Spielerisch wie der Wind

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Er ist Tinas erste große Liebe: der Bildhauer John. Voller Vertrauen auf eine glückliche Zukunft wird sie seine Frau und folgt ihm auf seine kleine Insel in der Karibik. Doch in der neuen Heimat überschatten böse Gerüchte ihre Liebe: Hat John wirklich etwas mit dem Tod seiner ersten Frau zu tun?


  • Erscheinungstag 09.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756987
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Chorley-on-Sea im März – wo der Wind der See weiße Schaumkronen aufsetzt, wo der einsame Schrei der Möwen über das Oberland weht, wo Familien mit Picknickkörben in der Ferienzeit rasten und in der sonnenwarmen Heide faulenzen.

Jetzt lag der Ort verlassen da. Befreit von aller Urlaubsseligkeit blühte er wieder in der alten Schönheit, die Tina Manson so liebte.

Sie stand auf dem Oberland – schmal und jung in blauer Samtjacke, Pullover und Jeans. Der Wind spielte mit ihrem feinen, aschblonden Haar und brannte Farbe auf Wangen, die den Stubenhocker verrieten:

Tina war als Stenotypistin bei einer örtlichen Anwaltsfirma beschäftigt und zu langen Stunden in ihrem stickigen Büro verdammt.

Heute jedoch, am Sonntag, hatte sie Zeit für sich selbst und die Dinge, die sie liebte. Nicht einen einzigen Gedanken brauchte sie an die Arbeit, an Tante Maud oder das düstere alte Haus in der Dulcey Avenue zu verschwenden.

Sie wollte gerade nach dem Riegel Schokolade in ihrer Tasche greifen, als neben ihr jemand sagte: „Bitte nicht bewegen! Bleiben Sie so, wie Sie sind. Schauen Sie sehnsüchtig über das Meer, als warte jenseits des Horizonts das große Glück auf Sie!“

Spontan folgte Tina der Aufforderung. Ihr Herz begann einen schnelleren Takt zu schlagen. Nie zuvor hatte sie eine so bezwingende Männerstimme gehört. Sie war beeindruckt, aber dann rief sie sich in Erinnerung, welche Enttäuschung Stimmen bereiten können. Am Telefon im Büro versprachen sie oft erheblich mehr, als ihre Besitzer anschließend hielten.

Der Wind schlang eine helle Haarsträhne um ihren blassen Nacken.

Sie ließ sie, wo sie war, obwohl es kitzelte, denn sie hatte erraten, dass sie gezeichnet wurde. Hin und wieder kamen Künstler mit ihren Staffeleien nach Chorley, denn die Küstenlinie hatte ihre Reize. Wie ein rauer Arm umschlang sie die Stadt. Chorley selbst dagegen war so langweilig, dass es viele der jüngeren Bürger vorzogen, ihren Lebensunterhalt in London zu verdienen.

„Das war’s“, sagte der Fremde. „Jetzt dürfen Sie sich entspannen.“

Tina tat das Gegenteil. Sich mit Fremden ungezwungen zu unterhalten, war ihr nicht gegeben. Und sie fühlte sich doppelt unbehaglich, als der Fremde einen langen Schritt auf sie zu tat und nun plötzlich neben ihr stand.

Ihre rauchgrauen Augen musterten ihn argwöhnisch. Er war groß, schlank und von einer Sonne gebräunt, die England nicht kannte. Dichtes, grau gesprenkeltes Haar wehte in ein Gesicht, das den Mann von Welt verriet. Bitterkeit und Resignation umspielten den traurigen, zynischen Mund.

Aber dann lächelte er – ein Lächeln, das die Fältchen um die leuchtend blauen Augen vertiefte und ihn merkwürdig jung erscheinen ließ. „Karikaturen sind ein Hobby von mir. Hier – schauen Sie sich einmal mit den Augen eines Fremden an. Spiegel können lügen, auf Worte ist ohnehin kein Verlass.“

Tina nahm den Skizzenblock, den er ihr entgegenhielt. Sie schluckte. Mit leichten, sicheren Strichen hatte er sie mit einem Hauch von Einsamkeit umgeben, der sie unter wandernden Wolken einhüllte wie in einen Mantel. Ihre Beine in den schmalen Hosen schienen nur darauf zu warten, davonstürmen zu können. Ihr offenes Haar umrahmte ein zerbrechlich-wehmütiges Profil.

Mit einem schüchternen Lachen begegnete sie dem eisblauen Blick des Fremden. „Wie nett, dass Sie freundlicher waren, als es Karikaturisten ihren Opfern gegenüber im Allgemeinen sind“, sagte sie.

„Zu jungen Menschen und Tieren bin ich selten grausam“, scherzte er, steckte den Zeichenblock in eine der geräumigen Taschen seines Tweedjacketts und holte eine Bruyerepfeife aus einer anderen. „Tut mir leid, dass ich Ihnen keine Zigarette anbieten kann“, sagte er und schob den Pfeifenstiel von einem Mundwinkel in den anderen. Ungeduldig klopfte er die Taschen nach Streichhölzern ab.

„Ich rauche nicht.“ Also hielt er sie trotz ihres ungeschminkten Gesichts und der leichten Kleidung doch nicht für ein Kind. Tina atmete auf. Immerhin war sie einundzwanzig Jahre alt.

Sie sah ihm zu, wie er die Pfeife ansteckte. Eine langgliedrige Hand schützte das Feuer, und eine windzerzauste graue Haarsträhne fiel ihm dabei über die rechte Augenbraue. Intensiver Tabakduft stieg ihr in die Nase, und sie fragte sich, was diesen hageren Fremden ausgerechnet nach Chorley geführt hatte.

Er schien Gedanken lesen zu können: „Ich habe Freunde weiter oben an der Küste besucht“, beantwortete er ihre stumme Frage. „Mein Wagen quittierte letzte Nacht den Dienst, und so mietete ich mich im ‚Tudor Arms‘ ein, während er repariert wird.“

„Sie finden Chorley doch sicher ziemlich langweilig.“ Tina biss in ihre Schokolade und spürte dabei den amüsierten Blick, den er ihr zuwarf.

„Sie selbst finden es ziemlich trostlos, nicht wahr, Kind?“, parierte er.

Unwillig sah Tina ihn an. „Halten Sie mich für eines dieser unbedarften Mädchen vom Lande, die davon träumen, in der großen Stadt ihr Glück als Mannequin oder Fernsehstar zu machen?“, stieß sie heftig hervor.

„Wenn ein Mädchen derart sehnsuchtsvoll über das Meer schaut, dann ist es auf der Suche nach etwas Neuem, einem unerfüllten Traum oder auch nur einem Abenteuer.“ Sich kräuselnd, stieg der Rauch aus seiner Pfeife. „Als ich noch ein Junge in Cornwall war, träumte ich beim Anblick der See davon, an ihre fernsten Ufer zu fahren.“

Sie sah ihn an und wusste, dass er seine Träume wahr gemacht hatte. Feine Narben in seinem Gesicht sprachen dafür. Sie waren verantwortlich für die scharfen Linien um seinen Mund, die es schwer machten, sein Alter zu erraten. Das Grau in seinem Haar half da nicht weiter.

Tina hatte auch Tante Maud nur als grauhaarige Frau gekannt, und sie lebte immerhin seit fast zwanzig Jahren mit ihr zusammen. Er mochte um die Vierzig sein, überlegte Tina. Aber wie auch immer: Es war nett, mit ihm zu reden. Er spielte ihr nicht den Mann von Welt vor, und er dachte nicht daran, sich über sie lustig zu machen. „Ich würde gern reisen“, gab sie zu, „aber das wird wohl ein Traum bleiben.“

„Unsinn!“ Er tat ihre Worte mit einer so heftigen Bewegung ab, dass Funken aus seiner Pfeife sprühten. „Wir leben in einer Zeit, in der jeder die Türen zu fast jedem Teil der Welt auf stoßen kann. Sie könnten mit ein paar Freundinnen ins Ausland fahren und sogar billig – falls das der Angelpunkt sein sollte. Oder hängen Sie altmodischen Eltern am Rockzipfel?“

Zu gern hätte Tina sich ihm anvertraut. Doch zögerte sie. Vertraulichkeiten knüpfen ein Band zwischen Menschen. Wollte sie dieses Band? Sie war sich nicht sicher. Nach ihrer flüchtigen Begegnung würde dieser aufregende Mann in ein Leben zurückkehren, zu dem sie keinen Zutritt hatte.

Ich muss hier bleiben, ermahnte sie sich, und von Erinnerungen zehren. Es könnte wehtun, dass ich einem Mann das Herz geöffnet habe, von dem ich nur die seeblauen Augen kenne. Tina sah ihn an, und plötzlich stieg in ihr der Wunsch auf, die Fingerspitzen in das Grübchen an seinem Kinn zu legen.

Sie zuckte zusammen. Unmöglich, auf diese Weise einem Mann näherzukommen. Noch dazu einem Fremden.

Nie zuvor hatte sich Tina für einen Mann interessiert. Und das war, vom Standpunkt ihrer Tante Maud aus betrachtet, auch richtig so.

„Meine Eltern sind tot“, sagte sie übergangslos und schob die Hände in die Hosentaschen. „Sie starben“, fuhr sie fort, „als ich zwei Jahre alt war. Seit der Zeit wohne ich bei der unverheirateten Schwester meines Vaters. Sie ist – nun, ein wenig konservativ. Was ich meine, ist …“

„Ich kann es mir durchaus vorstellen“, winkte er ab.

Tina horchte auf. Irgendetwas klang ganz und gar unenglisch an seiner vollen Stimme. Obwohl er, wie er sagte, aus Cornwall stammte. Sie sah zu ihm auf – den Kopf zurückgeworfen, die Haltung jungenhaft unbekümmert. Sie las Verständnis in seinem Blick.

„Ihre Tante ist ungeliebt alt geworden“, sagte er ruhig. „Kein Mann hat sie je begehrt. Eine Grausamkeit, die eine Frau niemals vergibt – niemandem.“ Ohne Umschweife hatte er das Kind beim Namen genannt.

Sie mochte ihn. Sie mochte ihn sogar sehr, denn er fand nichts Komisches an ihr, dem Waisenkind, das blankes Pflichtgefühl an eine lebensfremde Pflegeperson kettet. Niemand wusste besser als sie selbst, dass Tante Maud ihre Loyalität nicht zu schätzen wusste. Und trotzdem brachte es Tina nicht fertig, einen alt gewordenen, verbitterten Menschen im Stich zu lassen.

„Es wäre falsch, wenn Sie darauf verzichteten, sich frischen Wind um die Nase wehen zu lassen. Man kann Rücksichtnahme auf andere auch zu weit treiben“, sagte dieser gefährlich hellsichtige Fremde nachdrücklich. „Eine Stunde hier im Hochland zu verträumen ist zu wenig. Versuchen Sie wenigstens, im Ausland Urlaub zu machen. Oder darf man in Tantchens Augen Ausländern nicht trauen?“

Lächelnd hob Tina ihre schmalen Schultern. Sie spürte seinen forschenden Blick auf ihrem sensiblen Gesicht.

„Wie alt sind Sie eigentlich?“, erkundigte er sich. Er schien überzeugt davon, dass sie jung genug war, um diese Frage nicht als Beleidigung zu empfinden.

„Einundzwanzig.“

„Was passiert, wenn Sie heiraten wollen? Denn ich nehme doch an, dass dies eingeplant ist.“

„Nur am Rande.“ Ein Lächeln gab ihrem schmalen, blassen Gesicht ungelenken Charme. „Finden Sie nicht, dass diese Art Unterhaltung zwischen zwei Fremden reichlich ungewöhnlich ist? Sie können doch gar nicht ernsthaft an meinen Problemen interessiert sein.“

Rauchblaue Wolken lösten sich aus seiner Bruyere-Pfeife. „Eine Situation, wie man sie in Büchern findet, nicht wahr?“, stimmte er zu. Seine marineblaue, seidene Strick-Krawatte wehte wie eine Fahne im Wind. Seine Selbstsicherheit bürgte für Wohlstand und verriet den Frauenkenner.

„Wir reden deshalb so ungezwungen miteinander, weil sich unsere Wege in kurzer Zeit wieder trennen werden, mein Kind. Und weil ich den Kummer in Ihrem Gesicht las, bevor Sie ihn loswerden konnten. Und weil ich Ihnen vielleicht dabei helfen kann, Ihr Lebensschiff wieder flottzukriegen. Sie haben sich festgefahren, nicht wahr? Sie müssen sich freischwimmen, bevor Sie zu einem Abziehbild Ihrer Tante werden. Das kann schneller geschehen, als Sie glauben.“

Tina fröstelte plötzlich. Niedergeschlagenheit überkam sie, als sie an ihre Zukunft dachte. Ja, sie wollte heraus aus diesen dunklen Zimmern in der Dulcey Avenue und dem Gefängnis der Verbote. Noch konnte sie es schaffen – jung, wie sie war. Aber Tante Mauds Gesundheit ließ sehr zu wünschen übrig. Gerade jetzt lag sie im Krankenhaus und wartete auf eine Diagnose, die vielleicht Operation bedeutete.

Schon den Gedanken an ein Krankenhaus hatte Tante Maud weit von sich gewiesen. Der Arzt musste sie sanft dazu bringen, sich zu fügen. Noch jetzt dachte Tina an die zurückliegende Szene. Tante Maud hatte sich eingeredet, dass Tina sie nicht pflegen wollte.

„Du bist eigennützig, wie deine Mutter es war!“, hatte sie getobt. „Die kannte auch nur ihr Vergnügen.“

Tinas Eltern waren bei einem Eisenbahnunglück umgekommen. Schon als kleines Mädchen musste sie immer wieder hören, dass sie der Mutter nachschlug. Sie sollte sehr viel jünger gewesen sein als George Manson, ihr Vater – und viel zu hübsch für den Geschmack seiner Schwester Maud.

„Ich muss nach Hause.“ Tina löste den Blick von der grollenden, grauen See. „Es sieht ganz so aus, als würde es regnen.“

Nebeneinander gingen sie durch die vom Wind zerzauste Heide. Der langbeinige Fremde an ihrer Seite unterhielt sie mit Geschichten über Westindien, das zu seiner neuen Heimat geworden war. So anschaulich beschrieb er eine Insel namens Ste. Monique, dass Tina sie vor sich zu sehen glaubte. Viel zu schnell hatten sie den Marktplatz erreicht und damit den Gasthof, in dem der Fremde wohnte. Es regnete, als sie sich voneinander verabschiedeten.

„Es hat mir gut getan, mit Ihnen zu reden“, sagte sie artig. „Auch wenn ich niemals nach Ste. Monique kommen werde, so weiß ich doch, wie es dort aussieht.“

„Mir hat unsere Unterhaltung ebenfalls Freude gemacht – kleines, einsames Mädchen.“ Er nahm ihre schmale Hand in seine kräftige Rechte und sah Tina eindringlich an. „Vergessen Sie nicht, was ich vorhin auf dem Hochland sagte: Sie haben nur ein Leben. Vergeuden Sie es nicht! Die Zeit der Jugend ist kurz und kostbar.“

Tina schien es, als hätten sich die feinen Linien um seinen Mund plötzlich tiefer eingegraben. Impulsiv bat sie: „Darf ich Ihren Namen wissen?“

Er lächelte. „Werden Sie mich vergessen, wenn Sie mir kein Etikett umhängen können?“

Ungeduldig strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn und schüttelte den Kopf. „Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor.“

„Ich bin John Trecarrel“, sagte er ruhig.

Der Name verband sich ihr sofort mit einer Reihe ungewöhnlicher Bronzestatuen, die ihr kürzlich in einer Zeitschrift aufgefallen waren. Sie dachte an die steife Atelieraufnahme, die den Künstler neben seinem Werk zeigte. „Sie sind John Trecarrel, der Bildhauer!“, rief sie spontan. In ihrer Stimme schwang nicht ein Hauch Ehrfurcht mit – nur tiefe Befriedigung.

Ein Lächeln verzog seinen Mund, gab ihm einen Anflug von Leichtfertigkeit. So muss dieser Mann ausgesehen haben, dachte sie unwillkürlich, als er so alt war, wie ich jetzt bin.

„Und Sie?“, fragte er. „Werden Sie mir Ihren Namen verraten? Oder muss ich Sie nur als das einsame Mädchen auf den Klippen in Erinnerung behalten?“

„Aber nein.“ Erfreut, dass es ihn interessierte, sagte sie, wie sie hieß.

„Auf Wiedersehen, Tina!“ Mit kräftigem Druck schlossen sich seine Finger um ihre Hand.

Dann ging sie quer über den Marktplatz, ohne zurückzusehen. Nur der Wind presste den dünnen Rock an ihre langen Beine.

Während ihre Tante im Krankenhaus lag, wohnte Tina bei den Nachbarn, einer netten, unkomplizierten Familie. Kitty, die Tochter, ein temperamentvolles junges Mädchen, vertrat ganz entschieden die Meinung, dass Tina öfter ausgehen müsste. „Du bist mit Händen und Füßen an diese nörgelnde alte Tante gekettet“, sagte sie unverfroren. „Ein Kinobesuch ist so ziemlich das Äußerste, was du dir leistest. Komm wenigstens am Freitag mit zum Tanztee im Klub. Dann kann ich dich mit einem netten Jungen bekannt machen.“

„Das ist lieb von dir, Kitty“, lächelte Tina. „Aber ich mag Tante Maud am Freitag nicht ohne Besuch lassen.“

„Dann komm nach, wenn du sie gesehen hast“, beharrte Kitty.

„Ich sehe, was sich machen lässt“, versprach Tina und wusste schon, dass sie nicht zum Klub gehen würde. Ihr fehlte der unbedarfte Charme, der junge Männer anzog. In ihrer Gesellschaft fühlte sie sich gehemmt. Die glatte, oberflächliche Zungenfertigkeit, wie sie sie von einem Mädchen erwarteten, war nicht ihre Sprache.

Abend für Abend besuchte Tina ihre Tante und brachte ihr frisches Obst, das Kittys Vater auf dem Markt kaufte, wo er arbeitete. Ein Teil davon verschwand unberührt in Tantes Nachtschränkchen – aber als Tina vorschlug, doch der Patientin im Nebenbett etwas abzugeben, erwiderte Tante Maud säuerlich: „Sie hat selbst Verwandte. Sollen die sich um sie kümmern.“

An einem Freitag sprach der behandelnde Arzt mit Tina. Eine Operation ließe sich nicht umgehen, doch da Miss Mansons Herz kräftig sei, gäbe es keinen Grund zur Beunruhigung. Er klopfte Tina auf die Schultern und empfahl ihr, sich keine Sorgen zu machen.

Leicht gesagt, schließlich ist sie keine junge Frau mehr, dachte Tina und versuchte die Angst niederzukämpfen, die in ihr aufsteigen wollte.

Am Samstag hatte sie frei, und so machte sie sich im Haus der Tante zu schaffen. Das blonde Haar in einem Kopftuch gegen Staub und Schmutz geschützt, schob sie den schweren Staubsauger durch die Räume. Die dunklen Möbel in den Zimmern, die schon Maud Mansons Eltern gehört hatten, sahen immer noch aus wie für die Ewigkeit gemacht.

Mitten in der Arbeit musste Tina plötzlich an Kitty denken, an ihren mit Lippenstift verschmierten Mund, an das glühende Rot auf den Wangen. Ausgelassen war sie in einem billigen Unterkleid durch das Badezimmer getanzt und hatte lauthals verkündet: „Ich glaube, ich werde mich in meinen neuen Freund verlieben!“

Wie schön muss es sein, dem Leben unbekümmert zu begegnen, schoss es Tina durch den Kopf. Sie konnte es nicht. Lachend hatte sie zu Kitty gesagt: „Ich wusste gar nicht, dass ein Mädchen darüber nachdenken muss, ob es sich verlieben soll.“

„Du Unschuldslamm! Natürlich muss ein Mädchen sich das überlegen. Nur ein Dummkopf schlittert Hals über Kopf in die Liebe.“ Kittys Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Und dann hatte Kitty noch Hüften wiegend gefragt: „Sag mal, Tina, warst du eigentlich schon einmal verliebt?“

Die Antwort war sie schuldig geblieben. Mehr als ein Kopfschütteln hatte Tina nicht fertig gebracht – und dabei an ein Paar seeblaue Augen und eine tiefe Stimme im Hochland gedacht.

Nach getaner Hausarbeit machte es sich Tina mit einer Tasse Kaffee in der Küche gemütlich. Das Radio brachte gerade Schlagermusik, als es an der Haustür klingelte. Tinas Herz pochte ungestüm. Sie dachte an Tante Maud. Ohne zu überlegen, hastete sie über den Flur und öffnete. Auf der Schwelle standen ein untersetzter Mann mit rotem Gesicht und eine Frau im Pelz.

„Du musst die kleine Tina sein“, sagte die Frau statt einer Begrüßung und musterte sie vom Kopftuch bis zu den Hauspantoffeln.

„Wir sind Tante Sarah und Onkel Sidney“, erklärte der Mann.

Sarah Hutton! Tante Mauds Schwester, die vor Jahren einen Gastwirt geheiratet hatte und mit ihm nach Birmingham gezogen war.

„Du scheinst überrascht zu sein, uns zu sehen“, sagte die Frau spitz. „Hat Maudie dir nichts von ihrem Brief an mich erzählt?“

Verwirrt schüttelte Tina den Kopf. Seit sie denken konnte, lag Tante Maud mit ihrer Schwester in Fehde. Stein des Anstoßes war die Beerdigung des Vaters gewesen, auf der Sarah erfuhr, dass Maud Haus und Möbel erben würde.

Seit Großvaters Tod, schoss es Tina durch den Kopf, ist dies der erste Besuch. Mit großen Augen musterte sie die dreiste, grobknochige Frau und wusste, dass sie sie nicht mochte.

Ihr Gegenüber legte in diesem Moment die plumpe Vertraulichkeit ab und fragte förmlich: „Wollen Sie uns nicht hereinlassen?“

„Oh – natürlich.“ Tina trat beiseite. Wie absichtslos berührte Sidney Hutton ihren Körper, als er den Flur betrat. Tina fuhr schockiert zurück. Der Mann schien sich für unwiderstehlich zu halten.

„Das Haus hat sich auch nicht ein bisschen verändert“, sagte Sarah Hutton über ihre Schulter. „Immer noch die alte, x-mal übertünchte Tapete an den Wänden. Und – schau doch mal, Sid, Maud hat tatsächlich die Anrichte behalten, und jeder Teller, jede Tasse vom Service mit dem Chinamuster ist noch heil!“

Sie lachte laut und drehte sich einmal um sich selbst, um jedes Detail im Wohnzimmer mit flinken Vogelaugen zu erfassen.

„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte Tina. „Er ist schnell gemacht.“

„Wir hatten schon im ‚Tudor Arms‘ etwas getrunken.“ Sarah Hutton legte ihren Pelzmantel ab und fügte gleichgültig hinzu: „Wir bleiben dort übers Wochenende.“ Ihr Mann streckte seine Zigarette wie ein Gewehr von sich und hielt mit frechen Augen nach einem Aschenbecher Ausschau.

„Ich – ich hole Ihnen eine Untertasse, Mr. Hutton.“ Tina stürzte in die Küche, wo sie hastig Kopftuch und Schürze abstreifte. Der unerwartete Besuch verwirrte sie. Und irgendetwas sagte ihr, dass Tante Mauds Schwester nicht aus blanker Liebe und Sorge aus Birmingham gekommen war. Wenn man sich um jemanden Gedanken macht, dann fragt man spontan nach ihm, ohne Umschweife und auf jeden Fall, bevor man sich nach Haus und Hof erkundigt.

Ärger stieg in ihr auf, als sie zum Wohnzimmer zurückging und hörte, wie Sarah Hutton befriedigt sagte: „Maud hat das Haus gut in Schuss. Bei der Lage auf dem Grundstücksmarkt dürfte es heute drei Mal so viel wert sein wie früher.“

Sidney Hutton rekelte sich bereits in einem Stuhl am Kamin. Die Beine quer über dem Kaminvorleger, sah er zu, wie Tina eine Untertasse auf die Armlehne seines Sessels stellte. Sein unverschämter Blick weckte in ihr den Wunsch, ihm ins Gesicht zu schlagen.

„Danke, Tina“, lächelte er. „Sie sind also Georges kleines Mädchen, eh? Ganz die zuverlässige Stütze der Hausfrau, während Tantchen im Krankenhaus liegt, eh?“

„Arme, alte Maudie.“ Sarah setzte sich und entnahm ihrer überdimensionalen Krokodilledertasche ein Zigarettenetui. „Ich war ziemlich durcheinander, als ich ihren Brief bekam. Es stimmt schon, dass wir einander aus den Augen verloren haben, aber Familien-Unstimmigkeiten sollten in einer Zeit wie dieser vergessen werden. Sie sagte, dass sie operiert werden muss. Stimmt das, Tina?“

„Ja, Mrs. Hutton.“ Tina rückte weiter und setzte sich an die andere Seite des Tisches, um Sidney Huttons widerlicher Musterung zu entgehen. Grässlicher Kerl! Sein Blick schien sie abzutasten wie die Fühler eines krabbelnden Mistkäfers.

Sarah Hutton inhalierte tief. „Wir möchten gern zu ihr hinausfahren, um sie zu besuchen, Tina. Es macht Ihnen doch nichts aus, einmal auf Ihre Besuchsstunde zu verzichten?“

„Natürlich nicht, Mrs. Hutton, wenn Sie schon diesen weiten Weg gemacht haben. Tante Maud wird sich freuen. Sie zu sehen. Sicher haben Sie viel zu besprechen.“

Misstrauisch verengten sich Sarah Huttons Augen, als erwarte sie Ironie in der Stimme des jungen Mädchens zu finden. Aber ein Blick in Tinas Gesicht überzeugte sie von der Abwegigkeit dieses Verdachts. Sie sah unschuldige Augen unter hellem Haar, die nichts als Herz verrieten.

Selbstgefällig musterte die Frau ihre Krokodillederschuhe und schnippte mit einer klobigen, protzig beringten Hand die Asche ihrer Zigarette ab. „Dann hat Maudie also nichts von ihrem Brief an mich gesagt? Sie gab sich ja immer schon ein wenig verschwörerisch.“ Sarah lehnte sich vor. Ein Lächeln kräuselte ihren großen, stark geschminkten Mund. „Wetten, dass Sie das Zusammenleben mit ihr manchmal als mühsam empfinden?“

„Ich habe mich an Tante Maud gewöhnt“, sagte Tina loyal. „Sie zog mich groß – ich schulde ihr Dank.“

„Na, wenn schon. Trotzdem dürfte es nicht gerade eine Offenbarung für ein Kind sein, bei ihr zu wohnen. Denn ich wette, dass sie sich kaum verändert hat. Du, Sid …“ Sarah drehte sich zu ihrem Mann um, „erinnerst du dich noch an den Abend, an dem sie uns bei ausgeknipstem Licht im Wohnzimmer erwischte? Ich weiß, dass sie uns bei Vater angeschwärzt hat. Wahrscheinlich hat er ihr deswegen alles vermacht und uns nichts. Keusch wie eine Jungfrau, weil ihr nichts anderes übrig blieb, das ist Maudie! Trotzdem schmeckt mir der Gedanke nicht, dass sie im Krankenhaus liegt. Schließlich ist sie nicht die Jüngste, sondern die Älteste in der Familie. Sie ist älter als George“, bekräftigte Sarah.

Durch den bläulichen Zigarettenrauch starrte die Frau Tina an, als versuche sie, die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder zu finden. „Was machen Sie beruflich, Tina? Sind Sie Friseuse? Arbeiten Sie in einem Café?“

Autor

Violet Winspear
Violet Winspear wurde am 28.04.1928 in England geboren. 1961 veröffentliche sie ihren ersten Roman „Lucifer`s Angel“ bei Mills & Boon. Sie beschreibt ihre Helden so: Sie sind hager und muskulös, Außenseiter, bitter und hartherzig, wild, zynisch und Single. Natürlich sind sie auch reich. Aber vor allem haben sie eine große...
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