So weit der Wind uns trägt

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Er ist skrupellos und kalt, behaupten Roberts Feinde. Nein, wiedersprechen die Frauen, er ist verführerisch und charmant! Die Wahrheit über Robert Cannon? In einer heißen Sommernacht erfährt Evie mehr über ihn, als sie sich hat träumen lassen. Doch ein gefährliches Rätsel verbirgt er selbst dann noch, als sie längst seiner Leidenschaft erlegen ist ...


  • Erscheinungstag 15.04.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766115
  • Seitenanzahl 150
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Davis Priesen hielt sich nicht für einen Feigling. Trotzdem hätte er lieber eine Operation ohne Narkose über sich ergehen lassen, als Robert Cannon gegenüberzutreten und ihm diese Nachricht zu bringen. Nicht, dass der Hauptaktionär und Chef der Cannon Group ihn für den Inhalt der Botschaft verantwortlich machen würde. Aber seine hellgrünen Augen würden noch eisiger werden. Davis lief schon ein kalter Schauder den Rücken hinab, wenn er nur daran dachte. Cannon stand in dem Ruf, absolut fair zu sein, aber kein Erbarmen zu kennen, wenn ihn jemand reinlegen wollte. Davis kannte niemanden, der mehr Respekt genoss als sein Chef. Nur war das im Moment kein Trost.

Andere Männer in Cannons Position ließen sich von einer großen Schar von Assistenten abschirmen. Bei Cannon hütete nur eine Privatsekretärin den Eingang zum Allerheiligsten. Felice Koury war seit acht Jahren seine persönliche Assistentin und leitete das Büro mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks. Sie war eine große, schlanke Frau ohne Alter, mit stahlgrauem Haar und der glatten Haut einer Zwanzigjährigen. Sie behielt stets die Ruhe, war beängstigend tüchtig und zeigte nicht das geringste Anzeichen von Nervosität in Gegenwart ihres Chefs.

Davis hatte sich angemeldet. Deshalb griff Felice sofort zum Telefon und drückte auf einen Knopf. “Mr. Priesen ist jetzt da, Sir.” Sie legte den Hörer wieder auf und fuhr fort: “Mr. Cannon bittet Sie herein.”

Cannons Büro war groß und elegant. Es lag am persönlichen Geschmack seines Inhabers, dass es trotz der kostbaren Ölgemälde an den Wänden und des zweihundert Jahre alten Perserteppichs eher entspannend als einschüchternd wirkte. Sechs Bogenfenster boten einen unvergleichlichen Blick auf New York City. Mit ihrem schönen Glas waren sie selber ein Kunstwerk.

Der schwere Schreibtisch war ebenfalls eine Antiquität. Er bestand aus geschnitztem Ebenholz und stammte aus dem 18. Jahrhundert.

Cannon war groß und schlank und bewegte sich mit der Grazie und der Kraft eines Panthers. Auch sein glattes schwarzes Haar und seine hellgrünen Augen passten zu diesem Bild.

Er stand auf und schüttelte Davis mit seinen langen, wohlgeformten Fingern kräftig die Hand. Davis staunte jedes Mal über den stahlharten Griff seines Chefs.

Bei früheren Gelegenheiten hatte Cannon seinen Sicherheitsbeauftragten zu der Sitzecke geführt und ihm eine Tasse Kaffee angeboten. Heute betrachtete er Davis' angespannte Miene und sagte: “Ich würde gern behaupten, dass ich mich über Ihren Besuch freue. Doch ich fürchte, Sie sind nicht hier, weil Sie eine gute Nachricht für mich haben.”

Davis wurde immer nervöser. “Nein, leider nicht, Sir.”

“Haben Sie einen Fehler gemacht?”

“Nein, Sir”, antwortete Davis und fügte aufrichtig hinzu: “Obwohl ich es früher hätte merken müssen.”

“Dann entspannen Sie sich und setzen Sie sich”, sagte Robert freundlich und nahm wieder hinter seinem großen Schreibtisch Platz. “Worum handelt es sich?”

Davis setzte sich zögernd auf die Kante des weichen Lederstuhls. “Jemand in Huntsville verkauft unsere Software für die NASA”, stieß er hervor.

Cannon blieb äußerlich ruhig. Doch seine Augen nahmen jenen eisigen Blick an, den Davis so fürchtete. “Haben Sie einen Beweis für diese Behauptung?”

“Ja, Sir.”

“Wissen Sie, wer der Schuldige ist?”

“Ich glaube, schon, Sir.”

“Dann sagen Sie es mir.” Nach dieser abrupten Aufforderung lehnte Cannon sich zurück und wartete aufmerksam.

Stockend berichtete Davis, weshalb er misstrauisch geworden war und von sich aus Nachforschungen angestellt hatte. Mehrmals wischte er sich den Schweiß von der Stirn, während er das Ergebnis seiner Ermittlungen schilderte.

PowerNet, ein Unternehmen der Cannon Group mit Sitz in Huntsville, Alabama, arbeitete an streng geheimer Software für die NASA. Diese Software war plötzlich bei der Tochtergesellschaft einer ausländischen Firma aufgetaucht. Das bedeutete nicht nur Industriespionage, was schlimm genug gewesen wäre, sondern war Hochverrat.

Davis' Verdacht konzentrierte sich auf Landon Mercer, den Manager der Firma. Mercer war seit einem Jahr geschieden und führte ein auffällig luxuriöses Leben. Zwar verdiente er nicht schlecht, aber nicht so viel, um den Unterhalt für eine Familie zu zahlen und seinen gegenwärtigen Lebensstil beizubehalten.

Deshalb hatte Davis diskret ein Detektivbüro eingeschaltet. Dieses hatte ermittelt, dass größere Beträge auf Mercers Bankkonto eingegangen waren. Mercer fuhr regelmäßig nach Guntersville, einer kleinen Stadt an einer Verbreiterung des Tennessee River, und suchte dort den Jachthafen auf.

Die Besitzerin der Bootscharterfirma war eine Frau namens Evie Shaw. Die Detektive hatten bisher nichts Besonderes bei ihren Bankkonten oder Zahlungsgewohnheiten entdeckt, was nur bedeuten konnte, dass sie klüger als Mercer war. Mindestens zwei Mal hatte der Mann ein Motorboot bei ihr gemietet. Jedes Mal hatte Evie Shaw kurz darauf ihr Büro geschlossen und war ihm mit dem eigenen Boot gefolgt. Eine gute Viertelstunde später waren beide getrennt zurückgekehrt. Es hatte den Anschein, dass sie sich irgendwo auf dem großen See trafen, wo sie ihr Treiben leicht verschleiern konnten und sofort bemerken würden, wenn sich jemand näherte.

Cannons Miene wurde hart. “Danke, Davis. Das war gute Arbeit”, sagte er ruhig. “Ich werde das FBI benachrichtigen und die Angelegenheit selber in die Hand nehmen.”

Davis errötete leicht und stand auf. “Tut mir leid, dass ich nicht früher dahintergekommen bin, Sir.”

“Die Sicherheit nach außen gehört nicht zu Ihren Aufgaben. Da hat jemand anders geschlafen. Auch darum werde ich mich kümmern. Wir können froh sein, dass Sie so aufmerksam waren.” Er nahm sich vor, Davis' Gehalt zu erhöhen und ihm mehr Verantwortung zu übertragen. “Ich bin sicher, die FBI-Leute möchten mit Ihnen sprechen. Halten Sie sich bitte den restlichen Tag zur Verfügung.”

Sobald Davis das Büro verlassen hatte, griff Robert zum Telefon. Zwanzig Minuten später führte Felice zwei konservativ gekleidete Männer herein und schloss die Tür hinter ihnen. Robert stand auf, begrüßte die Leute und betrachtete sie mit undurchdringlicher Miene. Der jüngere Mann war um die dreißig und musste ein Beamter aus dem mittleren Dienst sein. Der ältere war Anfang fünfzig, hatte grau meliertes, hellbraunes Haar und war untersetzt. Mit seinen blauen Augen hinter der Nickelbrille blickte er wachsam drein.

“Mr. Cannon?”, fragte er und reichte Robert die Hand. “Mein Name ist William Brent, Senior Agent beim FBI, und das ist Lee Murry, Spezialagent für Gegenspionage.”

“Gegenspionage”, murmelte Robert und sah den Mann aufmerksam an. Das Erscheinen der beiden Sonderagenten bedeutete, dass das FBI bereits bei PowerNet ermittelte. “Sie haben richtig vermutet, meine Herren. Bitte, nehmen Sie Platz.”

“Das war nicht schwer zu erraten”, antwortete Brent. “Eine Firma wie Ihre mit solchen Regierungsaufträgen ist bedauerlicherweise ein bevorzugtes Ziel für Industriespionage. Es war also anzunehmen, dass Sie Bedarf an unserem Spezialwissen hätten.”

Der Mann ist gut, dachte Robert. Genau der Typ, der einem Vertrauen einflößt. Die beiden FBI-Agenten wollten herausfinden, wie viel er wusste, waren aber nicht bereit, ihm einen Tipp zu geben, falls er PowerNet nicht erwähnte. Er war nicht bereit, sie damit durchkommen zu lassen.

“Ich stelle fest, dass Sie bereits einige Informationen in den Händen haben”, sagte er kühl. “Mich würde interessieren, weshalb ich nicht sofort davon erfahren habe.”

William Brent verzog das Gesicht. Er hatte gehört, dass Robert Cannon nichts entging. Aber er hatte nicht erwartet, dass der Mann so scharfsinnig war. Dabei wusste er eine ganze Menge über ihn. Das gehörte zu seinem Beruf.

Cannon stammte aus einer gebildeten, wohlhabenden Familie und hatte diesen Reichtum aufgrund seines ausgeprägten Geschäftssinns erheblich vergrößert. Er besaß einen makellosen Ruf und hatte eine Menge Freunde sowohl bei der Regierung als auch bei der Justiz, mächtige Leute, die ihn sehr schätzten.

“Hören Sie”, hatte einer dieser Männer gesagt. “Falls bei der Cannon Group etwas faul ist, würde ich es begrüßen, wenn Sie Robert Cannon unverzüglich davon unterrichteten.”

“Das ist unmöglich”, hatte Brent abgewehrt. “Es würde unseren Ermittlungen schaden.”

“Keineswegs”, hatte der Mann geantwortet. “Ich würde Cannon die heikelste Mission anvertrauen. Offen gestanden, ich habe es schon etliche Male getan. Er hat uns einige Gefallen erwiesen.”

“Immerhin wäre es möglich, dass er selber in den Fall verwickelt ist”, hatte Brent zu bedenken gegeben. Die Vorstellung, einen Privatmann darüber zu informieren, was sich in Alabama abspielte, ging ihm entschieden gegen den Strich.

Doch der Mann hatte den Kopf geschüttelt. “Nicht Robert Cannon.”

Brent durchschaute Cannon nicht. Er beobachtete ihn, entdeckte jedoch nicht die geringste Gefühlsregung auf dessen Gesicht. Der Mann schien sich ungeheuer in der Gewalt zu haben.

Endlich fasste er einen Entschluss und beugte sich vor. “Also gut, Mr. Cannon. Ich bin bereit, Ihnen erheblich mehr zu erzählen, als ich ursprünglich vorhatte. Wir haben ein ernstes Problem mit Ihrer Softwarefirma in Alabama …”

“Wie wäre es, wenn ich Ihnen zunächst sagte, was ich bereits darüber weiß?”, unterbrach Robert ihn. “Anschließend können Sie mir verraten, ob Sie noch etwas hinzuzufügen haben.”

Mit knappen, präzisen Worten schilderte Robert, was Davis Priesen ihm berichtet hatte. Die beiden FBI-Agenten wechselten einen erschrockenen Blick, der ihm bewies, dass sie längst nicht so gut informiert waren.

Nachdem er geendet hatte, räusperte William Brent sich und sagte: “Gratuliere, Mr. Cannon. Sie sind uns ein wenig voraus. Das wird uns bei den Ermittlungen erheblich helfen.”

“Ich fliege morgen selber hinunter”, verkündete Robert.

Brent blickte missbilligend drein. “Ich weiß Ihren Wunsch, uns zu helfen, sehr zu schätzen, Mr. Cannon. Aber die Sache ist beim FBI in den besten Händen.”

“Sie haben mich falsch verstanden. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen zu helfen. Es geht um meine Firma und mein Problem. Deshalb werde mich persönlich um die Angelegenheit kümmern. Selbstverständlich werde ich Sie auf dem Laufenden halten.”

Brent schüttelte energisch den Kopf. “Nein, das kommt nicht infrage.”

“Wer wäre besser geeignet als ich? Ich habe Zugang zu allen Unterlagen, und meine Anwesenheit erregt längst nicht so viel Aufsehen wie die von FBI-Agenten.” Er schwieg einen Moment. “Außerdem bin ich kein blutiger Anfänger”, fügte er freundlich hinzu.

“Das ist mir bekannt, Mr. Cannon.”

“Dann schlage ich vor, dass Sie mit Ihren Vorgesetzten darüber sprechen.” Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. “Inzwischen werde ich die notwendigen Vorkehrungen treffen.”

Robert bezweifelte keinen Moment, dass man Brent auffordern würde, sich zurückzuhalten und ihn die Sache in die Hand nehmen zu lassen. Selbstverständlich würde man ihm jede Hilfe gewähren und ihn bei Bedarf vor Ort unterstützen.

Den restlichen Tag sagte Robert sämtliche Termine für die nächste Zeit ab, während Felice ihm ein Flugticket und ein Hotelzimmer in Huntsville bestellte. Bevor er sein Büro verließ, sah er auf die Uhr. In New York war es schon acht, in Montana jedoch erst sechs. An den langen Sommertagen wurde auf einer Ranch viel länger gearbeitet als im Winter.

Zu seiner Freude antwortete seine Schwester nach dem dritten Läuten. “Irrenhaus der Familie Duncan. Madelyn am Apparat.”

Robert lachte leise, denn er hörte das Geschrei seiner beiden Neffen im Hintergrund. “Hattest du einen anstrengenden Tag?”

“Robert!” Die Freude war Madelyn deutlich anzuhören. “Das kann man wohl sagen. Soll ich dir die beiden für eine Weile zu Besuch schicken?”

“Nicht, bevor sie anständige Manieren haben. Außerdem wäre ich gar nicht zu Hause.”

“Wohin reist du diesmal?”

“Nach Huntsville, Alabama.”

Madelyn schwieg einen Moment. “Da ist es jetzt ziemlich heiß.”

“Das ist mir bewusst.”

“Dann musst du einen ernsten Grund für die Reise haben. Ärger?”

“Ein paar Unstimmigkeiten.”

“Pass auf dich auf.”

“Bestimmt. Falls die Sache länger dauert, rufe ich dich an und gebe dir meine Telefonnummer durch.”

“Das wäre sehr nett.”

Lächelnd legte Robert den Hörer wieder auf. Das war typisch Madelyn. Sie stellte keine Fragen, hatte aber sofort den Ernst der Lage erfasst. Obwohl sie nur seine Stiefschwester war, verstanden sie sich großartig und hingen sehr aneinander.

Als Nächstes rief er Valentina Lawrence an, mit der er in letzter Zeit regelmäßig ausgegangen war. Leider hatte sich ihre Beziehung noch nicht sehr weit entwickelt.

Valentina war genau der Frauentyp, zu dem Robert sich am meisten hingezogen fühlte – eine große, schlanke Amazone mit makellosem, unauffälligem Make-up und stilvoller modischer Kleidung. Sie war eine ausgesprochen angenehme Persönlichkeit und liebte das Theater und die Oper ebenso wie er. Sie hätte eine wunderbare Gefährtin werden können, wenn sein derzeitiges Problem nicht dazwischengekommen wäre.

Seine letzte feste Beziehung lag schon etliche Monate zurück, und er lebte nicht gern allein.

Valentina nahm seine längere Abwesenheit gelassen hin. Schließlich wären sie kein Liebespaar und hätten keinen Anspruch aufeinander.

Nachdem diese letzte Pflicht des heutigen Tages erledigt war, lehnte Robert sich zurück und überlegte, wie lange es dauern würde, bis er wieder ein ausgefülltes Sexualleben führen konnte. Die Aussicht auf die lange Wartezeit gefiel ihm nicht.

Er hatte keinesfalls eine sorglose Einstellung zum Sex und hielt seinen ausgeprägten Trieb stets unter Kontrolle. Ein Mann, der sich nicht beherrschen konnte, wurde leicht brutal, und das verabscheute er von ganzem Herzen. Er bedrängte eine Frau nicht, sondern ließ sie selber das Tempo bestimmen. Kam es zum Sex, war er zärtlich und nahm sich Zeit, um ihr ein lustvolles Erlebnis zu verschaffen. Diese Beherrschung fiel ihm nicht schwer. Er konnte stundenlang die zarte Haut und die aufreizenden Kurven einer Frau streicheln. Das Vorspiel besänftigte sein Verlangen und verstärkte das seiner Partnerin.

Es gibt nichts Schöneres, als zum ersten Mal mit einer Frau zu schlafen, überlegte Robert. So leidenschaftlich und intensiv wurde es später nie wieder. Er versuchte stets, etwas Besonderes daraus zu machen und die Frau spüren zu lassen, was sie ihm bedeutete. Nie ließ er es an jenen kleinen Aufmerksamkeiten fehlen, die Frauen so schätzten: ein romantisches Abendessen zu zweit, Kerzenlicht, Champagner und ein liebevoll ausgesuchtes Geschenk. Zogen sie sich endlich ins Schlafzimmer zurück, nutzte er sein ganzes Geschick und seine Erfahrung, um seine Partnerin mehrmals zu befriedigen, bevor er ebenfalls den Höhepunkt erreichte.

Das Klopfen an der Tür riss Robert aus seinen Gedanken. Felice steckte den Kopf herein. “Sie hätten nicht zu bleiben brauchen”, sagte er vorwurfsvoll.

“Dieser Umschlag wurde gerade von einem Boten gebracht”, antwortete Felice, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. So spät es manchmal wurde, sie verließ das Büro selten vor ihrem Chef.

“Gehen Sie nach Hause”, sagte Robert. “Das ist ein Befehl.”

“Dann gute Reise.” Lächelnd verließ sie den Raum.

Robert bezweifelte, dass es eine gute Reise werden würde, und öffnete den gefütterten Umschlag, der keinen Absender trug. Mehrere Blätter fielen heraus. Darunter befanden sich eine Zusammenfassung aller Erkenntnisse, die das FBI bisher gewonnen hatte, die Versicherung, dass man ihn in allen Belangen unterstützen würde, sowie die Kopie eines Fotos von einer Frau mit den entsprechenden Angaben.

Robert betrachtete das Foto aufmerksam. Die Kopie war ziemlich schlecht. Doch er erkannte einen Steg mit Motorbooten im Hintergrund. Das war also Evie Shaw. Sie trug eine Sonnenbrille. Deshalb sah er nur, dass sie zerzaustes blondes Haar hatte und ziemlich füllig sein musste. Nicht gerade eine Mata Hari, dachte er verächtlich.

Entschlossen schob Robert die Blätter in den Umschlag zurück. Er würde sowohl Landon Mercer als auch Evie Shaw der Gerechtigkeit zuführen, und zwar bald.

2. KAPITEL

Es war ein typischer schwülheißer Sommertag in den Südstaaten. Dicke weiße Wolken zogen träge über den tiefblauen Himmel. Der Wind war so schwach, dass er kaum die Oberfläche des Sees kräuselte. Möwen segelten darüber hin, und die Boote dümpelten an ihren Liegeplätzen. Nur wenige unermüdliche Fischer und Wasserskiläufer waren auf dem Wasser. Die meisten waren vor Mittag zurückgekehrt. Die feuchte Luft verstärkte die Gerüche des Sees und der üppig bewachsenen grünen Berge in der Umgebung.

Evie Shaw blickte aus dem großen Fenster auf der Rückseite des Bürogebäudes auf den Jachthafen. Jeder Mensch brauchte sein eigenes Reich, und diese Stege und Bootsliegeplätze gehörten ihr. Nichts, was hier geschah, entging ihrer Aufmerksamkeit. Vor fünf Jahren, als sie die Marina übernommen hatte, war das Unternehmen heruntergewirtschaftet gewesen und hatte kaum die laufenden Kosten gedeckt. Sie hatte ein beachtliches Darlehen aufnehmen müssen, um das erforderliche Kapital hineinzustecken. Schon nach einem Jahr war es aufwärts gegangen, sodass die Anlage jetzt mehr einbrachte als je zuvor. Mit etwas Glück hätte sie das Darlehen in drei Jahren zurückgezahlt. Dann würde die Marina ihr endgültig gehören.

Der alte Virgil Dodd war schon den ganzen Morgen bei ihr. Er saß in einem Schaukelstuhl hinter dem Tresen und unterhielt sie und ihre Kunden mit Geschichten aus seiner Jugend. Der alte Mann war zäh wie Leder. Beinahe ein ganzes Jahrhundert lastete auf seinen zerbrechlichen Schultern, und Evie fürchtete, dass er höchstens noch zwei oder drei Jahre durchhalten würde. Sie kannte ihn schon sehr lange und freute sich über jede Minute mit ihm. Er genoss diese Besuche ebenfalls. Zwar fuhr er nicht mehr zum Fischen, aber hier war er den Booten noch nahe. Er hörte, wie das Wasser an den Kai schlug, und roch den See.

Virgil hatte gerade mit einer weiteren Geschichte begonnen. Evie saß auf einem hohen Hocker und warf von Zeit zu Zeit einen Blick aus dem Fenster, um festzustellen, ob jemand tanken wollte.

Die Seitentür öffnete sich, und ein großer, schlanker Mann trat ein. Er blieb stehen und nahm die Sonnenbrille ab. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann schlenderte er näher.

Evie warf ihm nur einen kurzen Blick zu und hörte Virgil weiter zu. Trotzdem waren ihre Sinne plötzlich aufs Höchste geschärft. Sie kannte den Mann nicht, merkte aber sofort, dass er anders war. In Guntersville lebten viele ältere Leute aus den Nordstaaten, die von den milden Wintern, der fehlenden Hektik, den niedrigen Lebenshaltungskosten und der natürlichen Schönheit des Sees angezogen worden waren. Dieser Mann war viel zu jung, um Rentner zu sein. Er trug eine teure Garderobe und blickte hochmütig drein. Evie kannte solche Typen und mochte sie nicht.

Aber da war noch etwas. Der Mann war gefährlich. Seine starke Willenskraft, die aus den erstaunlich hellen Augen sprach, seine Entschlossenheit und sein Temperament duldeten keinen Widerspruch. Evie hätte nicht sagen können, weshalb, doch sie spürte, dass der Mann eine Bedrohung für sie darstellte.

“Entschuldigen Sie bitte”, sagte er, und ein seltsamer, kalter Schauer lief ihr bei seiner tiefen Stimme das Rückgrat hinab. Seine Worte klangen betont höflich. Aber der eiserne Wille dahinter verriet dennoch, dass der Mann ihre sofortige Aufmerksamkeit verlangte.

Evie warf ihm einen weiteren raschen Blick zu. “In einer Minute stehe ich Ihnen ganz und gar zur Verfügung”, sagte sie nicht ganz so freundlich und drehte sich wieder zu Virgil. “Und was geschah dann?”, fragte sie warmherzig.

Robert ließ sich nichts anmerken, obwohl er sich wunderte. Er war es nicht gewöhnt, unbeachtet zu bleiben, erst recht nicht von einer Frau. Normalerweise reagierten die Frauen sofort auf seine starke männliche Ausstrahlung. Bisher hatte er das immer als selbstverständlich betrachtet. Er erinnerte sich nicht, je eine Frau begehrt und nicht bekommen zu haben.

Trotzdem wollte er warten und die Zeit nutzen, um die Frau zu beobachten. Ihre Erscheinung verwirrte ihn ein wenig, was ebenfalls ungewöhnlich war. Es fiel ihm schwer, seine Erwartungen mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen.

Dies war Evie Shaw, daran zweifelte er nicht. Doch sie war keineswegs die pummelige Provinzlady, auf die er gefasst gewesen war. Stattdessen … glühte sie geradezu.

Das war ein irritierender Eindruck, der von den Sonnenstrahlen hervorgerufen wurde, die durch die großen Fenster hereinfielen. Sie umgaben Evies helles Haar mit einem magischen Lichtkranz, brachten ihre haselnussbraunen Augen zum Leuchten und streichelten ihre seidenweiche, goldene Haut.

Unwillkürlich musste er an lange heiße Nächte und zerknüllte Laken denken.

Energisch riss Robert sich zusammen und sah sich näher um. So baufällig das Haus war, nach der Anzahl der Angelgeräte zu urteilen, die Evie in ihrem Büro anbot, und der belegten Liegeplätze schien das Geschäft gut zu gehen. Die Zündschlüssel für die Mietboote hingen an einem Holzbrett hinter dem Tresen. Jeder war sauber beschriftet und nummeriert. Wo sie wohl notierte, wer mit welchem Boot unterwegs war?

Virgil erzählte lebhaft weiter und schlug sich begeistert auf die Knie. Evie Shaw lachte fröhlich auf. Plötzlich erkannte Robert, dass er nur verhaltenes Lachen gewöhnt war. Wie hohl klang das im Vergleich zu dieser unverstellten Fröhlichkeit.

Er versuchte, dem Drang zu widerstehen und Evie nicht unaufhörlich anzustarren, verlor den Kampf aber bald. Mit einer Mischung aus Verärgerung und Neugier gab er der Versuchung nach und betrachtete sie von Kopf bis Fuß.

Evie Shaw war nicht der Frauentyp, zu dem er sich sonst hingezogen fühlte. Außerdem war sie eine Hochverräterin oder zumindest in Industriespionage verwickelt. Er würde sie überführen und dann vor Gericht bringen.

Trotzdem konnte er den Blick nicht von ihr wenden, und seine Gedanken schlugen eine ganz andere Richtung ein. Sein Herz klopfte plötzlich heftig, und er schwitzte derart, dass ihm die heiße Außentemperatur im Vergleich dazu beinahe kühl vorkam.

So unterschiedlich die Frauen waren, die er bisher begehrt hatte, alle besaßen einen gewissen Stil, eine Art von Weltgewandtheit. Sie hatten teuer ausgesehen und waren es gewesen. Es hatte ihm nichts ausgemacht, er hatte sie gern verwöhnt.

Evie Shaw legte offensichtlich keinen Wert auf modische Kleidung. Sie trug ein übergroßes T-Shirt, das sie in der Taille geknotet hatte, sowie beinahe farblose, ausgewaschene Jeans und ebenso alte Segelschuhe. Ihr blondes Haar war von der Sonne gebleicht und glänzte in allen Schattierungen von Hellbraun bis zum hellsten Flachs. Sie hatte es zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten. Ihr Make-up war äußerst sparsam und bei dieser Luftfeuchtigkeit vermutlich reine Verschwendung. Außerdem hatte sie gar keines nötig.

Wie konnte die Frau derart leuchten? Es war, als würde sie von einem Spotlight angestrahlt. Ihre Haut war leicht gebräunt. Sie hatte einen warmen Goldton angenommen und wirkte weich wie Seide. Selbst die braunen Augen besaßen einen goldenen Schimmer.

Robert hatte bisher große, schlanke Frauen bevorzugt. Sowohl beim Tanzen als auch im Bett fand er sie geeigneter. Evie Shaw war höchstens eins fünfundsechzig groß, wenn überhaupt. Schlank war sie ebenfalls nicht, eher … Das Wort “üppig” kam ihm in den Sinn. Köstlich üppig.

Plötzlich erschrak er heftig über seine Reaktion. Wollte er etwa mit dieser Frau schlafen? Die Antwort konnte nur ein klares Ja sein.

Evie Shaw besaß fantastische Kurven. Sie war nicht füllig, sondern wohlgeformt und der Inbegriff von Weiblichkeit. Ihre Hüften rundeten sich unterhalb der schlanken Taille, und ihr Po war fest und knackig. Eigentlich mochte er zarte, kleine Brüste. Jetzt starrte er wie gebannt auf die weichen, verlockenden Rundungen unter dem irritierend lockeren T-Shirt. Evies Brüste waren nicht groß und schwer. Doch sie wippten bei jeder Bewegung und machten ihn halb verrückt. Sie würden seine Hände voll ausfüllen. Er ballte sie zu Fäusten, um dem Drang zu widerstehen und nicht hinzulangen.

Alles an Evie Shaw war so geformt, dass es die reinste Freude für einen Mann war. Trotzdem ärgerte Robert sich. Wenn er schon derart auf diese Frau reagierte, wie mochte es dann um Mercer bestellt sein? Vielleicht war der Manager von PowerNet fest in Evies Klauen und nicht umgekehrt.

Er wollte ihre Anziehungskraft nicht beachten, aber er schaffte es nicht. Die Herausforderung war zu groß. Jede Faser seines Körpers war aufs Höchste erregt. Er musste die Frau unbedingt haben.

Die Tür hinter ihm öffnete sich. Robert drehte sich um und war froh über die Ablenkung. Eine junge Frau in Shorts, T-Shirt und Sandaletten trat mit einem fröhlichen “Hallo” ein. Sie betrachtete ihn einen Moment aufmerksam und ging zu den beiden Menschen hinter dem Tresen. “Hast du einen schönen Morgen verbracht, Großvater?”, fragte sie.

“Ja, es war sehr schön”, sagte Virgil und stand mühsam auf. “Wo sind die Kinder?”

“Sie sitzen im Wagen.” Sie wandte sich an Evie. “Ich dränge ungern. Aber es ist so heiß, dass ich die Lebensmittel schnellstens nach Hause bringen möchte.”

“Ich schiebe im Moment nach Möglichkeit alles auf den Abend”, antwortete Evie. “Auch die Einkäufe. Bye-bye, Virgil. Gib auf dein Knie acht und besuch mich bald wieder.”

Nachdem der alte Mann und die junge Frau die Tür hinter sich geschlossen hatten, lehnte Robert sich lässig an den Tresen und sagte: “Ich vermute, das war seine Enkelin.”

Evie schüttelte den Kopf und warf einen weiteren Blick zu den Tanksäulen. Sie war sich zu stark bewusst, dass sie mit dem Fremden allein war. Im Grunde war das lächerlich. Schließlich kamen oft männliche Kunden zu ihr herein, und sie fühlte sich nie unwohl in deren Gegenwart. Bei diesem Mann war das anders. Schon bei seinem Eintritt hatten sich ihre Sinne aufs Höchste geschärft. Dabei hatte er nichts Ungehöriges gesagt oder getan.

“Nein, sie ist seine Urenkelin”, antwortete sie. “Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ. Neue Kunden finde ich jederzeit. Virgil ist dagegen dreiundneunzig und lebt vielleicht nicht mehr lange.”

“Ich verstehe”, antwortete Robert ruhig. Er wollte Evie nicht verärgern. Entschlossen streckte er ihr die Hand hin, damit sie ihn endlich richtig zur Kenntnis nahm und berührte. “Mein Name ist Robert Cannon.”

Sie zögerte gerade so lange, um ihn wissen zu lassen, dass sie ihm ungern die Hand schüttelte und nur höflich sein wollte. Ihre Finger waren schlank und kühl und legten sich erstaunlich fest um seine. “Evie Shaw”, sagte sie. Er erwiderte den Druck und ließ die Hand wieder los. Der Kontakt war kurz und unpersönlich gewesen – und reichte ihm nicht.

Evie wandte sich sofort ab und fragte: “Was kann ich für Sie tun, Mr. Cannon?”

Robert fiel eine ganze Menge ein, hütete sich aber, es auszusprechen. Stattdessen betrachtete er ihren schlanken Rücken und korrigierte seinen ersten Eindruck. Er hatte geglaubt, Evie hätte ihn nicht zur Kenntnis genommen. Das Gegenteil war der Fall. Sie war sich seiner Anwesenheit eher zu stark bewusst und ziemlich nervös. Sofort änderte er seinen Plan.

Ursprünglich war er nur zur Marina gekommen, um eine Vorstellung von der Anlage zu erhalten und sich einen Angelschein oder eine Landkarte zu besorgen. Inzwischen hatte er es sich anders überlegt. Er würde nicht Mercer beschatten, sondern lieber Evie Shaw auf den Fersen bleiben.

Weshalb ist sie so misstrauisch?, überlegte Robert. Dafür konnte es nur einen Grund geben: Evie wusste, wer er war. Also war sie in alles eingeweiht. Wenn das zutraf, würde seine Aufgabe erheblich heikler werden, als er angenommen hatte. Sie lag nicht außerhalb seiner Fähigkeiten, bedeutete aber eine größere Herausforderung. Blitzartig beschloss er, das Zentrum seiner Ermittlungen von Huntsville nach Guntersville zu verlegen. Vor der Auflösung der Sowjetunion hatte er einige Male mit weiblichen Spionen zu tun gehabt. Mit ihnen zu schlafen war riskant, aber äußerst reizvoll gewesen. Evie Shaw ins Bett zu locken wäre zweifellos ein unvergessliches Erlebnis.

“Ich benötige zunächst einige Informationen”, sagte Robert und ärgerte sich, dass Evie ihn immer noch nicht ansah. Doch er ließ sich nichts anmerken. Er musste ihr Misstrauen ausräumen, damit sie sich in seiner Anwesenheit wohlfühlte.

Frauen zu umschmeicheln fiel ihm nicht schwer. Wenn Evie Shaw so klug war, wie er vermutete, würde sie rasch die Vorteile erkennen, die eine enge Beziehung zu ihm mit sich brachte. Schließlich konnte er ihr nicht nur materiell einiges bieten, sondern auch wertvolle Informationen liefern. Eine heiße Sommeraffäre wäre genau das Richtige dafür.

“Dann sollten Sie lieber zum Fremdenverkehrsamt gehen”, schlug Evie vor.

“Man hat mir gesagt, Sie könnten mir am besten helfen.”

“Mag sein.” Das Zögern war ihr deutlich anzuhören. “Welche Auskünfte brauchen Sie denn?”

“Ich habe die Absicht, den restlichen Sommer hier zu verbringen”, antwortete Robert. “Deshalb benötige ich einen Liegeplatz für mein Boot. Außerdem möchte ich, dass mir jemand den See zeigt. Ich habe gehört, dass Sie diese Gegend wie Ihre Westentasche kennen.”

Evie sah ihn ungerührt an. “Das stimmt. Aber ich veranstalte keine Führungen. Ich kann Ihnen nur einen Liegeplatz vermieten, das ist alles.”

Aha. Sie errichtet sofort eine Mauer um sich und ist zu keiner Zusammenarbeit bereit, dachte Robert und lächelte freundlich. “Ich verstehe. Sie kennen mich nicht.”

Er merkte, dass sie unsicher wurde. “Das ist nicht der Grund. Viele Kunden sind mir unbekannt.”

“Soviel ich weiß, bekommt ein Führer derzeit einhundert Dollar pro Tag. Ich bin bereit, das Doppelte zu zahlen.”

“Es ist keine Frage des Geldes, Mr. Cannon. Ich habe keine Zeit.”

Es hat keinen Sinn, Evie zu bedrängen, überlegte Robert. Außerdem musste er noch Etliches erledigen, bevor er ihr nachstellen konnte. Sie würde ihn nicht vergessen, das genügte für das erste Zusammentreffen. “Können Sie mir jemanden empfehlen?”, fragte er.

Evie nannte mehrere Namen. “Möchten Sie sich die Liegeplätze ansehen, die im Moment frei sind?”

“Ja, gern.” Das gab ihm die Gelegenheit, gleichzeitig die Sicherheitseinrichtungen zu inspizieren.

Evie nahm ein schnurloses Telefon, befestigte es an ihrer Gürtelschlaufe und kam hinter dem Tresen hervor. Robert lief schräg hinter ihr her und ließ den Blick über ihre wohlgeformten Hüften und den herzförmigen Po wandern, der sich deutlich unter den engen Jeans abzeichnete. Das Blut pochte in seinen Adern bei der Vorstellung, die Hände darumzulegen. Mühsam verdrängte er das Bild.

“Schließen Sie das Büro nicht ab?”, fragte er, während sie den Steg hinabgingen. Die Sonne blendete auf dem Wasser, und er setzte seine dunkle Brille wieder auf. Es war heiß wie in einer Sauna.

“Ich kann von den Stegen sehen, ob jemand kommt”, antwortete Evie.

“Wie viele Leute arbeiten hier?”

Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu, als wunderte sie sich über seine Frage. “Ich habe nur einen Mechaniker und einen jungen Mann, der in den Sommerferien morgens arbeitet und während der Schulzeit nachmittags zu mir kommt.”

“Wie viele Stunden haben Sie täglich geöffnet?”

“Von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends.”

“Das ist ein langer Tag.”

“So schlimm ist es nicht. Im Winter öffne ich nur von acht bis fünf.”

Vier Stege waren überdacht, und die meisten Liegeplätze waren belegt. Zahlreiche Schiffe wiegten sich auf dem friedlichen Wasser: Hausboote, Kabinenkreuzer, Kielleichter, Wasserski-Boote, Segeljachten. Die vier überdachten Stege lagen auf der linken Seite. Der Eingang dahin wurde von einem Tor versperrt. Rechts befanden sich zwei offene Anleger für den normalen Schiffsverkehr. Die Mietboote lagen in der ersten Reihe der gesicherten Stege und dem Bürogebäude am nächsten.

Evie öffnete das Vorhängeschloss am Tor, und sie betraten den schwimmenden Steg, der leicht auf dem Wasser schwankte. Schweigend führte sie Robert durch die Bootsreihen und zeigte ihm die freien Plätze.

“Wie groß ist Ihr Boot?”, fragte sie endlich.

Rasch fasste Robert einen zweiten Entschluss. “Ich habe die Absicht, mir ein kleines Schnellboot zu kaufen, keinen Kabinenkreuzer. Können Sie mir einen guten Schiffshändler empfehlen?”

Sie warf ihm einen weiteren verstohlenen Blick zu. “Es gibt mehrere in der Stadt. Es dürfte Ihnen nicht schwerfallen, etwas Passendes zu finden”, erklärte sie kühl. Sie drehte sich um und ging mit graziösen Schritten auf den schwankenden Planken zurück.

Robert folgte ihr und genoss erneut den reizvollen Anblick. Wahrscheinlich glaubte Evie, dass sie ihn los wäre. Aber da irrte sie sich gewaltig. So entschlossen wie heute war er noch nie gewesen.

“Essen Sie heute Abend mit mir?”

Evie blieb so plötzlich stehen, dass er mit ihr zusammenprallte. Sie verlor das Gleichgewicht, und er fasste ihre Taille und presste ihren Rücken fest an sich. Deutlich spürte er den Schauer, der sie durchrieselte, während er die Wärme unter seinen Händen und den sanften Druck gegen seine Schenkel, seine Lenden und seinen Bauch genoss. “Tut mir leid”, sagte er belustigt. “Ich hatte keine Ahnung, dass ein Abendessen mit mir solch eine beängstigende Vorstellung ist.”

Evie müsste jetzt etwas tun, überlegte er. Entweder trat sie beiseite, um sich aus seiner sinnlichen Umarmung zu befreien, oder sie versicherte ihm, dass seine Einladung ihr keineswegs Angst einflößte. Doch sie stand wie gelähmt da, und die Spannung zwischen ihnen wurde beinahe unerträglich.

Sie zitterte erneut, und er fasste ihre Taille fester und wurde immer erregter. Weshalb rührte die Frau sich nicht? Weshalb sagte sie kein Wort?

“Evie?”, fragte er leise.

“Nein”, erklärte sie plötzlich, und ihre Stimme klang rauer als sonst. Entschlossen machte sie sich los. “Tut mir leid, ich kann nicht mit Ihnen ausgehen.”

Ein Boot näherte sich langsam dem Steg. Sie drehte den Kopf, und ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, sobald sie den Kunden erkannte. Winkend hob sie den linken Arm, und Robert betrachtete erschrocken ihre schlanke Hand.

Evie trug einen Ehering.

3. KAPITEL

Evie versuchte, die Ein- und Ausgaben des heutigen Tages in das Kassenbuch einzutragen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Immer wieder tauchte ein markantes, schmales Gesicht vor ihrem inneren Auge auf und verdrängte die Ziffern. Sie brauchte nur an die hellen, forschenden Augen zu denken, schon begann ihr Magen zu flattern, und ihr Herz hämmerte wie wild. Obwohl Robert Cannon äußerst höflich war, konnte er seine wahre Raubtiernatur nicht verbergen. Evie spürte instinktiv, dass der Mann eine Bedrohung für sie bedeutete.

Wie gern hätte sie sich hinter ihre schützende Mauer zurückgezogen. Sie hatte zu lange gebraucht, um ihr Leben wieder fest in die Hand zu bekommen, um es sich von diesem Fremden zerstören zu lassen.

Wehmütig betrachtete sie das kleine Foto auf dem oberen Regal ihres altmodischen Schreibtischs mit dem Aufsatz. Die Aufnahme stammte aus ihrem letzten Jahr in der Highschool. Mit ein paar Freunden hatte sie den ganzen Tag am See verbracht. Sie waren Wasserski gelaufen, hatten herumgealbert und am Ufer gekocht. Becky Watts hatte die Kamera ihrer Mutter dabeigehabt und Fotos von allen gemacht. Matt hatte Evie gejagt und versucht, ihr einen Eiswürfel in die Bluse zu stecken. Als er sie zu fassen bekam, hatte sie sich energisch gewehrt. Endlich hatte er den Würfel fallen lassen. Er hatte die Hände um ihre Taille gelegt, und sie hatten fröhlich gelacht. “He, Matt!”, hatte Becky in diesem Moment gerufen und auf den Auslöser gedrückt, sobald sie zu ihr hinüberblickten.

Matt – ein großer Junge, der eben erst der Schlaksigkeit seiner Jugend entwachsen war. Eine dunkle Haarsträhne fiel über seine Braue, und seine hellblauen Augen funkelten vergnügt. Er hatte ständig gelacht.

Für sich selbst hatte Evie keinen Blick. Sie sah nur, wie Matt sie hielt. Die enge Beziehung, die sie verbunden hatte, war sogar in diesem unbeschwerten Augenblick zu erkennen. Instinktiv blickte Evie auf den schmalen Goldring an ihrer linken Hand.

Matt. All die Jahre hatte es keinen anderen Mann für sie gegeben. Sie hatte es nicht gewollt und sich emotional so isoliert, dass sie nicht einmal wusste, ob sich jemand näher für sie interessierte. Jetzt war Robert Cannon aufgetaucht und hatte sie mit seinen hellgrünen Augen betrachtet. Obwohl er sich nichts anmerken ließ, hatte sie sein Interesse und seine männliche Ausstrahlung deutlich gespürt. Das und noch etwas anderes, Gefährlicheres.

Robert war sofort gegangen, nachdem er sich die Liegeplätze angesehen hatte. Aber er würde zurückkehren, daran zweifelte sie nicht. Seufzend stand sie auf und trat durch die Flügeltüren hinaus auf die Holzterrasse. Die Sterne spiegelten sich im Wasser, und die warme, würzige Nachtluft hüllte sie ein. Ihr kleines Haus lag direkt am Ufer. Einige Stufen führten hinab zu einem Privatsteg mit ihrem Bootshaus. Sie setzte sich in einen Liegestuhl, legte die Füße auf das Geländer und ließ die Ruhe des Flusses auf sich wirken.

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