Spätes Glück in Oregon

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Tür an Tür mit Tyler geht Brianne jeden Tag auf dünnem Eis. Denn so sehr sie ihr Herz verschließt, weil er sie damals verließ, so stetig wächst das Verlangen, wieder in seinen Armen zu liegen. Doch da ist ihr Sohn Daniel, den Tyler für seinen Neffen hält - und dessen Zukunft Brianne zu zerstören glaubt, wenn sie gesteht, wer der Vater ist ...


  • Erscheinungstag 20.12.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754617
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Tyler Whitmore wusste sofort, dass das gefährliche Funkeln in den Augen seines Halbbruders Boyd nichts Gutes verhieß. Boyd hasste Tyler und nutzte seit ihrer Kindheit jede Gelegenheit, um ihn das spüren zu lassen.

Tyler ging an Boyd vorbei und wandte sich an seinen Stiefvater Landon Whitmore – den Mann, der ihn großgezogen hatte und liebte wie seinen eigenen Sohn. Landon gehörte die Ranch, die er zusammen mit seinem leiblichen Sohn Boyd und Tyler, seinem Stiefsohn, führte. „Du wolltest mich sprechen, Landon?“

Das Gesicht des älteren Mannes strahlte Entschlossenheit aus. „Es tut mir leid, mein Junge, aber ich muss dein Reining-Unternehmen stoppen.“

Tyler war im ersten Moment sprachlos. Seit drei Jahren kümmerte er sich um Aufzucht, Training und Verkauf von Reining-Pferden auf Whitmore Acres. Das war eine neue Herausforderung für ihn gewesen, da die Ranch bisher nur Quarter Horses gezüchtet und Cutting-Veranstaltungen unter Boyds Leitung durchgeführt hatte. Das Reining-Unternehmen lief sehr gut, und Tyler verstand deshalb nicht, weshalb er es beenden sollte. „Aber Landon, ich …“

Der ältere Mann atmete tief durch und sah Tyler müde an. „Boyd ist der Meinung, wir würden durch dein Reining-Unternehmen viel Geld verlieren.“

„Das ist absoluter Unsinn!“, widersprach Tyler ärgerlich. „Wie können wir Geld verlieren, wenn ich mit dem Verkauf jedes meiner Pferde guten Profit mache?“

„Deine Kosten übersteigen leider den Profit, mein Junge.“ Landon wies auf die Bücher, die die Bilanz des Unternehmens aufwiesen. „Der Verlust ist höher als der Gewinn. Und allein durch das Cutting können wir nicht beide Unternehmen finanzieren.“

Tyler biss die Zähne zusammen und blickte hinüber zu Boyd, der in dem kleinen Büroraum lässig am Aktenschrank lehnte. Als Landon sich vor zwei Jahren zurückgezogen hatte, hatte er die Verantwortung über die Finanzen der Ranch Boyd übertragen. Tyler kannte dessen ausschweifenden Lebensstil nur zu gut – seine Trinkeskapaden, Spielsucht und Frauengeschichten –, und ihm war sofort klar, dass Boyd die durch das Reining erzielten Gewinne hinter Landons Rücken in seine eigene Tasche wandern ließ. Doch Tyler hatte keine Beweise dafür, da Boyd clever genug war, die Zahlen so zu seinen Gunsten zu manipulieren, dass man ihm nichts anhängen konnte.

„Vielleicht solltest du mal ein Auge auf denjenigen werfen, der die Finanzen regelt“, sagte Tyler deshalb aufgebracht.

„Du willst mir doch nicht etwas unterstellen, Brüderchen?“, fragte Boyd spöttisch.

Tyler erwiderte zornig seinen Blick. „Genau das will ich. Und zwar, dass du einen Großteil meiner Gewinne unterschlagen hast, um deine eigenen Verluste damit auszugleichen.“

Jetzt verfinsterte sich Boyds Miene. Er trat auf Tyler zu und sah ihn drohend an. „Das ist eine schlimme Anschuldigung und außerdem eine unverschämte Beleidigung.“

„Du bist wohl erst zufrieden, wenn du mich richtig fertig gemacht hast, stimmt’s?“, entgegnete Tyler zynisch. „Wenn du mir alles genommen hast, was mir im Leben wichtig ist.“

So ging das schon seit dreiundzwanzig Jahren. Schon seit ihrer Kindheit machte Boyd sich einen bösen Spaß daraus, Tyler Dinge, die ihm wichtig waren, wegzunehmen oder zu zerstören. Weshalb hätte es diesmal anders sein sollen? Und die Tatsache, dass Landon Boyd auch noch glaubte, machte Tyler umso wütender.

„Ich glaube, du nimmst die ganze Sache zu persönlich, Brüderchen“, entgegnete Boyd gelassen. „Was kann ich dafür, dass dein Reining-Unternehmen ein Flop ist? Schließlich können wir nicht zulassen, dass du damit die Ranch ruinierst, oder?“

Nun verlor Tyler vollends die Beherrschung, packte Boyd am Hemd und drückte ihn zornig gegen die Wand. Boyd wehrte sich jedoch nicht, sondern blickte Tyler nur spöttisch an, um vor Landon als der „saubere Junge“ dazustehen. Tyler merkte das sofort und wurde noch wütender. „Du verdammter Mistkerl! Du weißt genau, dass mein Reining-Unternehmen gut läuft!“

„Jetzt ist aber Schluss!“ Landon war aufgestanden und schob die beiden energisch auseinander. „Ein solches Benehmen dulde ich nicht, Tyler!“

Doch Tyler war nun so wütend, dass er sich nicht mehr zurückhalten konnte. „Das Reining-Unternehmen gehört mir!“, schrie er völlig außer sich. „Und ich denke nicht daran, es aufzugeben!“

Landons Gesicht wurde rot vor Zorn. „Dir wird nichts anderes übrig bleiben, Tyler. Ich verbiete dir, damit weiterzumachen, und damit basta!“

Tyler sah ihn sekundenlang fassungslos an, dann drehte er sich um und verließ den Raum. Boyd folgte Tyler hinaus auf die Veranda und grinste triumphierend.

„Was für ein Glück, dass Landon mich zu seinem Nachfolger gemacht hat und nicht dich! Du bist nichts weiter als ein verdammter Bastard, den unsere Mutter Landon aufgebürdet hat, als sie ihn verlassen hat. Diese Ranch wird niemals dir gehören, weil kein Tropfen Whitmore-Blut in deinen Adern fließt.“ Boyd verzog den Mund zu einem zynischen, boshaften Lächeln. „Was wird wohl die süße Brianne dazu sagen, wenn sie erfährt, dass du das Reining aufgeben musst und sie deshalb nie die Ranch bekommen wird, die sie so gern hätte?“

Boyds Worte trafen Tyler wie Messerstiche. Er wollte Boyd entgegenhalten, dass Brianne mit ihm, Tyler, zusammen war, weil sie ihn liebte, und nicht, weil sie es auf die Ranch abgesehen hätte. Doch er brachte einfach kein Wort hervor. Zu stark war der Schmerz, den Boyd und Landon ihm zugefügt hatten. Und das Schlimmste daran war, dass Boyd sogar noch recht hatte. Ohne das Reining-Unternehmen besaß Tyler nichts, was er Brianne hätte bieten können. Dem Mädchen, das er liebte und das er von dessen ständig betrunkenem Vater befreien wollte.

Doch Landon hatte sich entschieden – für Boyd und gegen ihn, Tyler. Und deshalb musste er Whitmore Acres verlassen. In einer knappen Stunde hatte er seine wenigen Sachen gepackt und verließ ohne ein weiteres Wort die Ranch. Er würde sich irgendwo Arbeit als Reining-Trainer suchen und Landon beweisen, dass er ihm, Tyler, Unrecht getan hatte.

Erst sechs Wochen später hatte Tyler sich so weit beruhigt, dass er daran dachte, nach Hause zurückzukehren, um sich mit Landon zu versöhnen und Brianne zu sich zu holen. Boyd hatte zwar gesagt, dass sie ihn, Tyler, nur der Sicherheit wegen, die Whitmore Acres ihr bieten konnte, heiraten wollte, aber Tyler glaubte das nicht.

Das Schicksal sollte ihn jedoch eines Besseren belehren. Genau an dem Tag, als er nach Hause gehen wollte, vorher jedoch noch in die Stadt zum Tanken fahren musste, teilte ihm der Tankwart mit, dass Brianne Boyd heiraten würde. Tyler, der zwar überzeugt war, dass dies nicht stimmte, fuhr dennoch zum Standesamt, wo die Trauung stattfinden sollte. Und dann sah er das Unglaubliche: Schon von der Straßenecke aus war zu erkennen, wie Boyd mit Brianne Hand in Hand aus dem Gebäude trat und sich von den Hochzeitsgästen beglückwünschen ließ.

In ihrem schlichten weißen Kleid und dem Blumenkranz im Haar wirkte Brianne blass und verletzlich, doch Tyler hatte keinen Blick dafür. Also hatte Boyd tatsächlich recht gehabt. Brianne hatte ihn, Tyler, nur der Ranch wegen heiraten wollen. Als er dann auch noch mit ansehen musste, wie Boyd die Braut triumphierend küsste, wurde Tyler von kalter Wut erfasst. Ja, er war der „Bastard“, der nicht hierher gehörte. Er hatte das Reining-Unternehmen, Landons Achtung und nun auch noch Brianne verloren. Es gab nichts mehr, was ihn noch auf Whitmore Acres hielt.

1. KAPITEL

„Wir versuchen schon seit sieben Jahren, Sie zu finden, Mr. Whitmore“, erklärte Mr. Hunter, ein Vertreter von Landons Anwalt Jed Wilkings, Tyler freundlich. „Da Sie nie für längere Zeit an einem Ort geblieben sind und auch keine Adresse hinterlassen haben, unter der man Sie hätte erreichen können, war es sehr schwierig, Ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Aber nun hat es ja endlich geklappt, und ich kann Ihnen das hier überreichen.“

Er gab Tyler einen Umschlag, der von Jed Wilkings abgestempelt war. „Lesen Sie sich alles in Ruhe durch. Wenn Sie Fragen haben, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.“

Tyler zögerte einen Moment, bevor er den Umschlag entgegennahm. Wahrscheinlich hatte Landon beschlossen, ihn, Tyler, nach all den Jahren zu enterben, und das teilte er ihm nun in diesem Schreiben mit.

Tyler nahm das Blatt aus dem Umschlag und begann zu lesen. Es handelte sich um Landons Testament, in dem er Tyler Scott Whitmore zum gleichberechtigten Erben von Whitmore Acres erklärte!

Tyler schloss einen Moment die Augen und atmete tief durch. Landon lebte nicht mehr, und er, Tyler, hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, sich mit ihm auszusöhnen. Als Tyler schließlich weiterlas, stockte ihm der Atem. Auch Boyd war vor drei Jahren gestorben, und so war sein Anteil an der Ranch seiner Witwe Brianne Whitmore zugefallen. Tyler schüttelte fassungslos den Kopf. Welche Ironie des Schicksals! Brianne, das Mädchen, in das er damals unsterblich verliebt gewesen war und das ihn so schwer enttäuscht hatte, war nun rechtmäßige Mitbesitzerin von Whitmore Acres!

In diesem Moment wurde Tyler schmerzlich bewusst, dass er keine Familie mehr hatte. Landon und Boyd waren tot, und seine Eltern kannte Tyler nicht. Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als er noch ein Baby gewesen war, und wer sein Vater war, wusste Tyler nicht. Er vermutete nur, dass es einer von Landons Rancharbeitern gewesen sein könnte, mit dem seine Mutter während ihrer Ehe mit Landon geschlafen hatte. Nun gab es keinen Menschen mehr, der Tyler nahe stand. Alles, was er besaß, war sein Truck mit Pferdeanhängern und die Quarterhorse-Stute Sweet Justice.

Tyler schob das Schreiben zurück in den Umschlag und sah Mr. Hunter an. „Und wie geht es jetzt weiter?“

„Sie müssen sich mit Mr. Wilkins in Verbindung setzen, um die Formalitäten zur Hinterlassenschaft ihres Stiefvaters zu erledigen. Danach wird Mr. Wilkins alle Beteiligten informieren.“

Nachdem Tyler Mr. Hunters Büro verlassen hatte, las er Landons Testament zum zweiten Mal. Trotz allem, was vor neun Jahren geschehen war, hatte Landon ihm die Hälfte von Whitmore Acres hinterlassen. Und er war nicht da gewesen, um Landon in seinen letzten Stunden beizustehen!

Tyler spürte, wie heftiger Schmerz ihn erfasste, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit Selbstvorwürfen zu quälen. Landon hatte ihm die Hälfte der Ranch hinterlassen, und er, Tyler, würde dieses Erbe würdigen und es zu einem florierenden Unternehmen ausbauen. Er würde seine Träume wahr machen, die Boyd vor neun Jahren kaltblütig zerstört hatte. Und er würde versuchen, die Dämonen der Vergangenheit zu besiegen.

Es war Zeit, nach Hause zu gehen – nach Whitmore Acres.

Brianne Whitmore richtete sich mit klopfendem Herzen auf. War da draußen nicht eben ein Geräusch gewesen? Sie war es gewohnt, schon beim kleinsten Anlass aufzuwachen. Die Jahre, in denen sie mit Boyd verheiratet gewesen war, hatten sie gelehrt, stets in Alarmbereitschaft zu sein.

Brianne blickte auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. Es war kurz vor halb zwölf, und draußen war wieder alles ruhig. Es herrschte völlige Windstille, so dass nicht einmal die Blätter rauschten. Da hörte Brianne das Geräusch erneut, diesmal ganz deutlich: Es war ein leises Klopfen an der Eingangstür.

Briannes erster Gedanke galt Jasper, dem alten Vorarbeiter, der schon seit dreißig Jahren auf der Ranch arbeitete. Ob etwas passiert war? Sie stand auf, eilte die Treppe hinunter, knipste das Verandalicht an und riss die Tür auf.

„Jasper! Ist etwas pas…?“ Brianne verstummte unvermittelt. Vor ihr stand nicht Jasper, sondern ein großer, schlanker Mann, dessen Gesicht von einem dunklen Stetson halb verdeckt war. Brianne erkannte nur, dass er ein energisch wirkendes Kinn und volle Lippen hatte, die fest zusammengepresst waren.

Ein eisiger Schauer überlief Brianne. Wie hatte sie nur so leichtsinnig die Tür öffnen können – und das noch mitten in der Nacht? Sie wich zurück und wollte die Tür wieder zuschlagen, doch der Fremde war schneller und stemmte sich dagegen.

„Brianne, ich bin’s. Lass doch die Tür auf!“

Sie erstarrte. Diese Stimme kannte sie doch! Der Mann schob seinen Hut zurück, so dass Brianne ihm in die Augen sehen konnte – ja, es waren diese dunkelblauen Augen, dessen Blick sie vor langer Zeit verzaubert hatte und bis heute in ihren Träumen verfolgte. Und sie gehörten Tyler Whitmore, dem Mann, der ihr vor neun Jahren das Herz gebrochen hatte. Weshalb war er zurückgekommen? Warum gerade jetzt, da sie es geschafft hatte, ihrem Sohn ein wundervolles und sicheres Zuhause zu schenken? Dieser Mann hatte die Macht, alles zu zerstören, was sie sich in den letzten drei Jahren mühevoll aufgebaut hatte.

„Tyler“, flüsterte sie schockiert.

Er verzog spöttisch den Mund. „Hallo, Mrs. Whitmore.“

Woher wusste er, dass sie Boyd geheiratet hatte? Panik erfasste Brianne. War Tyler etwa auch bekannt, dass ihm die Hälfte von Whitmore Acres gehörte?

Brianne hatte immer befürchtet, dass er irgendwann zurückkehren würde, denn Landon hatte ihn durch seinen Anwalt unermüdlich suchen lassen. Als jedoch in all den Jahren keine Spur von Tyler gefunden worden war, hatte Brianne zu hoffen begonnen, dass er ein schöneres Zuhause als Whitmore Acres gefunden hatte und nie wieder zurückkommen würde. Doch da schien sie sich getäuscht zu haben.

Brianne versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, und sagte schroff: „Hast du mich aber erschreckt!“

Tyler ließ den Blick ungeniert über ihren Körper gleiten, und Brianne spürte zu ihrem Entsetzen, dass sie darauf reagierte.

„Na so was“, erwiderte er spöttisch. „Begrüßt man so einen alten … Freund?“

Brianne senkte den Blick. Sie waren mehr als Freunde gewesen, das wusste er genau. Sie hatte geglaubt, über Tyler Whitmore hinweggekommen zu sein, doch offensichtlich war das nicht der Fall. Dass sie so heftig auf ihn reagierte, verwirrte sie und machte ihr Angst.

„Nein, aber so geht man mit Leuten um, die mitten in der Nacht ums Haus schleichen und andere fast zu Tode erschrecken“, konterte sie schroff.

„Oh, hab ich das?“, erwiderte Tyler scheinbar unbekümmert und hob seinen großen schwarzen Rucksack hoch. „Ich konnte leider nicht selbst aufschließen, weil ich irgendwann im Lauf der Jahre meinen Schlüssel verloren habe.“

„Du hättest wenigstens anrufen können, dann hätte ich gewusst, dass du kommst.“

„Um die Überraschung zu verderben?“ Tyler lachte leise. „Nein, Brianne. Diesen Spaß wollte ich mir schon gönnen.“

Brianne sah ihn zornig an. „Wenn du glaubst, dort wieder anknüpfen zu können, wo du vor neun Jahren aufgehört hast, dann täuschst du dich gewaltig!“

„Ich habe nicht die Absicht, dort weiterzumachen, wo wir aufgehört haben“, widersprach Tyler bestimmt. „Zu vieles hat sich in der Zwischenzeit geändert.“

Tyler hatte recht. Alles hatte sich geändert. Sie standen auf der Veranda und musterten einander feindselig, bis das Schweigen unerträglich wurde. Brianne wusste, dass sie unhöflich war, doch sie brachte es einfach nicht fertig, Tyler ins Haus zu bitten. Dazu stand zu viel auf dem Spiel.

„Willst du mich nicht hineinbitten, oder sollen wir die ganze Nacht hier draußen stehen?“, fragte er prompt.

„Es ist fast Mitternacht!“

„Eben. Ich bin stundenlang gefahren und würde jetzt gern ein bisschen schlafen.“

Brianne blickte an Tyler vorbei zur Scheune, doch er schüttelte den Kopf. „Spar dir die Worte, Brianne. Ich werde nicht im Stall schlafen.“ Er lächelte herausfordernd. „Warum bist du eigentlich so nervös?“

„Bin ich nicht!“, widersprach Brianne viel zu hastig. „Ich … ich mache mir nur Sorgen, was die anderen denken könnten, wenn du hier im Haus übernachtest.“

„Was ist schon dabei?“, fragte Tyler zynisch. „Da du meinen Bruder geheiratet hast, sind wir doch miteinander verwandt. Oder hast du das vergessen?“

Tylers Worte trafen Brianne wie Schläge ins Gesicht. Wie sollte er auch wissen, dass Boyd sie, Brianne, nur aus Grausamkeit geheiratet hatte? Um seinem Bruder das Liebste zu nehmen, was er besessen hatte. Und sie, Brianne, hatte nur Ja gesagt, weil sie verzweifelt gewesen war. Aber Tyler die Wahrheit zu gestehen würde vielleicht alles zerstören, was sie sich geschaffen hatte, und dieses Risiko durfte sie nicht eingehen.

Brianne trat widerstrebend zur Seite. „Also gut. Komm rein.“

Tyler ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, doch Brianne blieb in der Diele stehen.

„Ich bin gleich wieder da“, erklärte sie nervös. Sie brauchte einfach Zeit, um sich wieder zu fassen. Und außerdem wollte sie sich unbedingt etwas überziehen, um nicht im Nachthemd vor Tyler stehen zu müssen. Oben im Schlafzimmer streifte Brianne sich den Morgenmantel über und überlegte angestrengt, was sie tun sollte. Am liebsten hätte sie sich im Bett verkrochen und darauf gewartet, dass Tyler von selbst wieder verschwinden würde.

Reiß dich zusammen! rief sie sich dann jedoch zur Vernunft. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren, dazu stand zu viel auf dem Spiel: die Ranch, die sie vor dem Bankrott gerettet und das Haus, das sie zu einem wundervollen Heim für sich und Daniel geschaffen hatte. Für Daniel – Tylers Sohn.

Brianne ging auf Zehenspitzen in sein Zimmer. Das Schild an der Tür „Betreten auf eigene Gefahr“ hatte durchaus seine Berechtigung, denn wenn man zu Daniels Bett gelangen wollte, musste man sich zuerst einen Weg durch Spielzeug, Kleidung und viele andere Dingen bahnen, die verstreut auf dem Boden lagen.

Daniel öffnete schläfrig die Augen. „Mom?“

„Schlaf weiter, mein Schatz“, flüsterte sie sanft und strich dem Jungen zärtlich übers blonde Haar.

Daniel murmelte etwas Unverständliches, dann drehte er sich auf die andere Seite und schlief weiter. Tränen schimmerten in Briannes Augen, als sie ihren Sohn betrachtete. Außer den dunkelblauen Augen hatte Daniel ihre helle Haut und ihr blondes Haar geerbt. Daher brauchte sie wenigstens nicht zu befürchten, dass Tyler auf die Idee kommen würde, Daniel könnte nicht Boyds Sohn sein.

Gewissensbisse quälten sie kurz, doch sie verdrängte sie energisch. Wem würde es nützen, wenn sie Tyler die Wahrheit offenbarte? Er wäre wohl kaum die geeignete Bezugsperson für Daniel, denn man konnte nicht darauf vertrauen, dass Tyler für längere Zeit auf Whitmore Acres blieb. Vor neun Jahren hatte er bewiesen, dass er schon bei den ersten Anzeichen eines größeren Problems davonlief.

Boyd hatte durch sein grausames Verhalten Daniels Vertrauen und zum Teil auch dessen Selbstbewusstsein zerstört. Und Brianne schwor sich, dass sie Tyler keine Gelegenheit geben würde, ihrem Sohn das Gleiche anzutun.

Tyler warf seinen Stetson neben den Rucksack aufs Sofa und blickte sich neugierig um. Das Wohnzimmer sah ganz anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Hatte die frühere Einrichtung – dunkle, stabile Schränke und Ledersofas – vor neun Jahren auf eine rein männliche Domäne hingedeutet, so war jetzt deutlich zu erkennen, dass eine Frau sich nun um dieses Haus kümmerte. Tyler vermisste den Geruch von Leder und Tabak und nahm stattdessen einen zarten, femininen Duft von Blumen wahr – Briannes Duft.

Tyler verdrängte das schmerzliche Gefühl und ging ruhelos im Zimmer hin und her. Obwohl Brianne versucht hatte, diesem Raum eine weibliche Note zu verleihen, glaubte Tyler immer noch, Landons Gegenwart zu spüren. Er konnte sich noch gut an die vielen harmonischen Abende erinnern, die sie hier zusammen verbracht hatten – bei einem guten Gespräch oder dem Reinigen ihrer Gewehre nach der gemeinsamen Jagd. Aber diese Zeiten waren endgültig vorbei.

Briannes Schritte rissen Tyler aus seinen Gedanken, und er drehte sich zu ihr um. Sie war schon damals hübsch gewesen, aber jetzt, mit siebenundzwanzig Jahren, hatte sie sich zu einer richtigen Schönheit entwickelt. Sie besaß einen makellosen Teint, große haselnussbraune Augen und langes blondes Haar, das sie zu einem Zopf geflochten hatte. Tyler wusste noch genau, wie wundervoll weich sich ihr Haar angefühlt hatte …

„Tyler … ich muss dir etwas sagen.“

„Ja?“

„Ich weiß nicht, ob du es schon erfahren hast …“ Sie atmete tief durch, bevor sie weitersprach. „Landon und Boyd sind tot.“

„Ich weiß.“

„Bist du … bist du deshalb zurückgekommen?“

„Unter anderem, ja.“

Tyler merkte Brianne deutlich an, wie nervös sie war. Offensichtlich wusste sie nicht, dass er von seinem Erbe bereits unterrichtet worden war. Würde sie etwas sagen oder lieber schweigen in der Hoffnung, dass er früher oder später von selbst wieder verschwinden würde? Schließlich verwaltete sie die Ranch schon seit drei Jahren allein und wollte sie bestimmt nicht mit einem Partner teilen.

„Und … welche andere Gründe sind das?“, fragte sie angespannt.

Ihre selbstbewusste, fast schon feindselige Haltung ihm gegenüber ärgerte und beeindruckte Tyler zugleich. Unwillkürlich trat er auf Brianne zu und strich ihr sanft über die Wange. Als sie den Atem anhielt, lächelte er voller Genugtuung. „Etwas Warmes zu Essen wäre jetzt nicht schlecht. Aber ich glaube, da hoffe ich vergebens, stimmt’s?“

Brianne wehrte zornig seine Hand ab. „Ganz recht! Und was Landon und Boyd betrifft …“

„Es ist spät, und ich bin müde, Brianne“, unterbrach Tyler sie bestimmt. „Lass uns morgen in Ruhe über alles reden.“

Brianne zuckte die Schultern. „Wie du willst. Ich hole dir eine Decke und ein Kissen. Du kannst auf der Couch schlafen.“

„Es gibt doch vier Schlafzimmer im Haus“, wandte Tyler ein. „Was ist mit dem hier unten?“

„Das ist jetzt mein Nähzimmer.“

„Und oben?“

„Das große Schlafzimmer benutze ich, und dein altes Zimmer gehört jetzt meinem Sohn.“

Brianne sah, wie ein Muskel in Tylers Gesicht zuckte. Dennoch bemühte er sich, seine Gefühle vor ihr zu verbergen, und sagte zynisch: „Da musst du es aber verdammt eilig gehabt haben mit Boyd.“

Seine Worte trafen Brianne, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Was hast du erwartet, Tyler?“, entgegnete sie schroff. „Du hast neun Jahre lang nichts von dir hören lassen.“

Trotz ihres Unmuts glaubte Tyler Tränen in ihren Augen zu erkennen. Verdammt, warum hatte er sie provozieren müssen? Weil ich sie verletzen wollte, so wie sie mich vor neun Jahren verletzt hat, gab Tyler sich selbst die Antwort. Ihm war klar, dass die Bitterkeit, die ihn erfüllte, es unmöglich machte, sachlich mit Brianne umzugehen. Aber trotzdem durfte er sich nicht von seinen Gefühlen leiten lassen. Er hatte große Pläne mit Whitmore Acres und brauchte Briannes Kooperation.

„Dann ist noch ein Zimmer übrig“, sagte er deshalb in versöhnlichem Ton. „Oder schläft dort noch ein Kind?“

„Nein, das ist das Gästezimmer.“

„Na, also.“ Tyler nahm Rucksack und Stetson von der Couch und wartete darauf, dass Brianne vorausging, doch sie rührte sich nicht.

„Da steht nur eine Liege drin, und die ist viel zu schmal für dich“, erklärte sie kühl.

„Und wenn schon. Besser als die Couch ist das allemal.“ Tyler lächelte herausfordernd. „Es sei denn, du würdest mir dein Bett anbieten, Brianne. Ich könnte wetten, du hast ein großes, bequemes Bett, in dem es sich wunderbar schlafen lässt.“

Briannes Wangen röteten sich leicht, doch sie wollte sich nicht provozieren lassen. „Du kannst das Gästezimmer haben. Aber sag morgen früh nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

Tyler folgte Brianne ins obere Stockwerk. Als sie an Daniels Zimmer vorbeikamen und Tyler das Schild an der Tür las, lächelte er unwillkürlich. Schließlich erreichten sie den Raum, den Boyd als Junge benutzt hatte und der nun als Gästezimmer diente.

Brianne knipste das Licht an und ließ Tyler zuerst eintreten. „Bitte.“

Tyler sah sich verwundert um. Nichts deutete mehr darauf hin, dass dieses Zimmer einmal Boyd gehört hatte. Tapeten mit Blumenmuster und Rüschenvorhänge passten ganz und gar nicht zu einem Cowboy. Tylers Blick fiel auf die Liege, von der Brianne gesprochen hatte. Sie hatte tatsächlich nicht übertrieben. Die Liege war schmaler als seine Schultern und mindestens zwanzig Zentimeter zu kurz. Außerdem sah sie nicht danach aus, als könnte sie das Gewicht eines erwachsenen Mannes tragen.

Tyler drehte sich zu Brianne um und schmunzelte. „Wie für mich geschaffen.“ Er legte den Rucksack auf die Liege, öffnete ihn und zog dunkle Baumwollshorts heraus. „Übrigens – ich habe meinen Truck und den Anhänger neben der Scheune geparkt. Und meine Stute Sweet Justice in das kleine Paddock gestellt. Geht das in Ordnung?“

Autor

Janelle Denison
Zusammen mit ihrem Mann, einem Ingenieur, lebt Janelle im sonnigen Südkalifornien. Für seine Unterstützung ist sie ihm dankbar und noch dankbarer dafür, dass er nie ein Wort darüber verliert, wenn das Abendbrot verspätet – oder auch gar nicht – auf den Tisch kommt, weil sie über ihre Arbeit am Computer...
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