So nah und doch so fern

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AIs Hannah den Antrag von Ethan Kemp annimmt, weiß sie, dass er nur eine Mutter für seine Kinder sucht. Heiß verliebt wie noch nie, hat sie die Hoffnung, irgendwann das Herz ihres Mannes erobern zu können. Doch nach einem Jahr Ehe ist sie ihrem Traum keinen Schritt näher gekommen. Hannah ahnt, dass sie selbst ihr Glück in die Hand nehmen muss: Sie belegt einen Französischkurs, ändert ihr Outfit und beginnt endlich, selbstbewusster aufzutreten. Die Resonanz ist verblüffend. Ethan bemüht sich plötzlich ganz anders um sie. Als sie dann noch für eine Party ein besonders verführerisches Kleid wählt, kann Ethan kaum noch die Hände von ihr lassen. Werden sich in dieser Nacht ihre Wünsche erfüllen?


  • Erscheinungstag 27.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746414
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Leise betrat Hannah Kemp das Haus, machte die Tür zu und lehnte sich mit einem Seufzer der Erleichterung einen Moment dagegen. Sie war endlich daheim, und alle schienen zu schlafen.

Sie zog die ramponierten Schuhe aus, nahm sie in die Hand und schlich sich in der Dunkelheit an dem großen Tisch in der Zimmermitte vorbei. Plötzlich ging das Licht an. Überrascht und geblendet von der Helligkeit, blieb sie wie angewurzelt stehen.

„Ist die ganze Heimlichtuerei wirklich nötig? Bei uns gibt es keine Sperrstunde.“ Ethan setzte sich an den Tisch, auf dem ein halb leeres Kognakglas stand. Aber sobald er die lädierte Erscheinung seiner Frau sah, verlor sich sein leicht gelangweilt ironischer Ton. „Was, in aller Welt, ist passiert?“

Hannah war absolut nicht danach zumute, die vergangene Stunde noch einmal zu durchleben und vor allem Ethan die Sache zu erklären. Flüchtig blickte sie an sich hinunter. Die Seidenbluse sowie der Samtrock waren an mehreren Stellen gerissen, und die Seidenstrümpfe hingen in Fetzen an ihren schmutzigen Beinen.

„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte sie beruhigend, obwohl sie sich entsetzlich fühlte. Die Schrammen auf der Wange begannen zu brennen, da die Wärme im Zimmer allmählich ihren kalten Körper durchdrang. Die Temperaturen draußen ließen schon den nahenden Winter ahnen.

Ungeduldig winkte Ethan ab. „Hattest du einen Verkehrsunfall?“

„Nicht so ganz.“ Aus einem fünfundvierzig Stundenkilometer fahrenden Auto zu springen, konnte man nicht unbedingt einen Verkehrsunfall nennen. Ethan würde das wahrscheinlich als Wahnsinn bezeichnen. Aber er war auch nicht dabei gewesen. Hannah erschauderte und wankte leicht, als sich das Zimmer um sie drehte.

Er fasste sie am Arm. „Du bist ja ganz durchgefroren.“ Er zog den Hausmantel aus und legte ihn ihr um. „Setz dich, bevor du umfällst.“ Schon schob er ihr einen Stuhl unter.

Das Schwindelgefühl wich, und sie machte die Augen auf. „Dir wird kalt werden“, protestierte sie, als sie sah, dass er nur eine Pyjamahose trug.

„Trink das“, befahl er und musste sie regelrecht dazu zwingen. Sie hatte noch nie Kognak gemocht. „Erzähl mir genau, was passiert ist.“

„Ich möchte duschen“, erwiderte sie, aber seine Hand auf ihrer Schulter hinderte sie am Aufstehen.

„Erst wenn du mir alles erklärt hast. Warst du nicht eigentlich mit Kollegen aus deinem Französischabendkurs beim Essen?“ Seine Stimme klang skeptisch, als argwöhnte er, sie hätte ihn angelogen.

„Das war ich auch.“ Sie blickte ihn an. Er wartete zweifellos darauf, dass sie weiterredete. „Debbie und Alan haben mich abgeholt.“ Ihr Mann nickte. Er hatte das junge Ehepaar einmal kurz kennengelernt. „Craig Finch, er ist erst seit einem Monat bei uns, hat angeboten, mich wieder hier abzusetzen. Er meinte, er müsse ohnehin in diese Richtung fahren, sodass Alan sich den Umweg sparen könne.“ Sie schluckte. „Nur Craig hat dann einen Umweg gemacht, und als ich ihn darauf hinwies, hat er …“

„Was hat er getan?“ Ethans Stimme klang ruhig, aber er hatte die grauen Augen zusammengekniffen, und Hannah sah, wie sein Wangenmuskel zuckte.

„Er hat gelacht.“ Ihr wurde leicht übel, als sie sich an seinen Blick erinnerte. Sie war schon angespannt gewesen, denn er hatte einige zu persönliche und auch etwas schlüpfrige Dinge gesagt. Aber es war letztlich das Lachen gewesen, das sie wirklich alarmiert hatte.

„Gelacht?“, wiederholte Ethan ungläubig. Diese Antwort hatte er nicht erwartet.

„Du warst nicht dabei“, stieß sie wütend hervor. „Er hat so … Dinge gesagt.“ Im Restaurant hatte er sich ganz normal benommen. Aber als er dann allein mit ihr gewesen war, hatte sich sein Verhalten geändert. Er hatte lauter versteckte, anstößige Andeutungen gemacht.

„Er hat dich verletzt?“ Ethan beugte sich zu ihr.

Momentan wirkt er wesentlich gefährlicher als Craig vorhin, dachte Hannah und empfand sogleich Schuldgefühle wegen des Vergleichs. Ihr Mann hatte zwar seine Fehler, war aber grundsätzlich anständig und wahrlich kein Tyrann, auch wenn er sie jetzt regelrecht verhörte. Normalerweise hielt er sich völlig aus ihrem Leben heraus.

„Nein. Das ist passiert, als ich aus dem Auto gesprungen bin.“

In seinen angespannten Blick mischte sich Überraschung. „Ich schätze, es hat zu dem Zeitpunkt nicht gestanden?“

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn verzweifelt und ungeduldig an. Er war doch sonst nicht so begriffsstutzig. „Ich hatte Glück, dass er die Tür nicht verriegelt hatte“, antwortete sie aus einer nüchternen Überlegung heraus. „Ich bin in einem Dornengestrüpp gelandet und habe mir beim Aufstehen die Kleidung etwas zerrissen. Dann habe ich mich eine Weile in einem Graben versteckt, sollte er mir nachkommen, und bin schließlich über die Wiesen heimgegangen.“

„Wo ist das passiert?“

„An der Kreuzung nahe der Tinkersdale Road.“

„Das sind etwa neun Kilometer von hier.“

„Ich hatte den Eindruck, es wären mehr. Aber du hast wahrscheinlich recht.“ Sie lächelte matt. „Keine Sorge. Mich hat niemand gesehen“, erwiderte sie, um ihn zu beruhigen. Ihr Mann war sehr auf ein gutes Erscheinungsbild bedacht. Es hätte ihm nicht gefallen, wenn jemand aus dem Städtchen, in dem sie wohnten, sie in diesem Zustand erblickt hätte.

„Ist dir nicht in den Sinn gekommen, mich oder die Polizei anzurufen?“

„Ich habe die Handtasche in Craigs Auto gelassen und deshalb kein Geld gehabt. Außerdem interessiert sich die Polizei nicht für Verbrechen, die nicht passiert sind. Er hat mich nicht angefasst.“

„Bist du sicher, dass er das vorhatte?“

Das ging wirklich zu weit! „Es ist eine der Situationen gewesen, in der Vorsicht besser ist als Nachsicht“, antwortete sie spitz. „Ich bin niemand, dem die Fantasie durchgeht, Ethan.“

Das war unbestreitbar. Hannah war die gelassenste, praktisch veranlagteste Frau, die er in seinen siebenunddreißig Jahren kennengelernt hatte. Wenn ihm jemand heute Morgen gesagt hätte, sie wäre fähig, aus einem fahrenden Wagen zu springen, hätte er über die absurde Vorstellung gelacht.

Hannah war nicht wirklich scheu, auch wenn man das aufgrund ihres reservierten Verhaltens zuerst meinen konnte. Aber sie gehörte nicht zu den Frauen, die ruhig über nasse Wiesen nach Hause gingen, nachdem sie sich aus einer gefährlichen Situation befreit hatten. Zumindest hatte er das bisher gedacht.

Hätte sie mir überhaupt etwas erzählt, wenn ich sie nicht hätte zurückkommen sehen?, fragte er sich. Hatte sie beabsichtigt, morgen zum Frühstück zu erscheinen, als wäre nichts gewesen?

„Wir sollten die Polizei anrufen.“

„Warum? Es ist nichts passiert. Man würde mich nur für eine neurotische Frau halten.“ Wenn Ethan das schon nicht ausschloss, würden Fremde es bestimmt auch nicht tun. „Allerdings hätte ich gern die Handtasche mit meiner Brieftasche zurück.“

„Möchtest du nicht, dass dieser Mistkerl bekommt, was er verdient?“

„Zum Beispiel?“, fragte sie leise und sah ihn an. Tränen schimmerten in ihren haselnussbraunen Augen. Es waren Tränen der Wut, wie er erkannte, als sie weitersprach. „Was ich möchte, ist, dass er nur fünf Minuten die Hilflosigkeit und Angst erlebt, die ich …“ Sie biss sich auf die Lippe, damit sie endlich zu zittern aufhörte. „Wir bekommen selten, was wir möchten, Ethan.“

„Das ist eine deprimierende Philosophie.“ Ihre unvermutete Leidenschaftlichkeit bestürzte ihn. Was mochte sich noch hinter ihrer zur Schau getragenen Gelassenheit verbergen?

„Es war nur eine Bemerkung. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern ins Bett gehen.“

Er stützte sie am Ellbogen, als befürchtete er, sie könnte jeden Moment zusammenbrechen. Vor ihrer Schlafzimmertür streifte sie sich den Hausmantel ab.

„Vielen Dank. Entschuldige, wenn ich ihn beschmutzt habe. Gute Nacht, Ethan.“ Sie lächelte ihn an und verschwand in ihr Zimmer. Sekunden später hörte sie, wie nebenan seine Tür ins Schloss fiel.

Angeekelt zog sie sich aus. Und selbst wenn ihre Kleidung noch zu retten gewesen wäre, hätte sie sie weggeworfen. Im Bad betrachtete sie sich flüchtig im Spiegel. Sie sah entsetzlich aus. Kein Wunder, dass Ethan bestürzt gewesen war.

Das braune Haar, das sie normalerweise in einer geflochtenen Rolle hinten aufgesteckt trug, hing wirr und schmutzig herunter. Die Schrammen auf ihrer rechten Wange stachen rot unter dem Lehm hervor, und die verlaufene Wimperntusche ließ sie wie einen Pandabären aussehen.

Schnell stieg sie in die Dusche und spürte, wie sie sich unter dem warmen Wasserstrahl langsam entspannte. Aber wie sehr sie sich auch wusch, der Gedanke an Craig ließ sie sich immer noch schmutzig fühlen. Hatte sie den Eindruck erweckt, sie würde solche Avancen schätzen?

Nein, das hatte sie nicht. Aber sie hatte in ihrer Naivität geglaubt, dass eine Frau mit Ehering vor solchem Verhalten geschützt wäre. Unwillkürlich blickte sie auf ihren Finger. Er sah merkwürdig nackt aus. Auf Knien suchte sie den Boden der Dusche ab, ohne den Ring jedoch zu finden.

In Panik verließ sie die Kabine, wickelte sich ein Handtuch um und suchte weiter. Als sie ihn auch im Badezimmer nicht fand, versuchte sie ihr Glück im Schlafzimmer. Aber vergebens.

„Ich habe geklopft“, sagte Ethan, als er auf der Schwelle der Verbindungstür erschien. Es war das erste Mal, das er das tat, und auch wenn es lächerlich war, kam er sich wie ein Eindringling vor. Er sah Hannah nicht sofort, entdeckte dann aber das Häuflein Elend lautlos weinend auf dem Boden neben dem Toilettentisch. Offenbar hatte sie ihm nicht alles erzählt. Seine Miene verfinsterte sich.

„Ich habe meinen Ring verloren“, klagte sie, als sie Ethan bemerkte.

„Welchen Ring?“, fragte er verständnislos und kam zu ihr.

„Meinen Ehering.“

Er war erleichtert. „Ist das alles?“

Sie schien ihn nicht zu hören. „Vielleicht ist er auf der Treppe oder irgendwo unten. Ich gehe nachsehen.“ Schon stand sie auf, aber offenbar zu schnell.

„Du tust nichts dergleichen“, sagte er, stützte sie erst an den Ellbogen, hob sie dann hoch und trug sie zum Bett.

Was für ein Leichtgewicht, dachte er. War sie von Natur aus so schlank oder litt sie etwa an Essstörungen? Nach heute Abend würde ihn nichts mehr überraschen.

„Der Ring ist nicht wichtig. Ich kann dir einen neuen kaufen. Deine Nerven sind überreizt.“

Hannah schniefte, als er sie aufs Bett legte. Natürlich konnte er das. Warum, in aller Welt, hatte sie so reagiert! Warum sollte ihr ein Ring etwas bedeuten, der eine reine Zweckehe symbolisierte? Sie musste wirklich vorsichtiger sein. Aber wahrscheinlich vermutet er jetzt, dachte sie ziemlich zutreffend, dass er mit einer Verrückten verheiratet sei.

„Es tut mir leid“, sagte sie leise.

„Du hattest einen anstrengenden Abend.“ Ihre Tränen berührten ihn merkwürdig. Dann wurde ihm bewusst, dass er noch nie so viel von seiner Frau gesehen hatte. Sogar im Sommer am Strand hatte sie ein weites T-Shirt über dem Badeanzug getragen, und selbst die Kinder hatten sie nicht dazu bewegen können, ins Wasser zu gehen.

Das Handtuch bedeckte gerade ihre kleinen, wohlgeformten Brüste und endete … Die Beine waren ziemlich lang in Relation zu ihrer gesamten Größe. Ethan begegnete ihrem ernsten Blick, erkannte, dass sie ihn beim Betrachten beobachtete, und sah unvermittelt weg.

„Ich habe dir das für deine Schrammen gebracht.“ Er zeigte ihr eine Tube mit Jodsalbe.

„Das ist nett von dir.“

„Dein Rücken ist ziemlich zerkratzt.“

„Dahin kann ich nicht sehen.“

„Und auch nicht kommen“, fügte er sachlich hinzu. „Morgen wirst du es fühlen. Reicht den Impfschutz gegen Wundstarrkrampf noch aus?“

„Ich schätze, ja.“

„,Schätzen‘ ist nicht genug. Du gehst gleich morgen früh zum Arzt und lässt eine Auffrischungsimpfung machen. Dreh dich um, ich behandle deinen Rücken.“

Seine Berührungen waren unpersönlich, energisch und sanft. Sie fühlte sich wohlig entspannt und zum ersten Mal, seit sie aus dem Auto gesprungen war, wieder sicher.

„Du musst das lockern“, sagte er und zerrte an dem Handtuch.

Sofort erfasste sie Angst. „Nein, das reicht schon.“

„Ich schaffe es wahrscheinlich, mich beim Anblick deiner nackten Haut zusammenzureißen“, erwiderte er trocken.

„Ich hatte nicht gemeint …“ Sein Rückschluss war ihr peinlich. Sie hatte ihm nichts unterstellen wollen. Außerdem wusste sie, dass er sie nicht attraktiv fand. Aber dennoch taten seine nächsten Worte ihr weh.

„Du bist zu dünn“, erklärte er. „Isst du genug?“

„Das weißt du doch.“ Nein, das tat er eigentlich nicht. Sie aßen selten zusammen, fast nur, wenn sie eingeladen waren oder selbst Gäste hatten. Normalerweise aß sie mit den Kindern und Ethan später allein, wenn er heimkam. Er war Pendler und arbeitete als Rechtsanwalt in der City. Da er so erfolgreich war, dass er nach Sir James’ Rückzug aus der Kanzlei im nächsten Jahr wohl deren Leiter wurde, kehrte er häufig erst spätabends nach Hause zurück.

Hannah störte das nicht. Sie fühlte sich wohler, wenn er nicht da war. Nicht dass er sich in irgendeiner Weise tyrannisch benahm, aber in seiner Gesellschaft war sie sich immer so ihrer Defizite bewusst. Wenn er sie ansah, hatte sie stets das Gefühl, er würde sie mit seiner ersten Frau vergleichen. Und der Vergleich mit der heiligen Catherine konnte nur negativ ausfallen.

„Mrs. Turner wird dir bestätigen, dass ich dich wahrscheinlich unter den Tisch esse.“ Die Kinder würde er nicht als unparteiische Zeugen erleben, denn Tom und Bonny liebten sie abgöttisch. Doch der Haushälterin würde er glauben.

„Ich habe dich immer nur wie ein Spatz essen sehen. So, fertig.“ Er schob das Handtuch wieder hoch. „Die Kratzer gehen nicht tief.“

Hannah verwarf den Gedanken, ihm zu erzählen, dass sie bei diesen gesellschaftlichen Essen viel zu viel Angst vor einem Fauxpas hatte und deshalb kaum einen Bissen herunterbekam. Unzulänglichkeiten, zumindest ihre, machten Ethan ungehalten.

„Unter den gegebenen Umständen scheint mir dein Französischkurs keine gute Idee zu sein“, sagte er bedächtig.

Seine Feststellung bestürzte sie und weckte leisen Widerstand. „Aber donnerstags ist mein freier Abend.“

„Dein freier Abend?“, wiederholte er kühl. „Du bist nicht mehr das Kindermädchen, Hannah, sondern meine Frau.“

„Aber natürlich arbeite ich noch für dich. Ich nenne dich nur jetzt Ethan und nicht mehr Mr. Kemp.“ Das war sehr gewöhnungsbedürftig gewesen. „Der Vertrag ist langfristiger und lässt mir weniger Spielraum“, fügte sie grüblerisch hinzu. „Das ist alles.“

Er hätte nicht überraschter aussehen können, wenn sie ihm einen Nasenstüber gegeben hätte. Scharf atmete er ein, sodass seine imposante Bauchmuskulatur noch sichtbarer wurde. Er hatte sich zwar inzwischen die Pyjamajacke angezogen, sie aber nicht zugeknöpft.

„Es gibt keinen Grund, so von dir zu denken“, erwiderte er mit leicht gerötetem Gesicht.

„Als deine Frau muss ich … deinen Rat nicht unbedingt befolgen.“ Rat hörte sich freundlicher an als Befehl.

Ein kämpferischer Ausdruck trat in seine Augen. „Vielleicht solltest du dir deine Erfolge auf dem Entscheidungssektor erst einmal vergegenwärtigen, bevor du mir meinen Rat vorhältst.“

„Hast du an eine bestimmte Entscheidung gedacht?“

„Zum Beispiel zu einem Fremden ins Auto zu steigen? Nur ein Vollidiot würde so etwas Unverantwortliches tun“, antwortete er verächtlich. „Bonny mit ihren sieben Jahren wäre vernünftiger gewesen.“

Wie dumm von mir zu glauben, ich könnte eine Auseinandersetzung mit Ethan gewinnen, dachte sie und erwiderte aggressiv: „Wenn ich ein Mann wäre, würdest du das nicht sagen.“

Er sah erstaunt drein. So kannte er Hannah überhaupt nicht. Sein Blick ruhte einen Moment auf ihrem Schmollmund und löste eine befremdliche Reaktion in ihm aus. „Aber du bist kein Mann“, erklärte er bissig. „Was in deinem Outfit nicht zu übersehen ist.“

Sie errötete und versuchte nach einem flüchtigen Blick an sich hinunter, das Handtuch höher zu ziehen. Doch es war nun einmal nicht länger, als es war.

„Es tut mir leid, wenn mein dünner Körper dein Auge beleidigt, aber ich habe dich nicht in mein Zimmer gebeten.“ Selbst ein niedliches Häschen konnte aggressiv werden, wenn man es in eine Ecke drängte. Und sie war nicht so schwach und fügsam, wie Ethan annahm.

Sie hatte schon früh beschlossen, dass es nicht ihrer Art entsprach, auf Konfrontation auszugehen. Aber wenn man unbeschadet zehn Jahre in verschiedenen Pflegefamilien überlebte und auch die Zwischenstationen im Heim, zeugte das von einer gewissen Charakterstärke. So aufzuwachsen war sicherlich kein Vorteil gewesen. Doch sie hatte sich immer jede Bitterkeit untersagt und schlechte Einflüsse in ihrer Umgebung abgewehrt.

„Ich werde mir das in Zukunft merken“, erwiderte er steif.

„Ich wollte nicht …“ Sie seufzte frustriert. „Der Französischkurs bedeutet mir sehr viel“, gestand sie dann.

„Offenbar.“

Bestürzt beobachtete sie, wie sein Gesichtsausdruck immer verkniffener wurde. Es war reine Zeitverschwendung gewesen, an seine Sanftmut zu appellieren. „Ich muss raus, um … ich weiß nicht … ich zu sein.“

„Beinhaltet das für gewöhnlich auch, den Ehering abzustreifen?“

Starr blickte sie ihn an. Er glaubte doch nicht … „Ich habe den Ring verloren.“ Er war ihr immer zu groß gewesen. Wenn sie es nicht hassen würde, Ethan um etwas zu bitten, hätte sie ihm das längst gesagt.

„Du scheinst sehr wild auf einen Abendkurs zu sein“, stellte er herablassend spöttisch fest.

Hannah sah rot. „Nur ein Abendkurs für dich!“, schrie sie ihn an. „Aber du hast auch viele Freunde. Du gehst jeden Tag weg und triffst Leute. Ich bin bei den Kindern …“ Wenngleich sie Bonny und Tom liebte, waren sie nicht immer genug. Schwer atmend verstummte sie, war einerseits entsetzt über ihren Ausbruch, fühlte sich anderseits aber auch ein klein wenig erleichtert.

„Wir führen ein reges gesellschaftliches Leben. Meine Freunde …“

Deine Freunde verachten mich. Sie nehmen mich nur als dein Anhängsel in Kauf. Und eigentlich …“ Sie lächelte kurz, erstaunt über ihre Kühnheit. „Und eigentlich mag ich sie auch nicht besonders, zumindest die meisten nicht.“

Er sah, wie ihr blasses ovales Gesicht errötete. „Farblos“ war das Adjektiv, das er häufig mit dieser jungen Frau verband, die er geheiratet hatte. Aber das traf jetzt bestimmt nicht auf sie zu.

„Warum hast du das nicht schon früher gesagt?“

„Ich hielt es für unerheblich. Ich bin durchaus bereit, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen. Positive wie auch Negative.“ Doch meinen Französischkurs gebe ich nicht auf, dachte sie, brauchte das aber nicht hinzuzufügen, denn Ethan war wirklich nicht begriffsstutzig.

„Das ist sehr tolerant von dir. Hast du deiner Meinung nach im vergangenen Jahr viel Negatives zu ertragen gehabt?“

„Als Nächstes erzählst du mir, du habest mich aus der Gosse geholt“, erwiderte sie ärgerlich. „Du kannst auf meine Loyalität zählen, Ethan, aber nicht auf grenzenlose Dankbarkeit. Ich habe dich gewarnt, dass ich keine perfekte Gastgeberin sei. Aber ich bin eine gute Mutter.“

„Ersatzmutter.“

Sie zuckte zusammen, konnte aber aus seiner Miene schließen, dass er den schnellen Einwurf wohl bedauerte.

„Die Kinder lieben dich“, fügte er hinzu, um Hannah zu besänftigen, rief aber nur weitere Emotionen bei ihr hervor. „Empfindest du mich als so kleinlichen Ehemann?“

Es war nicht fair von ihm, Gefühle in die Debatte zu bringen. Denn Gefühle, genau genommen deren Fehlen, war die Grundlage ihrer Zweckehe. „Das habe ich nicht gesagt.“

Er hatte ihr jeden Monat ein großzügiges Taschengeld aufs Konto überwiesen. Ethan Kemps Frau konnte schließlich nicht in Jeans und Pulli repräsentieren. Als er gemerkt hatte, dass sie sich nicht überwinden konnte, Geld auszugeben, hatte er sich an die Frau eines Kollegen gewandt.

Hannah war sich nicht sicher, ob Alice Chambers nur einen schlechten Geschmack hatte oder sie einfach nicht mochte. Denn die Kleidung, mit der sie, Hannah, nach einem gemeinsamen Einkaufsbummel nach Hause zurückkehrte, war in Schnitt und Farbe unvorteilhaft für ihre zierliche Figur und ließ sie blass und abgespannt erscheinen.

Ethans Ärger begann zu verrauchen, als er ihren unglücklichen Gesichtsausdruck bemerkte. Sie wirkte plötzlich unglaublich jung. Und sie war ja auch unglaublich jung. Zuweilen übersah er den Altersunterschied, weil sie sich meistens so viel älter gab.

„Nein, das hast du nicht. Aber du bist offenbar unzufrieden. Das habe ich nicht gewusst.“

„Woher solltest du auch.“ Die Antwort war ihr entschlüpft, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte. Aber an manchen Tagen sprachen sie wirklich kaum ein Wort miteinander. „Ich bin nicht unzufrieden, nur erschöpft“, erklärte sie und spürte, wie die Einsamkeit in ihrer Ehe sie mit Macht überfiel. Es war mehr, als sie heute noch ertragen konnte. Geh einfach, bitte geh, dachte sie unglücklich.

Als hätte er ihren heißen Wunsch erraten, wandte er sich ab. „Wir reden morgen früh“, erwiderte er und verschwand hinter der Tür, über deren Schwelle sich Hannah in ihren geheimsten Träumen immer ersehnt hatte, er möge zu ihr kommen.

Sie war keine Frau, die zu spontanen Reaktionen neigte, aber in Ethan hatte sie sich auf den ersten Blick verliebt. Er war groß und stattlich, und in seinen grauen Augen spiegelte sich ein Intellekt so stark wie seine Muskeln. Sie ließ sich eigentlich nicht von Äußerlichkeiten blenden. Ethan hatte es ihr einfach in seiner Gesamtheit angetan, sie total überwältigt. Natürlich hatte sie das während des Vorstellungsgesprächs geschickt verborgen, sonst hätte er sie wahrscheinlich nicht engagiert.

Sie hatte ihn aus der Ferne verehrt, war in seiner Gegenwart aber immer ziemlich stumm gewesen. Und solange Tom und Bonny glücklich waren, hatte er sich für deren Kindermädchen eigentlich nicht interessiert. Erst als sie, Hannah, sich mit dem Grundschullehrer Matt Carter anfreundete, hatte er sie plötzlich mehr wahrgenommen, und sie hätte sich fast eingebildet, es ginge ihm wirklich um ihre Person.

Aber dann stellte sich heraus, dass er nur vorbauen wollte. Bonny und Tom hatten vor ihr schon drei Kindermädchen gehabt. Als sie in den Kempschen Haushalt kam, war Tom ein Jahr alt und Bonny fünf. Mit dem Jungen hatte sie keine Probleme gehabt. Er hatte sofort ihre Liebe angenommen. Aber das Vertrauen seiner Schwester hatte sie sich hart erarbeiten müssen. Das kleine Mädchen hatte schon leidvoll erfahren müssen, wie schmerzlich es war, jemanden zu lieben, den man dann wieder verlor. Sie hatte sich gut in Bonny einfühlen können und allmählich deren Vertrauen gewonnen, sodass sie schließlich nach einem Jahr zu einem festen Bestandteil im Leben beider Kinder geworden war.

Zu einem unerlässlichen Bestandteil, was Ethan anging. Seine Kinder sollten so glücklich bleiben, wie sie waren, und dafür war er bereit gewesen, alles zu tun. Er hatte befürchtet, dass sie, Hannah, womöglich so etwas Unpassendes wie ihre drei Vorgängerinnen machen könnte: sich verlieben oder schwanger werden. Er wollte eigentlich keine Frau und hatte ihr das auch gesagt, um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen.

In Kenntnis ihrer Vorgeschichte hatte er ihr ein Zuhause und finanzielle Sicherheit angeboten und zweifellos den Köder, den sie, die ganz allein war auf der Welt, für unwiderstehlich halten musste. Sie würde sich keine Sorgen mehr um Geld machen müssen, hätte die Familie, von der sie immer geträumt hatte … Kurzum, ein Märchen würde in Erfüllung gehen. Das Aber war unausweichlich: Sie würde letztlich eine bezahlte Angestellte für ihn bleiben. Der Ehevertrag, den er ihr vor der Hochzeit zur Unterschrift vorlegt hatte, hatte diese Tatsache nur noch unterstrichen.

Einen Tag nachdem er ihr das Angebot gemacht hatte, war sie darauf eingegangen. Aber er hätte bestimmt nicht so glücklich bei ihrem „Ja“ ausgesehen, hätte er gewusst, dass sie hauptsächlich aus Liebe ihre Einwilligung gegeben hatte. Die Liebe hatte sie die Warnung ihres Verstandes ignorieren lassen, dass eine solche Verbindung ihr nur Kummer und Schmerz verursachen konnte.

2. KAPITEL

Hannah brauchte sich keinen Wecker zu stellen, denn Tom kroch morgens fast immer in ihr Bett und sorgte dafür, dass sie rechtzeitig wach wurde. Aber heute fühlte sie keinen warmen Körper neben sich. Eilig stand sie auf, machte sich fertig und warf einen Blick in die Kinderzimmer. Sie waren leer.

„Warum hat mich keiner geweckt?“ Atemlos kam sie in die Küche und war noch damit beschäftigt, den Rockgürtel zu schließen. „Entschuldigung“, stieß sie hervor, als sie in Ethan hineinlief.

„Ich habe sie gebeten, dich schlafen zu lassen“, antwortete er, verhalf ihr galant ins Gleichgewicht und trat beiseite.

Ihre Körper hatten sich nur sekundenlang berührt, aber das war genug gewesen, um Hannahs Puls in die Höhe schnellen zu lassen. „Was machst du hier?“, fragte sie und verwünschte sich im nächsten Moment.

Ethan wollte oder brauchte ihre Aufmerksamkeit nicht, und jede noch so kleine Befragung erstickte er für gewöhnlich mit einer scharfsinnigen Antwort. Kehr wieder zurück zu der alten Beziehung mit der letztlich belanglosen Konversation, ermahnte sie sich stumm. Gestern Abend war eine Ausnahme gewesen und nicht etwa ein Wendepunkt.

Spöttisch zog er die Brauen hoch. „Ich wohne hier, vergessen?“

Sie errötete. „Solltest du nicht in der Kanzlei sein?“ Jetzt machte sie doch schon wieder den gleichen Fehler!

Hannah war sich nur zu bewusst, dass ihnen mindestens zwei Ohren zuhörten. Mrs. Turner hatte sich zwar nie zu Ethans seltsamer Wahl geäußert, aber es wäre nur menschlich, wenn sie die Situation faszinierte.

Autor

Kim Lawrence
Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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