚Very Frères‘. In jedem Fall ist es das teuerste.“

Sie rümpfte die Nase. Das klang genau nach der Art von Lokalität, zu der die Menschen gingen, um sich wichtigzutun. Zweifellos würde es dort von Earls, Lords und ihren Begleiterinnen nur so wimmeln.

„Das ‚Mille Colonnes‘ ist sehr beliebt bei den Engländern. Jedoch werden die Besucher wohl schon Schlange stehen, bevor wir dort ankommen.“

Amethyst hob die Augenbrauen und sofort nahm Le Brun ihre unausgesprochene Herausforderung an. „Es gibt sehr viele ebenso hervorragende Lokale, zu denen ich Sie ohne Bedenken begleiten würde. Das ‚Le Caveau‘ zum Beispiel, wo Sie für zwei oder drei Francs ein exzellentes Mahl mit Suppe, Fisch, Fleisch, Dessert und einer Flasche Wein können genießen.“

Da Amethyst sich bereits eingehend mit dem Wechselkurs beschäftigt hatte, schürzte sie zweifelnd die Lippen. Sie würden doch wohl kaum für so wenig Geld etwas so Köstliches bekommen?

Trotzdem äußerte sie ihr Misstrauen nicht. Wahrscheinlich war ihm ihre Miene nicht entgangen, als er von den teureren Restaurants gesprochen hatte, und jetzt versuchte er lediglich, ihr etwas Günstigeres vorzuschlagen. Er war schließlich kein Dummkopf. Seine Art mochte ja selbstgefällig sein, aber sie musste ihm zugestehen, dass er aufmerksam und scharfsinnig war. Weil sie ihn für heute bereits genügend gequält hatte und Fenella dazu neigte, sich aufzuregen, wenn sie sich in ihrer Gegenwart stritten, verkündete Amethyst gnädig, dass ihr „Le Caveau“ die beste Wahl zu sein schien.

Bald schon hatten sie und Fenella sich umgezogen, einer schläfrigen Sophie einen Gutenachtkuss gegeben und waren auf die schwach erleuchteten Straßen von Paris hinausgetreten.

Paris! Sie war tatsächlich in Paris. Nichts konnte der Welt deutlicher beweisen, dass sie eine unabhängige Frau war. Dass sie bereit war, Neues auszuprobieren und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Dass sie für die Tollheiten ihrer Jugend gezahlt hatte und nicht daran dachte, ihr Klosterdasein fortzuführen, als würde sie sich wegen irgendetwas schämen. Denn sie hatte nichts getan, wofür sich schämen müsste.

Selbstverständlich war sie nicht so erpicht darauf, ihre neu gewonnene Freiheit auszukosten, dass sie alle Grundsätze ihrer verstorbenen Tante Georgie preisgeben würde. Zumindest nicht, solange sie praktisch waren. Für ihren Ausflug ins „Le Caveau“ trug sie ein schlichtes, vernünftiges Kleid, wie sie es auch für einen Besuch bei einer Bank in der Londoner City gewählt hätte. Monsieur Le Brun hatte, wenn auch nur mit Mühe, einen Schauder unterdrückt, als sie aus ihrem Zimmer gekommen war.

Provinziell, dachte er gewiss. In seinen Augen war sie sicherlich ein unbedeutender Niemand, weil sie einen Hut trug, der mindestens seit drei Jahren aus der Mode war.

Allerdings war es sehr viel besser, wenn die Menschen sie unterschätzten und übersahen, als wenn sie glaubten, es würde sich lohnen, sie zu betrügen. Hätte sie sich in einer großartigen Kutsche auf den Weg zum Kontinent aufgemacht, mit einer ganzen Schar von Bediensteten und Bergen von Gepäck, und in jedem Gasthaus, an dem sie Halt gemacht hatten, einen riesigen Aufwand veranstaltet, hätte sie sich ebenso gut ein Schild um den Hals hängen können, auf dem sie verkündete: „Reiche Frau! Kommt und beraubt mich!“

Zwar hatten sie ab und zu Unhöflichkeit und Unbequemlichkeiten hinnehmen müssen, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu bestehlen.

Abgesehen davon gab es noch einen Vorteil, nicht in feine Seide gekleidet zu sein, wie sie bald feststellte. „Ich kann kaum fassen, wie schmutzig es hier überall ist“, beschwerte sie sich und hob ihre Röcke. „Als würden wir einen schlammigen Feldweg entlanggehen, der zu einem Schweinestall führt.“

„Ich schlug Ihnen vor, besser eine Sänfte zu mieten“, entgegnete Monsieur Le Brun ungehalten.

„Oh, das können wir unmöglich tun“, warf Fenella beschwichtigend ein. „Wir sind keine piekfeinen Damen und hätten uns äußerst unbehaglich gefühlt, durch die Straßen getragen zu werden wie …“

„Pakete“, beendete Amethyst ihren Satz.

„Außerdem“, fuhr Fenella hastig fort, „sehen wir viel mehr von Ihrer wunderschönen Stadt, Monsieur, wenn wir zu Fuß gehen, als wenn wir durch die Vorhänge irgendeines Gefährts schauen würden. So fühlen wir uns sehr viel mehr als ein Teil der Stadt.“

„Das kann man zweifellos sagen. Der Schlamm scheint wirklich ein fester Teil meines Rockes geworden zu sein“, bemerkte Amethyst trocken.

Gleich darauf betraten sie durch einen Torbogen einen riesigen, strahlend hell erleuchteten Platz, der jeden weiteren herablassenden Kommentar auf ihren Lippen ersterben ließ.

Monsieur Le Brun lächelte selbstzufrieden, während beide Damen staunend den Anblick betrachteten, der sich ihnen darbot.

Das Palais Royal ließ sich mit nichts vergleichen, was Amethyst je gesehen hatte. Es waren nicht nur die unzähligen, erleuchteten Fenster, die sie ungläubig blinzeln ließen, sondern die Unmenge an Menschen, von denen es hier nur so wimmelte, alle ganz offensichtlich darauf versessen, sich gut zu unterhalten. Nach dem Variantenreichtum ihrer Bekleidung zu urteilen, mussten sie aus allen Teilen der Erde stammen.

„Hier entlang.“ Monsieur Le Brun nahm sie fest am Ellbogen, als sie den Schritt verlangsamte, um in eins der hell erleuchteten Fenster eines ebenerdigen Etablissements zu sehen. „Dieser Ort schickt sich nicht für Damen für Sie.“

In der Tat hatte der flüchtige Blick auf die vielen uniformierten Soldaten und das lockere Verhalten der Frauen in deren Gesellschaft genügt, um auch Amethyst von dieser Tatsache zu überzeugen.

Zum ersten Mal schüttelte sie Monsieur Le Bruns Hand nicht ab. Es war alles sehr viel aufregender, als sie sich vorgestellt hatte. Sie hatte schon die Reise nach London, um sich nach dem Tod ihrer Tante von ihren Bankiers beraten zu lassen, recht beängstigend gefunden – so laut und voller Trubel war ihr die Hauptstadt im Vergleich zu der verschlafenen Beschaulichkeit in Stanton Basset vorgekommen. Doch die unglaubliche Lebhaftigkeit einer Nacht in Paris übertraf selbst Londons Geschäftigkeit.

Zu ihrer Erleichterung betraten sie schon bald das gesuchte Restaurant und ihr Staunen kannte keine Grenzen mehr. Zwar hatte Monsieur Le Brun ihr erzählt, wie preiswert dieses Lokal war, dennoch übertraf es bei Weitem ihre Erwartungen. Sie hatte einmal durch die verrußten Fenster eines Londoner Restaurants gelugt und natürlich angenommen, ein billiges Restaurant in Paris ließe sich mit einem solchen vergleichen. Stattdessen labte sie sich am Anblick der riesigen Spiegel und antiken Säulen, an versteckten Nischen mit eleganten Statuen, Tischen, die mit glänzendem Besteck und Kristallgläsern gedeckt waren, farbenfroh gekleideten Gästen und aufmerksam hin- und hereilenden Kellnern.

Das Essen war ganz und gar nicht von derselben Qualität wie jenes in den verschiedenen Wirtshäusern, wo sie unterwegs gehalten hatten, sondern mindestens so gut wie die Mahlzeiten, die sie in den vornehmsten Häusern daheim in ihrer Grafschaft gekostet hatte.

Was sie aber ganz besonders begeisterte, war die Tatsache, dass dieses Unternehmen von einer Frau geführt wurde. Sie saß neben dem Eingang, wies den Gästen einen geeigneten Tisch zu, nahm die Bezahlung entgegen und hakte die Summe in einem dicken Reservierungsbuch ab, das offen vor ihr auf dem großen Tisch lag.

Und niemand schien dies seltsam oder ungehörig zu finden.

Gerade hatte man ihnen das Dessert serviert, als ein Mann eintrat, bei dessen Anblick Monsieur Le Brun voller Abneigung den Mund verzog. Amethyst folgte neugierig seinem Blick und erstarrte. Ihre Hand verharrte mit dem Löffel auf halbem Weg zum Mund in der Luft.

Nathan Harcourt.

Der skandalumwitterte Nathan Harcourt.

Ihr wurde ganz heiß, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Trotz des wundervollen Mahls stieg leichte Übelkeit in ihr auf.

Die Frage, die sie seit Jahren quälte und tiefe Verzweiflung in ihr hervorrief, drängte sich wieder in den Vordergrund. Wie konntest du mir das antun, Nathan? Wie konntest du nur?

Sie wollte aufstehen, den Raum durchqueren und den Mann schlagen, den die Besitzerin des Restaurants gerade begeistert auf die Wangen küsste. Jetzt war es zu spät dafür. Sie hätte ihn in jener Nacht ohrfeigen sollen, als er sie wie Luft behandelte, nachdem er mit fast jeder anderen Dame auf dem Ball getanzt hatte – in der Nacht, als er ihr das Herz brach.

Jedenfalls scheint er sich nicht verändert zu haben, was seine Neigung angeht, seine Gunst großzügig zu verschenken, stellte Amethyst fest. Die Besitzerin des Lokals, die ihnen lediglich majestätisch zugenickt hatte, als sie eingetreten waren, drückte Nathan mit einem Überschwang an sich, dass man meinen sollte, sie wolle ihn an ihrem üppigen Busen ersticken.

Was ihm nur recht geschähe.

„Dieser Mann“, bemerkte Monsieur Le Brun mit besonders saurer Miene, „dürfte hier gar nicht geduldet werden. Aber wie Sie sehen, ist Madame ihm sehr zugetan, also werden die Gäste notgedrungen seiner Impertinenz ausgesetzt. Es ist bedauernswert, jedoch kein unüberwindliches Problem. Ich werde nicht zulassen, dass er Sie belästigt.“

Doch dafür war es bereits zu spät. Allein seine Ankunft stellte schon ein Belästigung für sie dar, selbst wenn Monsieur Le Bruns Worte ihre Neugier weckten.

„Was meinen Sie damit, dass die Gäste seiner Impertinenz ausgesetzt sind?“

„Er malt Porträts. Schnelle Zeichnungen zur Belustigung der Besucher der Stadt.“

Als wolle er Le Bruns Worte bestätigen, holte Nathan Harcourt einen kleinen Schemel aus der Umhängetasche, die er über die Schulter geworfen hatte, und nahm darauf neben einem Tisch in der Nähe des Eingangs Platz. Aus derselben Tasche brachte er einen Kohlestift zum Vorschein und begann, die Gäste an diesem Tisch zu skizzieren.

„Porträts? Nathan Harcourt?“

Monsieur Le Brun hob die Augenbrauen. „Sie kennen diesen Mann? Ich hätte nie gedacht … ich meine“, fasste er sich schnell und setzte wieder seine gewohnt herablassende Miene auf, „obwohl er ein Landsmann von Ihnen ist, hätte ich nicht gedacht, dass Sie und er in denselben Kreisen könnten verkehren.“

„In letzter Zeit nicht mehr“, gab sie zu. „Früher allerdings schon.“

Vor ganzen zehn Jahren, um genau zu sein. Damals wusste sie noch nichts über die Natur der Männer. Sie war viel zu behütet aufgewachsen, um auch nur zu ahnen, wie sie sich vor einem Menschen wie diesem schützen sollte.

Doch jetzt standen die Dinge anders. Ganz anders für sie selbst, und wie es aussah, auch für ihn. Sie musterte ihn nachdenklich und bemerkte durchaus Veränderungen.

Einige davon ließen sich auf die Jahre zurückführen, die inzwischen vergangen waren. Sein Gesicht war schmaler, im einst rabenschwarzen Haar glitzerten vereinzelt dünne silberne Strähnen. Trotzdem war es vor allem seine Aufmachung, die sie glauben ließ, dass es wahr sein musste, was man allgemein munkelte – dass sein schwer geprüfter Vater seinen jüngsten Sohn schließlich verstoßen hatte. Sein Gehrock war zu weit, sein Hut ein leicht lädiertes Exemplar aus Stroh und seine Hosen erinnerten Amethyst an jene, die die Handwerker zu Hause in England trugen. Kurz, er sah regelrecht heruntergekommen aus.

Na, so was. Sie lehnte sich behaglich zurück und betrachtete ihn mit wachsendem Vergnügen. Nachdem ihm das erstaunliche Kunststück gelungen war, sich so anrüchig zu benehmen, dass keine politische Partei es sich leisten konnte, ihn auch nur für die unwichtigste Gemeindewahl als Kandidaten aufzustellen, war er verschwunden. Seitdem kursierten die wildesten Gerüchte. Amethyst hatte angenommen, dass er wie so viele jüngere Söhne vornehmer Familien, die ihrem Namen Schande bereitet hatten, auf den Kontinent verbannt worden war, um fortan ein verschwenderisches, nutzloses Leben zu führen.

Nun jedoch sah es so aus, als wäre sein Vater, der Earl of Finchingfield, tatsächlich so zornig gewesen, wie damals in den Skandalblättern zu lesen war – und ebenso unversöhnlich wie ihr eigener Vater. Denn Nathan Harcourt, der stolze, kaltherzige Nathan Harcourt, sah sich offenbar gezwungen zu arbeiten, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

„Es würde mich nicht im Geringsten belästigen, sollte er an unseren Tisch kommen und seine Arbeit anbieten“, sagte sie und ein leiser Schauer überlief sie. „Tatsächlich würde es mir sogar sehr gefallen, wenn er ein Porträt von mir zeichnen würde.“

Ein Porträt von seiner Hand. Die Vorstellung, er müsste sie um ihre Zeit, um ihr Geld und ihre Gunst bitten, nachdem er vor zehn Jahren zu stolz, zu arrogant und vor allem zu ehrgeizig gewesen war, um seinen Namen mit dem ihren zu verbinden – welch süße Rache!

Heute musste er regelrecht betteln, um zu überleben, was ihm nicht besonders gut gelang, so wie er aussah. Sie selbst hingegen besaß dank Tante Georgie ein so großes Vermögen, dass es ihr nicht einmal gelingen würde, alles auszugeben, selbst wenn sie zehn Leben dafür Zeit hätte.

2. KAPITEL

Nathan erhob sich, überreichte die fertige Zeichnung dem ersten Kunden dieses Abends und streckte die Hand aus, um sich bezahlen zu lassen. Er bedankte sich für die Komplimente und antwortete mit einer witzigen Bemerkung, die offenbar ins Schwarze traf, denn die Gäste lachten herzlich. Doch Nathan war gar nicht bewusst, was er gesagt hatte. Noch immer drehte sich alles in seinem Kopf nach dem Schock, Amethyst Dalby so unerwartet wiederzusehen.

Nach zehn Jahren musste sie ausgerechnet hierher kommen, an einen Ort, den er für sicher gehalten hatte.

Nicht, dass es ihm etwas ausmachte.

Um ihr das zu beweisen, wandte er sich um und ließ den Blick mit gespielter Unbeschwertheit durch den Raum gleiten, hielt inne, als er ihren Tisch streifte, täuschte Erstaunen vor und schlenderte lässig zu ihr hinüber.

Wenn sie die Frechheit besaß, sich in aller Öffentlichkeit zu zeigen, noch dazu in Gesellschaft ihres neuesten Geliebten, wurde es höchste Zeit, die Samthandschuhe abzulegen. Schon lange war er nicht mehr der Meinung, man dürfe eine Dame niemals in Verlegenheit bringen – seit er aufgehört hatte, das Märchen zu glauben, die Frauen seien das schwache Geschlecht.

Das schwache Geschlecht! Passender wäre wohl das raffinierte, hinterlistige Geschlecht. Er war noch keiner Frau begegnet, die nicht irgendein Geheimnis hatte – wenn auch kein so zerstörerisches wie Amethyst.

„Miss Dalby“, sagte er, als er ihren Tisch erreichte. „Welch Überraschung, Sie hier zu sehen.“

„In Paris, meinen Sie?“

„Oder auch an einem anderen Ort“, antwortete er kühl lächelnd. „Ich hätte gedacht …“ Er brach ab, um sie selbst überlegen zu lassen, worauf er mit seiner Bemerkung anspielte. Jedenfalls hatte er keinen Hehl aus seiner Meinung über sie gemacht, als er vor zehn Jahren erkannt hatte, wie heuchlerisch und verlogen sie in Wirklichkeit war. Damals war sie vernünftig genug gewesen, der vornehmen Gesellschaft den Rücken zu kehren und sich wieder aufs Land zurückzuziehen – wie er vermutete.

Nathan hatte sich nicht erlaubt, darüber nachzudenken, was aus ihr geworden sein mochte. Doch jetzt, da sie schon mal hier war, konnte er es genauso gut herausfinden. Sein Blick wanderte flüchtig zu ihrer Hand. Kein Ring. Und sie hatte ihn nicht korrigiert, als er sie mit Miss Dalby angesprochen hatte.

Also schien es ihr nicht gelungen zu sein, irgendeinen armen, arglosen Mann mit ihrer geheuchelten Unschuld in eine Ehe zu locken. Dieser blasse, düster blickende Herr, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt vorkam, war also nicht ihr Gemahl. Aber was dann? Ihr Geliebter?

„Wollen Sie mich nicht vorstellen?“ Er sah vielsagend zu ihrem Begleiter hinüber, während er sich fragte, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.

„Dazu besteht kein Grund“, erwiderte sie mit einem ebenso kühlen Lächeln.

Nein? Nun, vielleicht war es wirklich ein wenig peinlich, einem früheren Liebhaber den jetzigen vorzustellen. Ganz besonders, falls er eifersüchtig war. Nathan musterte den Mann erneut. Als ihre Blicke sich trafen, bemerkte er in den Augen des anderen die gleiche Abneigung. Könnte es sein, dass der Mann sich bedroht fühlte? Womöglich hielt er Nathan für einen Rivalen. Um ehrlich zu sein, war Nathan jünger, sportlicher und sah besser aus als der Kerl, mit dem sie sich hier abgab. Nicht, dass er daran dachte, zu einem Rivalen um ihre Gunst zu werden. Lieber Himmel, nein! Nicht bei Amethyst.

„Immerhin“, fügte sie spöttisch hinzu, „sind Sie wohl kaum an meinen Tisch gekommen, um unsere alte Bekanntschaft aufzufrischen, sondern um zu arbeiten. Habe ich nicht recht?“

Natürlich hatte sie recht. Sie brauchte ihn nicht daran zu erinnern, dass längst vorbei war, was immer sie damals verbunden hatte.

„Ich erklärte Madame, Sie verdienen so Ihren Lebensunterhalt“, warf ihr Begleiter in fast makellosem Englisch, jedoch mit schwerem französischem Akzent ein, „indem Sie ein Porträts für Touristen zeichnen.“

Das stimmte nicht ganz, doch Nathan ließ es durchgehen. Es war … zweckmäßiger für ihn, alle glauben zu lassen, dass er sein Geld mit Zeichnen verdiente. Und es war einfacher.

Deswegen war er ja auch an ihren Tisch getreten. Genau deswegen und aus keinem anderen Grund. Es durfte keinen anderen Grund geben.

„Madame wünscht, dass Sie schnell ihr Porträt zeichnen“, sagte der Franzose.

Amethyst warf ihrem Begleiter einen verärgerten Blick zu. Er erwiderte ihn ohne die geringste Reue. Sehr interessant. Der Franzose hatte das Bedürfnis, sich ihr gegenüber zu behaupten, sie daran zu erinnern, wer von beiden das Sagen hatte. Oder hatte er bereits entdeckt, wie wankelmütig sie sein konnte? Vielleicht wollte er verhindern, dass sie direkt vor seinen Augen mit einem Mann flirtete, der ihr nächster Liebhaber werden könnte.

Kluger Mann. Miss Dalby braucht eine feste Hand, wenn ein Mann sie auf den Platz verweisen will, der ihr zusteht.

Plötzlich stellte er sich vor, wie er genau das tat. Sie lag auf dem Rücken unter ihm und er hielt ihre Hände über ihrem Kopf fest, während er … Hastig verdrängte er diesen Gedanken und beschäftigte sich damit, seinen Schemel aufzustellen und sein Zeichenmaterial hervorzuholen. Kaum eine Minute war er in ihrer Gegenwart und schon erwies er sich ihren Reizen gegenüber so wehrlos wie eh und je. Ihr französischer Geliebter, dem er jetzt im Sitzen absichtlich den Rücken zuwandte, hatte allen Grund, eifersüchtig zu sein. Er musste ja ständig mögliche Konkurrenten abwehren. Welcher Mann aus Fleisch und Blut konnte in der Nähe einer solchen Sirene nicht daran denken, sich von ihr ins Bett locken zu lassen?

Obwohl sie nicht sehr vorteilhaft gekleidet war, ließ sich ihre Schönheit nicht verbergen. Als Mädchen war sie bereits ausgesprochen hübsch gewesen und die vergangenen Jahre schienen daran nichts geändert zu haben. Ihre wohlgeformten Wangenknochen, die pfirsichzarte Haut, die dunklen, geheimnisvollen Augen – alles war, wie er es in Erinnerung hatte.

Was für ein Jammer, dass er für Porträtzeichnungen wie diese nur Kohlestifte bei sich hatte. Für Amethysts Bildnis hätte er gern Farbe verwendet. Später vielleicht würde er dieses Treffen für sich selbst in Farbe festhalten.

Jetzt jedoch flog sein Stift nur so über das Papier und fing die Wölbung ihrer Stirn, den Bogen ihrer Brauen ein. Es war so leicht. Allerdings zeichnete er sie ja nicht zum ersten Mal. Vor Jahren hatte er Stunden damit verbracht, ihr Gesicht, ihre Hände, die Linie ihrer Schultern und die Rundung ihrer Brüste unter ihrem Seidenkleid zu zeichnen. Natürlich nicht in ihrem Beisein, da sie sich als unschuldige Debütantin ausgab. Damals war er zu unerfahren gewesen, um auch nur daran zu denken, ihr körperlich nahezukommen. Aber nachts, allein in seinem Zimmer, wenn er keine Ruhe finden konnte vor Sehnsucht nach ihr – ja, da hatte er sie gezeichnet. Und hatte versucht, ihr Bild, ihr ganzes Wesen zu erfassen.

Was für ein Narr er doch gewesen war!

Er hatte sogar Ölfarben gekauft und versucht, die Farbe ihres bemerkenswerten Haares wiederzugeben. Allerdings hatte er damals noch nicht über das nötige Können dafür verfügt. Wie gern hätte er sich seinen Traum erfüllt und Malunterricht genommen, aber es wurde ihm nicht erlaubt.

„Das ist etwas für junge Damen oder gewöhnliche Menschen“, hatte sein Vater ihn angefahren, als sie darüber sprachen, was er mit seinem Leben anfangen wollte. „Keine passende Betätigung für den Sohn eines Earls“, war die harsche Antwort gewesen, als er seinen Brüdern nicht nacheifern und eine für einen Gentleman angemessene Beschäftigung aufnehmen wollte.

Jetzt hingegen besaß er das nötige Können. Er hatte alles über Licht und Schatten gelernt, über Farben und Perspektive.

Einen Moment lang hielt er inne. Trotz allem, was sein Freund Fielding damals gesagt hatte, war Amethyst nicht lediglich brünett. Noch immer schimmerten jene satten, warmen Farbtöne in ihrem Haar, die ihn an einen guten Portwein erinnerten, wenn man das Glas vor eine Kerze hielt. Fielding hatte ihn ausgelacht, als Nathan ihm von seiner Faszination erzählt hatte, und ihm gutmütig auf die Schulter geklopft. „Dich hat es schwer erwischt, was?“

Er sah auf. Seine Hand schwebte noch immer über der halb fertigen Zeichnung. Damals mochte es ihn tatsächlich schwer erwischt haben, was jedoch ihr Haar anging, so hatte er recht gehabt. Es war wunderschön wie eh und je. Nach zehn Jahren hätte man mit einem vereinzelten silbernen Haar hier und da in der Fülle ihrer dunklen Locken rechnen können, oder vielleicht mit einem Anzeichen dafür, dass sie mithilfe von Färbemitteln versuchte, jung zu erscheinen.

Doch dieses Haar war nicht gefärbt, sonst würde es nicht so weich aussehen, so schimmern, dass es ihm in den Fingern juckte, darüberzustreichen …

Er runzelte die Stirn, senkte den Blick und ging wieder an die Arbeit. Er wollte es nicht berühren, um zu spüren, ob es wirklich so weich war, wie es aussah. Er wusste Schönheit ganz einfach zu schätzen, wenn er sie sah. Schließlich war er ein Künstler. Und er wollte den Mann sehen, der behaupten könnte, dass sie kein wunderschönes Haar besaß, kein hinreißendes Gesicht und keine strahlenden Augen.

All das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass sie reines Gift war.

Wieder blickte er auf – und ihr direkt in die Augen. In Augen, die ihn früher einmal, so hatte er damals geglaubt, voller Bewunderung angesehen hatten. Er lächelte grimmig. Jetzt, da er älter und erfahrener war, fiel es ihm leichter, sie zu durchschauen. Ohne etwas anderes vorzutäuschen, sah sie ihn abschätzig an, herausfordernd und berechnend. Früher hatte sie all das sehr viel besser zu verbergen gewusst.

Oh ja, sie war Gift. Gift in einer verlockenden Verpackung.

Hinter sich hörte er ihren französischen Liebhaber ungeduldig auf dem Stuhl herumrutschen. Wahrscheinlich bedauerte er, Amethyst in dieser Sache nachgegeben zu haben. Es musste ihn ärgern, dabei zusehen zu müssen, wie sie einen anderen Mann so gründlich musterte. Trotzdem unternahm er nichts dagegen, ganz so, als wäre es ihm unmöglich, ihr einen Wunsch auszuschlagen.

Gütiger Himmel, sie musste unglaublich talentiert sein im Bett …

Er presste fest die Lippen zusammen, fügte einige geschickte Striche hinzu, die der Zeichnung mehr Tiefe schenkten. „Hier“, sagte er und warf ihrem Geliebten das fertige Werk zu.

Der Mann sah es an, hob die Augenbrauen und reichte es Amethyst, die es ihm fast aus der Hand riss.

„Das ist ja …“ Sie betrachtete die Zeichnung überaus erstaunt. „Es ist großartig, wenn man bedenkt, wie schnell Sie es fertiggestellt haben.“ Der Ausdruck in ihren Augen verwandelte sich in etwas wie Respekt. Nathan empfand eine tiefe Zufriedenheit – wie immer, wenn jemand sein Talent anerkannte. Seine Gabe.

Man konnte behaupten, er hätte in allen anderen Bereichen seines Lebens versagt, aber niemand konnte leugnen, dass er zeichnen konnte.

„Wie viel verlangen Sie dafür?“

Miss Dalby betrachtete das Bild in ihrer Hand, als könnte sie nicht glauben, was sie sah. Er erhob sich, griff nach seinem Schemel und zuckte mit den Achseln. Schließlich gab er ihr die Antwort, die er allen gab.

„Den Wert, den Sie der Zeichnung zubilligen.“

Welchen Wert? Sie hielt die Zeichnung für unbezahlbar! Sie hätte jede Summe gezahlt, ihn zu ihren Füßen zu sehen wie einen gewöhnlichen Bittsteller. Vor zehn Jahren war er sorglos und ungezwungen gewesen, hatte hier ein Lächeln verschenkt und dort einen anerkennenden Blick auf eine Schönheit geworfen. Sein Auftreten hatte dem eines jungen Gottes geglichen, der auf die Erde gekommen war, um die unbedeutenden Sterblichen mit seiner Gegenwart zu beglücken. Es war ein Vermögen wert, nun erleben zu dürfen, dass er so tief gesunken war – nachdem er vor zehn Jahren befunden hatte, dass sie seiner Aufmerksamkeit nicht mehr würdig war. Plötzlich kam ihr eine köstliche Idee.

„Monsieur Le Brun.“ Er beugte sich zu ihr, sodass sie ihm ins Ohr flüstern konnte. „Ich möchte, dass dieser Mann den Gegenwert von zwanzig Pfund erhält. In französischen Francs.“ Es war der Jahreslohn, den sie ihrem Butler zahlte. „Haben Sie die Summe bei sich?“

Er riss die Augen auf. „Nein, Madame. Eine solche Summe mit mir zu tragen wäre närrisch.“

„Dann heben Sie das Geld von der Bank ab und sorgen dafür, dass er es bekommt. Gleich morgen früh.“

„Aber, Madame …“

„Ich bestehe darauf.“

Nach kurzem Zögern lenkte er ein. „Ich verstehe, Madame“, antwortete er und das auf eine Art, die seltsamerweise seine Zustimmung zu zeigen schien. „Wie Sie wünschen.“

Er griff in die Tasche und holte eine Handvoll Münzen hervor, die er in Harcourts ausgestreckte Hand fallen ließ.

„Bitte geben Sie mir Ihre Adresse“, sagte er. „Ich werde Ihnen den Rest zukommen lassen.“

Nathan verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln, während er seine Adresse auf die Rückseite der Zeichnung kritzelte. Offensichtlich wollte dieser freche Bursche bei ihm vorsprechen, um ihm persönlich zu befehlen, die schöne Dame in Frieden zu lassen, die er wohl als sein Eigentum betrachtete. Der spöttische Gesichtsausdruck des Franzosen bedeutete sicher, dass er Nathan für mittellos hielt. Viele Menschen verfielen demselben Irrtum, weil er alte Kleider trug, wenn er zeichnete. Dabei tat er dies, um sich nicht darum kümmern zu müssen, wenn seine Kohlestifte ihre Spuren auf Jacke, Hemd und Hose hinterließen.

Der französische Liebhaber hatte eindeutig vor, ihn zu überzeugen, dass er gar nicht erst zu versuchen brauchte, um Amethyst zu kämpfen. Vermutlich war er der Ansicht, er besäße die Mittel, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, während Nathan, ein schäbiger umherziehender Künstler, ihr nichts zu bieten hatte.

Abgesehen vielleicht von der Tatsache, dass er jünger war und besser aussah. Plötzlich wurde Nathan von dem fast unwiderstehlichen Wunsch gepackt, sie diesem armseligen Exemplar von einem Mann wegzunehmen. Sie zu umwerben, zu gewinnen und an sich zu binden …, um sie dann wieder von sich zu stoßen.

Weil irgendjemand sie bestrafen sollte, zum Henker, für alles, was er in den vergangenen zehn Jahren durchgemacht hatte! Sie hatte ihm ihre Liebe vorgegaukelt und ihn damit fast zu ihrem Sklaven gemacht. Als er dann erfahren hatte, was sich wirklich hinter ihrer hübschen Fassade verbarg, war er am Boden zerstört gewesen. Nur deshalb hatte er jener katastrophalen Ehe zugestimmt, die seine Familie für ihn arrangiert hatte. Nur deshalb hatte er eine nicht minder katastrophale politische Karriere begonnen, aus der er sich nur hatte befreien können, indem er etwas tat, was ihn für immer aus der Gesellschaft ausschloss.

Oh ja, wenn es in der Welt auch nur einen Hauch von Gerechtigkeit gäbe …

Doch natürlich gab es die nicht. Das war eine Lektion, die ihm das Leben beigebracht hatte. Ehrlichkeit wurde nicht belohnt, und die Verschlagenen waren diejenigen, die die Erde besitzen würden, nicht die Sanftmütigen.

Er ließ die Münzen zusammen mit den Stiften in seiner Tasche verschwinden, setzte das Lächeln auf, das er in all den Jahren als Politiker perfektioniert hatte, bedachte zuerst den Franzosen damit, dann Miss Dalby und schließlich die unscheinbare Frau, die mit ihnen am Tisch saß.

Danach verließ er mit langen Schritten das Restaurant.

„Lieber Himmel“, sagte Mrs Mountsorrel schwach. „Ich habe natürlich von ihm gehört, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass er so …“ Sie errötete und gab in ihrer Verlegenheit nur noch einige unzusammenhängende Laute von sich.

Amethyst konnte nur mit Mühe ihre Ungeduld unterdrücken. Mit diesem eindringlichen Blick aus den klugen haselnussbraunen Augen hatte Nathan schon so manche Frau in völlige Verwirrung gestürzt. Wie viele hatten damals ihr Herz an ihn verloren. Wahrscheinlich hätte selbst Amethysts Puls wieder schneller geschlagen, wenn sie nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, sich an seiner misslichen Lage zu erfreuen. Obwohl sie ihm noch immer nicht vergeben konnte, hätte sein heruntergekommener Anblick ihr Herz vielleicht mit Mitleid erfüllen können. Sie besaß jedoch sie kein Herz mehr, das man rühren konnte.

„Er steht in dem Ruf, kein Gentleman zu sein im Umgang mit den Damen“, warf Monsieur Le Brun ein, säuerlicher denn je zuvor.

„Oh ja, das weiß ich natürlich“, stammelte Fenella. „Miss Dalby liest seine neuesten Eskapaden, wann immer sie in der Zeitung erscheinen. Man stelle sich nur vor, seine Frau war keine fünf Minuten tot, da konnte man schon die fürchterlichsten Gerüchte über ihn hören. Dann fiel er auf so aufsehenerregende Weise in Ungnade, dass kein Zweifel daran besteht, wie wahr diese Gerüchte waren. Hätten die Zeitungen alles nur erfunden, hätte er sie gewiss wegen Verleumdung verklagt.“

„Sie klingen ganz so, als würden Sie ihn finden faszinierend“, sagte Le Brun langsam.

„Oh nein, ich doch nicht. Es ist Amethyst, die mit Interesse sein Leben verfolgt. Ich meine natürlich, Miss Dalby.“

Er wandte sich stirnrunzelnd an sie. „Nun, Madame, ich muss Sie loben, dass Sie jemandem helfen wollen, den Sie kennen von früher. Allerdings ist Großzügigkeit eine Sache, und eine ganz andere, sich von einem allzu charmanten Lächeln täuschen zu lassen.“

Deswegen hatte er dieses eine Mal nicht mit ihr darüber gestritten, wie sie ihr eigenes Geld ausgab. Le Brun glaubte, sie wollte einen Freund, der harte Zeiten durchlebte, großzügig unterstützen.

Wenn er wüsste!

„Es ist recht bedrückend“, bemerkte Fenella, „einen Mann von seinem Stand so tief sinken zu sehen.“

„Das hat er sich nur selbst zuzuschreiben“, entgegnete Amethyst scharf.

Autor

Annie Burrows
<p>Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
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