Sommer der Geheimnisse - Eine Familie im Bann der Vergangenheit (3-teilige Serie)

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DICH ZU SEHEN - DICH ZU BEGEHREN

Der gut aussehende Arzt Sam Lonergan bleibt nie lange an einem Ort. Auch die Ranch seines Großvaters will er nur auf der Durchreise besuchen. Doch da begegnet ihm die ausnehmend schöne Maggie. Eine umwerfende Frau, mit der er an einem romantischen See heiße Nächte genießt. Als er dann aber weiter will, gesteht sie ihm: Ihr Rendezvous ist nicht ohne Folgen geblieben ...

FÜR DICH WAG ICH ALLES

Der berühmte Schriftsteller Cooper Lonergan ist so wundervoll, dass Kara ihm auf einer Reise nach Kalifornien nicht mehr widerstehen kann. Dabei ist sie nur seine Assistentin, die er nie eines Blickes gewürdigt hat. Aber auch jetzt findet ihr Glück ein jähes Ende. Denn nach der gemeinsamen Nacht wendet Cooper sich von ihr ab. Warum nur? Bitter enttäuscht reist Kara ab ...

GEHEIMNIS EINER HEIßEN SOMMERNACHT

Die Rückkehr nach Kalifornien weckt Jake Lonergans Erinnerungen: An die Sommerferien, die er hier mit seinen Cousins verbrachte. Und an die einzige Nacht mit seiner Jugendliebe Donna. Als Jake seine unvergessliche Traumfrau jetzt wiedersieht, steht das Geheimnis jener Sommernacht fast bedrohlich zwischen ihnen - und dem großen Glück.


  • Erscheinungstag 09.07.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718343
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Maureen Child

Sommer der Geheimnisse - Eine Familie im Bann der Vergangenheit (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

Dich zu sehen – dich zu begehren erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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Fax: +49(0) 711/72 52-399
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© 2006 by Maureen Child
Originaltitel: „Expecting Lonergan’s Baby“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA
Band 1437 - 2007 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Alina Lantelme

Umschlagsmotive: Photographee.eu / Fotolia

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733742782

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Sam Lonergan hatte erwartet, am See einem Geist zu begegnen. Mit einer nackten Frau hatte er nicht gerechnet.

Natürlich war ihm der Anblick dieser Frau weitaus lieber. Und natürlich war ihm auch klar, dass er wegsehen sollte, doch er tat es nicht. Stattdessen betrachtete er interessiert die schlanke Frau, die im Mondschein fast lautlos durch das ruhige dunkle Wasser des Sees glitt. Selbst im blassen Licht des Mondes hatte ihre Haut einen goldenen Glanz. Mit weit ausholenden Arm- und Beinbewegungen schwamm sie nun zum gegenüberliegenden Ufer des kleinen Sees und wieder zurück. Einerseits empfand Sam sie als Eindringling auf heiligem Terrain, andererseits war er dankbar, dass sie da war.

Ich hätte nicht herkommen sollen, sagte er sich. Dieser See und diese Ranch weckten zu viele Erinnerungen bei ihm, die er zu vergessen versuchte. Beim Anblick des Wassers drängten sich ihm wieder die Bilder jenes Sommers auf, die den fast unerträglichen Schmerz mit unverminderter Heftigkeit erneut in ihm wachriefen. Abrupt schloss er die Augen, atmete tief ein und langsam aus, dann öffnete er die Augen wieder.

Die Frau befand sich jetzt dicht am Ufer und hielt sich mit anmutigen Bewegungen über Wasser, während sie ihn dabei beobachtete, wie er sie beobachtete.

„Haben Sie genug gesehen?“, fragte sie.

„Das kommt ganz darauf an“, meinte Sam. „Gibt es noch etwas, das Sie mir zeigen könnten?“

Empört presste sie die Lippen zusammen. „Wer sind Sie?“, fragte sie schließlich. Ihre Stimme klang eher wütend als beunruhigt oder ängstlich.

„Ich könnte Sie dasselbe fragen“, erwiderte er.

„Das hier ist ein Privatgrundstück.“

„Sicher ist es das“, stimmte Sam ihr zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Daher muss ich mich auch sehr wundern, was Sie auf diesem Grundstück zu suchen haben.“

„Ich wohne hier“, antwortete die Frau und schwang mit einer anmutigen Kopfbewegung ihr dunkelbraunes langes Haar aus dem Gesicht zurück über die Schultern. Wassertropfen flogen durch die Luft und fielen wie Regentropfen in den See.

Es dauerte eine Weile, bis Sam realisierte, was die Frau da gerade gesagt hatte.

Die Ranch war schon seit Generationen in Familienbesitz. Denn bereits in den Anfängen des Goldrausches hatte einer seiner Vorfahren entschieden, dass das Land der wahre Schatz war, den es in Kalifornien zu entdecken galt – und nicht das Gold, das gelegentlich in dem einen oder anderen steinigen Flussbett gefunden wurde. Dieser Lonergan hatte damals die Ranch aufgebaut, Pferde gezüchtet und eine Familie gegründet.

Eine Familie, die mittlerweile nur noch aus einem alten Mann, einem Geist und den drei Cousins bestand: Cooper, Jake und ihm, Sam. Sein Großvater Jeremiah Lonergan, dessen Ehefrau vor zwanzig Jahren gestorben war, hatte nicht wieder geheiratet und lebte seitdem allein.

Doch wenn er einer nackten Frau Glauben schenken konnte, dann hatte sein Großvater nun eine Hausgenossin.

„Sie wohnen hier?“, fragte er. „Dieser See gehört doch zur Lonergan-Ranch.“

„Das ist richtig“, entgegnete sie angriffslustig. „Und ich stehe unter dem ausdrücklichen Schutz des Besitzers dieser Ranch, vor dem man sich besser in Acht nehmen sollte.“

Sam hätte am liebsten laut losgelacht. Sein Großvater war wahrscheinlich der weichherzigste Mann, den er jemals kennengelernt hatte. Aber so, wie diese Frau ihn beschrieb, könnte man fast Angst vor ihm bekommen.

„Nun, er ist im Moment nicht hier, oder?“

„Nein.“

„Da wir also ganz unter uns sind und uns so nett unterhalten … Hätten Sie etwas dagegen, mir zu sagen, ob sie öfter nackt baden?“

„Spionieren Sie öfter nackte Frauen aus?“, konterte sie.

„Wann immer ich die Gelegenheit dazu bekomme.“

Die Frau machte ein finsteres Gesicht und strich sich durch das nasse Haar. Dabei sank sie etwas tiefer unter die Wasseroberfläche. Sam ging davon aus, dass ihre Beine durch die anstrengenden Bewegungen allmählich müde wurden.

„Sie klingen nicht so, als ob Sie sich dafür schämen würden.“

Er verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. „Lady, ich hätte Grund, mich zu schämen, wenn ich eine nackte Frau nicht beobachten würde, wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt.“

„Ihre Mutter muss sehr stolz auf Sie sein.“

Sam lachte leise.

Verstohlen schaute die Frau sich um, und er wusste, was sie sah. Außer ihnen war keine Menschenseele in der Nähe. Nur die mächtigen Eichen standen am Ufer rund um den See wie vereinzelte Wachposten. Das Ranchhaus mit den Nebengebäuden lag gut anderthalb Kilometer weiter östlich, und der Highway im Süden war fast sechzehn Kilometer entfernt.

„Hören Sie“, sagte die Frau und tauchte erneut einen Moment tiefer ins Wasser ein, das den Ansatz ihrer Brüste bedeckte. „Sie hatten Ihre Peepshow. Aber es ist kalt, und ich bin müde. Ich würde jetzt gern aus dem Wasser kommen.“

„Wer hindert Sie daran?“

Sie riss wütend die Augen auf. „Hallo? Ich werde ganz bestimmt nicht herauskommen, während Sie mich dabei beobachten.“

Sams Gewissen meldete sich immer lauter, aber er ignorierte es einfach. Ja, er wusste, dass er wegsehen sollte. Aber durfte ein hungriger Mann ein Steak nicht anrühren, nur weil es gestohlen war?

„Sie könnten mir den Rücken zudrehen“, sagte sie einen Moment später.

Seine Mundwinkel zuckten. „Wie soll ich wissen, dass Sie mir nicht von hinten irgendetwas über den Schädel schlagen, wenn ich das tue?“

„Sieht es so, aus, als ob ich irgendwo versteckt eine Waffe bei mir trage?“

Er zuckte die Achseln. „Ein Mann kann nie vorsichtig genug sein.“

Sie tauchte bis zum Hals unter die Wasseroberfläche und murrte: „Nicht zu fassen! Ich bin nackt, und Sie sind derjenige, der sich bedroht fühlt.“

Plötzlich kam Wind auf und strich durch die Blätter der Eichen, was sich anhörte, als wären sie von einer flüsternden Menschenmenge umgeben. Die Frau erschauerte und tauchte noch etwas tiefer unter, was Sams Gewissensbisse verstärkte. Er legte den Kopf in den Nacken, um den mit Sternen übersäten Himmel zu betrachten, dann sah er wieder die Fremde im See an. „Vielleicht werde ich genau hier mein Lager für die Nacht aufschlagen.“

„Das würden Sie nicht tun.“

„Nein?“ Er tat so, als würde er darüber nachdenken, denn die Sache begann ihm Spaß zu machen. „Vielleicht nicht. Dennoch bleibt die Frage, ob Sie sich dazu durchringen können, aus dem See zu kommen. Oder können Sie schlafen, während Sie versuchen, sich über Wasser zu halten?“

Die Frau schlug resigniert mit einer Hand auf die Wasseroberfläche. „Ich komme jetzt raus.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Wissen Sie, dass Sie ein richtiger Schuft sind?“

„Etwas in der Art sagten Sie bereits“, meinte Sam leicht amüsiert.

„Es überrascht mich, wie verdorben Sie sind.“

„Sie sind immer noch im Wasser.“ Sam schob beide Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans. „Es muss inzwischen ziemlich kalt darin sein.“

„Ja, aber …“

„Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich nirgendwohin gehen werde.“

Die Frau warf noch einmal einen Blick auf das menschenleere, dunkle Land rund um den See, als hoffe sie, es tauche gerade noch rechtzeitig eine Kavallerie zu ihrer Rettung auf. „Wie kann ich wissen, dass Sie mich nicht in der Minute angreifen werden, in der ich aus dem Wasser komme?“, fragte sie und musterte ihn argwöhnisch.

„Ich könnte Ihnen mein Wort geben“, sagte Sam, „aber da Sie mich nicht kennen, wäre das wohl nicht viel wert.“

Die Frau musterte ihn einen Moment sehr intensiv, und er hatte das seltsame Gefühl, dass sie ihm bis ins tiefste Innere sehen konnte, was ihm gar nicht recht war.

Nachdem eine weitere Minute verstrichen war, meinte sie: „Wenn Sie mir Ihr Wort geben, werde ich Ihnen glauben.“

Er runzelte die Stirn und rieb sich den Nacken. Eine schöne, nackte Frau, die sich unbefugt Zutritt auf das Gelände der Ranch verschafft hatte, vertraute ihm. Großartig. „Gut. Sie haben mein Wort.“

Sie nickte, aber es verging noch eine geraume Zeit, bis sie sich auf den Weg ans Ufer machte.

Vor Aufregung oder Erwartung, er wusste es selbst nicht genau, schlug Sams Herz schneller. Es war lange her, dass ihm eine dieser beiden Empfindungen den Atem geraubt hatte. Aber dieses Prickeln kam und ging so schnell, dass er ihm weder auf den Grund gehen noch es richtig genießen konnte.

Das Mondlicht setzte die Frau gebührend in Szene, als sie aus dem Wasser stieg und auf die kleine Anhöhe ging, auf der ihre Kleider ordentlich auf einem Stapel lagen. Er beobachtete sie und registrierte, dass ihn plötzlich heißes Verlangen durchzuckte.

Sie war groß und schlank. Ihre Brüste waren klein und fest, die Hüften schmal. Die hellen Streifen auf ihrer ansonsten gebräunten Haut zeigten ihm, dass sie normalerweise nicht nackt badete. Er konnte nur dankbar sein, dass sie sich ausgerechnet an diesem Abend dazu entschlossen hatte. Irgendwie machten diese hellen Streifen, die einen starken Kontrast zu ihrer golden getönten Haut bildeten, ihre Nacktheit noch aufregender. Diese Muster auf der bloßen Haut führten ihn in Versuchung, sie mit den Fingerkuppen nachzuzeichnen.

Seine Erregung nahm zu, und ihm wurde heiß. Die Frau übte im Mondlicht einen so großen Zauber auf ihn aus, dass er sich beherrschen musste, sie nicht einfach in seine Arme zu ziehen. Es kam ihm vor, als würde er eine Nixe dabei beobachten, wie sie gerade lange genug aus dem See stieg, um einen Mann in Versuchung zu führen. „Sie sind fantastisch“, sagte er.

Sie zögerte einen Moment, dann hob sie das Kinn, richtete sich stolz kerzengerade auf und lieferte sich, ohne zu zögern oder verlegen zu werden, seinem Blick aus.

Sam wusste, dass er sich schuldig fühlen sollte, weil er sie so anstarrte und die Situation derart ausnutzte. Aber er hatte keine Schuldgefühle deswegen.

In wenigen Sekunden schlüpfte die Frau in ein T-Shirt und einen weichen langen Baumwollrock, der sich um ihre Knie bauschte, als sie sich bückte, um ihre Sandalen anzuziehen.

Verdammt, ich sollte mich bei ihr bedanken, dachte Sam. Sie hatte ihn von den Gedanken an die Vergangenheit abgelenkt. Durch sie war es für ihn viel einfacher gewesen, sich dem See und den damit verbundenen Erinnerungen auszusetzen, als er erwartet hatte.

„Hören Sie“, meinte er, als sie sich wieder aufrichtete. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen das Leben schwer gemacht habe. Aber Sie hier zu sehen, hat mich überrascht und …“

Die Frau war inzwischen auf ihn zugegangen. Völlig unerwartet versetzte sie ihm nun einen kräftigen Hieb in die Magengrube.

Der Schlag tat nicht sehr weh, aber da Sam so unvorbereitet getroffen worden war, blieb ihm die Luft weg.

„Ich habe Sie überrascht?“ Maggie Collins nahm ihr langes Haar zusammen und wrang das Wasser heraus, bevor sie die Mähne wieder nach hinten warf.

Tatsächlich war sie längst nicht so desinteressiert, wie sie tat. Er hat gesagt, ich sei fantastisch, dachte sie, und konnte noch immer den Anflug von Wärme und das köstliche Kribbeln von vorhin auf ihrer Haut spüren, das über sie gekommen war, als er sie betrachtet hatte. Es war ihr fast so vorgekommen, als hätte er sie mit seinen Blicken körperlich berührt. Und einen kurzen Moment lang hatte sie sich gewünscht, er würde sie tatsächlich berühren. Sie hatte seine Hände auf ihrem Körper spüren wollen. Das machte sie jetzt allerdings nur noch wütender.

Sie sah den Fremden geringschätzig von oben bis unten an. „Sie scheußlicher, verkommener, selbstsüchtiger … Sie …“ Sie hasste es, wenn ihr die Schimpfworte ausgingen, bevor sie ihre Tirade beendet hatte. Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und kämpfte um ihren angeschlagenen Stolz. Ihr war fast das Herz stehen geblieben, als sie entdeckt hatte, dass er am Ufer stand und sie beobachtete. Aber ihre Angst vor ihm hatte sich relativ schnell gelegt, nachdem sie ihn längere Zeit ins Visier genommen hatte.

Sie war lange genug auf sich allein gestellt gewesen, um eine Art Radar dafür zu entwickeln, wann sie in Sicherheit war und wann ihr Gefahr drohte. Und obwohl dieser Kerl nicht Gentleman genug gewesen war, um entweder zu verschwinden oder sich umzudrehen, hatte keine ihrer inneren Warnglocken geläutet. Er war nicht gefährlich. Zumindest nicht körperlich. Doch in emotionaler Hinsicht könnte es anders aussehen. Das hatte sie im Gefühl.

Er war groß und sah so gut aus, dass es fast schon besorgniserregend war. Und er hatte dieses Funkeln in seinen dunklen Augen, das sie so anziehend fand. Sie hatte nicht nur den Ausdruck des Verlangens in seinem Blick bemerkt, sondern konnte auch eine gewisse Traurigkeit und Leere darin erkennen. Genau das, was ihr gefährlich werden könnte. Denn sie hatte sich schon immer zu verletzlich wirkenden Männern hingezogen gefühlt. Aber nachdem ihr von Männern mit traurigen Augen und einsamen Herzen einige Male das Herz gebrochen worden war, hatte sie ihre Lehren daraus gezogen und sich gesagt, dass es oft gute Gründe dafür gab, dass Männer allein waren. Daher musste sie jetzt nichts weiter tun, als sich daran zu erinnern.

Sie blieb stehen und funkelte den Fremden wütend an, der sie bei ihrer abendlichen Schwimmrunde im See gestört hatte. Noch vor ein paar Jahren wäre sie ihm vielleicht schnell ausgewichen und hätte versucht zu verschwinden. Heute tat sie das nicht mehr. In den letzten beiden Jahren hatte sich ihr Leben verändert. Sie hatte ein Zuhause gefunden. Sie gehörte auf die Lonergan-Ranch und niemand – auch nicht ein mürrisch wirkender, gut aussehender Fremder – konnte sie erschrecken und ihr Angst einjagen.

„Sie haben einen kräftigen Schlag“, räumte Sam ein.

„Sie werden es überleben.“ Maggie wollte an ihm vorbei zu dem Weg hinter den Bäumen gehen, der zurück zum Ranchhaus führte. Als er ihr eine Hand auf den Arm legte, um sie aufzuhalten, durchzuckte es sie wie ein Stromstoß. Ihr stockte der Atem, und ihr Puls ging schneller. Heftig entzog sie ihm ihren Arm und trat für alle Fälle einen Schritt zurück.

„He, ganz ruhig“, versuchte Sam sie zu beschwichtigen und hob spöttisch beide Arme, als wolle er sich ergeben. „Alles in Ordnung. Entspannen Sie sich.“

Die Wirkung des Adrenalinstoßes, den seine unerwartete Berührung bei ihr hervorgerufen hatte, ließ schon wieder nach, und Maggie musterte ihn aufgebracht. „Fassen Sie mich nicht an.“

„Kein Problem“, meinte Sam. „Das wird nicht wieder vorkommen.“

Maggie atmete tief aus und gab sich Mühe, wieder ruhiger zu werden. Es war nicht nur die Tatsache, dass er sie damit überrascht hatte, als er sie festhielt – es war die Hitzewelle, die ihren Körper plötzlich erfasst hatte, als sie seine Hand auf ihrer Haut gespürt hatte. Sie war nie zuvor durch eine simple Geste derart elektrisiert gewesen und wusste nicht, ob ihr das besonders gefiel. Auf jeden Fall hielt sie es für besser, so schnell wie möglich von diesem Mann fortzukommen. „Ich werde etwa fünfzehn Minuten brauchen, um zum Haus zurückzugehen“, sagte sie, als sie sicher war, dass ihre Stimme nicht mehr zitterte. „Ich schlage vor, dass Sie diese Zeit dazu nutzen, von hier zu verschwinden.“

Sam schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht.“

„Es wäre besser für Sie. Denn in der Minute, in der ich ein Telefon in die Hände bekomme, werde ich der Polizei melden, dass sich ein Unbefugter auf der Ranch aufhält“, sagte Maggie.

„Das könnten Sie tun.“ Sam ging neben ihr her, als sie sich auf den Weg machte. „Aber das würde nicht viel bringen.“

„Und warum nicht?“

Er blieb stehen. „Weil ich zusammen mit dem halben Polizeiaufgebot der Stadt auf die Highschool gegangen bin. Und ich denke, dass Jeremiah Lonergan etwas dagegen einzuwenden haben wird, dass Sie mich festnehmen lassen wollen.“

In Maggies Magengrube machte sich ein ungutes Gefühl breit, aber sie stellte die Frage dennoch: „Warum sollte er denn etwas dagegen haben?“

„Weil ich Sam Lonergan bin und Jeremiah mein Großvater ist.“

2. KAPITEL

Nachdem sich Sam vorgestellt hatte, war Maggie noch wütender. Natürlich hatte sie gewusst, dass Jeremiahs drei Enkelsöhne in diesem Sommer auf der Ranch erwartet wurden. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass sich einer von ihnen in der Dunkelheit draußen am See an sie heranschleichen und sich als Spanner entpuppen würde.

„Wenn ich gewusst hätte, wer Sie sind“, fuhr sie ihn an, „hätte ich härter zugeschlagen.“

„Dann hatte ich ja Glück, dass ich lange genug den Mund gehalten habe.“

„Wie konnten Sie ihm das nur antun?“ Aufgebracht stemmte sie ihre Hände in die Hüften.

„Was antun?“

„So lange wegzubleiben“, zischte Maggie. „Sie alle! Nicht einer von Jeremiahs Enkelsöhnen hat sich in den letzten zwei Jahren auch nur die Mühe gemacht, seinen Großvater zu besuchen.“

„Und woher wissen Sie das?“

„Weil ich hier war.“ Sie schlug sich mit der Hand auf die Brust. „Ich habe mich in dieser Zeit um den lieben alten Mann gekümmert, und ich kann mich nicht daran erinnern, im Haus jemals einem seiner drei Enkel über den Weg gelaufen zu sein.“

„Den lieben alten Mann?“ Sam lachte laut auf. „Jeremiah Lonergan ist der weichherzigste, aber mürrischste alte Kauz im ganzen Land.“

„Ist er nicht“, rief Maggie. Dass dieser Mann sich auf Kosten eines alten Mannes amüsierte, der noch einsamer gewesen war als sie, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, regte sie auf. „Er ist freundlich und fürsorglich. Und er ist allein. Seiner eigenen Familie bedeutet er anscheinend nicht genug, um von Zeit zu Zeit nach ihm zu sehen. Sie und ihre Cousins sollten sich schämen. Besonders Sie. Sie sind Arzt. Sie hätten früher nach Hause kommen sollen, um dafür Sorge zu tragen, dass es ihm gut geht. Aber nein. Sie haben gewartet, bis er …“ Sie konnte, es nicht einmal über sich bringen, das Wort „stirbt“ auch nur auszusprechen.

Der Gedanke, Jeremiah und das Heim, das sie mittlerweile so sehr liebte, zu verlieren, war unerträglich für sie. Und vor ihr stand ein Mann, der all das einfach als selbstverständlich ansah. Ein Mann, dem die Liebe, die Jeremiah ihm entgegenbrachte, offensichtlich nicht viel bedeutete, und dem dieser alte Mann nicht einmal einen Besuch wert war. Voller Zorn musterte sie den Mann argwöhnisch, der ihren Körper noch vor wenigen Minuten total in Aufruhr versetzt hatte.

Sam verging das Lachen, und sein Gesicht nahm einen ebenso grimmigen wie irritierten Ausdruck an. „Wer, zum Teufel, sind Sie eigentlich?“

„Mein Name ist Maggie Collins“, antwortete sie und richtete sich zu ihrer vollen Größe von gut eins siebzig auf. „Ich bin die Haushälterin Ihres Großvaters.“

Der mürrische alte Kauz, wie sein Enkel ihn nannte, hatte ihr diesen Job angeboten, als sie am dringendsten eine Chance gebraucht hatte. Also würde sie keinesfalls zulassen, dass irgendjemand – selbst wenn es Jeremiahs Enkelsohn war – den alten Mann beschimpfte, den sie so liebte.

„Nun, Miss Collins“, entgegnete Sam grimmig. „Nur weil Sie sich um Jeremiahs Haushalt gekümmert haben, heißt das nicht, dass Sie auch nur irgendetwas über mich oder meine Familie wissen.“

Nicht im Geringsten eingeschüchtert, stemmte sie die Hände in die Hüften. Sie hatte Jeremiah in den vergangenen zwei Jahren dabei beobachtete, wie er in alten Fotoalben geblättert und sich alte Filmaufnahmen von der Familie angesehen hatte. Er hatte versucht, sich die Vergangenheit zurückzuholen, weil seine Enkelsöhne, die er liebte und sehr vermisste, sich einfach nicht bei ihm blicken ließen. Und es regte sie auf, dass drei erwachsene Männer, die ein Zuhause hatten, ein Zuhause, nach dem sie sich immer gesehnt hatte, das ganz offensichtlich nicht zu schätzen wussten.

„Ich weiß, dass der alte Mann allein ist, obwohl er drei Enkelsöhne hat“, konterte sie. „Ich weiß, dass er eine Fremde bei sich aufnehmen musste, um Gesellschaft zu haben. Ich weiß, dass er sich Fotos von seinen Enkeln ansieht und ihm dabei das Herz blutet.“ Maggie deutete mit dem Zeigefinger auf Sams Brust. „Ich weiß, dass dieser alte Mann todkrank werden musste …“, sie rang nach Luft, „… bis Sie und ihre Cousins sich dazu durchringen konnten, endlich auf die Ranch zu kommen und nach ihm zu sehen. So viel weiß ich sehr wohl.“

Sam fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und wandte dann den Blick ab. Als er Maggie wieder ansah, war seine Wut verraucht. Seine Augen hatten einen betrübten Ausdruck angenommen. „Sie haben recht.“

Das hatte sie nicht erwartet. Verblüfft neigte sie den Kopf ein wenig zur Seite und musterte ihn. „Ich habe recht? Einfach so?“

„In gewisser Weise“, räumte Sam mit gesenkter Stimme ein. „Es ist alles sehr kompliziert“, fügte er schließlich hinzu.

Der Hauch von Mitgefühl für seine Sicht der Dinge, den sein überraschendes Eingeständnis bei Maggie ausgelöst hatte, verflog wieder. Missbilligend schüttelte sie den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Jeremiah ist Ihr Großvater. Und Sie ignorieren ihn.“

„Das verstehen Sie nicht.“

„Da haben sie absolut recht.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, tippte mit dem Fuß auf den steinigen Boden und wartete.

„Ich schulde Ihnen keine Erklärung, Miss Collins. Also machen Sie sich gar nicht erst die Mühe, auf eine zu warten“, erklärte Sam kategorisch.

Nein, er wird nichts dazu sagen, dachte sie. Obwohl sie unbedingt eine Erklärung hören wollte. Sie konnte nicht verstehen, wieso jemand, der eine Familie und ein Zuhause hatte, beides absichtlich mied. „Gut. Mir mögen Sie keine Erklärung schulden, aber sicherlich ihrem Großvater.“

Er machte ein grimmiges Gesicht. „Ich bin doch hier, oder nicht?“

„Endlich. Haben Sie Jeremiah schon gesehen?“, fragte Maggie.

„Nein, das habe ich nicht“, gab Sam zu und schob die Hände in die Hosentaschen, während er seinen Blick über den See gleiten ließ. „Ich musste zuerst hierherkommen und mich mit diesem Ort konfrontieren.“

Plötzlich empfand Maggie tiefes Mitgefühl für ihn. Sie wusste, wovon er sprach, weil Jeremiah ihr alles über seine Enkelsöhne erzählt hatte. Das Gute und das Schlechte, das es über sie zu berichten gab, und von dem traumatischen Erlebnis, das das Leben der drei Enkel überschattete. „Es tut mir leid“, platzte sie heraus und wünschte, sie könnte zumindest einige ihrer harschen Worte zurücknehmen. „Ich weiß, wie es hier für Sie sein muss, aber …“

Mit einem Blick ließ Sam sie verstummen. „Das wissen Sie nicht“, entgegnete er angespannt. „Das können Sie nicht wissen. Also, warum gehen Sie nicht zurück ins Haus? Richten Sie meinem Großvater aus, dass ich bald nachkommen werde.“ Er schlenderte zurück, stellte sich ans Ufer und starrte auf den See hinaus.

Maggie konnte zwar seinen Schmerz nachempfinden, aber sie wollte kein Mitleid mit ihm haben und im Zweifelsfall zu seinen Gunsten entscheiden. Obwohl er seine Gründe hatte, die Lonergan-Ranch zu meiden, war es ihrer Meinung nach nicht in Ordnung, dass er dem alten Mann, der ihn liebte, aus dem Weg ging. Ihr Mitgefühl legte sich, und sie ließ ihn in der Dunkelheit am See allein.

Jeremiah blieb gerade noch genug Zeit, um den wüsten Horrorroman, den er gelesen hatte, unter der Bettdecke zu verstecken, bevor Maggie nach einem kurzen Klopfen die Tür seines Schlafzimmers aufmachte. Er betrachtete die Frau, die für ihn mittlerweile so etwas wie eine Enkelin war, und lächelte. Ihr dunkelbraunes Haar war feucht und hinterließ Wasserflecken auf ihrem T-Shirt. Ihr langer Rock war zerknittert und mit Grashalmen übersät, ihre Ledersandalen quietschten vor Nässe. „Du warst wohl wieder unten am See, hm?“, fragte er, als sie näher kam und seine Bettdecke glatt strich.

Sie lächelte. Dennoch war ihr anzumerken, dass etwas vorgefallen war.

„Was ist los, Maggie?“ Jeremiah nahm ihre Hand, sorgte aber dafür, so schwach wie möglich zu wirken. „Bist du in Ordnung?“

„Mir geht es gut.“ Sie entzog ihm ihre Hand und tätschelte kurz seinen Arm. Dann griff sie zur Wasserkaraffe auf seinem Nachttisch und ging damit ins angrenzende Bad, um frisches Wasser hineinzufüllen. Zurück im Schlafzimmer, trat sie wieder an Jeremiahs Bett. „Ich habe einen deiner Enkel getroffen. Das ist alles.“

Jeremiahs Herz hüpfte vor Freude, und er hätte am liebsten gejubelt. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, dass er sich wie ein todkranker Mann benehmen musste. Also fragte er mit leiser Stimme: „Welcher von den dreien ist es denn?“

„Sam.“

„Ah.“ Wieder lächelte er. „Nun, wo ist er? Ist er nicht mit dir zurückgekommen?“

„Nein“, antwortete Maggie und dimmte das Licht der Nachttischlampe so weit herunter, dass es im Zimmer fast dunkel war. Nun stand sie im Mondschein, der ins Zimmer fiel. „Er sagte, er wolle zuerst eine Weile am See bleiben.“

Jeremiahs Herz zog sich vor Kummer zusammen. Er wusste, dass Sam im Moment noch mehr als sonst unter der Erinnerung an das Unglück litt. Aber mittlerweile sind fünfzehn Jahre vergangen, verdammt, dachte er. Es wird Zeit, dass die Lonergan-Jungen die Vergangenheit endlich ruhen lassen. Höchste Zeit, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Und wenn eine Lüge notwendig war, um sie alle drei zurück auf die Ranch zu bringen – nun, dann hatte er aus gutem Grund und mit den besten Absichten gelogen. „Welchen Eindruck hat er gemacht?“

Maggie schüttelte schnell die Kissen auf, bevor sie sich wieder aufrichtete und die Hände in die Hüften stemmte. „Er wirkte wie der einsamste Mann, den ich je gesehen habe“, meinte sie nachdenklich.

„Vermutlich ist er das.“ Mit einem Seufzer ließ Jeremiah den Kopf zurück aufs Kissen sinken. Er sollte Schuldgefühle haben, weil er seine Enkelsöhne in Sorge versetzt und sie durch eine List zur Rückkehr auf die Ranch bewegt hatte, aber er fühlte sich nicht schuldig. Wenn man so alt war wie er, durfte man ja wohl auch einmal ein wenig hinterhältig sein. „Es wird nicht einfach werden“, sagte er. „Für keinen von ihnen. Aber es sind starke Männer. Sie werden es überstehen.“

Maggie strich noch ein letztes Mal die Bettdecke glatt, bevor sie sich über ihn beugte und ihm rasch einen Kuss auf die Stirn gab. „Deine Enkelsöhne sind es nicht, um die ich mir Sorgen mache.“ Sie richtete sich auf und lächelte ihn an.

„Du bist ein gutes Mädchen, Maggie“, meinte Jeremiah. „Aber du musst dir keine Sorgen um mich machen. Wenn die Jungs erst einmal alle wieder daheim sind, wird es mir bald wieder besser gehen.“

Sam betrat leise das Haus und erwartete halb, die angriffslustige Leibwächterin des alten Mannes würde sich aus dem Hinterhalt auf ihn stürzen. Als Maggie Collins sich aber nicht blicken ließ, fügte er sich ins Unvermeidliche und sah sich in dem Zimmer um, in dem er als Kind und Teenager herumgetobt hatte. Es brannten zwei Lampen im Wohnzimmer, doch er würde sich auch mit verbundenen Augen darin zurechtfinden. Alles war noch wie früher. Auf dem Holzfußboden, der zerkratzt war, weil jahrzehntelang Kinder darauf gespielt hatten, lagen leicht verblichene, farbenfrohe Teppiche. Vier dunkle Ledersofas bildeten ein riesiges Quadrat, in dessen Mitte ein großer Tisch stand. Auf einer Ecke des Tisches lagen ordentlich gestapelte Zeitschriften, und in der Mitte stand eine Vase mit gelben Rosen.

Das muss wohl das Werk der Leibwächterin sein, sagte Sam sich, weil er sehr genau wusste, dass Jeremiah nicht daran gedacht hätte, das Zimmer mit frischen Blumen zu dekorieren. Maggie Collins’ Gesicht kam ihm wieder kurz in den Sinn, während er sich weiter im Haus umsah und sich wieder mit seiner Vergangenheit vertraut machte. Eine Wand des Wohnzimmers wurde von einem riesigen Kamin beherrscht. Einige Holzscheite brannten noch hinter dem Eisengitter, das als Feuerschutz diente. Die anderen Wände waren mit gerahmten Familienfotos geschmückt und mit Landschaftsbildern, die ein talentierter Jugendlicher gemalt hatte. Sam zuckte zusammen und wandte schnell den Blick von den Bildern ab. Er war noch nicht bereit dafür, sich mit diesen Erinnerungen auseinanderzusetzen. Es reichte schon, dass er hier war. Er musste sich die Vergangenheit in kleinen Dosen verabreichen, damit sie ihm nicht zu sehr auf den Magen schlug.

Er stellte seinen Matchsack neben der Tür ab und ging zur Treppe am anderen Ende des Raumes. Die Stufen bestanden aus massiven Baumstämmen, die in der Mitte durchgesägt und lackiert worden waren. Das Geländer wirkte, als bestünde es aus versteinerten dicken Ästen. Er ließ seine Hand über die glatte Oberfläche gleiten, als er die Treppe zu den Schlafzimmern hinaufstieg.

Bei jedem seiner zögerlichen Schritte konnte Sam seinen Herzschlag hören. Jeder Schritt brachte ihn den Erinnerungen näher, denen er nicht ins Gesicht sehen wollte. Dennoch gab es jetzt kein Zurück mehr. Er konnte der Vergangenheit nicht mehr aus dem Weg gehen.

Auf dem obersten Treppenabsatz angekommen, warf er einen Blick in den langen Flur. Die Türen der Zimmer waren geschlossen, aber er wusste noch genau, wie jedes einzelne Zimmer aussah. Er und seine Cousins hatten fast jeden Sommer in vier von diesen Zimmern gewohnt. Sie waren die Treppen hinaufgestürmt, das Geländer hinuntergerutscht und hatten überall auf der Ranch herumgetobt.

Bis zu diesem letzten Sommer. Bis zu dem Tag, der alles verändert hatte, für immer. Der Tag, an dem sie alle erwachsen geworden – und auseinandergegangen waren.

Mit finsterem Gesicht verscheuchte er die Erinnerungen aus seinen Gedanken und trat an die Tür gleich neben der Treppe. Es war die Tür zum Zimmer seines Großvaters, den er seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte. Plötzlich schämte er sich und dachte, dass Maggie Collins stolz wäre, wenn sie das wüsste. Mit einer Sache hatte sie tatsächlich recht. Er und seine Cousins hätten den alten Mann nicht so lange allein lassen sollen. Sie hätten einen Weg finden müssen, ihn trotz ihres Kummers zu besuchen. Aber das hatten sie nicht. Stattdessen hatten sie sich selbst und auch ihren Großvater bestraft, der das nicht verdient hatte. Er klopfte an die Tür und wartete.

„Sam?“

Die Stimme seines Großvaters klang schwächer, als er erwartet hatte, doch sie war ihm immer noch sehr vertraut. Anscheinend hatte die Haushälterin und Leibwächterin in Personalunion Jeremiah schon darüber informiert, dass er angekommen war. Sam öffnete die Tür und trat ein. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Jeremiah Lonergan, der kraftvollste Mann, den Sam je gekannt hatte, sah alt aus. Er hatte nur noch wenige Haare, die in einem silbernen Kranz von seinem Kopf abstanden, und seine gebräunte Halbglatze glänzte im warmen Licht der Lampe. Die Falten in seinem Gesicht hatten sich tiefer eingegraben, und es waren neue hinzugekommen. Er wirkte klein und schwach in dem großen Bett. Der kunstvoll gesteppte Quilt, den er bis zum Hals hochgezogen hatte, gehörte zu denen, die seine Frau vor Jahrzehnten noch selbst angefertigt hatte.

Sam wurde von Reue erfüllt. Es war sehr viel Zeit vergangen. Zu viel Zeit. Und in diesem bestürzenden Moment bedauerte er zutiefst, dass er es so lange versäumt hatte, mit dem Mann, den er liebte, zusammen zu sein. Aus irgendeinem Grund war er nicht davon ausgegangen, dass Jeremiah sich verändert haben würde. Obwohl ihm der Arzt des alten Mannes am Telefon gesagt hatte, dass seinem Großvater nicht mehr viel Zeit blieb.

„Hallo, Grandpa“, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln.

„Komm herein, komm herein.“ Jeremiah winkte ihn zu sich. Dann klopfte er neben sich auf das Bett. „Setz dich, Junge. Lass mich dich ansehen.“

Bereitwillig setzte sich Sam zu seinem Großvater aufs Bett und musterte ihn rasch aus der Nähe. Er war dünner geworden, doch seine Augen waren klar und glänzten. Seine Haut war nicht mehr so stark gebräunt wie früher, aber er sah auch nicht blass und krank aus. Seine Hände waren ebenfalls gealtert, aber sie zitterten nicht. Das waren alles gute Anzeichen. „Wie geht es dir?“ Er legte eine Hand auf die Stirn seines Großvaters.

Jeremiah schob sie weg. „Gut. Mir geht es gut. Und ich habe schon einen Arzt, der an mir herumdoktert. Dass mein Enkelsohn das auch noch tut, ist nicht notwendig.“

„Sorry.“ Sam zuckte die Achseln. „Das ist immer eine Gefahr bei diesem Beruf.“ Als Arzt konnte er durchaus respektieren, dass Jeremiah der Patient eines Kollegen war, und wollte nicht dessen Kompetenz anzweifeln. Als Enkel jedoch wollte er sich selbst davon überzeugen, dass sein Großvater in Ordnung war. Obwohl das anscheinend nicht so einfach werden würde, wie er es sich vorgestellt hatte. „Nach unserem Telefongespräch letzten Monat habe ich mit Doktor Evans geredet. Er sagte, dass dein Herz in einem ziemlich schlechten Zustand sei.“

Der alte Mann zuckte zusammen. „Ärzte. Man sollte nicht auf sie hören.“

Sam lachte kurz auf. „Danke.“

„Dich habe ich damit nicht gemeint, Junge“, korrigierte Jeremiah sich eilig. „Ich bin sicher, du bist ein guter Arzt. Ich war schon immer sehr stolz auf dich, Sam. Deshalb habe ich Bert Evans auch gesagt, dass du genau der richtige Mann wärst, um seine Praxis zu übernehmen.“

Sam stand auf und schob die Hände in die Hosentaschen. Genau das hatte er befürchtet. Er hatte geahnt, dass der alte Mann versuchen würde, mehr aus diesem Besuch zu machen, als dahintersteckte. Er hatte befürchtet, dass Jeremiah ihn bitten und von ihm erwarten würde, hierzubleiben. Aber er konnte und würde das nicht tun. Sein Großvater bemerkte sein Unbehagen entweder nicht, oder es kümmerte ihn nicht, denn er redete einfach weiter. Und mit jedem seiner Worte hatte Sam mit stärkeren Schuldgefühlen zu kämpfen.

„Bert ist ein guter Doc, wirklich. Aber er ist fast so alt wie ich und will demnächst in den Ruhestand gehen.“ Jeremiah lächelte Sam an und zwinkerte ihm zu. „Die Stadt braucht einen Arzt, und da ich weiß, dass du keine eigene Praxis hast …“

„Grandpa, ich werde nicht bleiben“, zwang sich Sam geradeheraus zu sagen. Er wollte seinem Großvater nicht wehtun, ihm aber auch keine falschen Hoffnungen machen. Als er bemerkte, wie der Glanz aus Jeremiahs Augen verschwand, bekam er Gewissensbisse. „Ich werde den Sommer hier verbringen“, sagte er weich und hoffte, der alte Mann würde verstehen, wie viel Überwindung es ihn gekostet hatte, wieder nach Hause zu kommen. „Aber wenn der Sommer vorüber ist, werde ich wieder fortgehen.“

„Ich dachte …“ Jeremiah verstummte und sank zurück auf das Kissen. „Ich dachte, wenn ich es erst einmal geschafft hätte, dich auf die Ranch zurückzuholen, würdest du einsehen, dass dies der Ort ist, wo du hingehörst – wo ihr alle hingehört.“

Sam war schmerzlich berührt. Als er fast noch ein Kind gewesen war, hatte es eine Zeit gegeben, in der er alles getan hätte, um immer hier leben zu können. Zu dieser kleinen Stadt zu gehören und in diesem Haus zu leben, war ihm damals perfekt erschienen. Aber dieser Traum war an einem strahlenden Sommertag vor fünfzehn Jahren wie eine Seifenblase zerplatzt. Und jetzt gehörte er nirgendwohin. „Es tut mir leid, Grandpa“, sagte er und wusste, dass eine Entschuldigung nicht ausreichte. Aber mehr hatte er nicht anzubieten.

Der alte Mann sah ihn lange an, bevor er schließlich mit einem müden Seufzer die Augen schloss. „Der Sommer fängt ja gerade erst an. Da kann doch noch alles Mögliche passieren.“

„Mach keine Pläne für mich, Jeremiah“, warnte Sam, obwohl er sich dazu überwinden musste, seinem Großvater schon wieder wehzutun. „Ich werde nicht bleiben. Ich kann es nicht. Du weißt, warum.“

„Ich weiß, warum du das denkst“, entgegnete Jeremiah resigniert. „Ich weiß aber auch, dass du dich da täuschst. Ihr alle tut das. Aber ein Mann muss seinen eigenen Weg finden.“ Er rutschte tiefer unter die Decke. „Ich bin jetzt müde. Warum kommst du nicht morgen wieder zu mir herein? Dann werden wir uns weiter unterhalten.“

„Jeremiah …“

„Geh jetzt“, flüsterte er. „Geh nach unten und nimm dir etwas zu essen. Ich werde morgen früh immer noch da sein.“

Als sein Großvater die Augen schloss und auf diese Weise jedes weitere Gespräch verhinderte, blieb Sam keine andere Wahl. Er verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Er fühlte sich schuldig. Er war noch nicht einmal eine Viertelstunde im Haus und hatte schon einen alten Mann mit einem angegriffenen Herzen aufgeregt.

Aber er hatte seinen Großvater einfach nicht in dem Glauben lassen können, er werde bleiben. Er konnte Jeremiah keine Versprechen für die Zukunft geben, wenn die Vergangenheit noch derart auf ihm lastete. Er hatte sich seit Langem daran gewöhnt, mit den Erinnerungen zu leben, die ihn verfolgten. Aber er würde nie in der Lage sein, wieder hier zu wohnen. Hier, wo er an jeder Ecke einen Geist sah.

3. KAPITEL

Maggie saß in ihrem Wohnzimmer und starrte über den Hof auf das direkt gegenüberliegende Haupthaus der Ranch. Die beiden Gebäude waren nicht mehr als sieben Meter voneinander entfernt, aber im Moment hatte sie den Eindruck, es lägen siebzig Kilometer dazwischen. Seit sie auf der Lonergan-Ranch lebte, war sie sich nicht mehr so als Außenseiterin vorgekommen. Seit ihrem ersten Tag hier, an dem ihr Auto direkt vor dem Haupttor den Geist aufgegeben hatte, hatte sie sich nicht mehr so allein gefühlt.

Sie erinnerte sich noch ganz deutlich an diesen Tag. Als ihr Transportmittel ihr damals den Dienst versagte, war sie den Tränen nahe, denn sie hatte keinen Cent mehr in der Tasche. Obwohl sie kein besonderes Ziel hatte ansteuern wollen, war es ihr fünf Minuten vorher zumindest noch möglich gewesen, die nächste Stadt zu erreichen. Sie hatte die lange, leere Straße entlanggeschaut, die auf beiden Seiten von Feldern begrenzt wurde, und gegen die aufsteigende Verzweiflung angekämpft. Die Nachmittagssonne war sehr heiß, und kein Baum spendete ihr in der Gluthitze ein wenig Schatten. Zudem war Coleville laut dem letzten Schild, an dem sie vorbeigefahren war, immer noch vierzig Kilometer entfernt.

Allein der Gedanke an den langen Fußmarsch dorthin machte sie müde. Aber es würde sie der kleinen Stadt keinen Schritt näher bringen, sich einfach hinzusetzen und sich die Augen aus dem Kopf zu heulen. Und damit, sich selbst leidzutun, würde sie sich höchstens rote Augen und eine Schniefnase einhandeln. Nein, Maggie Collins verschwendete keine Zeit mit Selbstmitleid. Stattdessen machte sie sich stets weiter auf die Suche, denn sie wusste, dass sie eines Tages irgendwo den Platz finden würde, wo sie hingehörte, wo sie sich niederlassen und Wurzeln schlagen konnte. Das war es, was sie schon als Kind immer gewollt hatte. Aber um diesen Ort zu finden, musste sie sich aus ihrer misslichen Lage befreien. Also fand sie sich damit ab, sie öffnete die Wagentür und schnappte sich ihren dunkelblauen Rucksack.

„Es sieht so aus, als ob dieses Auto nicht mehr von der Stelle zu bewegen ist.“

Maggie schlug sich vor Überraschung den Kopf am Dach ihres alten Autos an, als sie ausstieg. Der alte Mann, der das gesagt hatte, stand nur einen guten Meter von ihr entfernt an einen der weiß gestrichenen Pfosten gelehnt, an denen ein Schild mit dem Namen „Lonergan“ befestigt war. Sie hatte ihn vorher nicht bemerkt. Wahrscheinlich war sie müder, als sie dachte. Der Mann war nicht sehr groß und trug einen ramponierten Hut mit breiter Krempe, die einen Schatten auf sein faltiges Gesicht und seine wachsamen dunklen Augen warf. Seine Jeans war abgewetzt und verblichen, und seine Stiefel sahen aus, als wären sie älter als er.

„Ist es gerade erst liegen geblieben?“, fragte er und deutete auf das Auto.

„Ja“, antwortete sie, nachdem sie die Freundlichkeit in seinem Blick aus dunkelbraunen Augen registriert hatte. „Aber das hat mich nicht wirklich überrascht. Die letzten paar hundert Kilometer waren wohl einfach zu viel.“

Er musterte sie von oben bis unten – aber nicht in einer bedrohlichen Art und Weise, sondern eher so, wie ein Mann vielleicht ein verloren gegangenes Kind anschauen würde, während er überlegte, wie er ihm helfen konnte. Schließlich sagte er: „Das mit Ihrem Auto kann ich nicht ändern, aber wenn Sie mit ins Haus kommen möchten, können wir vielleicht etwas für uns zum Mittagessen auftreiben.“

Sie warf einen Blick auf die leere Straße und schaute dann wieder den Mann an, der auf ihre Entscheidung wartete. Maggie hatte schon früh gelernt, ihrem Instinkt zu vertrauen, und der sagte ihr, dass sie diese Gelegenheit wahrnehmen sollte. Was hatte sie schon zu verlieren? Außerdem war sie ziemlich sicher, dass sie viel schneller war als er und wegrennen könnte, falls er sich als Verrückter entpuppen sollte. „Ich kann Ihnen für das Essen nichts bezahlen“, hatte sie schließlich gesagt und stolz das Kinn gereckt. Ihr Stolz war das Einzige, was ihr geblieben war. „Aber ich würde im Gegenzug gern einige Arbeiten im Haushalt für Sie erledigen.“

Er hatte den Mund zu einem herzlichen Lächeln verzogen, und die vielen, ausgeprägten Lachfältchen um seine Augen hatten ihn sehr sympathisch wirken lassen. „Ich denke, da werden wir eine Lösung finden.“

Maggie seufzte bei der Erinnerung daran und lehnte ihren Kopf an das weiche Polster des großen Sessels, in dem sie es sich bequem gemacht hatte. Sie sah sich in dem kleinen Häuschen um, das während der letzten zwei Jahre zu ihrem Heim geworden war. Jeremiah hatte ihr an diesem ersten Tag angeboten, in dem Gästehaus zu wohnen. Nach dem Mittagessen, das sie für ihn und sich zubereitet hatte, hatte er ihr einen Job und dazu dieses kleine Häuschen gegeben. Und zwei Jahre lang waren sie sehr gut miteinander ausgekommen. Zum ersten Mal, seitdem sie hier war, brannte nicht nur in Jeremiahs, sondern auch noch in einem der anderen Schafzimmer Licht. Und sie fragte sich, wie Sam Lonergans Anwesenheit ihr Leben verändern würde.

Der Duft von frischem Kaffee weckte Sam. Er drehte sich in dem großen Bett auf den Rücken und starrte an die Decke, weil er einen Moment nicht mehr wusste, wo er sich befand. Dabei sollte ein Mann, der so viel reiste wie er, daran gewöhnt sein, an fremden Orten aufzuwachen. Dann nahm er die vertraute Umgebung wahr, und sein Herz zog sich zusammen.

Sein altes Zimmer sah fast noch genauso aus wie früher. An den mit Holz verkleideten, weiß gestrichenen Wänden hingen Poster von Sporthelden und einer sehr üppig ausgestatteten Schönheit im Badeanzug. Auf dem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers stand immer noch das Plastikmodell, an dem man die Funktionsweise der Organe des menschlichen Körpers nachvollziehen konnte. Die beiden Bücherregale dahinter waren wie eh und je mit Krimis, Thrillern, medizinischen Nachschlagewerken und alten Schulbüchern vollgestopft.

Sam legte einen Arm über die Augen und wand sich vor Kummer, als ihn die Erinnerungen mit aller Macht überfielen. Halb erwartete er sogar, die Stimmen seiner Cousins zu hören, die etwas aus ihren Zimmern über den Flur riefen, so wie es früher immer gewesen war, als sie die Sommer hier gemeinsam verbracht hatten. Die vier Lonergan-Jungen hatten sich so nah wie Brüder gestanden. Sie waren alle innerhalb von nur drei Jahren geboren und hatten sich jeden Sommer auf der Lonergan-Ranch getroffen. Ihre Väter waren Brüder, und obwohl es keinen von ihnen zurück auf die Ranch zog, kamen ihre Kinder immer sehr gern dorthin.

Auf der Ranch hatten sie sich eine andere Welt erschlossen. Die weiten Felder und die Landschaft luden sie zu ausgedehnten Fahrradtouren ein. In der kleinen Stadt konnten sie den Jahrmarkt besuchen, sich Feuerwerke und Baseballspiele anschauen. Sie konnten bei der Feldarbeit helfen, die Pferde versorgen, die Jeremiah früher einmal gehalten hatte, oder im See schwimmen.

Bei dem Gedanken daran blieb Sam vor Schmerz die Luft weg. Hier zu sein und zu sehen, dass alles immer noch so wie früher und doch ganz anders war, war schwerer, als er es sich vorgestellt hatte.

„Ich hätte nicht kommen sollen“, murmelte er mit belegter Stimme. Aber wie hätte er nicht herkommen können? Der alte Mann war gesundheitlich in einem schlechten Zustand und brauchte seine Enkel. Sam hatte ihm die Bitte, auf die Ranch zu kommen und ihn zu besuchen, einfach nicht abschlagen können. Fünfzehn Jahre war er fort gewesen, und dieses Zimmer sah aus, als wären seit seinem letzten Besuch höchstens fünfzehn Minuten vergangen. Es war hart für einen erwachsenen Mann, in einen Raum zu kommen, in dem er sich das letzte Mal als Junge aufgehalten hatte. Insbesondere, da er mit Schuldgefühlen und Kummer beladen gewesen war, als er dieses Zimmer verlassen hatte. Aber diese Überlegungen machten es keinen Deut einfacher. Vermutlich soll es nicht einfach sein, sagte er sich und warf die Decke zur Seite. Er musste aufstehen und dem ersten Tag dieses schwierigen Sommers ins Gesicht sehen. Es würde wohl der längste Tag seines Lebens werden.

Sam hörte, dass im Erdgeschoss jemand in der Küche hantierte, und nahm das jetzt noch stärkere Kaffeearoma wahr. Er nahm an, das lag daran, dass er jetzt wach genug war, um wirklich Lust auf eine Tasse starken Kaffee zu haben. Es musste Jeremiahs Haushälterin sein, die sich da unten in der Küche nützlich machte. Maggie Collins, Wassernixe, strenge Leibwächterin und Haushälterin in einer Person. Die Frau, die er nackt gesehen hatte und von der er die ganze Nacht geträumt hatte. Allein dafür sollte er ihr dankbar sein. Denn da er in Gedanken mit ihr beschäftigt gewesen war, war in seinem Kopf kein Platz gewesen, um sich mit der Erinnerung an ein anderes Gesicht und an eine andere Zeit zu quälen.

Schnell griff er nach seiner Jeans, zog sie an und streifte sich ein weißes T-Shirt über. Barfuß ging er hinaus auf den Flur. Dort hielt er kurz vor der geschlossenen Tür des Zimmers seines Großvaters inne, bevor er die Treppe hinunterstieg, um zur Küche zu gelangen. Er brauchte jetzt seinen Koffeinkick. Und vielleicht brauche ich auch noch etwas anderes, dachte er. Etwa einen weiteren Blick auf die Meerjungfrau?

Seine Schritte auf der Treppe waren wegen seiner bloßen Füße nicht zu hören, daher näherte er sich Maggie leise genug, um sie unbemerkt beobachten zu können. Durch die blitzsauberen Fensterscheiben strahlte die Morgensonne hell in die Küche und tauchte den großen runden Tisch und den Holzboden in goldenes Licht. Alles im Zimmer blitzte vor Sauberkeit, und Sam musste zugeben, dass Maggie Collins als Haushälterin einen verdammt guten Job machte. Die Küchentheke war ordentlich aufgeräumt, der Boden glänzte wie frisch poliert, und sogar die alten Küchengeräte wirkten fast wie neu. Die Wände waren in einem leuchtenden, fröhlich wirkenden Gelb gestrichen, und die gestärkten weißen Vorhänge rauschten leise, als eine Brise durch das halb geöffnete Fenster wehte.

Aber es war die Frau, die Sams Aufmerksamkeit fesselte. Genau, wie sie es schon am Abend zuvor getan hatte. Sie bewegte sich mit einer Vertrautheit in der alten Küche, die ihm ebenso gefiel, wie sie ihn irritierte. Das kam ihm nicht unbedingt logisch vor, aber es war ja noch früh am Morgen. Einerseits war Sam froh darüber, dass diese Frau hier bei seinem Großvater war, anderseits nahm er es ihr übel, dass sie sich auf der Lonergan-Ranch so heimisch fühlte, während er hier so durcheinander und gereizt war.

Sie hatte ihr langes dunkles Haar zu einem Zopf geflochten, der auf ihren Rücken fiel. Dessen Ende war mit einem leuchtend roten Band umwickelt. Das Haarband wirkte wie ein Farbtupfer auf dem hellblauen T-Shirt, das sie in eine Jeans gesteckt hatte, die so verblichen und abgetragen war, dass sie fast auseinanderzufallen drohte. Aufgenähte Flicken schienen die uralte Jeans zusammenzuhalten. Der abgewetzte weiche Jeansstoff umschmeichelte Maggies Po und ihre langen Beine.

Im Radio lief ein alter Song der Rolling Stones, und Sam beobachtete, wie die Meerjungfrau zwischendurch einige Tanzschritte einlegte und ihre Hüften im Rhythmus der Musik bewegte. Ihm stockte der Atem, als ihm klar wurde, dass er hoffte, einer dieser abgewetzten Flicken würde sich lösen, damit er einen weiteren Blick auf ihre gebräunte Haut erhaschen könnte.

Dann machte Maggie eine langsame Drehung und bemerkte ihn. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand. „Schleichen Sie sich immer an andere Leute heran, oder bin ich nur ein spezieller Fall?“

Sam strich sich mit der Hand über das Gesicht, als ob diese Geste reichen würde, um sich die aufreizenden Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, in die er versunken gewesen war. „Ich wollte Sie nicht beim Tanzen stören“, sagte er angespannt und hoffte, dass seine Stimme sein Verlangen nicht verriet. Er ging an ihr vorbei zu der Kaffeekanne auf der Küchentheke, goss Kaffee in einen weißen Becher, nahm einen Schluck und drehte sich dann zu Maggie um. Dabei lehnte er sich lässig an die Küchentheke und fragte: „Tanzen Sie immer in der Küche?“

Maggie umfasste den Bratenwender, den sie in der rechten Hand hielt, fester. „Wenn ich allein bin.“

„Nackt baden tun Sie ja auch nur, wenn Sie allein sind, hm?“

Maggie funkelte ihn an. „Ein Gentleman würde mich nicht daran erinnern.“

„Ein Gentleman hätte nicht einmal hingesehen“, meinte Sam und hatte wieder ihre schimmernde, golden getönte Haut mit den hellen Streifen vor Augen. „Und ich habe hingesehen. Erinnern Sie sich?“

„Das werde ich wohl nie vergessen.“

Er hob eine Augenbraue, während er den Blick schnell, aber eingehend über ihren Körper wandern ließ. „Ich auch nicht.“

Maggie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder und atmete tief durch.

Sam konnte an ihrem Blick erkennen, dass sie versuchte, sich zu beruhigen, um ihr aufbrausendes Temperament unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Augen waren im Morgenlicht nicht so dunkel, wie er am Abend zuvor gedacht hatte. Sie hatten den warmen goldbraunen Ton von gutem schottischem Whisky. Er nahm noch einen Schluck Kaffee und ermahnte sich, sich in den Griff zu bekommen.

„Sie suchen ganz offensichtlich Streit“, konstatierte Maggie. „Warum?“

Er machte ein finsteres Gesicht. „Weil ich kein netter Mensch bin.“

„Da sagt ihr Großvater aber etwas ganz anderes.“

Sam sah sie an. „Jeremiah ist voreingenommen und ein toller Geschichtenerzähler. Glauben Sie nicht die Hälfte von dem, was er Ihnen auftischt.“

„Ihr Großvater sagte mir, Sie sind Arzt. Stimmt das?“

„Ja.“ Er runzelte die Stirn und trank einen weiteren Schluck des wirklich erstklassigen Kaffees. „Bin ich.“

„Haben Sie ihn …“, Maggie hielt inne und wartete, bis Sam sie ansah, „… gestern Abend untersucht?“

Sam lachte laut auf, was ihn fast ebenso überraschte wie sie. „Ich? Keine Chance. Jeremiah sieht in mir immer noch den dreizehnjährigen Jungen, der einen selbst fabrizierten Gipsverband an seinem Golden Retriever ausprobiert hat.“

„Das haben Sie nicht getan!“

Bei der Erinnerung daran musste Sam grinsen. „Doch, das habe ich. Der Gips war aus Pappmaschee. Ich habe nur geübt.“ Er dachte daran, wie Jeremiahs Golden Retriever, geduldig sitzen geblieben war und sich nicht gerührt hatte, als er diesen Unfug angestellt hatte. „Grandpa hat dem Hund das Zeug abgenommen, bevor es trocknen konnte.“

Maggie lächelte ihn an, und ihre Augen glänzten.

Sam bemerkte, welche Wirkung ihr Lächeln auf ihn hatte, und ihm wurde unbehaglich zumute. Wieder trank er einen Schluck Kaffee. „Jedenfalls ist es so, dass Jeremiah nicht zulassen wird, dass ich ihn auch nur anrühre. Doch ich werde mit seinem Arzt reden und versuchen, möglichst viele Informationen von ihm zu bekommen.“

„Gut.“ Maggie nickte und kümmerte sich wieder um die noch flüssige Eimasse in der Bratpfanne. „Ich meine, es ist gut, dass Sie sich einschalten werden. Ich mache mir Sorgen. Jeremiah war so …“

„Wie?“

Sie wandte sich ihm wieder zu. „Ich kann nicht genau beschreiben, was mit ihm nicht stimmt. Es ist nur so, dass er in letzter Zeit irgendwie verändert ist. Er scheint müder geworden zu sein. Und gebrechlicher.“

„Er ist nicht mehr der Jüngste“, erinnerte Sam sie und ärgerte sich über sich selbst, als ihm klar wurde, wie viel Zeit er hatte verstreichen lassen, ohne nach seinem Großvater zu sehen.

„Bis vor zwei Wochen hätte man das nicht vermutet“, erklärte Maggie. „Er stand bei Sonnenaufgang auf, um seine Pflichten zu erledigen, fuhr zum Mittagessen mit Doktor Evans in die Stadt und ging freitagabends zum Squaredance.“

„Zum Squaredance?“ Erneut war Sam überrascht und ein bisschen irritiert darüber, dass diese Frau so viel mehr über seinen Großvater wusste als er.

Maggie rührte die Eier in der Pfanne um. „Er und seine Freunde machen jeden Freitag einen Ausflug zum Seniorencenter in Fresno.“ Sie seufzte. „Zumindest ist er bisher immer dorthin mitgefahren.“

„Vielleicht hat er ja überhaupt nichts“, sagte Sam und war nicht sicher, ob er damit sie oder sich selbst trösten wollte.

„Das hoffe ich.“

Er hörte den hoffnungsvollen Ton in ihrer Stimme, und es berührte ihn, dass Jeremiah ihr so am Herzen lag. „Sie mögen ihn wirklich, nicht wahr?“

„Ja, sehr.“ Maggie drehte ihm ihr Gesicht zu. „Sehen Sie, Sam.“ Sie sprach seinen Namen mit solchem Nachdruck aus, als würde sie sich zwingen, eine Verbindung zu ihm herzustellen, an der sie eigentlich nicht interessiert war. „Sie sind hier, um nach Ihrem Großvater zu sehen, und ich bin froh darüber. Um seinetwillen.“

Jetzt richtete Sam sich zu seiner vollen Größe auf. „Aber?“

„Aber …“ Maggie zögerte, dann wandte sie sich ganz vom Herd ab, und die Rühreier gerieten in Gefahr, anzubrennen. „Ich denke, dass wir uns aus dem Weg gehen sollten, solange Sie hier sind.“

„Ach ja?“ Sam trat neben sie und verspürte augenblicklich etwas wie ein erregendes Knistern zwischen ihnen. Verdammt, dachte er. Ich brauche und will das nicht. Eigentlich hatte er fest vorgehabt, einen großen Bogen um die kleine Haushälterin zu machen. Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem sie es selbst vorschlagen hatte.

Maggie wandte sich hastig ab und rührte heftig in der Bratpfanne herum, bis die Rühreier goldbraun waren. Genau so mochte Jeremiah sie. Sie versuchte, sich auf die Zubereitung seines Frühstücks zu konzentrieren. Aber da Sam so nah bei ihr stand, war das nicht ganz einfach.

Am vergangen Abend war sie nach langem Nachdenken zu dem Schluss gekommen, sich in diesem Sommer möglichst aus allem herauszuhalten. Das schien ihr der einzige Weg zu sein, ihren Platz auf der Ranch zu schützen. Sie wollte keinem der Lonergan-Jungen einen Grund für die Annahme geben, ihr Großvater sei besser dran, wenn er von jemand anderem versorgt würde. Sie hatte die halbe Nacht wach in ihrem Bett gelegen und über die Ranch nachgedacht, was sie für sie bedeutete. Und über den alten Mann, der ihre Familie geworden war.

Und wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie auch an Sam gedacht und die Empfindungen, die er in ihr ausgelöst hatte, als sie nackt aus dem Wasser gekommen war und er sie dabei beobachtet hatte. Ihr war in dem Moment so heiß gewesen, dass sie den kühlen Wind kaum mehr wahrgenommen hatte. Sie hatte sich gefragt, wie es wäre, von ihm berührt zu werden. Wie es sich anfühlen würde, wenn er mit den Händen über ihre Haut streichen und seine Finger in ihre …

„Die Eier brennen an.“

„Was?“ Maggie blinzelte, starrte auf die Pfanne und streckte instinktiv eine Hand aus, um die Pfanne von der Flamme zu schieben. Der Schmerz setzte sofort ein, und sie ließ den Bratenwender fallen, um ihre linke Hand an ihre Brust zu drücken. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie stöhnte leise auf.

„Verdammt!“ Sam stellte seinen Kaffeebecher ab, nahm ihre verletzte Hand und zog Maggie mit sich durch die Küche zur Spüle. Er drehte das kalte Wasser auf und hielt ihre Hand darunter. „Was, zum Teufel, haben Sie sich denn dabei gedacht?“, fuhr er sie an.

Die Schmerzen ließen sofort nach, und Maggie seufzte erleichtert. „Ich weiß es nicht“, sagte sie und versuchte ihre Hand aus seinem festen Griff zu befreien. Doch es funktionierte nicht. „Ich wollte nur …“

„Es sieht nicht schlimm aus.“

Sam ließ seine Finger so sanft über ihre Handfläche gleiten, dass sie erschauerte.

„Halten Sie still und lassen Sie mich die Hand genau untersuchen.“

Als der bisher so reizbare Mann plötzlich ganz professionell wurde, registrierte Maggie, dass nun der Arzt in ihm die Oberhand gewann. Doch dann veränderte sich sein Verhalten. Seine Berührungen wurden weniger fachmännisch und persönlicher. Er drehte ihre Hand unter dem eisigen Wasserstrahl und inspizierte jeden Zentimeter ihrer Haut. Maggie schloss die Augen, um sich gegen den Ansturm der Empfindungen zu wappnen. Das eiskalte Wasser betäubte sie, und gleichzeitig schien die Hitze, die Sams Berührung auslöste, sie zu verschlingen. Ihr Atem geriet ins Stocken, als sie spürte, wie seine Fingerkuppen mit einer vorher nicht gekannten Zärtlichkeit über ihre nasse Haut strichen.

Als sie die Augen wieder aufmachte, bemerkte sie, dass er sie anstarrte. Sie sahen sich an und spürten, dass sich etwas zwischen ihnen veränderte. Maggies Herz klopfte laut, und ihr blieb die Luft weg. Sie hatte das Gefühl, dass die Spannung und ihr Schweigen schon eine halbe Ewigkeit andauerten, und konnte diese Intensität plötzlich nicht mehr ertragen. Mit trockenem Mund fragte sie in krächzendem Ton: „Ist meine Hand okay?“

„Sie hatten Glück.“ Sams Stimme klang so tief und rau, dass sie Maggie eine Gänsehaut verursachte. „Es haben sich keine Brandblasen gebildet.“

„Gut“, brachte sie über die Lippen und stützte sich an der Spüle ab, da ihre Knie nachzugeben drohten, so stark reagierte sie auf Sam. Du meine Güte. Ist es hier drin wirklich so heiß, oder ist es nur mein Blut, das zu kochen scheint? fragte sie sich. Das war ja wirklich ein gelungener Start für ihr Vorhaben, in diesem Sommer auf Distanz zu den Lonergan-Enkeln zu gehen.

Sam fuhr fort, ihre Hand zu streicheln, und sie fühlte, wie seine Berührungen ihr durch und durch gingen. Es war merkwürdig. Eine solche Erfahrung hatte sie noch nie zuvor gemacht. Eine simple Berührung ließ sie einfach so dahinschmelzen.

Schließlich drehte Sam das Wasser ab und griff nach einem Handtuch. Er hielt ihre Hand in seiner und tupfte sie sanft mit dem weichen Leinentuch trocken. Dann sah er Maggie wieder in die Augen, und sie fühlte sich plötzlich unwiderstehlich zu ihm hingezogen.

Sam ließ ihre Hand so erschreckt fallen, als wäre sie eine Klapperschlange, und trat einen Schritt zurück. „Sie werden wieder ganz in Ordnung kommen.“ Er fuhr sich durch das Haar. „Aber seien Sie in Zukunft bitte vorsichtiger, ja?“

„Das bin ich für gewöhnlich.“

„Gut.“ Sam hielt inne und atmete tief ein. „Hören Sie, was den vergangenen Abend angeht …“

Sie hob den Kopf und sah ihn an. „Was?“

Er betrachtete sie einen langen Moment, bevor er den Blick senkte. „Nichts. Es ist nicht so wichtig. Wahrscheinlich ist es für alle am besten, wenn wir ihn einfach vergessen.“

Sicher. Es wird kein Problem sein, so zu tun, als hätte er mich nie nackt gesehen, dachte Maggie. „Wahrscheinlich“, sagte sie.

„Ja.“ Sam warf das Handtuch auf die Küchentheke und schob dann beide Hände in seine Jeanstaschen. Er erweckte damit fast den Eindruck, als wolle er nicht riskieren, sie erneut zu berühren. „Ich denke, Sie haben auch damit recht, dass es besser sein wird, wenn wir uns einfach aus dem Weg gehen.“

„Okay.“ Maggie fühlte sich immer noch atemlos, und ihr Herz hämmerte wild. Obwohl Sam in der Lage war, sich sehr viel schneller wieder unter Kontrolle zu bekommen als sie, konnte er ihr nichts vormachen – sie wusste einfach, dass er die gleichen verwirrenden Gefühle verspürt hatte wie sie.

„Gut. Dann sind wir uns ja einig.“ Sam sah sich in der Küche um, als könnte er sich nicht mehr daran erinnern, wo er war. Dann schüttelte er den Kopf, durchquerte den Raum und nahm wieder seinen Kaffeebecher in die Hand. Er schenkte sich Kaffee nach und ging dann an Maggie vorbei zur Tür. Dort blieb er stehen und warf ihr über die Schulter noch einmal einen Blick zu. „Ich werde jetzt eine kurze Dusche nehmen und anschließend nach Coleville fahren. Ich möchte mit Jeremiahs Arzt reden.“

Sie nickte, aber Sam war schon so eilig verschwunden, als wäre jemand hinter ihm her. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die das, was sich gerade zwischen ihnen abgespielt hatte, ein wenig nervös machte. Sie hatte angenommen, Sam Lonergan könnte eine Bedrohung für das Heim darstellen, das sie so sehr liebte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er eine völlig andersgeartete Bedrohung verkörperte. Sie wusste, sie musste sich in Acht nehmen, um nicht den Kopf zu verlieren.

4. KAPITEL

Sam nahm eine kalte Dusche, die ihn allerdings nicht wirklich abkühlte. Verdammt, dachte er. Dieser Sommer würde schon schwer genug für ihn werden, auch ohne dass er sich Gedanken wegen einer kleinen, sexy Haushälterin mit whiskyfarbenen Augen und zarten Händen machen musste. Er trug Rasierschaum auf, fuhr mit der Klinge über seine Wange, starrte in den Spiegel und verlor sich in seinen Empfindungen. Er konnte immer noch Maggies Hand in seiner spüren. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte nicht damit gerechnet, hier einer Frau zu begegnen, die so starke Gefühle in ihm auslöste.

Als er mit dem Rasieren fertig war, beugte er sich über das Waschbecken und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann betrachtete er sich im Spiegel. Das Wasser lief ihm am Hals hinunter und bis auf seine Brust, aber er bemerkte es kaum. Er stützte sich auf den Rand des Waschbeckens und lehnte seine Stirn gegen den Spiegel. Zurück nach Hause zu kommen, stellte sich sogar als noch härter heraus, als er gedacht hatte.

Jeremiah lag in seinem Bett und lauschte. Er hörte den Jeep vom Hof der Ranch fahren und das Geräusch des Motors in der Ferne verklingen. Nur zwanzig Minuten später sprang Maggies altes Auto unter lautem Getöse an und hatte innerhalb weniger Minuten ebenfalls den Hof der Ranch verlassen. Erst jetzt schlug der alte Mann seine Bettdecke zurück und stand auf. Als er sich reckte und streckte, um seine Muskelverspannung loszuwerden, seufzte er tief, vor Freude, dass er das Bett verlassen und sich bewegen konnte. Samstagmorgens konnte er sich absolut darauf verlassen, dass Maggie in die Stadt fuhr und mindestens zwei Stunden wegblieb. Sie würde mit ihrer Freundin Linda, die in einem Friseursalon arbeitete, zu Mittag essen und anschließend die Lebensmitteleinkäufe für die ganze Woche erledigen.

„Was für ein Glück, dass Sam sich den heutigen Tag ausgesucht hat, um Bert einen Besuch abzustatten“, murmelte Jeremiah, während er einige Kniebeugen machte. Dann absolvierte er Rumpfbeugen, wobei er mit den Fingerspitzen sogar den Boden berührte. „Wenn ich noch eine weitere Stunde in diesem Bett hätte verbringen müssen, hätte ich tatsächlich zum Invaliden werden können.“ Als aktiver, agiler Mann hasste er nichts mehr, als lahmgelegt zu sein. Und den ganzen Tag nur im Bett zu verbringen, ging ihm vollends gegen den Strich. Er wusste nur zu gut, dass er irgendwann eine Ewigkeit im Liegen verbringen würde. Es machte absolut keinen Sinn, es damit besonders eilig zu haben.

Grinsend eilte er zur Schlafzimmertür und schloss für alle Fälle von innen ab. Dann ging er hinüber zum Bücherschrank und zog Krieg und Frieden heraus, um an sein Geheimversteck zu kommen. „Ah!“ Er nahm sich eine von den drei Zigarren, die er dort verstaut hatte, holte sich Streichhölzer und zündete sich die Zigarre an. Nach ein paar Zügen seufzte er wohlig auf. Bevor er es vergessen konnte, ging er dann zu seinem Nachttisch und nahm den Telefonhörer ab. Er wählte eine Nummer und paffte zufrieden vor sich hin, während er darauf wartete, dass sein alter Freund ans Telefon ging.

Als der Doc sich meldete, sagte Jeremiah: „Bert? Gut. Ich möchte dich nur schnell warnen. Sam ist auf dem Weg zu dir.“

„Verdammt, Jeremiah“, beschwerte sich der Arzt. „Ich mag das überhaupt nicht. Ich habe dir gleich gesagt, dass es ein verrückter Plan ist, als du damit herausgerückt bist. Und daran hat sich nichts geändert.“

Es war das alte Lied, und Jeremiah kannte die Litanei schon auswendig. Bert war von Anfang an gegen dieses Vorhaben gewesen. Er hatte es nur ihrer sehr langen Freundschaft zu verdanken, dass der Doktor gegen seine Überzeugung mitspielte. Jeremiah schob die Zigarre in einen Mundwinkel und erwiderte: „Jetzt kannst du nicht mehr zurück, Bert. Du steckst mit drin. Und du weißt ganz genau, dass mir keine andere Wahl blieb.“

„Deinen Enkelsöhnen zu sagen, dass du im Sterben liegst, ist der einzige Weg, sie dazu zu bewegen, nach Hause zu kommen?“

Jeremiah sah düster auf den Sonnenstreifen, der durch das Fenster in sein Schlafzimmer fiel. Er lehnte sich nach vorn und öffnete einen der Fensterflügel weit genug, damit der verräterische Zigarrenrauch abziehen und frische Luft hereinströmen konnte. Dachte Bert etwa, dass die Vortäuschung seines drohenden Todes ein Kinderspiel für ihn sei? Das war es ganz sicher nicht. Nichts zu tun, als den lieben langen Tag seufzend im Bett herumzuliegen, hatte zur Folge, dass ihm jeder Knochen wehtat. Und so zu tun, als sei er alt und schwach, irritierte ihn maßlos. Außerdem behagte es ihm absolut nicht, dass er dadurch notgedrungen auch Maggie beunruhigen musste, die sich sehr um ihn sorgte.

Doch er musste wohl oder übel der Wahrheit ins Gesicht sehen, auch wenn es ihm absolut gegen den Strich ging, es zuzugeben. „Ja, das war der einzige Weg. Die Jungs waren nicht mehr hier, seit …“ Eine lange Pause entstand, während sich die beiden alten Freunde an die Tragödie erinnerten, die vor langer Zeit passiert war und die Lonergan-Jungen immer noch verfolgte.

Schließlich beendete Bert Evans mit einem resignierten Seufzer das Schweigen. „Ich weiß. Gut, gut. Wer A sagt, muss auch B sagen.“

Jeremiah grinste und versuchte sich daran zu erinnern, wo er die Flasche Bourbon versteckt hatte. Es mochte noch früh am Morgen sein, aber er hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, einen Toast auszubringen. „Danke, Bert. Du hast was gut bei mir.“

„Das habe ich ganz sicher, du alter Kauz“, meinte Bert, verabschiedete sich und legte auf.

Jeremiah lachte leise, zog genüsslich an seiner Zigarre und blies einen perfekten Rauchring in die Luft.

Coleville hat sich nicht sehr verändert, dachte Sam, als er die schmale Hauptstraße entlangfuhr und seinen Blick über die ihm vertrauten Geschäfte schweifen ließ. Schon früh am Samstagmorgen waren viele Leute in der Stadt unterwegs, und es gab fast keine freien Parkplätze mehr.

Die Kleinstadt Coleville war achtzig Kilometer von Fresno, der nächsten größeren Stadt, entfernt. Doch die Einwohner Colevilles konnten sich nicht beschweren. Der Ort verfügte über einen Supermarkt und ein Theater. Und es gab sogar eine Zweigstelle einer der riesigen Drogerieketten. Sam registrierte, dass irgendwann im Laufe der Jahre auch einer dieser trendigen Coffeeshops eröffnet worden war, die inzwischen an fast jeder Straßenecke im Land zu finden waren. Die Schulen, die sowohl von Kindern aus dem Städtchen als auch von den Sprösslingen der umliegenden Farmen und Ranches besucht wurden, waren noch so klein wie früher. Und der einzige Arzt arbeitete in einer Praxis am Rande Colevilles. Notfälle wurden zuerst hier behandelt. Die Patienten wurden danach, falls erforderlich, entweder mit einem Krankenwagen oder mit einem Rettungshubschrauber nach Fresno in das dortige Krankenhaus gebracht.

Sam stellte den Jeep seines Großvaters auf dem Parkplatz vor der Praxis ab. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, und er musste blinzeln, als er das niedrige Gebäude vor sich betrachtete. „Bert Evans – Doktor der Allgemeinmedizin“ stand in goldenen, schon etwas ramponierten Lettern auf dem breiten Fenster. Das Gebäude hatte einen neuen Anstrich nötig. Aber auf beiden Seiten der Eingangstüren standen Terrakottakübel, in denen Blumen in leuchtenden Farben blühten, und der Fußweg und die Veranda waren blitzsauber. Sam stieg aus und ging zum Eingang, wobei Erinnerungen in ihm aufstiegen.

Als Kind war er oft in die Praxis gerannt und hatte Dr. Evans mit unzähligen Fragen bombardiert. Der Arzt hatte nie die Geduld mit ihm verloren. Stattdessen hatte er die Fragen beantwortet, so gut er konnte, und ihm ausgediente Medizinbücher zur Verfügung gestellt, damit Sam sich einiges Wissen selbst aneignen konnte. Hier, in dieser Praxis, hatte Sam sich dafür entschieden, später einmal Arzt zu werden. Schon als Kind hatte er gewusst, dass er kranken Menschen helfen wollte. Er wollte ein Arzt werden, wie Bert Evans einer war, der seine Patienten so gut kannte wie seine eigene Familie.

Nun, inzwischen hatten sich die Dinge geändert. Heute tat Sam zwar das, was ihm als Mediziner möglich war, und brachte die Erfahrungen ein, die er inzwischen gesammelt hatte, aber er versuchte darüber hinaus keine persönliche Beziehung zu seinen Patienten aufzubauen.

Die Türglocke läutete fröhlich, als er eintrat. Dank der Klimaanlage war die Luft drinnen angenehm kühl. Drei Kinder und deren erschöpfte Mutter saßen auf den grünen Plastikstühlen im Wartezimmer. Die Frau lächelte ihn müde an und nickte ihm abwesend zu, während zwei ihrer Kinder versuchten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Hinter der Empfangstheke saß eine junge Frau am Computer. Sam zuckte innerlich zusammen, weil er halb erwartet hatte, dort immer noch die alte Krankenschwester vorzufinden, die früher hier das Regiment geführt hatte. Aber die Frau musste schon an die hundert Jahre alt gewesen sein, als er noch ein Kind gewesen war.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Die junge Frau sah von der Computertastatur auf und schenkte ihm ein Lächeln, das weitaus mehr Entgegenkommen offerierte, als er im Moment benötigte.

„Ich würde gern kurz mit Doktor Evans sprechen“, meinte er. „Sagen Sie ihm, Sam Lonergan sei hier.“

Sie stand auf, strich mit beiden Händen ihre helle Hose glatt und schaffte es dabei irgendwie, ihre wirklich spektakulären Brüste unter dem hellblauen Pullover ins rechte Licht zu rücken. „Wenn Sie sich einen Moment setzen wollen …“

Doch das wollte er nicht. Als sie das Wartezimmer verlassen hatte, wanderte Sam herum und schaute sich die gerahmten Fotos an, die an der Wand hingen. Diese Fotos hatte Dr. Evans immer als seine Trophäen bezeichnet. Darauf waren Babys abgebildet, denen er auf die Welt geholfen hatte. Daneben waren Kinder zu sehen, die er geheilt hatte, und Erwachsene, die er ihr ganzes Leben lang bis zu ihrem Tod medizinisch betreut hatte. Dutzende – Hunderte Gesichter lächelten Sam an, aber er sah nur eines.

Das vertraute Grinsen auf diesem Gesicht versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Der Junge auf dem Foto war erst sechzehn Jahre alt – und älter würde er nie werden. Sam ballte die Hände zu Fäusten und nahm die quengelnden und streitenden Kinder hinter sich kaum mehr wahr. In Gedanken versunken, starrte er in das Gesicht des Menschen, den er hätte retten sollen – was er nicht getan hatte.

„Der Doktor will Sie jetzt sehen.“

Als Sam nicht reagierte, zupfte die junge Frau ihn kurz am Ärmel.

„Was?“ Er schaute die Assistentin an, schüttelte die düsteren Erinnerungen ab und rief sich ins Gedächtnis, weshalb er hier war. „Danke.“ Ohne der Frau einen weiteren Blick zuzuwerfen, durchquerte er den Raum, öffnete die Tür und ging den langen Flur hinunter zu Doc Evans Sprechzimmer. Als er eintrat, bemerkte er, dass das Zimmer wie die restliche Praxis den Eindruck erweckte, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben. Es hatte sich nichts verändert. Die Regale an den Wänden waren noch immer bis oben hin mit Büchern vollgestopft. In einer Ecke stand eine Waage auf dem Boden und am Rand des großen, überladenen Schreibtischs aus Mahagoni hielt Bert Evans immer noch ein Glas mit bunten Lutschern für seine jungen Patienten bereit.

„Sam!“ Der ältere Mann sprang auf und kam mit einem Lächeln auf dem Gesicht um seinen Schreibtisch herum. Er nahm Sams Rechte in seine beiden Hände und schüttelte sie herzlich. Seine blauen Augen wirkten so freundlich und weich wie immer, aber sein Haar war inzwischen fast schneeweiß. „Es tut gut, dich zu sehen. Es ist lange her, Junge. Viel zu lange.“

„Ja“, gab Sam zu, obwohl er sich nun schon wieder mit Schuldgefühlen herumschlagen musste. „Vermutlich ist es das.“

„Setz dich, setz dich.“ Der Arzt deutete auf den Ledersessel vor seinem Schreibtisch, nahm dann selbst auf seinem Stuhl Platz und legte seine gefalteten Hände auf einen Ordner vor sich. „Warst du schon auf der Ranch und hast deinen Großvater gesehen?“

„Ja, ich bin gestern Abend angekommen.“

„Gut, gut“, meinte der Arzt. „Dann hast du doch bestimmt bereits Maggie kennengelernt.“

„Ja, ich …“

„Ein gutes Mädchen. Sie ist für Jeremiah die beste Medizin, die man sich nur vorstellen kann. Ihr ist es zu verdanken, dass der alte Kauz jetzt immer lächelt. Ja, sie tut ihm wirklich gut.“

„Sie scheint nett zu sein“, sagte Sam, weil er etwas sagen musste und er dem Arzt ja nicht gut erzählen konnte, wie toll sie nackt aussah. Außerdem war er nicht hergekommen, um über Maggie zu reden. Vielmehr tat er alles, was er konnte, um nicht an sie zu denken. Also kam er wieder auf sein eigentliches Anliegen zurück. „Aber was meinen Großvater angeht –, wie steht es denn nun genau um ihn?“

Dr. Evans grummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und strich über sein Kinn, als würde er immer noch den Bart tragen, den er sich vor zwanzig Jahren abrasiert hatte. „Nun, ja. Es ist … du sagtest, dass du mit Jeremiah gesprochen hast?“

„Ja, habe ich.“ Sam wurde argwöhnisch, und er sah den ältesten Freund seines Großvaters misstrauisch an. „Er meinte, dass er bei Ihnen in guten Händen sei, und ich solle mich nicht mit seinem Gesundheitszustand belasten.“

„Na, dann“, sagte Dr. Evans und versuchte wieder zu lächeln. „Das hört sich für mich ganz nach einem guten Rat an, Sam. Es bringt niemandem etwas, wenn du dir Sorgen machst. Mensch, es tut wirklich gut, dich zu sehen, mein Junge.“

Sam lehnte sich über den Schreibtisch und sah seinem Gegenüber tief in die Augen. Es überraschte ihn absolut nicht, dass Doc Evans als Erster den Blick abwandte, kurz an die Decke starrte und dann ausdruckslos aus dem Fenster sah. „Was ist es, das Sie mir nicht sagen wollen, Doc?“

„Sam“, erwiderte der alte Mann fast kläglich. „Du weißt doch ganz genau um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten.“

Nachdenklich musterte Sam ihn. „Ich habe Sie nicht gebeten, Jeremiahs Vertrauen zu missbrauchen“, sagte er. „Aber Sie könnten mir doch, so von Arzt zu Arzt, einen Anhaltspunkt geben. Haben Sie ein EKG gemacht? Wie sind seine Cholesterinwerte? Wie hoch ist sein Blutdruck? Hat er sich in letzter Zeit einem Stresstest unterzogen?“

Dr. Evans lächelte, stand auf, ging um den Schreibtisch herum und gab Sam wie einem Schuljungen, der eine gute Note bekommen hatte, einen anerkennenden Klaps auf die Schulter. „Das sind alles ausgezeichnete Fragen, mein Lieber. Ich wusste immer, dass du ein guter Arzt werden würdest und freue mich sehr darüber.“

„Danke.“ Sam erhob sich und machte sich auf den Weg zur Tür. „Aber Sie haben keine meiner Fragen wirklich beantwortet und …“

„Mach dir keine Gedanken, Sam. Dein Großvater ist bei mir gut aufgehoben.“

Autor

Maureen Child
<p>Da Maureen Child Zeit ihres Lebens in Südkalifornien gelebt hat, fällt es ihr schwer zu glauben, dass es tatsächlich Herbst und Winter gibt. Seit dem Erscheinen ihres ersten Buches hat sie 40 weitere Liebesromane veröffentlicht und findet das Schreiben jeder neuen Romance genauso aufregend wie beim ersten Mal. Ihre liebste...
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