So lang auf Dich gewartet

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Früher war John so charmant und aufmerksam - und Leah so sehr in ihn verliebt. Doch dann heiratete er ihre Stiefschwester und ihr Traum von einem gemeinsamen Leben zerbrach. Nun braucht John nach dem Tod seiner Frau ihre Hilfe. Kann sie ihm helfen, sein Herz zu heilen?


  • Erscheinungstag 11.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753559
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Leah Hayes hätte die Entfernung von ihrem Elternhaus bis zu John Bennetts Haus in wenigen Minuten zurücklegen können. Normalerweise hätte sie das auch ohne Bedenken getan, denn die Umgebung war ihr auch nach achtjähriger Abwesenheit von Missoula noch sehr vertraut. Da sie aber nicht wusste, wie sie empfangen würde, ließ sie sich lieber Zeit.

„Kennst du den Weg nicht, Tante Leah?“, fragte ihre sechsjährige Nichte besorgt.

„Doch, Gracie“, beruhigte sie das Kind und blickte in den Rückspiegel. „Ich kenne den Weg zu dir nach Hause.“

Das schien Gracie zu beruhigen.

Das Mädchen glich sowohl ihrer Mutter, Leahs Stiefschwester Caro, als auch ihrem Vater. Von Caro hatte sie das herzförmige Gesicht und die blonden Locken, von ihrem Vater die hellgrauen Augen und das energische Kinn geerbt.

„Du fährst aber langsam“, meinte das Kind.

„Ich bewundere die schönen Blumen. Dieses Jahr hat wohl jeder viel im Garten gearbeitet.“

„Wir nicht“, erwiderte Gracie enttäuscht. „In unseren Beeten ist nur Unkraut.“

„Na ja, das lässt sich ändern, während ich hier bin. Unkraut zu jäten und Pflanzen zu setzen dauert nicht lange, wenn wir zusammenarbeiten.“

„Vielleicht kann Daddy auch helfen“, meinte Gracie wehmütig. „Bevor meine Mom gestorben ist, hat er immer darauf geachtet, dass wir schöne Blumen hatten.“

„Vielleicht“, entgegnete Leah, obwohl sie keine Ahnung hatte, was John in den nächsten Wochen tun würde.

„Wahrscheinlich ist er zu beschäftigt“, meinte das Kind resigniert. „Immer hat er zu viel Arbeit, um etwas mit mir zu machen, oder er ist zu traurig. Er vermisst meine Mom nämlich sehr. Aber jetzt bist du hier und kannst etwas mit mir unternehmen, nicht wahr?“

„Auf jeden Fall, Gracie. Ich bin bei dir, und wir werden in diesem Sommer viel gemeinsam erledigen. Versprochen.“

„Siehst du das Unkraut?“, fragte Gracie, als sie in die „Cedar Street“ einbogen.

„Ja“, erwiderte Leah und versuchte ihren Unmut über das vernachlässigt aussehende Haus zu verbergen, das so ganz anders aussah als auf den Fotos, die ihr Caro vor Jahren geschickt hatte.

Der Garten war vollkommen verwildert, der Rasen nicht gemäht, und obwohl es Abend war, sah man kein Licht im Haus.

Leah hatte gehofft, dass ihr Vater und ihre Stiefmutter übertrieben hatten, als sie ihr von Johns Launen und seinem Verhalten berichtet hatten. Sicher hatte er jetzt die schlimmste Trauerzeit überstanden und war bereit, sein Leben fortzusetzen. Schließlich musste er für seine Tochter sorgen. Hoffentlich war er wirklich damit einverstanden, dass sie, Leah, sich diesen Sommer um das Kind kümmerte.

„Glaubst du, dass mein Dad zu Hause ist?“, wollte Gracie wissen.

„Steht dort nicht sein Wagen?“, fragte sie das Mädchen.

„Doch“, erwiderte das Kind. „Das heißt aber nicht, dass er zu Hause ist. Manchmal geht er abends noch lange spazieren.“

Leah hätte seine Abwesenheit verstehen können, wenn sie alleine gekommen wäre, aber er würde doch nicht einen seiner langen Spaziergänge machen, wenn seine Tochter nach Hause käme! Der Mann, den sie vor acht Jahren gekannt hatte, hätte nicht so gehandelt, aber John hatte sich nach Caros Tod gemäß den Aussagen ihres Vaters wohl sehr verändert.

„Wenn dein Vater nicht zu Hause ist, dann können wir immer noch zurück zu Grandpa fahren und dort auf ihn warten.“

„Okay“, stimmte Gracie zu und war offensichtlich mit Leahs Lösungsvorschlag einverstanden.

Leah beschloss, ihren Koffer noch im Kofferraum zu lassen, während sie Gracie beim Aussteigen half. Das kleine Mädchen hatte nur geringe Probleme, ihr verletztes Bein, das sich in einer Metallschiene befand, zu bewegen, aber sie nahm Leahs Hilfe an. Obwohl sie den Weg zum Haus auch eigenständig hätte gehen können, hielt sie die Hand ihrer Tante. Durch diesen körperlichen Kontakt fühlte sich Leah etwas sicherer.

Nun klingelten sie an der Tür, und Leah wünschte, sie hätte einen Pullover angezogen, da die Luft in Montana selbst im Juni noch kühl war.

„Oh, nein“, murmelte Gracie, als niemand öffnete.

Diesmal klingelte Leah intensiver als beim ersten Mal. Nach einer weiteren Minute kam jemand.

„Er ist da!“, rief Gracie, halb aufgeregt und halb verunsichert, was sicher auf das Verhalten ihres Vaters zurückzuführen war.

Leah zwang sich zu einem Lächeln.

Endlich wurde die Haustür mit einem Ruck geöffnet, und der Mann, der auf der Schwelle stand, bot für Leah einen erschreckenden Anblick. Hätte sie nicht mit John gerechnet, hätte sie ihn nicht wieder erkannt. Sein dunkles Haar war struppig, die Augen trübe, er war nicht rasiert, und das T-Shirt und die Jeans hingen an seinem Körper herunter. John wirkte wie ein Fremder, der ziemlich feindselig reagierte.

„Hallo Daddy“, grüßte Gracie.

Sofort änderte sich Johns Gesichtsausdruck, als er seine Tochter anschaute. Die Liebe zu dem Kind war offensichtlich groß. Nun glich er wieder dem guten, freundlichen Mann, der niemanden verletzen würde. Sicher war er gar nicht feindselig, sondern so voller Trauer, dass niemand außer seiner Tochter ein Lächeln auf sein Gesicht bringen konnte.

„Hi Gracie.“ John beugte sich hinunter und nahm seine Tochter in die Arme. „War es schön bei den Großeltern?“

„Oh, ja. Sie hatten eine Überraschung für mich.“ Zufrieden drehte sich das Mädchen um und zeigte auf Leah. „Schau mal, Daddy, das ist Tante Leah. Du erinnerst dich doch an sie? Ich habe sie öfter mit Mommy in Chicago besucht. Jetzt besucht sie uns in Missoula, und weißt du was? Sie bleibt den ganzen Sommer bei uns, und ich freue mich so, Daddy. Du auch?“

„Natürlich erinnere ich mich an deine Tante. Sogar sehr gut“, antwortete John in neutralem Tonfall und schaute Leah an. „Willkommen zurück in Missoula.“

Sie wollte wieder lächeln und ihn freundlich begrüßen, aber sein Gesichtsausdruck hielt sie davon ab. Er begegnete ihr zwar nicht direkt ablehnend, aber doch ziemlich unfreundlich. Das überraschte sie sehr, ebenso wie die Tatsache, dass er Gracies Frage, ob er sich über ihre Anwesenheit freute, nicht beantwortete.

Leah war davon ausgegangen, dass John über die Pläne ihres Vaters und ihrer Stiefmutter informiert war und dass er damit einverstanden war. Cameron und Georgette hatten Leah darum gebeten, sich in diesem Sommer um Johns Tochter zu kümmern, und das hatten die beiden doch sicher mit ihm abgesprochen? Wenn er jedoch sein Einverständnis gegeben hatte, war es merkwürdig, dass er Leah so unfreundlich behandelte.

Nun erinnerte sie sich allerdings daran, dass sie weder Cameron noch Georgette nach Johns Meinung zu diesem Arrangement gefragt hatte, und von selbst hatten sie das Thema nicht angeschnitten – wahrscheinlich aus gutem Grund. Sie hatten ihr nur erzählt, dass John sich seit Caros Tod sehr verändert hatte, und Leah hatte das gut verstehen können. Hätte sie geahnt, dass er sie gar nicht bei sich haben wollte, dann wäre sie nie nach Missoula zurückgekehrt.

Warum hatte sie sich bloß so unkritisch auf den Vorschlag ihres Vaters und ihrer Stiefmutter eingelassen?

Wahrscheinlich wegen ihrer Liebe zu Gracie. Cameron hatte behauptet, dass John noch zu sehr mit seinem Verlust beschäftigt war, um dem kleinen Mädchen die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Gracies Bemerkungen im Auto hatten das bestätigt. Natürlich kam dazu noch ihr Wunsch, nach acht einsamen Jahren ihren liebsten Freund wieder zu treffen.

Sicher würde John ihre Wiedersehensfreude nicht teilen. Seit Caros Tod war gerade ein Jahr vergangen, und er würde nie mehr jemanden so lieben wie sie. Aber mit solch einem unfreundlichen Empfang hatte Leah nun auch wieder nicht gerechnet.

„Das Zimmer für das Kindermädchen liegt hinter der Küche“, informierte er sie sachlich. Als wäre ich eine Angestellte und nicht die Freundin, mit der er einmal seine Hoffnungen und Träume geteilt hat, dachte Leah verwirrt.

„Fühl dich wie zu Hause“, fügte er distanziert hinzu. Bei Gracie schlug er dann einem freundlicheren Ton an. „Ich wette, du hast schon zu Abend gegessen.“

„Oh, ja, mein Lieblingsessen: Hamburger und Pommes frites.“

„Gut, denn gehen wir jetzt nach oben, damit du deinen Schlafanzug anziehen kannst. Es ist Zeit fürs Bett, junge Dame.“

Gracie schlang die Arme um ihren Vater und kicherte glücklich.

Während John mit Gracie die Treppe hochging, hätte Leah ihn am liebsten gefragt, was er sich eigentlich dabei dächte, sich ihr gegenüber so zu verhalten. Aber sie wollte nicht, dass das kleine Mädchen Zeugin einer Auseinandersetzung zwischen ihrem Vater und der Tante wurde.

Trotzdem hatte Leah das Recht zu erfahren, was mit John los war. Ihr Vater hatte ihr jedenfalls nicht alle Informationen gegeben. Natürlich war sie nicht ganz unschuldig daran, dass sie jetzt den Dingen ausgeliefert war. Schließlich war sie gerne bereit gewesen, sich in den Sommerferien um ihre Nichte zu kümmern, ohne genauere Hintergründe zu erfragen. Sie hatte geglaubt, dass sie mit Johns Launen schon fertig würde und Gracie ein stabiles Zuhause schaffen könnte. Als Lehrerin konnte sie Gracie auch dabei helfen, den Stoff nachzuholen, den sie aufgrund ihrer Verletzungen versäumt hatte.

Nun fielen ihr lauter Fragen ein, die sie Cameron und Georgette gar nicht erst gestellt hatte. Die Worte, mit denen die beiden John beschrieben hatten, wie zum Beispiel „bitter, verärgert, verändert“, hatte sie gar nicht hören wollen. Man hatte sogar erwähnt, dass in den letzten neun Monaten schon zwei Kindermädchen das Haus verlassen hatten, aber Leah hatte sich nicht nach den Einzelheiten erkundigt.

Offensichtlich waren sie nicht gegangen, weil John so nett zu ihnen gewesen war. Nun war Leah natürlich nicht irgendeine Frau, die dazu angestellt war, seine Tochter zu betreuen, sondern sie war eine alte Freundin. Davon war sie jedenfalls immer ausgegangen, bis er sie mit Nichtachtung strafte.

Natürlich könnte sie sofort nach Chicago zurückkehren. Niemand würde ihr einen Vorwurf machen, aber wer würde sich dann um Gracie kümmern? Ihr Vater und ihre Stiefmutter wollten eine Reise nach Europa antreten, und Leah fiel niemand anderes ein.

Sie musste also bleiben, denn sonst würde sie sich Vorwürfe machen. Feindseligkeiten von John Bennett würde sie jedoch nicht hinnehmen, schwor sie sich, als sie den Kofferraum öffnete. Schließlich war er einmal ihr bester Freund gewesen, und sie war aus gutem Grund hier.

2. KAPITEL

„Bist du böse auf Tante Leah?“, wollte Gracie besorgt wissen.

John drückte seine Tochter an sich und küsste sie auf die Wange. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er sein Kind gleich am ersten Abend zu Hause aufgeregt hatte.

„Nein, ich bin nicht böse auf Tante Leah“, versicherte er, als sie die Treppe hinuntergingen.

Jedenfalls nicht wütender als auf alle anderen Personen, die versucht hatten, sich in sein Leben einzumischen – wobei Gracie natürlich nicht dazugehörte. Seine Tochter würde nie ein Problem für ihn darstellen, denn seit dem Zeitpunkt ihrer Geburt war sie ein Lichtblick in seinem Leben.

„Du klangst aber so sauer, als du mit ihr gesprochen hast“, beharrte Gracie.

„Sauer?“, wiederholte er.

Wahrscheinlich lag seine Reaktion an den gemischten Gefühlen, die er den ganzen Nachmittag gehabt hatte. Nachdem Leahs Vater ihn informiert hatte, dass sie sich um Gracie kümmern sollte, war John verärgert und gleichzeitig unsicher gewesen.

Den Ärger kannte er schon, denn er begleitete ihn gemeinsam mit dem Schmerz, den er spürte, seit er Caro auf solch eine tragische, unerwartete Art verloren hatte. Er wollte jedoch kein Mitleid, weil er glaubte, es nicht zu verdienen. Schließlich war er der festen Überzeugung, für Caros Tod verantwortlich zu sein.

Die Unsicherheit, die er in den letzten Stunden empfunden hatte, war jedoch etwas anderes und hatte direkt mit Leah Hayes zu tun.

Wenn er daran dachte, dass sie wieder in sein Leben getreten war, erfüllte ihn eine fast unerträgliche Spannung. Als er ihr die Tür geöffnet hatte, hätte er sie am liebsten in die Arme genommen und ihr alle Sünden gebeichtet, die er begangen hatte.

Für alle Beteiligten war es jedoch besser, dass er nur „sauer“ geklungen hatte. Trotzdem musste er diesen Ton auf jeden Fall ablegen, besonders wenn Gracie in der Nähe war. Nun setzte er sie im Bad ab und schaltete das Licht ein.

„Ja, Daddy, sehr sauer“, bestätigte sie. „Wir können wieder zu Grandpa und Grandma zurückgehen, wenn du noch mehr Zeit für dich brauchst“, schlug sie ernst vor. „Aber wir müssen morgen wiederkommen. Wenn sie unterwegs sind, wohnt nämlich jemand anderes bei ihnen.“

John hockte sich vor seine Tochter und streichelte ihre blonden Locken. „Ich bin so froh, dass du wieder zu Hause bist, selbst wenn ich eben nicht besonders fröhlich ausgesehen habe. Ab jetzt bleibst du hier bei mir“, versprach er. „In den letzten Wochen hatte ich genug Zeit für mich.“

„Und was ist mit Tante Leah? Bist du auch froh, dass sie hier ist?“

„Bist du denn froh?“, wollte er wissen, weil er seine Tochter nicht belügen wollte.

„Oh, ja. Sehr, sehr froh.“

„Dann freut es mich auch. Jetzt wasch dein Gesicht und die Hände und zieh den Schlafanzug an. In der Zwischenzeit schlage ich schon mal die Bettdecke zurück, okay?“

„Okay. Liest du mir noch eine Geschichte vor?“, fragte sie vorsichtig.

„Natürlich. Hast du einen besonderen Wunsch?“

„Du darfst aussuchen.“

Da Gracie sich seit Neuestem selbst für das Bett fertigmachte, ging John langsam ins Kinderzimmer. Es lag gegenüber seinem Schlafzimmer und war im Gegensatz zu den anderen Räumen im Haus sauber und ordentlich. Das Bett war frisch bezogen, und Gracies Spielzeug war in Regale und Kisten geräumt. Caro hatte das Zimmer eingerichtet, und sie würde nie mehr sehen, wie es sich von einem Kinderzimmer in das Reich eines Teenagers verwandelte. Das war allein seine Schuld.

Als John zum Fenster ging, um die Jalousien herunterzuziehen, sah er Leah, die gerade ihr Gepäck aus dem Kofferraum ihres Wagens holte.

Während der Zeit, in der sie sich nicht gesehen hatten, hatte er vergessen, wie hübsch sie war. Das lange dunkle Haar fiel ihr auf die Schultern, und ihre schlanke Figur hatte sich an den richtigen Stellen gerundet. Nicht zuletzt schien ihr Herz immer noch am rechten Fleck zu sitzen.

Zu schade, dass er all das damals nicht richtig zu schätzen gewusst hatte.

Jetzt hoffte John nur, dass sie es sich in seinem Haus nicht zu gemütlich machte, besonders deswegen nicht, weil sie schon bald wieder abreisen würde. Außerdem wollte er nicht, dass sie einige Dinge aus seinem Leben erfuhr, die er aber vielleicht nicht verbergen konnte, wenn sie länger bei ihm bliebe.

Um Gracie konnte er sich auch alleine kümmern. Er musste sich nur zusammenreißen. Dass Leah jetzt für einige Zeit bei ihm wohnte, gab ihm hoffentlich den nötigen Antrieb.

„Daddy, du hast die Lampe nicht angemacht“, tadelte Gracie ihn, als sie in ihr Zimmer kam.

„Ich hatte nicht gedacht, dass du so schnell fertig sein würdest.“ Schnell zog er die Jalousien herunter und lächelte seine Tochter an. „Bist du sicher, dass du dich auch gründlich gewaschen hast?“

„Sehr gründlich.“ Sie erwiderte sein Lächeln, schaltete die Nachttischlampe ein und setzte sich auf das Bett. „Ich habe sogar meine Sachen in den Wäschekorb gelegt. Meine Zähne sind geputzt, und die Haare sind gekämmt.“

„Brauchst du Hilfe mit der Schiene?“, fragte er betont beiläufig.

„Nein, ich komme allein zurecht“, antwortete Gracie, als sie die Klettbänder löste, die die Schiene an ihrem linken Bein festhielten.

„Dann suche ich wohl besser eine Geschichte aus.“

Sie hatte die unhandliche Schiene tapfer getragen. Nach der Operation, die notwendig gewesen war, um die Knochenbrüche und Bänderrisse zu beheben, hatte sie ihre Krankengymnastik regelmäßig gemacht und war stolz, wenn sie einen kleinen Fortschritt erzielt hatte.

Seit einigen Monaten konnte sie mit der Schiene schon wieder selbstständig laufen. Nach den Prognosen der Orthopäden würde sie bald darauf verzichten können.

Mit Hilfe von Psychologen und ihren Großeltern hatte Gracie versucht, den Tod ihrer Mutter zu akzeptieren. Ganz allmählich wurde sie wieder das glückliche, gesunde und abenteuerlustige Mädchen, das sie noch vor einem Jahr gewesen war.

John wünschte, er hätte auch zu ihrer Genesung beigetragen, aber er war zu sehr mit sich beschäftigt gewesen, als dass er seiner Tochter hätte helfen können. Das sollte jetzt aufhören. Nun musste er den Ärger und die negativen Gefühle überwinden, um der Vater zu werden, den seine Tochter verdiente.

Außerdem musste er unbedingt Caros letzte Worte vergessen – und das, was er getan hatte, um so eine Reaktion hervorzurufen. Diese schrecklichen Erinnerungen konnten die vergangenen Ereignisse nicht ungeschehen machen und bedrohten seine Zukunft.

„Was ist mit ‚Gute Nacht, kleiner Bär‘?“, fragte Gracie vorsichtig, und erinnerte John, warum er vor dem Bücherregal stand.

„Eine gute Wahl“, meinte er, während er nach dem schmalen Buch griff. „Ich kann danach sogar noch eine andere Geschichte lesen, wenn du nicht zu müde bist.“

„Heute bin ich zu müde, Daddy.“

„Dann heißt es heute wohl ‚Gute Nacht, kleiner Bär‘ und gute Nacht, kleine Gracie. Wie findest du das?“

„Ach, Daddy, du bist manchmal so albern.“ Sie kuschelte sich in ihr Kissen und kicherte, als John sich neben sie setzte.

„Tut mir leid, ich wollte eigentlich ernst sein“, neckte er sie und öffnete das Buch. „Wahrscheinlich sollte ich wieder streng reden.“

„Nein, bloß nicht. Ich mag deine strenge Stimme gar nicht.“

„Dann schließe ich sie weg.“

„Wirfst du auch den Schlüssel weg?“

„Na ja, vielleicht brauche ich die strenge Stimme später noch mal. Für andere Leute zum Beispiel.“

„Aber nicht für mich, Daddy.“

„Nein, für dich nie.“

„Für Tante Leah auch nicht“, ordnete sie an. Danach gähnte sie und schloss die Augen.

John schwieg einige Sekunden lang, weil er seine Tochter nicht belügen wollte. Wahrscheinlich würde er schon in strengem Ton mit Leah reden müssen, um sie aus dem Haus zu bekommen. Er würde jedoch darauf achten, dass Gracie das nicht mitbekam. Sobald Gracie schlief, wollte er sich mit ihrer Tante befassen.

„Bist du sicher, dass du dir überhaupt eine Geschichte anhören kannst?“, fragte er das kleine Mädchen und legte den Arm um sie.

„Doch, ich kann wach bleiben.“

„Gut, dann …“

Nun konzentrierte John sich auf die Geschichte und war froh, dass seine Tochter, die er über alles liebte, bei ihm war.

In einer Hand hielt Leah ihren Koffer, in der anderen Gracies Reisetasche mit Kleidern, Büchern und ihrem heiß geliebten Kuscheltier. In der oberen Etage brannte Licht. Wahrscheinlich brachte John seine Tochter nun zu Bett. Wenn Leah sich frisch gemacht hatte, würde ihre Nichte wahrscheinlich schon schlafen. Danach musste sie einiges mit John regeln, aber ihr war nicht ganz wohl bei dem Gedanken.

Im Haus stellte sie Gracies Gepäck an der Treppe ab und ging dann zu ihrem Zimmer. Das Wohn- und das Esszimmer waren offensichtlich lange nicht benutzt und gesäubert worden. Überall sah man Staub und Spinngewebe. Das war aber noch nichts im Vergleich zur Küche.

Leah war entsetzt, als sie das schmutzige Geschirr sah, sowie leere Pizzakartons und Behälter mit chinesischem Essen. Auf dem Tisch lagen Bücher und Zeitungen. Diese Schlampigkeit war sicher ein Grund, warum ihr Vater sie um Hilfe gebeten hatte. In den letzten Jahren hatte sie anderen Menschen schon öfter geholfen, mit ihrem emotionalen Chaos fertig zu werden und war dann wieder aus deren Leben verschwunden. Schon früher hatte sie sich um ihren Vater gekümmert, nachdem ihre Mutter gestorben war, und sie hatte John zugehört, als er ihr von der Scheidung seiner Eltern berichtete.

Als ihr Vater Georgette kennengelernt hatte und Leahs Hilfe nicht mehr gebraucht wurde, war sie bereitwillig in den Hintergrund getreten. Das Gleiche hatte sie getan, als sie erkannte, dass John Caro liebte und heiraten wollte. Ebenso würde sie reagieren, wenn ihr Vater und ihre Stiefmutter aus dem Urlaub zurückkämen und sich wieder selbst um Gracie kümmern konnten.

Da der August allerdings noch in weiter Ferne lag, musste sie jetzt erst mal ihre Arbeit erledigen. Als sie in das für sie vorgesehene Zimmer trat, wurde ihr Entsetzen noch größer. Auf dem Bett lagen Kissen und Laken in völliger Unordnung, als sei die letzte Bewohnerin aus dem Bett gestürzt, hätte ihre Taschen gepackt und wäre gegangen. Die Schubladen des Kleiderschranks und der Kommode standen offen. Im Bad hingen benutzte Handtücher.

„Was ist denn hier passiert?“, fragte Leah laut. „Offensichtlich hat sich niemand um den Haushalt gekümmert.“

Wenigstens der Teppich schien sauber zu sein. Im Bad suchte sie frische Handtücher und wusch sich Gesicht und Hände. Danach holte sie Gracies Tasche und ging nach oben. Vorsichtig schaute sie in das Kinderzimmer. Die blonden Locken des Mädchens lagen auf dem Kissen mit Spitzenrand, und Gracie sah wie eine kleine Prinzessin aus.

Als ob sie spürte, dass jemand bei ihr war, öffnete sie die Augen und lächelte schläfrig.

„Ich wollte dich nicht wecken“, meinte Leah und setzte sich auf das Bett.

„Das hast du nicht. Ich habe darauf gewartet, dass du mir Gute Nacht sagst.“

„Dann Gute Nacht, Gracie.“ Leah lächelte das Mädchen an und küsste sie auf die Wange.

„Gute Nacht, Tante Leah.“

„Schlaf gut.“

„Ich habe noch mit Dad gesprochen“, meinte Gracie.

„Wirklich?“

„Er hat versprochen, nicht mehr sauer zu sein.“

„Das ist schön.“

„Ja. Sehe ich dich morgen?“

„Auf jeden Fall“, versprach Leah und deckte Gracie zu.

John mochte sie zwar nicht herzlich empfangen haben, und sie hatte auch kein sauberes Bett vorgefunden, aber sie würde ihre Nichte auf keinen Fall im Stich lassen.

Im Flur überlegte Leah, ob sie ihr Zimmer fertig machen oder mit John reden sollte. Er sollte nicht glauben, dass sie ihm verängstigt aus dem Weg ging. In der Vergangenheit hatte sie ihm öfter die Meinung gesagt, ohne dass das schwerwiegende Folgen hatte. Natürlich waren sie damals noch Kinder. Außerdem hatte er seiner Tochter versprochen, nicht mehr sauer zu sein.

Vorsichtig klopfte Leah an die Tür zu Johns Arbeitszimmer. Ohne auf eine Reaktion zu warten, ging sie hinein. Das Licht war nicht eingeschaltet, aber durch die Straßenbeleuchtung konnte sie erkennen, dass dieser Raum ordentlich war. John stand an einem der Fenster und achtete nicht auf sie.

Eigentlich wollte Leah ihm einen Vortrag über sein Benehmen halten, aber da er so verloren wirkte, verzichtete sie auf die Worte. Stattdessen ging sie zu ihm und hätte ihn am liebsten umarmt und ihm versichert, dass alles wieder gut würde.

Seine geliebte Frau war gestorben, aber er musste jetzt auch an Gracie denken. Außerdem war seine alte Freundin da, um ihm beizustehen.

„Verschwinde von hier, Leah.“

Johns Worte trafen sie wie ein Schlag. Nun hielt er die Schultern gerade und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er schien zum Kampf bereit. Warum nur? fragte Leah sich. Schließlich waren sie nie Feinde gewesen.

„Bist du taub, ich sagte, dass du verschwinden sollst“, wiederholte er und warf ihr einen wütenden Blick zu.

„Bitte, John, ich bin doch nur hier, um euch zu helfen“, begann sie, um ihn zur Vernunft zu bringen.

Autor

Nikki Benjamin
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