Skandal um Miss Cassandra

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ist das wirklich Colonel Fairfax? Cassandra kann ihr Glück kaum fassen! Endlich hat sie Gelegenheit, ihrem mutigen Retter zu danken, der sie davor bewahrt hat, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen. Doch statt Wiedersehensfreude spiegelt sich in den Augen des Colonels nur eines: Verachtung! Sein einziges Ziel scheint es zu sein, sie bloßzustellen, wo er nur kann. Warum nur hat er plötzlich eine so schlechte Meinung von ihr? Das kann sie nicht auf sich sitzen lassen. Denn wenn der Colonel weiterhin schlecht von ihr denkt, wird ihr Herz ohne Zweifel brechen …


  • Erscheinungstag 05.07.2022
  • Bandnummer 622
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511315
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Cassandra presste die Nase fest an die Fensterscheibe, als die Kutsche mit Miss Henley von Henley Hall an der Gartenpforte vorüberschwankte.

„Du kannst jetzt vom Fenster zurückkommen“, sagte Tante Eunice vom Schneidertisch aus, an dem sie gerade arbeitete. „Sie ist weg.“

Genau wie die herrlichen Kleider, die Cassandra und ihre Tanten im Lauf der letzten Monate kreiert hatten, oft bis in die Abendstunden hinein.

Ob Miss Henley zum Ball wohl das weiße Musselinkleid mit den lilablassblauen Bändern und dem paillettenbesetzten Überkleid tragen würde, in das Cassandra sich so verliebt hatte? Oder würde sie es, wenn sie erst einmal in London angekommen war, zugunsten der Kreation einer fashionablen Londoner Schneiderin ausmustern? Und das ähnlich leichtherzig, wie sie Cassandra hatte fallen lassen, sobald sie ihrer nicht mehr bedurfte? Miss Henley hatte sich im Vorbeifahren ja nicht einmal aus dem Kutschenfenster gelehnt, um ihr zuzuwinken, wie Cassandra es getan hätte, wenn sie in der Kutsche gesessen hätte und Miss Henley diejenige gewesen wäre, die sich die Hände wund gearbeitet hatte, um nur ja alles rechtzeitig fertig zu bekommen.

Ein schwerer unsichtbarer Mantel schien sich auf Cassandras Schultern herabzusenken, als sie daran dachte, wie viel Mühe sie sich mit jedem einzelnen Kleidungsstück gegeben hatte, das Miss Henley zur Saison nach London mitnehmen wollte! Ihr war so daran gelegen gewesen, dass ihre Garderobe perfekt war, hauptsächlich deswegen, weil sich die junge Frau ihrer Mutter widersetzt hatte, die eine angesehenere Schneiderei mit Ladengeschäft in Exeter hatte beauftragen wollen.

„Niemand anders als meine liebe, liebe Freundin Miss Furnival soll die Kleider machen, die ich in der Stadt tragen werde. Denn jedes Mal, wenn ich etwas anziehe, was sie für mich geschneidert hat, werde ich das Gefühl haben, dass sie im Geiste bei mir ist, und dann werde ich mich nicht so allein fühlen.“

Diese Aussage hatte Cassandra so tief im Innersten berührt, dass sie gar nicht wusste, wie sie mit diesem Gefühl umgehen sollte.

„Du wirst nicht allein sein“, hatte Lady Henley, ihre Mutter, in so scharfem Ton geäußert, dass sich das Gefühl prompt verflüchtigt hatte. „Ich werde bei dir sein. Und dein Papa.“

„Ja, aber ich werde keine Freunde in meinem Alter haben“, wandte Miss Henley schmollend ein. „Und die anderen werden alle so … weltläufig sein und mir gewiss das Gefühl vermitteln, eine schlichte Landpomeranze zu sein, und …“

Ihre großen blauen Augen standen voller Tränen. Worauf Lady Henley kapitulierte.

„Vermutlich spart uns das wenigstens eine Menge Geld“, sagte sie und sah sich in der guten Stube des Cottage um, in der Cassandras Tanten ihr Geschäft führten. „Was deinen Papa freuen wird. Und wir müssen auch keine anstrengenden Fahrten nach Exeter unternehmen, wenn eine Anprobe fällig wird. Also schön, mein Kätzchen. Machen wir es so, wie du willst.“

„Verwöhntes Gör“, brummte Tante Cordelia. Natürlich erst, nachdem die Henleys das Haus verlassen hatten.

„Immerhin ein großer Auftrag“, hatte die stets praktische Tante Eunice erklärt. „Außerdem wird Sir Barnabas pünktlich zahlen.“

„Einer der Vorteile, wenn man einen bibeltreuen Pfarrer hat“, meinte Tante Eunice. „Er würde Feuer und Schwefel auf jeden herabregnen lassen, der ein Schäfchen seiner Gemeinde in Schwierigkeiten bringt, indem er seine Rechnungen nicht bezahlt.“

„Vor allem wenn es sich dabei um zwei alte Jungfern von vornehmer Geburt handelt, die derart verarmt sind, dass sie sich ihren Lebensunterhalt durch Näharbeiten verdienen müssen“, hatte Tante Eunice augenzwinkernd erklärt.

Cassandras Unterlippe begann zu zittern, als Miss Henleys Kutsche um die Kurve bog und erst einmal außer Sicht geriet. Würde die junge Frau überhaupt je an sie denken, während sie sich von irgendeinem flotten jungen Mann durch den Park kutschieren ließ? Oder sich von einem verwegenen Burschen über den Fluss zu einem grasbewachsenen Ufer rudern ließ, wo sich Dutzende von blendend aussehenden jungen Leuten zu einem Picknick versammelten?

Vermutlich nicht, überlegte sie und seufzte auf.

„Ich will ihnen nur nachsehen, bis sie über die Brücke sind“, beantwortete sie schniefend Tante Eunices Aufforderung, sich wieder an die Arbeit zu machen. Es würde wohl eine Weile dauern, bis sie ihre bedrückte Stimmung wieder abgeschüttelt hätte, und sie wollte ihren Tanten keine betrübte Miene präsentieren, da dies ein wenig undankbar hätte wirken können.

„Du wirst wohl nicht sehen können, wie sie über die Brücke fahren“, sagte Tante Eunice, ehe Tante Cordelia sie zum Schweigen brachte.

„Das Kind könnte doch einen Blick auf die Koffer auf dem Kutschendach erhaschen, wenn sie die höchste Stelle erreicht haben.“

Ja, die Koffer. Und da waren sie schon! Sie konnte sie nun ausmachen, da die Kutsche den Scheitelpunkt der schmalen Brücke über den Teene erreicht hatte. Jeder von ihnen war bis zum Bersten gefüllt mit Kleidern, bei deren Herstellung sie mitgewirkt hatte, Kleider, die nun nach London unterwegs waren, einem Ort, den sie noch nie gesehen hatte und jetzt wohl kaum noch zu Gesicht bekommen würde, auch wenn das eine Erfahrung war, welche die meisten jungen Frauen ihres Alters und ihrer gesellschaftlichen Stellung als ihr gutes Recht betrachteten.

Weil sie den Fatalen Irrtum begangen hatte.

„Lass sie doch, Eunice“, sagte Tante Cordelia. „Es kann nicht leicht sein, dabei zuzusehen, wie diese eingebildete kleine Prinzessin in die Stadt abdampft, während unsere Cassy …“

So dumm gewesen war, einem attraktiven Gesicht, einem scharlachroten Rock und einem freundlichen Auftreten zu vertrauen …

Ach herrje, jetzt fing ihre Unterlippe schon wieder an zu zittern.

Sie fischte in ihrer Schürzentasche nach einem Taschentuch und tupfte sich verstohlen das linke Auge ab, das trotz ihrer Entschlossenheit, nicht zu weinen, überzulaufen drohte. Sie wollte ihre Tanten keinesfalls sehen lassen, dass sie den Tränen nahe war. Sonst würden sie noch glauben, sie wäre mit ihrem Los nicht zufrieden. Was einfach schrecklich … illoyal gewesen wäre. Denn wenn sie sie nicht aufgenommen und ihr ehrliche Arbeit gegeben hätten, hätte sie leicht irgendwo tot im Straßengraben enden können. Oder, schlimmer noch, am Leben bleiben und sich ihren Unterhalt mit …

Sie riss sich zusammen, schließlich waren ihr derartige Schrecken erspart geblieben. Denn ihre Tanten hatten sie ja wirklich aufgenommen. Während ihre eigene Mutter und ihr Stiefvater sich geweigert hatten, ihr zu helfen, weil sie angeblich Schande über sie bringen und zudem den Ruf ihres kleinen Bruders ruinieren würde.

Es war richtig, dass ihr Tante Cordelia, die eigentlich gar nicht ihre richtige Tante war, sondern nur eine entfernte Cousine ihrer Mutter, die Tür nur sehr widerstrebend geöffnet hatte. Doch das hatte nichts mit Cassandras Verfehlungen zu tun gehabt.

„Wir verkehren nicht länger in Gesellschaftskreisen“, hatte sie schroff gesagt. „Nicht seit wir unseren gemeinsamen Hausstand gegründet haben. Und wenn du bei uns einziehst, wird sich der Rest der Familie von dir abwenden, weil alle glauben werden, du ließest dich … ähm … anstecken von unserer Art der …“

„Exzentrizität“, vollendete Tante Eunice den Satz, nachdem Tante Cordelia ins Stottern geraten war.

„Ja, das ist wohl noch die angenehmste Art, wie sie unser Arrangement beschreiben würden“, meinte Tante Cordelia nachdenklich.

Damals hatte Cassandra nicht gewusst, was sie gemeint hatten. Und so hatte sie einfach gesagt, dass es keinen Unterschied mache, weil ihre unmittelbare Familie ohnehin nichts mehr mit ihr zu tun haben wolle. Ihr Stiefvater habe sie gewarnt, dass er dafür sorgen werde.

„Nun, hier hat er nichts zu sagen“, erklärte Tante Cordelia entschlossen. „Ich hatte nie viel übrig für diesen alten Lüstling, der deine Mutter nur ihres Geldes wegen geheiratet hat. Was die anderen angeht … nun ja, sie alle haben sich schon vor vielen Jahren von mir abgewendet, weil ich es vorzog, einen Hausstand mit meiner lieben Freundin zu gründen, statt irgendeinen einfältigen Burschen zu heiraten. Aber … deswegen bist du ja auch zu mir gekommen, nicht wahr?“

Cassandra nickte.

„Dann kannst du ein Weilchen bleiben und schauen, wie wir miteinander auskommen.“

Gut kamen sie miteinander aus, immer noch.

Cassandra schnäuzte sich. Vielleicht war sie hier nicht direkt glücklich geworden, aber sie war zufrieden. Ihre Tanten hatten ihr nie das Gefühl vermittelt, sie wäre eine Versagerin, eine Enttäuschung oder eine Last. Im Gegenteil, sie ließen sie spüren, dass sie einen wertvollen Beitrag zum Haushaltseinkommen leistete, da sie die Nadel so flink und akkurat zu führen wusste. Was ironischerweise auf ihren Stiefvater zurückzuführen war, weil der darauf bestanden hatte, dass sie und ihre Mutter ihre Kleider selbst nähten, statt sie bei einer Schneiderin fertigen zu lassen.

An Tagen wie diesen jedoch, an denen die Wolken aussahen, als könnten sie sich jeden Augenblick teilen und die Sonne durchlassen, und sich die spitzen Laubblätter der Narzissen durch den kalten Erdboden bohrten und alle Menschen neue Hoffnung schöpften, war sie immer besonders anfällig für Reuegefühle.

Und so dachte Cassandra, dass sie sich erst dann wieder auf ein Gespräch mit ihren Tanten einlassen sollte, wenn sie sich selbst besser unter Kontrolle hatte. Daher blieb sie, wo sie war, und blickte aus dem Fenster, das auf den Vorgarten hinausging und die Straße, die irgendwann auf die Straße nach London stieß. Und hielt ihr Taschentuch bereit.

Gerade als sie sich die Nase zum vierten und bestimmt letzten Mal geputzt hatte, entdeckte sie das Oberteil einer Kutsche, die über die steile Bogenbrücke fuhr.

„Oh“, sagte sie. „Es sieht so aus, als hätte Miss Henley etwas vergessen. Zumindest … nein, ich glaube gar nicht, dass das ihre Kutsche ist, die da über die Brücke kommt. Auf dem Dach sind keine Koffer festgeschnallt. Ach, und ihr solltet erst mal die Pferde sehen! Ein Vierergespann. Lauter Schimmel.“ Und den Rappen und Füchsen, die Sir Barnabas hin und wieder anspannen ließ, allesamt weit überlegen.

Cassandra hörte die Schere laut klappernd auf den Tisch fallen, und im nächsten Augenblick spürte sie Tante Eunice hinter sich.

„Sie hat recht, Cordelia. Ein hervorragendes Gespann. Und, ach du liebe Zeit, ein Wappen auf dem Schlag“, sagte sie, als die Kutsche auf Höhe des Cottages war.

„Ein Wappen?“ Nun ließ auch Tante Cordelia die Arbeit fallen und trat zu ihnen an das kleine Erkerfenster. „Was um alles in der Welt kann eine Person dieses Ranges in einem entlegenen Ort wie Market Gooding wollen? Vor allem an diesem Ende.“ Denn die Straße, an der ihr Cottage stand, führte nur von Henley Hall zur Straße nach London.

„Die haben sich bestimmt verfahren“, sagte Tante Eunice, als die Kutsche vor ihrem Gartentor Halt machte. „Schaut mal, der Bursche da“, sagte sie, als einer der Lakaien, die hinten auf dem Wagen standen, heruntersprang und das Tor öffnete, „er ist abgestiegen, um sich nach dem Weg zu erkundigen.“

„Warum öffnet dann der andere den Wagenschlag und lässt die Treppe herunter?“, fragte Tante Cordelia.

Die drei Damen verstummten, als sie einen ersten Blick auf die Insassin der Kutsche werfen konnten. Offensichtlich handelte es sich um eine hochgestellte Persönlichkeit, worauf nicht nur das Wappen auf dem Schlag hindeutete, sondern auch die Ehrerbietung, mit der ihr der Lakai den Arm hinhielt, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

„Eine Dame wie sie würde doch kaum aussteigen, um bei den Bewohnern eines Cottages wie dem unseren nach dem Weg zu fragen“, meinte Tante Cordelia.

„Das muss eine neue Kundin sein“, sagte Cassandra, während der Lakai draußen geschickt den Muff und die Pelze der Dame auffing, in die sie sich wohl gehüllt hatte, bevor diese in alle Himmelsrichtungen davonrutschten.

„Bestimmt nicht“, widersprach Tante Cordelia. „Eine Dame, die ein so erstklassiges Reisekleid trägt, würde niemals ihren Nimbus beschädigen, indem sie bei einer Provinzschneiderin arbeiten lässt.“

Cassandra spürte, wie sich Tante Eunice angesichts dieser Schmähung ihrer schöpferischen Begabung vor Empörung aufplusterte. Schließlich war sie diejenige, die ein Auge dafür hatte, was den Leuten stand, die sich von ihr beraten ließen, und auch Maß nehmen und zuschneiden konnte. Cassandra war dieser Tage für das Heften und Zusammennähen zuständig, während Cordelia den Kreationen den letzten Schliff verlieh. „Ich könnte sie genauso erstklassig einkleiden“, brummte sie.

„Nun ja, sicher“, räumte Tante Cordelia ein. „Wenn du in der Lage wärst, so viel Samt zu besorgen, in genau diesem Blauton, und wenn sie dich darum bäte, aber das tut sie ja wohl nicht, oder?“

„Nun, wir werden es gleich herausfinden“, gab Tante Eunice zurück. Im selben Moment klopfte der Lakai, der den Gartenpfad heraufmarschiert war, herrisch an die Tür. Die drei Damen rissen sich los von dem außergewöhnlichen Anblick, und verteilten sich eilig im Raum, um dort Posen emsiger Beschäftigung einzunehmen, während Betty, ihr Dienstmädchen, die Tür öffnen ging.

Obwohl Cassandra angestrengt lauschte, um mitzubekommen, was im Flur gesprochen wurde, drang durch die dicke Eichentür der guten Stube nur leises Murmeln. Ihre Tanten, die ihr Werkzeug lediglich in die Hand genommen hatten, beugten sich in dieselbe Richtung wie sie, schienen aber ebenfalls kein Glück zu haben.

Endlich ging die Tür auf, und die Dame im blauen Samt kam in einer Wolke exotischen Parfüms ins Zimmer geschwebt. Zum Glück hatten sie sie bei der Ankunft beobachtet, sonst hätten sie jetzt vermutlich offenen Mundes dagesessen und die elegante Erscheinung angestarrt, die nun, flankiert von zwei Lakaien, die mit den Köpfen fast an die Decke stießen, in ihre Mitte trat.

So jedoch gelang es allen dreien, sich zu erheben und in einem angemessen ehrerbietigen Knicks zu versinken, und das mit einer Souveränität, als würden sie jeden Tag Damen von Stand bei sich begrüßen.

Die Dame stand einen Augenblick da und betrachtete sie. Dann breitete sie plötzlich die Arme aus und steuerte auf Cassandra zu.

„Liebling“, sagte sie und schloss sie in eine duftende Umarmung, „endlich habe ich dich gefunden!“

Die Tanten warfen ihr einen fragenden Blick zu, doch Cassandra konnte nur mit den Schultern zucken. Sie hatte keine Ahnung, warum diese Dame sie umarmte und Liebling nannte.

„Verzeihen Sie“, sagte sie und löste sich aus der parfümierten Umarmung der Dame. „Sie müssen mich wohl mit jemandem verwechseln.“

Die Dame legte den Kopf schief und zwinkerte ihr zu, anders konnte Cassandra es nicht nennen. „Du bist doch Miss Cassandra Furnival, oder nicht? Und deine Mutter ist Julia Hasely, Tochter des dritten Earl of Sydenham?“

„Ähm … ja, stimmt, aber …“

Die Lady schüttelte reuig den Kopf und seufzte melodramatisch auf, was in Cassandra den Verdacht weckte, dass sie nie etwas tat, ohne zu überlegen, welche Wirkung dies wohl auf ein Publikum haben möge. „Vermutlich hätte ich darauf gefasst sein müssen, dass du mich vergessen hast. Du warst ja auch noch ein winzig kleines Baby, als wir beide das letzte Mal im selben Raum waren.“ Sie streifte die Handschuhe ab und hielt sie auf halber Höhe in die Luft. Einer der Lakaien sprang gerade rechtzeitig herbei, um sie aufzufangen, als sie sie fallen ließ. „Das war bei deiner Taufe“, fügte sie hinzu und sah sich um, als suchte sie etwas. „Deine Mutter war eine gute Freundin von mir“, fuhr sie fort und strebte auf einen der Stühle zu, die für die Kundschaft bereitstanden. „Eine sehr gute Freundin“, sagte sie, während sie sich anmutig setzte. „Ich“, verkündete sie mit strahlendem Lächeln, „bin deine Patentante.“

„Euer Gnaden“, sagte Cassandra keuchend und sank ebenfalls auf einen Stuhl, als ihr endlich klar wurde, dass diese Dame wirklich hier war, um sie zu besuchen. Die Duchess of Theakstone, ihre Patentante, war die einzige Person aus ihrem früheren Leben, die immer noch mit ihr korrespondierte. Auch wenn es nur in Form eines kurzen Grußes zu Weihnachten und zu ihrem Geburtstag war – hastig niedergeschrieben, der Schrift nach zu urteilen –, hatte sie doch jeden Brief wie einen Schatz aufbewahrt. Denn es war mehr, als alle anderen für sie getan hatten.

Die Duchess lachte, als sie sah, wie schockiert Cassandra angesichts dieses persönlichen Zusammentreffens zu sein schien. „Ich kann sehen, dass ich dich aufs Äußerste überrascht habe.“

Überrascht? Das war noch ziemlich untertrieben.

„Du hast mich nie um Hilfe gebeten, aber ich habe mir oft gewünscht, du hättest es getan. Zu Theakstones Lebzeiten hätte ich natürlich unmöglich etwas unternehmen können.“ Sie verzog die Lippen zu etwas, was bei einer weniger schönen Frau als höhnisches Lächeln gegolten hätte.

Diese Aussage verwirrte Cassandra nur noch mehr. Zum einen war der Duke, mit dem ihre Patentante verheiratet gewesen war, schon vor einigen Jahren gestorben. Zum anderen …

„Oh, meine Liebe, wie durcheinander du aussiehst“, sagte die Duchess of Theakstone mit vage herausforderndem Lächeln. „Als hättest du nie damit gerechnet, dass ich für dich auch nur einen Finger rühren würde …“

„Äh …“ Also, nein, hatte sie nicht. Aber bei der Duchess klang das so, als empfände sie diese Sicht der Dinge als eine Beleidigung.

„N… nun ja, nein“, stammelte Cassandra. „So etwas hätte ich mir nie angemaßt. Wie könnte ich, wenn doch nicht mal meine eigene Mutter zu mir stehen wollte, nachdem ich meinen Fatalen Irrtum begangen habe? Aber es war ja nicht nur das …“

„Ach? Was war es dann, genau?“, erkundigte sich die Duchess recht frostig.

„Nur dass Sie nicht so aussehen … also … meine Mutter muss doch beträchtlich älter sein als Sie. Schon als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, hat sie älter gewirkt als Sie, und das war vor über sechs Jahren. Da kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie eine so enge Freundschaft verbindet.“

„Oh, meine Liebe, wie schlau von dir, genau das Richtige zu sagen“, krähte die Duchess entzückt. „Bestimmt kommen wir beide prächtig miteinander aus.“ Sie nahm den Hut ab. Darunter kamen üppige goldene Locken zum Vorschein, von denen keine einzige von dem aufwendig konstruierten Gebilde in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Tante Eunice sprang herbei, um den Hut in Empfang zu nehmen, bevor ihn noch einer der Lakaien in seinen Pranken zerdrückte, und trug ihn andächtig zu einem Hutständer, über den im Moment nur ein Stück Musselin gebreitet war.

„Danke“, sagte die Duchess. „Nicht nur dafür, dass Sie sich so hervorragend um meinen Hut kümmern, sondern auch um meine Patentochter. Ich bin so froh, dass sie bei zwei so mitfühlenden Damen eine sichere Zuflucht gefunden hat.“ Sie sah erst die beiden Tanten an und dann Cassandra, und ihr Blick vermittelte, dass sie den beiden noch gar nicht vorgestellt worden war.

„Das ist meine Tante Cordelia“, sagte Cassandra. „Ähm, Miss Bramstock, hätte ich wohl sagen sollen“, fügte sie errötend hinzu.

„Ach, dann waren das also Sie, die damals dieses große Aufsehen hervorrief, weil Sie Hendon einen Korb gaben, um mit Ihrer Schulfreundin einen Hausstand zu gründen?“, sagte die Duchess, ehe sie sich zu Tante Eunice umwandte und sie gründlich musterte. Diese hob das Kinn und erwiderte den Blick reichlich kämpferisch.

„Und das ist, also, ich nenne sie Tante Eunice“, sagte Cassandra und hoffte, dass sich das hier nicht zu der Art Auseinandersetzung entwickelte, bei der sich ihre Patentante veranlasst sähe, empört das Haus zu verlassen.

„Weil du sie so gernhast“, schloss die Duchess an ihrer Stelle. „Was mich nicht überrascht, denn sie hat offensichtlich weitaus mehr für dich getan als irgendeiner deiner Blutsverwandten.“

Tante Eunice war sofort besänftigt, murmelte ein Dankeswort und wandte ein, dass es doch keine große Sache gewesen sei.

„Besteht die Möglichkeit“, fragte die Duchess und deutete auf ihre beiden hünenhaften Lakaien, „dass meine Jungs vielleicht irgendwo verköstigt werden können?“

„Natürlich“, entgegnete Tante Cordelia, leicht verärgert über diesen Hinweis, dass sie ihre Pflichten als Gastgeberin vernachlässigte. Sobald sie die „Jungs“ in die Küche geschickt hatte mit der Anweisung an Betty, dass sie nicht nur die beiden versorgen, sondern auch Tee und Kuchen in die Stube bringen solle, nahmen auch die beiden Tanten Platz. Zu dritt betrachteten sie ihren Gast in erwartungsvollem Schweigen.

„Jetzt, da wir allein sind“, ergriff die Duchess wieder das Wort, „können wir zum Punkt kommen. Wie gesagt, niemand kann leugnen, dass Sie beide meiner Patentochter bisher einen großen Dienst erwiesen haben. Aber nun braucht sie jemanden von Stand, der in der Lage ist, sie in die Gesellschaft einzuführen, finden sie nicht?“

„Mich in die Gesellschaft einführen? Das ist nicht möglich. Ich bin doch ruiniert. Gesellschaftlich zumindest, wenn auch nicht wahrhaftig. Stiefpapa hat doch bestimmt überall verbreitet, dass er mich keinen Fuß in sein Haus hat setzen lassen, als ich zurückkam und alles erklären wollte …“

„Ja. Und dass er dich ohne einen Penny verstoßen hat, als ob das etwas wäre, worauf man stolz sein kann“, warf die Duchess grimmig ein.

„Ja. Und ich nehme an, dass meine Mutter kein Wort zu meiner Verteidigung geäußert hat …“

„Die Ärmste war von diesem Tyrannen, den sie da geheiratet hat, so eingeschüchtert, dass sie sich wohl nicht getraut hat“, sagte die Duchess.

„Nein, wohl nicht“, meinte Cassandra, erstaunt, wie klar die Duchess erkannt hatte, was damals geschehen war. Sie fragte sich, ob ihre Mutter der Freundin wohl alles brieflich erklärt und sie gebeten hatte, sich ihrer einzigen Tochter anzunehmen … Nein, nein, das konnte nicht sein. Stiefpapa hätte nie zugelassen, dass ein Brief das Haus verließ, ohne dass er ihn genauestens geprüft hätte.

„Aber wenn ich“, sprach die Duchess weiter, „nun das Gerücht streuen würde, dass alles nur ein Komplott war, mit dem er dich um dein Erbe bringen wollte, wären heutzutage jede Menge Leute bereit, es zu glauben. Denn lasst euch gesagt sein, meine Lieben, seit er dich auf die Straße gesetzt hat, hat er sein wahres Gesicht so oft gezeigt, dass er allgemein verhasst ist.“

„Aber, Euer Gnaden, das stimmt doch nicht! Ich meine, ja, er hat sicher mit beiden Händen zugegriffen, als sich ihm die Gelegenheit bot, sich Geld anzueignen, das eigentlich mir zugestanden hätte, so ist er eben. Aber einen Skandal über mich musste er sich nicht ausdenken. Ich bin nämlich wirklich mit einem Soldaten durchgebrannt und unverheiratet zurückgekehrt …“

Die Duchess hob eine Hand, um sie von weiteren Geständnissen abzuhalten. „Ich bin froh, dass du so ehrlich zu mir bist. Aber du wirst deinen Ruf nicht wiederherstellen, wenn du herummarschierst und überall die Wahrheit herausposaunst.“

Cassandras Herz tat einen kleinen Satz. Wäre das denn möglich? Könnte sie wirklich die Wolke der Schande vertreiben, die ständig über ihr hing, auch wenn ihr heutzutage jeder höflich ins Gesicht lächelte? Könnte sie in die vornehme Gesellschaft zurückfinden? Wieder ehrbar werden?

Aber zu welchem Preis? „Ich werde keine Lügen erzählen, um den Leuten vorzumachen, ich wäre etwas, was ich nicht bin“, sagte sie entschieden.

„Das wird auch nicht nötig sein“, meinte die Duchess nach einer kleinen Pause. „Nach allem, was du gerade gesagt hast, ist dein sogenannter Skandal wenig mehr als eine kurze Eskapade gewesen, die man leicht hätte vertuschen können, wenn deine Mutter nicht so ein Monster geheiratet hätte.“

„Also, ja schon, aber …“, sie legte die Stirn in Falten, als ihr eine weitere Hürde für den Plan der Duchess in den Sinn kam, „… bin ich nicht zu alt, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden?“

„Keineswegs. Du kannst doch kaum älter als zwanzig sein, oder?“

„Ich bin dreiundzwanzig.“

„Du siehst viel jünger aus. Außerdem wollen eine Menge Männer keine Frau, die direkt dem Schulzimmer entsprungen ist, sondern eine, die schon reifer ist, vernünftiger. Und du bist so hübsch, dass sich bestimmt jemand auftreiben lassen wird, der über diese andere Geschichte hinwegsehen kann“, sagte sie und wischte Cassandras Fatalen Irrtum mit einer lässigen Geste hinfort, ganz als wäre er nichts weiter als eine lästige Fliege.

„Aber … ich bin mir keineswegs sicher, ob ich überhaupt heiraten will“, sagte Cassandra und blickte schuldbewusst zu ihren Tanten, deren Haltung zur Ehe auf sie abzufärben begonnen hatte. „Ich bin hier sehr glücklich.“

„Aber natürlich bist du das“, erwiderte die Duchess beruhigend. „Und wenn du keinen Mann findest und am Ende deiner Saison hierher zurückkehren willst, nun, dann kannst du das natürlich tun. Aber eine Saison beinhaltet mehr als nur einen Ehemann zu finden. Da sind all die Bälle und Gesellschaften, Picknicks und Einkaufsbummel, die Besuche im Theater, in Galerien und Ausstellungen. Ich muss wirklich sagen, dass du es verdienst, all das zu genießen, was man dir so lang vorenthalten hat – und das war gewiss nicht deine Schuld.“

„Das stimmt, Cassandra“, sagte Tante Cordelia. „Und auch wenn wir beide der Gesellschaft den Rücken gekehrt haben, so hatten wir wenigstens den Luxus, es freiwillig zu tun.“

„Siehst du?“ Die Duchess warf Cassandra ein triumphierendes Lächeln zu. „Deine Tanten würden sich freuen, wenn du heiraten würdest, falls es das ist, was dich glücklich macht, auch wenn das bei ihnen nicht der Fall war“, erklärte sie mit einer Offenheit, die ein wenig schockierte.

„Und selbst wenn deine Erfahrungen dich dazu gebracht haben, der Männerwelt für immer abzuschwören, ist das noch lang kein Grund, nicht mit mir nach London zu kommen. Hättest du denn keine Lust, auf Bälle zu gehen und die Sehenswürdigkeiten zu betrachten, liebste Cassy?“

Cassy rang die Hände. Es war kaum zehn Minuten her, seit sie sich genau das gewünscht hatte. Und um ehrlich zu sein, wenn sie einen Mann finden würde, der wäre wie ihr richtiger Papa, ein Mann, der ihrer Erinnerung nach freundlich und leutselig gewesen war, hätte sie auch nichts gegen eine Ehe einzuwenden. Zum einen würde das bedeuten, dass sie nicht mehr arbeiten müsste, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zum anderen hieße es, dass sie vielleicht Kinder bekäme. Reizende pummelige kleine Babys, die zu Menschen heranwachsen würden, die sie liebten.

„Weißt du“, meinte Tante Eunice barsch, gerade als Cassy anfing, sich ernsthaft nach einem kleinen warmen Bündel in den Armen zu sehnen, während sich weiter unten kleine Kinderärmchen um ihre Knie klammerten, „es könnte ja auch nicht schaden, in die Stadt zu fahren, nur um sich mal die neuesten Moden anzusehen.“

„Und bei ein paar Stoffhändlern vorbeizuschauen, um zu sehen, was sie im Angebot haben“, ergänzte Tante Cordelia.

„Siehst du? Diese lieben Damen stimmen mir zu. Selbst wenn du keinen Mann findest, gibt es viele andere nützliche Dinge, die du in London tun kannst. Und wir werden so einen Spaß haben!“, rief die Duchess und klatschte entzückt in die zarten kleinen Hände. „Oh, ich wusste, dass es genau das Richtige sein würde.“

„Nun“, sagte Cassandra und fragte ich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, Einwände zu erheben, wenn doch jeder im Raum einschließlich ihrer selbst der Ansicht war, dass eine Reise nach London genau das war, was sie brauchte. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, Euer Gnaden …“

„Oh, bitte nenn mich nicht so. Ich bin deine Patentante, und es ist außerordentlich wichtig, jeden auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Am besten gewöhnst du dir gleich an, mich Patin zu nennen. Und was die Freundlichkeit angeht …“, fügte sie mit vergnügtem Lächeln hinzu, „so ist das nicht ganz richtig. Nachdem du so ehrlich zu mir warst, meine Liebe, ist es nur fair, wenn ich diese Ehrlichkeit erwidere.“ Sie räusperte sich. „Weißt du, obwohl es stimmt, dass deine Mutter und ich irgendwann in unserem Leben für ein Weilchen beste Freundinnen waren, ist das nicht der einzige Grund, warum ich mich erbötig mache, dich in die Gesellschaft einzuführen.“ Sie legte den Kopf schief, dass ihre goldblonden Löckchen tanzten, und lächelte auf, wie Cassandra fand, absolut schmeichlerische Weise.

„Es hat mit meinem Stiefsohn zu tun“, fuhr sie fort, und ihr Lächeln erlosch. „Er hat mir praktisch befohlen, die Stadt zu verlassen und mich auf den Witwensitz zurückzuziehen. Was ich niemals tun werde! Ich habe so schreckliche Erinnerungen an meine Zeit in Theakstone Court, dass ich mir geschworen habe, nie mehr einen Fuß auf das Anwesen zu setzen. Aber als ich ihm das erklärte, sagte er, es bliebe mir gar nichts anderes übrig, denn er würde sämtliche Londoner Dienstboten entlassen. Nun …“, sie lehnte sich zurück, während die beiden Tanten empört nach Luft schnappten, „… er wusste es nicht besser. Denn sobald ich dem Personal von seinen Drohungen erzählte, versprachen sie alle hoch und heilig, sie würden nötigenfalls auch ohne Lohn bleiben. Ist das nicht loyal? Die Guten. Was natürlich hieß, dass ich sie nicht im Stich lassen konnte. Und so fing ich an, nach einer Lösung zu suchen, die es uns allen ermöglichte, am Grosvenor Square bleiben zu können. Und hier“, sagte sie und streckte Cassandra wie Hilfe suchend die Hand entgegen, „kommst du ins Spiel …“

2. Kapitel

Colonel Nathaniel Fairfax blieb einen Augenblick in der Tür zum Ballsaal stehen und sondierte das Terrain. Tanzfläche voraus, darauf Paare, die im Laufschritt komplizierte Manöver abhielten. Zur Rechten die Bank der Anstandsdamen, besetzt mit wohlgenährten Matronen. Dahinter sägte ein Streichertrio eifrig drauflos. Neben dem Eingang, in dem er stand, verzeichnete er zwei Ausgänge. Einer führte in den Raum mit den Erfrischungen, den Tischen nach zu urteilen, die er dort durch die Menschenmenge erspähte, der andere nach draußen. Vermutlich auf eine Terrasse. Häuser dieser Größe verfügten meist über eine.

Zwischen der Terrassentür und der Tanzfläche verlief eine Art Korridor, gebildet durch eine Reihe von Säulen und strategisch positionierten Vasen mit Grünzeug darin, hinter denen sich Scharfschützen hätten verbergen können, um zu verhindern, dass sich nicht geladene Gäste durch irgendwelche Türen Zutritt verschafften.

Nicht dass er in einem Ballsaal mit Scharfschützen gerechnet hätte. Allerdings kundschaftete er das Gelände auf der Suche nach einer weitaus größeren Gefahr aus.

Einer Frau.

Bei den Damen, die auf der Tanzfläche herumsprangen, sah er sie nicht. Nur ein paar von ihnen hatten dunkles Haar, doch davon war keine auch nur annähernd so hübsch, wie er sich an sie erinnerte.

Sie saß auch nicht bei den Matronen. Es sei denn, sie wäre seit ihrer letzten Begegnung vor sechs Jahren um Jahrzehnte gealtert und hätte einen halben Zentner zugelegt.

War sie unter den Ballgästen zu finden, die sich im Korridor vor der Terrassentür herumdrückten? Dort standen eine ganze Menge junger Frauen, welche die Tanzenden beobachteten und sich Luft zufächelten. Er ließ den Blick über die Gruppe schweifen. Eine große dünne Blonde, eine kleine dicke Rothaarige, eine mittelgroße Brünette mit …

Guter Gott. Seine Schwester Issy hatte nicht gelogen. Sie war tatsächlich hier. Cassandra Furnival. Drängte sich dreist zurück in die Gesellschaft, wenn sie es doch eigentlich nicht hätte wagen dürfen, sich irgendwo sehen zu lassen. Aber eigentlich hätte er ja bereits wissen müssen, dass sie ohne jede Scham war. Warum hatte er seine Lektion nicht gelernt, was ihr Benehmen betraf? Sie war die Art Frau, die einen Mann so betören konnte, dass er ihr hinaus auf einen mondbeschienenen Hof folgte und beinahe seinen Ehrenkodex vergaß, nach dem er sein Leben ausgerichtet hatte. Die Art Frau, die keinen Monat später einen völlig anderen Mann dazu verleitete, mit ihr durchzubrennen.

Und das, obwohl sie kaum dem Schulzimmer entwachsen war.

Damals war sie hübsch genug gewesen, um zwei Offiziere im selben Regiment dazu zu bringen, ihretwegen völlig den Kopf zu verlieren. Seit damals war sie nur noch reizender geworden. Rein äußerlich, versteht sich. Laut Issy verbarg sich hinter all dem Liebreiz das Herz einer geldgierigen, intriganten Göre.

„Nate“, hatte Issy geheult, wobei ihr die Tränen übers ganze Gesicht gelaufen waren, „Wenn du nicht irgendetwas gegen sie unternehmen kannst, dann weiß ich mir keinen Rat mehr.“

„Unternehmen?“ Entnervt hatte er die Schreibfeder auf den Tisch geworfen, nachdem sie nicht nur unangekündigt in sein Arbeitszimmer geplatzt war, sondern sich auch noch auf einen Stuhl gesetzt hatte, obwohl sie sah, dass er beschäftigt war. Und die Tränen bedeuteten, dass sie nicht gehen würde, ehe sie gesagt hatte, was sie auf dem Herzen hatte. „Was erwartest du denn von mir?“

„Halt sie auf! Bevor sie den nächsten nichtsahnenden Mann in die Fänge bekommt und ihm sein Vermögen abschwatzt, genau wie sie es beim Bruder der armen Lady Agatha gemacht hat.“

Typisch Issy, das so emotionsgeladen vorzubringen, und auf eine so einseitige Weise, während Lieutenant Gilbey und Miss Furnival doch gleichermaßen verantwortlich für die Sache gewesen waren, zumindest nach dem, was er beobachtet hatte.

„Und wie genau“, fragte er recht verärgert, „soll ich das deiner Meinung nach machen? Selbst wenn du mich dazu überreden könntest, hier einzugreifen, was ich aber nicht glaube.“

Außerdem verspürte er nicht den Wunsch, irgendeine Frau einzuschüchtern. Das gehörte sich einfach nicht für einen Offizier der königlichen Armee.

„Natürlich ist es deine Aufgabe! Lady Agathas Bruder war einer deiner untergebenen Offiziere. Du hast den armen Lieutenant Gilbey doch gewiss nicht vergessen, oder?“

Nein, er hatte den liebeskranken jungen Mann nicht vergessen. Er hatte keinen seiner Männer vergessen, die unter seinem Kommando den Tod gefunden hatten. Sein Leben wäre jetzt weitaus angenehmer gewesen, wenn er es gekonnt hätte.

„Aber du siehst doch bestimmt ein“, beharrte Issy, „dass du es seinem Andenken schuldig bist, und auch seiner … seiner Familie, die alle völlig außer sich sind, als sie erfahren haben, dass diese Furnival gerade versucht, sich wieder in die Gesellschaft einzuschleichen.“

Er war den Gefallenen tatsächlich eine Menge schuldig. Und ihren Familien. Aber das ging doch sicher nicht so weit, dass er nun Miss Furnival unter Druck zu setzen hatte. Jedenfalls nicht die Miss Furnival, an die er sich erinnerte. Sie war zwar ein reizvolles kleines Ding gewesen, aber keinesfalls die schamlose Mitgiftjägerin, als die seine Schwester sie ihm jetzt beschrieb.

„Wenn sie so schlimm ist, wie du behauptest …“, und davon war er noch nicht völlig überzeugt, „… kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendwer sie empfängt. Vermutlich machst du viel Wind um nichts, Issy.“

„Es ist nicht nichts! Nicht für Lady Agatha. Sie war so verstört, als sie hörte, dass sie bei der Duchess of Theakstone untergekommen ist, dieser dummen Gans, dass sie London verlassen hat, nur damit sie dieser intriganten Göre, die ihren armen, fehlgeleiteten Bruder so verhext hat, nicht zufällig über den Weg läuft.“

Seine Schwester hatte noch jede Menge zu diesem Thema zu sagen gehabt. So hatte sie auch noch irgendeine Freundin mitgebracht, die dem Fabrikantenmilieu entstammte und in den Ballsälen der vornehmen Gesellschaft nichts zu suchen hatte. Bis er schließlich einsah, dass er seine Schwester nur dann dazu bringen könnte, ihn in Frieden weiterarbeiten zu lassen, wenn er versprach, er wolle sehen, was er tun könne.

Auch wenn er mutmaßte, dass Issys Sorgen sich größtenteils als gegenstandslos erweisen würden. Er war sich sicher, dass die junge Frau nach allem, was sie getan hatte, nirgendwohin eingeladen werden würde, auch wenn sie nun in London residierte.

Und so hatte er sich noch nicht einmal zurechtgelegt, was er ihretwegen unternehmen könnte, wenn er sie denn aufspüren sollte.

Einen Augenblick konnte er nur stocksteif dastehen und sie anstarren. Sie einfach nur anstarren. Bis sie sich zu der kleinen, dicken Rothaarigen hinunterbeugte, um zu hören, was sie sagte, und lachte.

Lachte!

Als hätte sie keine einzige Sorge auf dieser Welt. Während er …

Er zuckte zusammen, als sich eine Reihe schrecklicher Bilder vor seinem inneren Auge zusammenballten. Bilder, die er sonst in einem entfernten Winkel seiner Erinnerung sicher unter Verschluss hielt. Ein Gutteil davon hatte Lieutenant Gilbey zum Inhalt.

Gilbey, wie er dasaß, den Kopf in die Hände gestützt. Gilbey, wie er mit gequälter Miene auf und ab ging, nachdem er einen ihrer verdammten Briefe gelesen hatte. Gilbeys zermalmter Körper, wie er den Schnee rot färbte …

Steifbeinig durchquerte er den Saal, wie betäubt von der Erkenntnis, dass Issy recht behalten hatte. Und dass er aus diesem Grund etwas unternehmen musste. Auch wenn er nicht genau wusste, was. Man konnte die Gastgeberin Lady Bunsford zwar kaum als tonangebend ansehen, doch nachdem diese Furnival sich hier Zutritt verschafft hatte, würde sie nicht eher ruhen, bis sie ihr Ziel, das Issy ihm in so grellen Farben geschildert hatte, erreicht hätte. Und das konnte er nicht zulassen.

Als er den ersten Schritt in ihre Richtung machte, wandte sie sich um, als hätte sie sein Interesse gespürt. Blickte ihn an. Runzelte ein wenig die Stirn, als versuchte sie zu ergründen, warum ihr sein Gesicht bekannt vorkam.

Und dann begann sie zu strahlen. Als wäre sie hochbeglückt, ihn zu sehen.

Die Kraft ihres Lächelns hätte ihn beinahe, beinahe zögern lassen. Es war so warm. So herzlich. Und verhieß so viel. Ein, zwei Augenblicke fühlte es sich so an, als hätte sie ein Netz aus spinnwebfeinen unsichtbaren Fäden nach ihm ausgeworfen und würde ihn nun damit einholen, statt dass er durch einen überfüllten Ballsaal auf sie zuging, weil er das so wollte. Genau so war es auch gewesen, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, auf diesem öffentlichen Ball, der in der Nähe seines Standorts stattgefunden hatte. In jener lang vergangenen Nacht hatte sie ihm nur einen sehnsüchtigen Blick über die Schulter zuwerfen müssen, ehe sie durch eine Tür gegangen war, die sie hinaus auf den Hof führte, und er war ihr nachgelaufen wie ein … wie ein Hund, den man bei Fuß ruft. Obwohl er zuvor der Versuchung widerstanden hatte, sie zum Tanz aufzufordern. Obwohl sie für ihn zu jung war. Für jeden Mann, hätte er gedacht. Damals war sie nichts als Verheißung gewesen. Jugendblüte. Noch nicht bereit, gepflückt zu werden. Und doch schon so verdammt anziehend.

Es war ihr Mund. Die Art, wie die Oberlippe schmollend vorstand, wie eine Einladung an einen Mann, daran zu saugen und …

Nein, die Augen waren es. Die Lebhaftigkeit, die darin tanzte und in einem Mann den Wunsch weckte, in ihren grün-braunen Tiefen zu versinken …

Nein, es war ihr Teint. Der nicht so langweilig perfekt war wie der vieler anderer Debütantinnen, kalt und zerbrechlich wie Porzellan. Ihrer war cremeweiß und warm, hier und da fand sich ein Leberfleck, der in ihm den Wunsch weckte, mit den Fingern darüberzugleiten …

„Colonel Fairfax“, sagte sie und streckte ihm mit der routinierten Anmut einer erfahrenen Verführerin eine Hand entgegen.

Kein Mann hätte widerstehen können, sie zu ergreifen, sich darüberzubeugen und den geforderten Kuss daraufzuhauchen. Er, wie sich herausstellte, am wenigsten. Was ihn zutiefst erzürnte.

„Wie reizend, Sie nach all der Zeit wiederzusehen“, gurrte sie.

Er richtete sich auf und ließ ihre Hand los. Nur weil er ihre Schönheit und ihre Anziehungskraft zur Kenntnis nahm, hieß das nicht, dass er ihrem Zauber erliegen würde. Dank Issy wusste er ja, was sie jetzt war, wessen sie fähig war. Zum Beispiel zu behaupten, sie freue sich über ihr Wiedersehen. Ihm mit der Strahlkraft ihres Lächelns vorzugaukeln, dass sie das auch so meinte, während er doch wusste, dass es unmöglich stimmen konnte. Sie war zu jung, zu schön, um aufrichtiges Interesse an einem Mann wie ihm zu haben, der nur noch ein vertrockneter Schatten seiner selbst war.

„Miss Furnival“, sagte er, und sein verletzter Stolz schmerzte ihn so sehr, dass seine Stimme in seinen eigenen Ohren barsch klang. „Sie mögen der Welt ja ein hübsches Gesicht bieten, aber dahinter lauert nichts als Unheil.“

Mit der Hand, die er eben noch geküsst hatte, berührte sie ihr Gesicht, als wollte sie ihn einladen, ihr mit seinem Blick dorthin folgen. Und zu einem späteren Zeitpunkt auch mit seinen Lippen. Wenn sie so war, wie Issy behauptete.

Obwohl er ihr gerade erst den Fehdehandschuh hingeworfen hatte? Vielleicht gerade deswegen. Vielleicht war es eine Erklärung, dass sie sich zur Wehr setzen würde, mit allen Waffen, die ihr zur Verfügung standen. Und ein Kampf würde es werden, erkannte er, und empfand dabei so etwas wie Verlust. Die Wärme war aus ihrem Lächeln gewichen. Von Weitem sah es vermutlich noch genauso aus wie zuvor, doch er stand direkt vor ihr, so nahe, dass er ihren Blumenduft riechen konnte, und nahm den Unterschied wahr.

„Unheil?“ Sie runzelte die Stirn, als wüsste sie nicht recht, was er damit wohl sagen wollte. „Was meinen Sie denn damit?“

Einen Augenblick wünschte er sich, dass sie wirklich nicht wüsste, was er meinte. Dass sie sich nicht als Gegner gegenüberstünden. Dass er sich in der Wärme dieses ersten Lächelns hätte sonnen können, statt es zum Gefrieren bringen zu müssen. Dass er ihre Hand ohne Bedenken hätte ergreifen und mit der jungen Frau die Art Gespräch hätte beginnen können, die jeder Mann mit einer hübschen Frau würde führen wollen, die er gerade kennengelernt hat und zu der er sich hingezogen fühlt.

Doch diese Wendung hatte nie im Bereich des Möglichen gelegen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er bereits gewusst, dass er in Kürze ins Ausland gehen und wahrscheinlich zu lange wegbleiben würde, um anzudeuten oder gar zu hoffen, dass sie auf ihn warten könnte. Außerdem hatte er gewusst, dass sie zu jung für ihn war, und jetzt … jetzt machte es ihm seine Mission unmöglich, sich mit ihr anzufreunden.

Er riss den Blick von ihr fort, ehe ihr Liebreiz ihn so in Bann schlug, dass er in seiner Entschlossenheit wankte, und konzentrierte sich auf das Mädchen neben ihr. Issy hatte gesagt, sie sei die Tochter eines Fabrikbesitzers. „Zum Beispiel“, sagte er zu Miss Furnival, obwohl sein Blick weiter auf dem rothaarigen Mädchen ruhte, „dass Sie ein Mädchen wie dieses einer hohlköpfigen Kreatur wie der Duchess of Theakstone unterschieben.“

Das rothaarige Mädchen zuckte zusammen. Blickte ihn finster an. Und da er seine abwegige Sehnsucht nach dem Unmöglichen wieder unter Kontrolle hatte, wandte er sich nun direkt an Miss Furnival. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen gelungen ist, sie dazu zu überreden, an einer Ihrer Intrigen mitzuwirken, aber ich weiß, dass Sie ihre Gutmütigkeit ausnutzen.“

„Einer meiner Intrigen?“ Miss Furnival fügte der verwirrten Miene, die sie seinetwegen aufgesetzt hatte, noch ein Kopfschütteln hinzu. „Was für Intrigen?“

„Glauben Sie bloß nicht, Sie könnten mich mit dieser Unschuldsmiene täuschen“, knurrte er, halb erbittert, halb erbost, dass ihr das bereits einmal gelungen war. „Oder irgendwen sonst, zumindest nicht über längere Zeit. Es gibt Leute, die wissen, was Sie getan haben, was Sie sind …“

Sie reckte das Kinn. „Was bin ich denn?“

Wo sollte er anfangen? „Eine Abenteuerin. Eine Herzensbrecherin.“ Nicht dass sie ihm das Herz gebrochen hätte. Bei ihm war es nur so weit gegangen, dass er sich gewünscht hatte, sie wäre älter, dass er sie besser kennenlernen könnte, bevor sein Regiment England verließ, dass er sie bitten könnte, in Betracht zu ziehen, auf ihn zu warten …

Gott sei Dank. Er musste daran denken, wie sie am Kai aufgetaucht war, dicht an Gilbeys Arm geklammert, während der Bursche stammelnd erklärte, er wolle sie heiraten und mit an Bord nehmen …

Und dabei war sie laut Issy nichts als eine intrigante Göre.

„Glauben Sie“, sagte er, „dass ich je vergessen könnte, was Sie Lieutenant Gilbey angetan haben?“ Also, laut Issy. Obwohl er immer noch nicht ganz überzeugt war. Und es lag nicht nur an ihrer überraschten Reaktion. Ein Teil von ihm wollte einfach nicht glauben, dass sie so liebreizend aussehen und gleichzeitig so hartherzig sein konnte. Wenn er ihr jetzt ihre angeblichen Verbrechen ins Gesicht schleuderte, würde sie sie dann auf eine Art abstreiten, dass er zu seiner Schwester gehen und sie darüber aufklären könnte, dass sie sich geirrt hatte? „Sie haben ihn überredet, mit Ihnen durchzubrennen“, sagte er vorsichtig. „Und als ich dachte, es wäre mir gelungen, ihn aus ihren Fängen zu befreien, konnten sie ihm trotzdem noch sein Vermögen abschwatzen.“

„Sie … haben ihn aus meinen Fängen befreit?“ Ihre Augen weiteten sich kurz, dann wurde ihr Blick hart.

Das Herz sank ihm, als sie eine Seite von sich enthüllte, von der er bis zu diesem Augenblick gehofft hatte, sie entspränge Issys Fantasie.

Aber kam das nicht immer heraus, wenn man zu hoffen wagte? Eine überwältigende Enttäuschung? Nichts konnte je den Erwartungen eines Mannes gerecht werden. Weder militärische Ehren noch gesellschaftliche Erfolge, noch, wie er eben erfahren musste, eine Frau.

„Wenn Sie so von mir denken“, entgegnete sie frostig, „gibt es wohl nichts weiter zu besprechen.“ Sie wandte sich ab, als wollte sie ihn stehen lassen. Er hielt sie davon ab, indem er einfach einen Schritt zur Seite tat und auf diese Weise wieder direkt vor ihr stand.

„Im Gegenteil“, sagte er, und Bitterkeit und Enttäuschung verleiteten ihn zu einer weitaus harscheren Reaktion als alles, wozu Issy ihn hätte provozieren können. „Ich bin heute Abend extra hergekommen, um Sie zu warnen, dass ich Kenntnis von Ihren Manövern erlangt habe. Vermutlich haben Sie Lieutenant Gilbeys Vermögen inzwischen durchgebracht. Deswegen sind Sie nach London gekommen. Sie hoffen darauf, irgendeinen anderen leichtgläubigen Dummkopf dazu zu veranlassen, sein Geldsäckel zu öffnen.“ Das war zumindest Issys Ansicht. Und er hatte nicht die Absicht, sich zurückzulehnen und zuzusehen, wie Miss Furnival erneut mit so etwas durchkam.

Autor

Annie Burrows
<p>Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
Mehr erfahren