So geborgen in deinen Armen

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Mit gebrochenem Herzen kehrt Jenny Baker ins idyllische Maple Mountain zurück. Hier hofft sie, endlich Ruhe zu finden vor all ihren Problemen – und vor allem vor Männern. Ihr neuer Boss Dr. Greg Reid lässt sie diese letzte Entscheidung aber noch einmal überdenken …


  • Erscheinungstag 02.12.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512633
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Wenn man erst mal ganz unten angekommen war, konnte es doch eigentlich nur noch aufwärts gehen, oder?

Jenny Baker war sich nicht sicher, ob dieser Gedanke sie tröstete oder noch mehr deprimierte. Sie seufzte, strich sich vorsichtig über die verletzte Stirn und beugte sich über die Umzugskiste vor ihr, um weiter auszupacken.

Das Haus, das in Zukunft ihr Zuhause sein würde, glich einer Ruine. Von den Küchenschränken löste sich die Farbe in breiten Streifen, das Email-Spülbecken hatte Roststellen, und die Fensterscheibe darüber war gesprungen.

Der Blick ging in einen unkrautüberwucherten Garten, der jetzt allerdings vor lauter Regen kaum zu sehen war. Ein großer Topf in der Mitte der Küche fing die Regentropfen auf, die von der Decke tropften.

Immerhin hatte sie überhaupt ein Dach über dem Kopf – doch dass jetzt auch noch das Wetter gegen sie war, munterte Jenny nicht gerade auf.

Im nördlichen Vermont war es Mitte August normalerweise warm und sonnig. Jenny liebte diese Jahreszeit, und sie hatte sich nicht satt sehen können an der grünen, leicht hügeligen Landschaft, als sie von der Autobahn auf die gewundene Landstraße abgebogen war, die sie nach Maple Mountain brachte – nach Hause.

Doch offenbar war ihr die dunkle Wolke, die ihr Leben schon seit einem Monat überschattete, bis hierher gefolgt. Knapp eine Stunde nachdem sie die Bretter von den Fenstern im Erdgeschoss entfernt hatte, zog ein heftiges Sommergewitter auf, und jetzt regnete es immer noch.

Mit dem Ausladen des Wagens war sie zum Glück schon fertig gewesen – kein Kunststück, da ihr von ihrem Besitz nicht mehr als ihre Koffer und vier Umzugskisten geblieben waren. Als weiteren glücklichen Umstand wertete sie die beiden Petroleumlampen, die sie in der Abstellkammer gefunden hatte und die es ihr ermöglichten, diese vier Kisten trotz der Dunkelheit draußen auszupacken.

Denn der Stromausfall hatte leider nichts mit dem Gewitter zu tun. Die Petroleumlampen würden wohl noch eine Weile ihre einzige Lichtquelle sein. Die eine hatte Jenny auf die sandfarbene Arbeitsplatte gestellt, die andere auf den kleinen Kanonenofen, der während der langen, verschneiten Wintermonate auch als Heizung diente.

Doch daran wollte Jenny lieber nicht denken. Sie stellte ihre roten Müslischalen in das Fach, das sie mit frischem Schrankpapier ausgelegt hatte, und versuchte, das rhythmische Tropfen in dem Topf hinter ihr zu überhören. Keinen Strom, kein Telefon und ein undichtes Dach zu haben zählte überraschenderweise im Augenblick nicht zu ihren größten Problemen.

Bis kurz nach zehn am selben Vormittag hatte sie in einem schicken Mietshaus in einem trendigen Viertel in Boston gelebt, das sich durch Delikatessengeschäfte, vornehme Restaurants und angesagte Bars auszeichnete.

Sie hatte zur Happy Hour mit ihren Freundinnen in den Bars ein paar Aperitifs genommen, und sie war mit ihren Nachbarn, ihrem Viertel und ihrem Leben rundum zufrieden gewesen.

Bis vor einem Monat hatte sie sogar einen guten Job gehabt. Nachdem sie sich in einer Maklerfirma zur persönlichen Assistentin des Vizepräsidenten hochgearbeitet hatte, war sie am Ziel ihrer Wünsche angekommen. Der Mann hatte ihr in allem vertraut, in der Wahl der richtigen Mittel gegen Sodbrennen genauso wie bei der Verwaltung von Kundenkonten, die mehr Geld enthielten als die Banksafes mancher kleinerer Staaten.

Die Arbeit war aufregend und abwechslungsreich gewesen und bot ihr die Aufstiegschancen, die sie in Maple Mountain nie gefunden hätte.

Außerdem war sie mit einem viel versprechenden Broker ausgegangen, den eine glänzende Karriere erwartete und der von Heirat und Kindern sprach.

Bei der Erinnerung daran verkrampfte sich Jennys Magen, und sie stellte die Schale, die sie gerade ausgepackt hatte, heftiger ab als beabsichtigt.

Das war vorbei. Im Augenblick konnte sie froh sein, wenn wenigstens das kleine Restaurant vor Ort, in dem sie sich schon während des Studiums etwas dazuverdient hatte, sie als Kellnerin einstellte. Schließlich war sie bis über beide Ohren verschuldet.

Ein lautes Poltern an der Tür ließ sie zusammenzucken, und die Schale, die sie gerade in der Hand hielt, fiel zu Boden. Die leuchtend roten Scherben sprangen in alle Richtungen über den abgewetzten Linoleumboden.

„Ich weiß, dass jemand da drinnen ist, ich sehe Licht. Würden Sie bitte aufmachen?“ Die tiefe, männliche Stimme wurde unvermittelt leiser. „Ich brauche Hilfe.“

Das kümmerte Jenny allerdings wenig. Sie hatte heute schon eine unangenehme Begegnung mit einem Fremden hinter sich und keine Lust, ihre Pechsträhne mit einem weiteren Zwischenfall zu verlängern. Das nächste Haus war fast einen halben Kilometer entfernt.

Wieder polterte es an der Tür. „Kommen Sie, bitte. Ich bin verletzt.“

Jenny hatte nicht vorgehabt, zu öffnen, doch nun änderte sie ihre Meinung. Natürlich konnte der Fremde alles Mögliche behaupten, doch seine Stimme klang tatsächlich, als hätte er Schmerzen.

Mit klopfendem Herzen schlich sie durch das dämmrige und völlig leere Wohnzimmer und spähte durch das ovale Fenster, das in der Haustür eingelassen war.

Allerdings half ihr das nicht weiter, denn eine dicke Staubschicht lag auf dem Glas. Sie erkannte nur den Umriss eines Mannes, der offenbar dunkle Haare hatte. Den Umriss eines großen und breitschultrigen Mannes.

An der Haltung seines linken Arms sah sie, dass er nicht an der Tür geklopft, sondern dagegen getreten hatte. Und er holte schon zum nächsten Tritt aus. Als er sie bemerkte, trat er jedoch hastig einen Schritt zurück.

Sie hatte einen Schraubenschlüssel aus ihrem Autowerkzeugkasten benutzt, um die Bretter von den Fenstern zu hebeln, und der lag praktischerweise noch auf der Fensterbank. Sie hob ihn auf, schloss fest die Finger darum und öffnete dann vorsichtig die Tür einen Spaltbreit.

Draußen grollte noch immer der Donner. Obwohl der Regen für eine frühe Dämmerung sorgte, konnte sie den Fremden deutlich sehen, als sie hinausspähte.

Er sah wahrscheinlich gut aus, wenn sein Gesicht nicht gerade schmerzverzerrt war. Außerdem war er bis auf die Haut durchnässt. Sein dunkles Haar lag wie ein Helm am Kopf, und das Hemd klebte ihm am Körper, sodass die Muskeln sich darunter abzeichneten.

Ihr Blick fiel auf den linken Arm, den er mit dem rechten an den Oberkörper gedrückt hielt. Er wirkte verletzt, und Jenny öffnete die Tür ein Stück weiter.

Doch er rührte sich nicht, die Augen auf den Schraubenschlüssel in ihrer Hand gerichtet. „Mein Wagen ist von der Straße abgekommen, da vorn.“ Er versuchte mit einer Kopfbewegung die Richtung anzudeuten, unterbrach sie jedoch mit einem Schmerzenslaut. „Ich habe mir die Schulter ausgekugelt. Könnten Sie mir vielleicht helfen?“

Jenny betrachtete den Fremden prüfend. Früher hätte sie ihn sofort hereingebeten. Doch nach mehreren Jahren in der Stadt und den Ereignissen der letzten vier Wochen war sie nicht mehr so vertrauensselig wie früher. Wer weiß, vielleicht zog der Kerl eine riesige Show ab und würde über sie herfallen, kaum dass er im Haus war.

„Ist noch jemand im Wagen?“

„Nein, ich bin allein.“

„Und wo hatten Sie den Unfall?“

„In der Todeskurve. Deshalb wird die ja so genannt. Hören Sie …“

„In welche Richtung sind Sie gefahren?“

Er schluckte schwer und lehnte sich erschöpft gegen den Verandapfosten. „Richtung Westen.“

Sein Gesicht verlor alle Farbe, und er atmete mühsam. Das reichte Jenny, um alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und den Schraubenschlüssel fallen zu lassen. Selbst wenn er noch so ein talentierter Schauspieler war, würde er wohl kaum seine Gesichtsfarbe auf Kommando ändern können.

Eilig trat sie auf die Veranda und hoffte inständig, dass er nicht ohnmächtig wurde. „Halten Sie durch. Ruhen Sie sich einen Moment aus. Okay?“

Er war groß und schwer, und wenn er zusammenbrach, würde sie ihn niemals allein bewegen können. „Ich hole nur schnell meine Handtasche mit dem Autoschlüssel.“

„Die brauchen Sie nicht. Sie können mir helfen.“

„Das habe ich ja vor“, erklärte sie geduldig und fragte sich kurz, ob er sich den Kopf angeschlagen hatte. Ohne Autoschlüssel konnte sie schließlich nicht fahren. „Ich bringe Sie zum Arzt.“

„Ich bin der Arzt.“

Jenny hatte sich wieder zur Haustür umgedreht. Nun blieb sie stehen und wandte langsam den Kopf. Ihr Misstrauen flammte sofort wieder auf. „Ich kenne zufällig den Arzt hier“, sagte sie. „Doc Wilson ist kleiner als ich und so alt wie Methusalem.“

„Ich weiß. Deswegen hat er sich ja zur Ruhe gesetzt. Ich habe vor zwei Jahren seine Praxis übernommen.“

„Dann bringe ich Sie zur Krankenschwester.“

„Bess ist bei einer Geburtstagsfeier in West Pond.“

Jennys Zweifel legten sich wieder. Er kannte Bess.

„Ich weiß, dass Sie mich nicht kennen“, sagte er, bevor ihr eine Antwort einfiel. „Ich kenne Sie ja auch nicht. Und ich habe keine Ahnung, was Sie in dem verlassenen Haus hier zu suchen haben. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen keinen Ärger mache. Mein Name ist Greg Reid, ich wohne im Haus am Ende der Hauptstraße, ein paar Blocks von der Praxis entfernt. Sehen Sie sich meinen Führerschein an, wenn Sie wollen, er steckt in meinem Portemonnaie in der hinteren Hosentasche.“ Während er sprach, war er noch blasser geworden. „Ich würde ihn Ihnen zeigen, aber ich kann meinen Arm nicht loslassen.“

Seine Stimme klang schmerzerfüllt, aber sie glaubte, auch Verzweiflung herauszuhören. Auf einmal bekam sie ein schlechtes Gewissen. Gut, sie hatte einen der schlechtesten Tage ihres Lebens, aber ihr Besucher schien auch nicht gerade das große Los gezogen zu haben.

Es kam ihr klüger vor, ihm zu vertrauen, als in seiner Gesäßtasche nach seinem Führerschein zu suchen. „Tut mir leid“, sagte sie und meinte damit gleichermaßen seine Situation wie ihre übermäßige Vorsicht. „Aber dann müssen wir Sie eben woandershin bringen.“ Es gab ein Krankenhaus, das allerdings fast anderthalb Fahrtstunden entfernt lag. „Ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen sonst helfen könnte.“

„Ich erkläre Ihnen, was Sie tun sollen. Es ist nicht schwierig. Ich muss mich nur setzen. Okay?“

Greg musste sich dringend hinsetzen, hauptsächlich, weil er nicht wusste, wie lange er sich noch aufrecht halten konnte. Sein Schlüsselbein, seine Brust, sein linker Arm und sein Rücken pulsierten vor schneidenden, immer stärker werdenden Schmerzen. Er spürte Schweißperlen auf seiner Oberlippe, und wenn er daran dachte, wie weh es tun würde, wenn er den Arm erst losließ, wurde ihm schlecht.

Aber immerhin trat die entnervend misstrauische junge Frau vor ihm nun endlich zur Seite, um ihm Einlass ins Haus zu gewähren, und sie wirkte kräftig genug, um ihm tatsächlich zu helfen.

Seine Retterin schloss die Tür hinter ihnen und folgte ihm durch den dunklen, leeren Raum in Richtung des Lichtscheins. „Hier hinein“, sagte sie und ging an ihm vorbei. „Neben der Spüle steht ein Hocker.“

Er folgte ihr in die ebenso leere Küche. Im Lichtschein sah er rote Keramikscherben auf dem Boden. Offenbar gab es keine Möbel im Haus, und die einzige Sitzgelegenheit war tatsächlich der Hocker.

Schwindlig vor Schmerzen beobachtete er, wie sie eine Umzugskiste von der Sitzfläche auf den Boden stellte und sich dann mit beiden Händen das zum Pagenkopf geschnittene, rotbraune Haar aus dem Gesicht strich.

Sie war jung und hübsch, und wenn er nicht solche Qualen ausgestanden hätte, hätte er ihren tiefblauen Augen sicher mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In seiner jetzigen Lage interessierte ihn allerdings nur, dass sie intelligent genug aussah, um seinen Anweisungen folgen zu können. Und dass er sich endlich hinsetzen konnte.

Im Licht sah er noch schlimmer aus. Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Oberlippe, und er zitterte. Erschrocken legte Jenny ihm eine Hand auf den unverletzten Arm. Unter dem nassen Stoff fühlten sich seine Muskeln hart und kalt an.

„Einen Moment“, sagte sie und ließ die Hand lange genug auf seinem Arm liegen, um sicherzugehen, dass er nicht vom Hocker fallen würde. „Ich hole Ihnen ein Handtuch.“

Sie war sich nicht sicher, ob er nur vor Kälte zitterte oder ob es ein Anzeichen für Schock war.

„Können Sie das Hemd ausziehen?“, fragte sie. „Sie sind ja klatschnass.“

„Ich will meinen Arm nicht loslassen.“

Offenbar bedeutete das, dass er dabei Hilfe brauchte.

Eine Ecke der Küche hatte sie schon gefegt und zwei weitere Umzugskisten dort abgestellt, von denen eine ihr Bettzeug enthielt. Sie riss sie auf, durchwühlte den Inhalt und zog ein hellgelbes Badetuch heraus.

Er saß jetzt vornübergebeugt und stützte den Ellenbogen seines verletzten Armes auf dem Oberschenkel ab. Mit der freien Hand mühte er sich mit dem obersten Hemdknopf ab, was durch den nassen Stoff und seine unbequeme Position noch erschwert wurde.

Hastig ließ Jenny das Handtuch auf die Kiste fallen, die sie gerade ausgepackt hatte. „Warten Sie, ich mache das.“

Sein leises „Danke“ klang furchtbar schwach.

Seine offensichtlichen Schmerzen ließen ihr keine Zeit, darüber nachzudenken, wie unbehaglich sie sich dabei fühlte, einem Fremden das Hemd aufzuknöpfen. Um die Manschetten brauchte sie sich nicht kümmern, da er die Ärmel aufgekrempelt trug. Doch als sie den untersten Knopf erreicht hatte, musste sie ihm das Hemd aus der Hose ziehen.

Ihn schien es nicht zu kümmern, dass eine wildfremde Frau seinem Hosenreißverschluss nahe kam, und auch nicht, dass sie ihm die Arme um die Taille legen musste, um das Hemd hinten herauszuziehen. Im Gegenzug versuchte sie zu ignorieren, dass er nach einer würzigen Seife roch und sie darunter noch eine andere, männliche Note entdeckte. Da sie so dicht vor ihm stand, spürte sie die Wärme, die sein großer, breitschultriger Körper ausstrahlte. Auch die Berührung seiner Schenkel an den Innenseiten ihrer Beine war ihr nur allzu deutlich bewusst.

Aus seinem Haar löste sich ein Wassertropfen, lief ihm über die Wange und blieb an seinem Kinn hängen. Sie widerstand dem Impuls, ihn abzuwischen, und sagte stattdessen mit einem Blick auf seine Schulter: „Sie müssen den Arm noch einmal loslassen.“

Er unterdrückte ein Stöhnen, sodass Jenny den nassen Ärmel von seinem Arm streifen konnte. Dann hielt er ihn sofort wieder fest.

Sie ließ das Hemd achtlos auf die Arbeitsplatte fallen, denn ihre ganze Aufmerksamkeit war von seinem muskulösen Oberkörper gefesselt. Allerdings war es nicht so sehr sein beeindruckender Körperbau, von dem sie den Blick nicht wenden konnte, während sie nach dem Handtuch tastete, sondern der riesige Bluterguss auf seiner Brust, die tennisballgroße Beule unter seinem Schlüsselbein und der völlig falsche, flache Winkel, in dem seine Schulter abfiel.

„Lassen Sie das jetzt“, sagte er stöhnend. „Bringen wir es besser hinter uns.“

Sie warf das Handtuch zurück auf die Kiste. „Was soll ich denn tun?“

„Legen Sie Ihre Hand auf den Kopf des Humerus.“

Der schreckliche Anblick verstärkte ihre ursprünglichen Bedenken nur noch. „Das Fachchinesisch lassen Sie besser weg.“

„Das runde Ding unter meinem Schlüsselbein.“

Vorsichtig stellte sie sich wieder zwischen seine gespreizten Beine und tat, was er gesagt hatte. Als sie die Beule berührte, sog er scharf die Luft ein. „Ja, dort.“

„Lieber Himmel.“

Die gerötete Haut fühlte sich an ihrer Handfläche kühl und an den Fingern heiß an. Jenny spürte den Knochen und die verkrampften Muskeln darum herum. Sie zuckten unter ihrer Hand, und sie sah den Mann entsetzt an.

Er hielt die Augen geschlossen, und die Wimpern hoben sich pechschwarz vor der unnatürlich blassen Haut seiner Wangen ab. Auch die vollen, geschwungenen Lippen wirkten blutleer. Er öffnete leicht den Mund und atmete langsam aus.

Sie tat es ihm nach, und als er langsam die Augen öffnete, bemerkte sie zum ersten Mal ihre eigenartige, silbergraue Farbe. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass es schiere Willenskraft war, die ihn daran hinderte, einfach ohnmächtig zu werden.

„Was jetzt?“, fragte sie gepresst.

„Die Muskeln haben sich völlig verkrampft, also müssen Sie selbst Kraft aufwenden. Nehmen Sie meinen Arm, und wenn ich ihn loslasse, dann ziehen Sie daran, während Sie gleichzeitig die Kugel nach unten drücken. Ich werde dagegen halten.“

Unbehaglich ergriff sie seinen Oberarm knapp über dem Ellenbogen. Sobald er seinen Arm losließ, versteifte sich sein Körper – und ihrer ebenso, denn er legte die freie Hand auf ihre Hüfte.

Die Berührung kam so unerwartet, dass ihre Stimme kraftlos klang, als sie fragte: „So?“

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß er hervor: „Los.“

Innerlich zitternd begann Jenny, an seinem Arm zu ziehen. Sie war nicht darauf gefasst, wie schwer und leblos er sich anfühlte, und umfasste ihn fester, während sie gleichzeitig auf den Knochen drückte.

„Fester“, stöhnte er.

Es bestand kein Zweifel daran, dass sie ihm Schmerzen zufügte. Seine ohnehin schon feuchte Haut glänzte nun vor Schweiß, sein Atem kam stoßweise. Alles in ihr drängte danach, ihn sofort loszulassen, als sie spürte, wie der Knochen sich bewegte.

„Fester“, stieß er wieder hervor.

„Ich ziehe ja schon, sosehr ich kann.“

Da die Muskeln um den Knochen völlig verkrampft waren, bewegte sich der Knochen nicht weit genug.

Er griff wieder nach seinem Arm und sagte ihr, sie solle aufhören.

Hilflos betrachtete Jenny sein schmerzverzerrtes Gesicht.

„Ich habe befürchtet, dass es nicht klappt.“

Ungläubig starrte sie ihn an. „Wieso haben wir es dann gemacht?“

„Weil es die einfachste Methode ist, einen ausgekugelten Arm einzurenken. Wenn es denn funktioniert“, erklärte er, atmete dann ein paarmal durch.

Er war jetzt weiß wie die Wand und schwankte auf dem Hocker hin und her. Sie hatten es nur noch schlimmer gemacht.

„Oh Mann“, stöhnte er.

„Lieber Himmel“, stimmte sie ein und legte eine Hand auf seine unverletzte Schulter, um ihn zu stützen.

Sie versuchte, den grotesk hervorstehenden Knochen zu übersehen, und wischte einen Tropfen weg, der von seiner Schläfe zum Kinn lief.

„Haben Sie nicht ein Schmerzmittel?“ Auch auf der anderen Seite löste sich ein Tropfen, den sie ebenfalls auffing. „In Ihrer Arzttasche vielleicht? Ist die noch im Auto?“

„Ich hatte sie nicht bei mir.“

„Aber Landärzte gehen doch nie ohne ihre schwarze Arzttasche aus dem Haus.“

„Nur, wenn sie Hausbesuche machen. Und ich war woandershin unterwegs. Kommen Sie, wir schaffen das schon.“

Unendlich mühsam verlagerte er sein Gewicht, und seine Stimme klang so angespannt, dass es Jenny schon wehtat, ihm zuzuhören. „Wir brauchen eine größere Hebelwirkung. Sie müssen meinen Arm nehmen und ihn gleichzeitig nach unten und zur Seite ziehen. Ich werde mich am Spülbecken festhalten und in die andere Richtung ziehen. Dabei sollte die Gelenkkugel zurück in die Kapsel rutschen.“ Er schluckte hart. „Umfassen Sie mit der einen Hand meinen Ellenbogen und mit der anderen mein Handgelenk. Wenn Sie angefangen haben zu ziehen, hören Sie nicht auf, bevor ich es sage. Okay?“

Gar nichts war okay. „Ich werde Ihnen nur wieder wehtun“, protestierte sie.

„Nein“, drängte er, stützte den verletzten Arm wieder auf den Schenkel und griff mit der freien Hand nach ihrem Handgelenk, als sie zurückwich.

Als sie aufschrie, ließ er sie erschrocken wieder los.

„Sie helfen mir“, sagte er beschwörend. „Wir versuchen es noch einmal. Je länger wir warten, desto schlimmer werden die Muskelkrämpfe.“

Es war die Art, wie er „wir“ sagte, die sie überzeugte. Ohne sie war er hilflos, und seine Schmerzen würden nur noch schlimmer werden.

„Na schön“, gab sie nach und rieb sich das Handgelenk. „Aber versuchen Sie diesmal etwas, was auch funktioniert.“

„Ja, es wird klappen.“

Mit offensichtlicher Überwindung und schwer atmend ließ er seinen Arm wieder los und hielt sich mit der freien Hand an der Spüle fest.

Auch Jenny keuchte. „Auf drei?“, stieß sie hervor, und er nickte.

Sie hoffte verzweifelt, dass er wusste, was sie taten. Bei drei zog sie, so stark sie konnte, und er stieß einen Schrei aus, der ihr Übelkeit verursachte. Gleichzeitig spürte sie, wie der Knochen in Bewegung geriet, und obwohl das auch nicht gerade angenehm war, war es immerhin das, was sie erreichen wollten.

Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und auch Jenny war mittlerweile klatschnass.

„Drehen Sie ihn nach unten“, stieß er kaum verständlich hervor.

Jenny betete stumm, dass der Mann, der sichtlich am Ende seiner Kraft war, nicht zusammenbrechen möge. Schließlich spürte sie, wie die Gelenkkugel mit einem satten Plopp wieder in die Kapsel glitt.

Einen Augenblick stand sie nur reglos da, unfähig zu atmen oder sich zu bewegen. Auch ihn schien alles Leben verlassen zu haben. „Kann ich jetzt loslassen?“, fragte sie schließlich zaghaft, noch nicht ganz überzeugt, dass sie es geschafft hatten.

Er antwortete nicht, sondern saß nur mit geschlossenen Augen da und sog heftig den Atem ein, offenbar zu geschwächt, um sich zu bewegen.

Vorsichtig und ganz langsam ließ sie seinen Arm los. Die Beule an seinem Schlüsselbein war verschwunden. Sie streckte die Hand aus und legte die Handfläche auf die Stelle, wo der Knochen hervorgetreten war. Die Muskeln dort fühlten sich noch immer schrecklich verkrampft und knotig an, und sie zweifelte nicht daran, dass Greg noch immer große Schmerzen litt. Doch sein Gesichtsausdruck begann sich zu entspannen. Offenbar war das Schlimmste vorüber.

Sie stand noch immer zwischen seinen Beinen und half ihm, das Spülbecken loszulassen und sich wieder gerade auf den Hocker zu setzen. Doch kaum hatte er sich aufgerichtet, als sein Körper wieder in sich zusammensank und sein Kopf auf ihre Schulter fiel.

Seine Erleichterung war so tief greifend, dass Jenny sie körperlich spürte. Auch sie selbst hätte vor Glück weinen mögen, als sie die Hand schützend um seinen Hinterkopf legte. Sie dachte überhaupt nicht darüber nach, was sie da tat, sondern folgte einfach ihrem Gefühl, hielt Greg fest an sich gedrückt und genoss die Atempause.

Daran, was sie getan hätte, wenn auch der zweite Versuch fehlgeschlagen wäre, mochte sie gar nicht denken. Unwillkürlich hielt sie ihn fester und streichelte sein nasses Haar.

Durch den Stoff ihres dünnen rosafarbenen Sweatshirts spürte sie seine Körperwärme, doch die Haut in seinem Nacken war unter ihren Fingerspitzen mit einer Gänsehaut überzogen. Instinktiv schlang sie beide Arme um ihn und zog ihn dichter an sich heran, um ihn zu wärmen.

Als ihr klar wurde, was sie da tat, wagte sie es allerdings vor Schreck nicht mehr, sich überhaupt zu rühren.

Greg spürte ihre plötzliche Anspannung im selben Moment, als das ungewohnt friedliche Gefühl verflog. Ein paar seltsame Augenblicke lang fühlte er sich umsorgt, geradezu getröstet.

Er selbst war immer für andere Menschen da, doch die stille Beruhigung, die er in der Umarmung dieser Frau fand, war etwas, was er selbst vorher noch niemals erfahren hatte. Nicht als Kind und nicht als Erwachsener. Nicht einmal bei der Frau, mit der er die letzten zwei Jahre zusammen gewesen war.

Überrascht hob er den Kopf. Nachdem der Schmerz zu einem dumpfen Pulsieren abgeklungen war, wurde ihm auf einmal bewusst, wie frisch und gleichzeitig weiblich sein rettender Engel duftete, wie sanft sie ihn berührte. Wie dicht sie vor ihm stand.

Da sein Kopf nur wenige Zentimeter von ihr entfernt war, hatte er einen hervorragenden Blick auf die zarte Haut an ihrem Hals, ihr leicht geschwungenes Kinn und ihre vollen, ungeschminkten Lippen.

Ihr Atem streifte seine Haut, und ihre Wärme rief ein Verlangen in ihm hervor, das er tief in sich vergraben hatte, nun aber als deutliches Ziehen in der Leistengegend spürte.

Ihre Wangen waren leicht gerötet, als sie eine Hand hob und ein paar Tropfen abwischte, die noch immer aus seinem Haar über seine Wange liefen. Doch als sie seinen Blick auf sich spürte, lächelte sie leicht und nahm die Hand weg.

„Es geht Ihnen besser“, sagte sie, trat einen Schritt zurück, griff nach dem Handtuch auf der Umzugskiste und legte es ihm um die Schultern.

„Viel besser.“ Er hob vorsichtig die Hand und tastete sein Schultergelenk ab. Ob er sich einen Bänderriss zugezogen hatte, ließ sich so allerdings nicht feststellen. Auf jeden Fall würde seine Schulter die nächsten Wochen die Farbe einer Aubergine haben. Im Augenblick war ihm allerdings alles recht, Hauptsache, der Schmerz war vorbei. „Ich danke Ihnen.“

Wieder lächelte sie zaghaft, nahm eine Ecke des Handtuchs und rieb es über sein Haar. „Sie könnten noch so eins gebrauchen“, sagte sie.

Autor

Christine Flynn
Der preisgekrönten Autorin Christine Flynn erzählte einst ein Professor für kreatives Schreiben, dass sie sich viel Kummer ersparen könnte, wenn sie ihre Liebe zu Büchern darauf beschränken würde sie zu lesen, anstatt den Versuch zu unternehmen welche zu schreiben. Sie nahm sich seine Worte sehr zu Herzen und verließ seine...
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