Steh zu unserer Liebe

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Die Einwohner von Hubbard Bay sind sehr verwundert, als Rachel Quinn nach vielen Jahren in ihrer kleinen Heimatstadt auftaucht. Noch dazu mit einem Baby! Der Skandal scheint perfekt, als sie dann auch noch zu Kane Riley zieht. Die erfolgreiche Anlageberaterin und der "Bad Boy" des Ortes - nichts passt hier zusammen. Keiner ahnt, dass die kleine Heather das Kind von Marnie ist, Rachels verstorbener Freundin und Kanes Schwester. Marnies letzter Wunsch war es, dass sie gemeinsam Heather betreuen. Dass diese Situation nicht ganz einfach werden würde, hat Rachel durchaus gewusst. Mit welcher Art von Problemen sie allerdings zu kämpfen hat, ahnte sie jedoch nicht. Sie verliebt sich leidenschaftlich in Kane, der aber offensichtlich ein dunkles Geheimnis hat ...


  • Erscheinungstag 31.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755324
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Er mag keine Gesellschaft und ist zu niemandem besonders freundlich.“

Rachel Quinn ignorierte die unerwünschte Bemerkung von Velma Monroe. Auch wenn Kane Riley sich nicht über ihre Gesellschaft freuen würde, beabsichtigte sie, ihn aufzusuchen.

„Ihm gehört jetzt die ‚Maggie Lee‘“, verkündete Velma, während sie die Preise von Rachels Einkäufen in die einzige Kasse des Supermarkts eintippte. Ihr kurzes hellbraunes Haar war grau meliert, und obwohl sie streng und oft missbilligend dreinblickte, besaß sie wundervolle braune Augen. „Das ist der Kabinenkreuzer, den Charlie Greer nach seiner verstorbenen Frau benannt hat.“

Rachel wusste es von ihrer alten Schulfreundin Lori Wolken, von der sie immer telefonisch auf dem Laufenden gehalten wurde.

„Und er hat sich die ‚Sea Siren‘ gekauft. Mit der veranstaltet er Kreuzfahrten um die Inseln für Touristen.“ Neugierig glitt Velmas Blick zu dem Baby in Rachels Armen. „Du warst ziemlich lange weg von Hubbard Bay.“

„Sechzehn Jahre. Ich war fünfzehn, als wir hier weggezogen sind.“ Hastig bezahlte Rachel ihre Einkäufe.

Erneut blickte Velma zu dem Baby. „Ein winziges Ding. Praktisch neugeboren, oder?“

„Ja.“

„Wie heißt sie?“

„Heather“, erwiderte Rachel und schob den Einkaufswagen zum Ausgang.

„Wieso bist du eigentlich zurückgekommen?“

Irgendwie gelang es Rachel, den Supermarkt zu verlassen, ohne diese Frage zu beantworten.

Die Leute würden es noch früh genug erfahren. Auch wenn es in Hubbard Bay von Touristen wimmelte, hielten sich die Einheimischen auf dem Laufenden über ihresgleichen. Der Grund für ihre Rückkehr wurde wahrscheinlich bereits am nächsten Morgen das Thema Nummer eins darstellen. Rachel kümmerte es nicht. Das einzig Wichtige war dieses Baby.

Sie schnallte es auf den Babysitz, glitt hinter das Lenkrad des geräumigen Wagens und fuhr die Hauptstraße entlang. Wie so viele andere Straßen im Ort führte sie zum Hafen mit seinen Piers für die Fischerboote, der Anlegestelle der Fähre und den Docks für Jachten, Segelboote und Ausflugsdampfer.

Als Rachel sich dem Hafen näherte, kurbelte sie das Fenster herunter. Der Geruch des Meeres, das Tuten eines Nebelhorns, das Kreischen von Möwen erfüllten die Luft. Der Himmel über dem Atlantik war wolkenverhangen und schien einen Sommersturm anzukündigen. Rachel erblickte die „Sea Siren“ und fuhr in eine Parklücke. Touristen in Windjacken wanderten plaudernd und lachend an Deck umher.

Rachel ahnte, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Eilig stieg sie aus, nahm Heather vom Babysitz in die Arme und lief über den Parkplatz zum Pier.

Und dann erblickte sie Kane Riley. Er hatte sich verändert, das fiel ihr schon beim ersten Blick auf. Nun war er größer und sehniger als damals, hatte muskulöse Arme und kräftige lange Beine. Ein Seemann mit tief gebräunter Haut. Er war nicht mehr der Junge, an den sie sich erinnerte, mit dem sie geliebäugelt hatte. Das hübsche Gesicht war markanter geworden, wies hohe Wangenknochen und ein kantiges Kinn auf. Seine dunklen Haare, recht lang und ein wenig zottig, wehten im Wind.

„Kane?“ Rachel blieb auf dem Pier stehen und wartete.

Er zog die dunklen Brauen über seinen durchdringenden grauen Augen zusammen, als er Rachel einen Moment musterte – einen langen Moment.

„Erinnerst du dich an mich? Ich bin Rachel Quinn!“, rief sie ihm zu. „Ich muss mit dir reden.“

Er machte die Leinen los. „Hab keine Zeit.“

„Ich bin über zwölfhundert Meilen gefahren, um mit dir zu reden. Es ist wirklich wichtig“, beharrte sie, als er zum Steuerhaus ging.

Doch es hatte keinen Sinn, er reagierte nicht. Rachel gab jegliche Hoffnung auf, über das Tuckern des Motors hinweg mit ihm zu reden. Perfektes Timing, schalt sie sich, während sie beobachtete, wie das Boot ablegte. Sie holte tief Luft und atmete den Geruch nach Fisch und Seetang ein.

Mit Heather im Arm spazierte sie gemächlich zu ihrem Wagen zurück. Also gut, dann musste sie die Sache eben anders angehen. Sie wusste, wo er wohnte. Er hatte Charlie Greers Haus geerbt, das früher einmal ihren Eltern gehört hatte und in dem sie aufgewachsen war.

Die Straße zu diesem Haus führte auf eine Klippe hinauf. Es befand sich am Ende dieser Straße und bot bei klarem Wetter einen atemberaubenden Blick auf das Meer. Seltsam, dass das Schicksal sie hierher geführt hatte und dass das Haus jetzt ausgerechnet Kane gehörte.

Die weißen Verschalungsbretter und die blauen Türen und Fensterrahmen waren verwittert und brauchten einen neuen Anstrich. Mehrere Stufen führten auf eine breite Veranda. Eine fischförmige Wetterfahne auf dem steilen Giebel zeigte gen Norden.

Rachel erinnerte sich, wie sehr ihre Mutter es geliebt hatte, in diesem Haus so nahe am Meer zu leben.

Sie parkte am Straßenrand und musterte den Himmel, der sich immer mehr verfinsterte. Keine Stunde später brach der Sturm los. Der Wind heulte um den Wagen. Blitze zuckten durch die graue Wolkendecke auf das unruhige Wasser. Die Brandung donnerte gegen die Felsküste, noch bevor strömender Regen einsetzte.

Rachel verzehrte einen Schokoriegel und eine Soda. Ihr Magen knurrte dennoch. Heather schlief friedlich, ungeachtet des Sturmes. Vermutlich hatte Kane bereits vor Stunden angedockt. Wo steckte er also?

Kane erinnerte sich durchaus an Rachel Quinn. Er hatte sie über ein Jahrzehnt nicht gesehen, aber sie war das Mädchen, an das er damals immer beim Einschlafen gedacht hatte – eine schlanke, langbeinige Schönheit mit schulterlangen roten Haaren. Immer wenn er sie sah, ging für ihn die Sonne auf, selbst an den finstersten Tagen.

Sie trug die Haare jetzt kürzer, nur noch kinnlang. Sie hat sich sehr verändert, sinnierte er und dachte an das Baby in ihren Armen.

Kane konnte nur ahnen, worüber sie mit ihm reden wollte. Entweder war sie der sentimentale Typ und wollte ihr Elternhaus wieder sehen, oder sie suchte nach seiner kleinen Schwester Marnie. Die beiden waren einmal gute Freundinnen gewesen.

Rachel war ein eher stiller Typ gewesen und hatte immer vor dem Haus auf Marnie gewartet, vermutlich aus Angst vor Marnies und Kanes Vater, denn Ian Riley hatte allabendlich seinen Kummer im Alkohol ertränkt.

Kane schalt sich dafür, dass er Rachel vorhin am Pier nicht ein paar Minuten gewidmet hatte. Eigentlich war er es ihr schuldig. Immerhin hatte sie zu Marnie gehalten, die von allen anderen gemieden worden war. Kinder konnten so grausam sein. Ihn hatte es nicht weiter gekümmert, löchrige Schuhe tragen zu müssen, aber für Marnie war die Armut schwer zu ertragen gewesen. Mit dreizehn hatte sie sehr unter der schäbigen Kleidung und dem Spott gelitten. Nur Rachel Quinn und Lori Wolken, eine andere Schulkameradin, waren auf ihrer Seite gewesen.

Die Kellnerin, die an seinen Tisch trat und ihm Kaffee nachschenkte, riss ihn aus seinen Erinnerungen. Er starrte aus dem Fenster auf den Regen, der gegen die Scheibe prasselte. Kane war schlecht gelaunt, hauptsächlich wegen des Wetters. Wenn der Sturm länger anhielte, bedeutete es einen beträchtlichen finanziellen Verlust für ihn.

Als sich die Abenddämmerung über die Stadt senkte, murrte Rachel ungehalten vor sich hin. Während sie im Wagen auf Kane wartete, mit knurrendem Magen und steifen Gliedern, genoss er womöglich irgendwo eine warme Mahlzeit.

Sie hatte gewusst, dass es nicht leicht werden würde. Nichts hatte geklappt, seit sie in Texas losgefahren war. Eigentlich gab sie nichts auf Omen oder Aberglauben. Für mystische Erwägungen war sie viel zu praktisch, zu nüchtern veranlagt. Doch in South Carolina hatte sie sich einen Platten zugezogen, am Stadtrand von Washington hatte die Lichtmaschine den Geist aufgegeben, und an der Grenze von Maine hatte die Wasserpumpe zu lecken begonnen.

Müde kuschelte Rachel sich in den Sitz und schloss die Augen. In diesem Augenblick schnitten Scheinwerfer durch den Regenvorhang. Sie blinzelte und versuchte, durch die nasse Windschutzscheibe etwas zu erkennen. Ein alter schwarzer Truck bog in die Auffahrt neben dem Haus ein.

Sekunden später stieg ein Mann aus und lief geduckt durch den Regen zum Haus. In einer gelben Öljacke mit Kapuze, Jeans und Stiefeln hätte es irgendwer sein können. Das hätte eine logische Erklärung dafür sein können, warum Rachel noch zögerte und ihm nicht sofort nachlief. Doch in Wahrheit war sie sich einer ganz anderen Sache unsicher. Sie hatte zwar versprochen, Kane aufzusuchen, aber tat sie damit auch das Richtige?

Ein Licht ging im Haus an. Es war die Küche, wie Rachel wusste. Schließlich hatte sie dort oft genug Geschirr abgetrocknet, an dem alten Porzellanspülbecken. Im Geiste bereitete sie sich auf die nächsten Momente vor und überlegte, was sie sagen sollte. Die Situation war viel zu wichtig, als dass sie sich erlauben konnte, sie zu vermasseln. Aber sie war jetzt auch nicht besser darauf vorbereitet als noch vor einigen Stunden oder Tagen.

Rachels Magen verkrampfte sich. Sie hätte ihr Unbehagen mit alten Gefühlen und Erinnerungen entschuldigen können. Ohne es zu wissen, war Kane Riley schließlich die erste Liebe ihres Lebens. Im Nachhinein war Rachel bewusst, dass sie von ihm geträumt hatte, weil er für sie eine verbotene Frucht dargestellt hatte. Aber sie war nicht mehr sechzehn, unschuldig und naiv. Sie war erwachsen und erfahren. Die Nervosität, die sie nun plagte, beruhte eher auf der Sorge um das Baby als auf den Gedanken an ihre erste Liebe.

Rachel stieg aus, nahm Heather aus dem Babysitz, wickelte sie fest in eine dicke Decke und bettete sie sich unter ihrer geöffneten Regenjacke an die Brust, bevor sie sich die Windeltasche über die Schulter hängte.

Der Wind schnitt Rachel ins Gesicht, als sie zur Veranda lief. Die Stufen ächzten unter ihren Füßen, weckten Erinnerungen. Als Kind war sie hinter ihrem Bruder diese Stufen hinaufgejagt, als Teenager war sie mit dem schlaksigen sechzehnjährigen Star der Basketballmannschaft diese Stufen hinuntergegangen.

Vor der Haustür wischte sie sich mit einer Hand über das nasse Gesicht, bevor sie anklopfte. Optimismus und Hartnäckigkeit zählten zu Rachels Vorzügen, doch nun war sie von Zweifeln erfüllt.

Sie widerstand der Versuchung, auf dem Absatz kehrtzumachen und zum Wagen zurückzulaufen, und klopfte erneut.

Einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Kane vermochte noch immer, Rachel mit einem einzigen Blick einzuschüchtern.

„Hi“, sagte sie mit übertriebener Fröhlichkeit.

Sein Blick wanderte hinab zu ihren nassen, schmutzigen Turnschuhen und kehrte dann zu ihrem Gesicht zurück. „Was willst du?“

„Es ist schon eine Ewigkeit her, dass wir uns gesehen haben.“ Sie schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln. „Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst. Ich war mit Marnie befreundet.“ Sie hoffte auf ein Lächeln bei der Erwähnung seiner Schwester. „Wir … meine Familie hat hier gewohnt, in diesem Haus.“ Als er nichts sagte, fuhr sie fort: „Charlie Greer hat es uns abgekauft, als wir nach Texas gezogen sind. Erinnerst du dich an mich?“

Bartstoppeln verliehen seinem Gesicht einen finsteren Ausdruck, unterstrichen die Wirkung seines glänzend schwarzen Haares, der hellgrauen Augen. „Ich erinnere mich.“ Keinerlei Freundlichkeit trat in seine Augen, nicht einmal beim Anblick des Bündels in ihren Armen. Hatte er es sich etwa mühsam antrainiert, seine Miene so ausdruckslos zu halten, seine Gefühle zu verbergen? „Falls du meine Schwester suchst, kann ich dir nicht helfen.“

„Es ist ziemlich kompliziert. Dürfen wir hereinkommen?“ Rachel hatte nicht damit gerechnet, dass Kane sich derart abweisend verhalten könnte. War er schon immer so unhöflich gewesen? Damals, als Teenager, als sie noch hoffnungslos vernarrt in ihn war, hatte sie nichts weiter bemerkt als seine Muskeln, seine Augen und die Gefühle, die seine Nähe in ihr ausgelöst hatte. „Ich muss wirklich mit dir reden.“

„Worüber?“, entgegnete er mürrisch, doch immerhin öffnete er die Fliegentür.

Sofort stürmte Rachel an ihm vorbei ins Haus. Hinter sich hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Nervosität packte sie erneut, als sie sich zu Kane umdrehte. Durch sein schroffes Verhalten wusste sie nun noch weniger, was sie sagen oder wie sie vorgehen sollte.

Als Heather zu quengeln begann, sagte Rachel: „Entschuldige, aber ich muss sie zuerst wickeln und füttern. Sonst demonstriert sie uns in einer Minute, wie stimmgewaltig sie ist.“

Kane deutete nach links. „Du kannst sie da reinbringen.“

Rachel wusste, welches Zimmer er meinte. Es war ihr früheres Kinderzimmer, ein riesiger Raum, den sie mit ihrer Schwester Gillian geteilt hatte. Sie blieb in der Tür stehen. Ihre Poster von Rockstars, die Plüschtiere und die Spitzengardinen waren verschwunden. Das Zimmer enthielt jetzt nur noch ein Bett mit bloßer Matratze, eine kleine Kommode und einen Schaukelstuhl.

Rachel legte Heather auf das Bett und holte sie aus einer dicken und einer leichteren Decke heraus. „Das hier war mal das Kinderzimmer von mir und meiner Schwester“, verkündete sie, als er ihr folgte und in der Tür stehen blieb.

„Bist du bald fertig?“, fragte Kane, ganz als hätte sie nichts gesagt.

Rachel wechselte die Windel. „Ja.“ Sie zog Heather einen pfirsichfarbenen Strampelanzug an, verstaute die alte Windel in einer Plastiktüte aus der Windeltasche und wischte sich die Hände mit einem feuchten Tuch ab.

Kane hatte Heather nur einmal flüchtig angesehen. Rachel erinnerte sich, dass sein Vater ebenso schroff und abweisend gewesen war. Ein verdrießlicher, zorniger Mann, der Marnie oft zum Weinen gebracht hatte mit seinen harten Worten. Was würde werden, wenn Kane wie sein Vater geworden war? Wäre Heather dann bei ihm gut aufgehoben?

„Ich habe Kaffee fertig, falls du welchen möchtest“, sagte er und wandte sich ab. Er hielt ihr Verhalten für Hinhaltetaktik. Was immer sie von ihm wollte, es schien ihr schwer zu fallen, es auszusprechen.

„Ja, gerne. Der Kaffee duftet wundervoll.“

Kane blickte über die Schulter zu Rachel und fragte sich, wo sie das Baby gelassen hatte. Mit einer Hand deutete er zur Kaffeemaschine. Er beabsichtigte nicht, sie zu bedienen, sie willkommen zu heißen. Als sie an ihm vorbeiging, fing er einen leichten Duft nach Zitronen auf.

„In dem Zimmer bin ich …“

„Aufgewachsen“, fiel er ihr ins Wort. „Ich weiß.“ Er konnte ihr nicht verdenken, dass sie ihn betroffen anblickte. Schließlich benahm er sich schroffer als beabsichtigt. Aber er ärgerte sich über sich selbst, weil er sie überhaupt ins Haus gelassen hatte, und irgendwo musste dieser Ärger jetzt bleiben.

„Wann ist Charlie gestorben?“, fragte Rachel und nippte an ihrem Kaffee.

„Es ist eine ganze Weile her.“ Da Kane allein lebte, kümmerte er sich nicht sonderlich um das Haus, und er hatte auch keine Haushälterin. Durch Rachels Anwesenheit wurde ihm bewusst, dass die Kühlschranktür einer Reinigung bedurfte. „Warum kommst du nicht zur Sache? Was willst du von mir?“

„Es ist schwierig, das zu erklären.“

„Wenn es um meine Schwester geht, die habe ich seit Jahren nicht gesehen.“ Er fragte sich, ob Marnie gefunden hatte, was sie sich erhoffte, wo immer sie sein und was immer sie tun mochte.

„Ich weiß.“

Kane horchte auf. „Heißt das, dass du in Kontakt mit ihr bist?“

Obwohl Rachel noch immer unsicher war, was sie wegen Heather tun sollte, musste sie ihm von Marnie erzählen. Es war niemals leicht, eine schlechte Nachricht zu überbringen. „Sie hat in Texas gewohnt.“

Er stellte seine Tasse ab und richtete seine volle Aufmerksamkeit auf Rachel. „Wieso weißt du das?“

„Ich lebe dort.“ Am liebsten würde sie jetzt einfach unter irgendeinem Vorwand aus dieser schrecklichen Situation fliehen. Wie sollte sie ihm bloß beibringen, was passiert war? „Marnie war bei der Bank angestellt, bei der ich auch arbeite.“

Kanes Miene spannte sich an. „Warum sagst du immer ‚war‘?“

„Kane, es tut mir leid …“

„Was zum Teufel tut dir leid?“

„Marnie ist vor anderthalb Wochen gestorben.“ Rachel ließ ihm einen Moment Zeit, um die Mitteilung zu verarbeiten. Sie betete, dass ihre Stimme nicht versagen, dass sie nicht in Tränen ausbrechen möge. „Ich habe versucht, mich mit dir in Kontakt zu setzen. Von Lori Wolken wusste ich, dass du noch hier lebst.“ Sie zog zwei Papiere aus ihrer Jeanstasche. „Als ich dich nicht erreichen konnte, habe ich Lori angerufen. Sie hat mir erzählt, dass du verreist warst.“

Ausdruckslos starrte Rachel sie an.

„Ich habe erfahren, dass du erst gestern von einem zweiwöchigen Angeltrip zurückgekehrt bist.“

„Wie?“, fragte Kane rau. „Wie ist sie gestorben?“

Rachel legte Marnies Totenschein und Heathers Geburtsurkunde auf den Tisch. „Deine Schwester war stolz, wirklich stolz.“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

Seine schroffen Worte veranlassten Rachel, den Kopf zu heben. Der Kummer in seinen Augen erweckte in ihr den Drang, ihn tröstend zu berühren. „Ich war ihre Freundin, aber sie wollte sich nicht von mir helfen lassen. Sie hat immer gesagt, dass sie keine Almosen will. Ich habe es versucht.“ Ein Kloß schnürte ihr die Kehle zu. „Wirklich. Aber sie wollte nicht ins Krankenhaus, wollte mich nicht dafür bezahlen lassen.“

„Sie war also krank?“

„Nein, Kane. Sie war schwanger. Aber statt ins Krankenhaus zu gehen, wollte sie das Kind zu Hause bekommen.“

Kane hob die Schultern, zeigte ansonsten aber keine Reaktion.

„Sie hat eine Hebamme kommen lassen.“ Rachel trat einen Schritt näher zu ihm. Es war weit schwieriger, als sie geahnt hatte. „Es gab Komplikationen. Wir haben einen Krankenwagen gerufen, aber …“

Er starrte durch sie hindurch, so als wäre sie unsichtbar.

„Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.“

„Warum ist sie nicht gleich ins Krankenhaus gegangen? Sie hatte doch einen Job und eine Krankenversicherung, oder?“

Rachel hatte Marnie wie eine Schwester geliebt, war aber nicht blind gegen ihre Fehler und hoffte, dass er es auch nicht war. „Sie hat oft blau gemacht und deshalb den Job verloren.“ Rachel wartete nicht, bis er nach dem Grund fragte. „Es gab da einen Mann in ihrem Leben, und sie wollte lieber mit ihm zusammen sein.“

Kane behielt seine steinerne Miene bei.

Rachel vermutete, dass er sich diesen Gesichtsausdruck schon in jungen Jahren angeeignet hatte. „Kane, es tut mir so leid. Wenn ich irgendetwas tun kann …“

Er richtete den Blick wieder auf sie. „Hat sie sehr gelitten?“

Die Erinnerung an jene schreckliche Nacht erschien vor Rachels geistigem Auge, und sie erschauerte. „Ich glaube nicht.“ Sie spürte, dass ihr Tränen in den Augen brannten, und atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn, jetzt zu weinen. „Es ging alles so schnell.“ Ihre Stimme versagte, als Kane sich abwandte.

Bevor er die Tür erreichte, sagte Rachel noch: „Warte.“ Sie konnte sein Bedürfnis, allein zu sein, gut verstehen. Nur zu gern hätte sie ihn in irgendeiner Form getröstet, aber was hätte sie sagen sollen? Was passiert war, war fürchterlich. Sie hatte eine wundervolle Freundin verloren. Aber was sie oder er empfanden, zählte jetzt nicht. Das Kind musste nun für beide an erster Stelle stehen. „Kane, ich bin hier wegen Marnies Baby“, sagte Rachel mutig.

2. KAPITEL

Stille hing in der Luft. Auf der Wanduhr in der Küche tickten die Sekunden quälend langsam dahin, bis Kane sich zu Rachel umdrehte und ihren Blick gefangen hielt. „Baby?“

Er wirkte nicht verblüfft. Er wirkte vielmehr benommen. So gern sie ihm Zeit zur Trauer gelassen hätte, musste sie ihm die Situation begreiflich machen. Wenn er seiner Verpflichtung nicht nachkam … Nur wenn er seine Verantwortung akzeptierte, blieb es Heather erspart, in einem Waisenhaus aufzuwachsen. „Das Baby hier … Heather … ist von Marnie. Du bist ihr Onkel.“

Kane richtete sich abrupt auf, so als hätte ihn jemand in den Rücken geboxt. „Das behauptest du.“

„Es ist die Wahrheit.“

Im Zorn schrien die meisten Leute, doch er sprach sehr leise. „Du tauchst hier auf mit einer Story über meine Schwester und ein Baby. Okay, ich bezweifle nicht, dass meine Schwester …“ Er hielt inne, senkte den Blick auf die Dokumente auf dem Tisch. Dann griff er nach ihnen, strich geistesabwesend über das Siegel von Texas auf dem Totenschein. „Okay. Meine Schwester ist … weg. Du hast keinen Grund, in diesem Punkt zu lügen.“

„Aber du glaubst, dass ich nicht die Wahrheit über Heather sage?“

„Wie soll ich sicher sein, dass das Baby nicht dein eigenes ist? Vielleicht versuchst du ja, es mir als Marnies unterzuschieben.“

Zorn stieg in Rachel auf, doch sie beherrschte sich mühsam, um nichts Unüberlegtes zu sagen oder zu tun. „Es ist Marnies Baby, nicht meins“, versicherte sie ihm. Er konnte ja nicht ahnen, wie schwer es ihr fiel, die Worte auszusprechen, wie oft sie es sich in Erinnerung rufen musste, seit sie sich um Heather kümmerte. „Sie ist deine Nichte.“ Sobald er Heather in die Augen blickte, die seinen so sehr ähnelten, sobald er ihre zarte Haut berührte, konnte Kane sich gewiss nicht von ihr abwenden. Aber er hatte das Kind ja noch nicht einmal richtig angesehen.

Er riss eine Regenjacke vom Haken neben der Tür, die sich eine Sekunde später hinter ihm schloss. Wie konnte er jetzt einfach verschwinden? Heather war sein Fleisch und Blut, seine einzige Verwandte. Wie konnte er so gleichgültig, so gefühllos sein?

Und was sollte Rachel nun tun? Ihr wurde klar, dass sie keine Wahl hatte. Sie ging ins Schlafzimmer zurück und hob Heather auf die Arme, um ins Motel zurückzukehren. Kanes Verhalten rief ernste Zweifel an ihm hervor. Wie sollte sie wissen, ob sie die richtigen Entscheidungen für Heather traf?

Rachel hatte ihre beste Freundin verloren, die ihr so nahe gestanden hatte wie ihre eigene Schwester. Und wie für ihre Geschwister hätte sie alles für Marnie getan. Nun galt all ihre Loyalität Marnies Tochter, und Rachel musste sich sehr davor hüten, sie nicht zu sehr ins Herz zu schließen.

Es regnete immer noch, als Kane Tulley’s Bar erreichte. Mit nassen Kleidern und Haaren setzte er sich auf einen Hocker am Tresen und kippte einen Whiskey, während er den Totenschein erneut las.

Der Alkohol brannte ihm in der Kehle. Da sein Vater Alkoholiker gewesen war, trank Kane mit Bedacht und setzte nie vor Sonnenuntergang einen Fuß in eine Bar.

Er starrte auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas und focht mit unzähligen Gefühlen. Der Schock, den Rachels Mitteilung ausgelöst hatte, überwältigte ihn. Marnie war tot. Sein Magen verkrampfte sich. Es war unwesentlich, dass er viele Jahre nicht an ihrem Leben teilgehabt hatte. Er war davon ausgegangen, dass sie ihr Glück gefunden hatte, dass sie ein wesentlich besseres Leben führte als die Hölle, die sie nach dem Tod ihrer Mutter mit ihrem Vater durchgemacht hatten. Aber Marnie war nicht glücklich. Sie war tot. Er würde sie nie wieder sehen.

Kane wollte seine Wut an jemandem auslassen, aber wer verdiente sie? Und einer sanfteren Gefühlsregung nachzugeben, das kam ihm nicht in den Sinn. Seit seine Mutter gestorben war, hatte er nie mehr geweint. Und nun, da er noch jemanden verloren hatte, der ihm nahe stand, fühlte er sich nur in dem bestätigt, was er schon immer gewusst hatte: Es war gefährlich, sein Herz zu sehr zu öffnen.

Wie sollte es nun weitergehen? Was war mit dem Baby? War es wirklich von seiner Schwester? Wenn ja, was sollte er dann damit anfangen?

Am nächsten Morgen hatte Kane immer noch keine Antworten auf diese Fragen. Noch bevor er die Augen öffnete, verfluchte er den Regen, der beständig auf das Dach prasselte. Durch das Schlafzimmerfenster sah er den finsteren, grauen Himmel. Ohne Eile stand er auf. Wie bereits am Vortag musste die „Sea Siren“ den ganzen Tag im Hafen liegen bleiben. Gähnend zog Kane sich Jeans und ein T-Shirt an.

In der Küche schaltete er die Kaffeemaschine ein. Auf dem Tisch lagen die Papiere, die Rachel ihm gegeben hatte. Er entfaltete die Geburtsurkunde. Heather Riley. In der Spalte für den Namen des Vaters stand „unbekannt“. Das Siegel von Texas machte das Dokument rechtskräftig.

Nun, da Kane sich etwas beruhigt hatte, konnte er auch vernünftig mit Rachel reden. Da es nur etwa ein halbes Dutzend Hotels in der Stadt gab, durfte es nicht allzu schwer sein, sie zu finden.

Er ließ sich eine halbe Stunde Zeit, um Kaffee zu trinken, zu duschen und sich zu rasieren. Dann fuhr er mit seinem Truck die Hauptstraße entlang.

Vor Benny’s Café erblickte er Rachels Wagen. Er parkte seinen Truck daneben und schlenderte zum Eingang. Durch das Fenster sah er sie. Sie saß in einer der Nischen und hatte den Kopf gesenkt. Als er die Tür öffnete, ertönte eine Glocke. Das Café war in Blau und Weiß dekoriert. Frühstücksgäste, überwiegend einheimische, besetzten die Hocker an der Bar und mehrere Tische. Noch bevor er die Tür hinter sich schloss, hatte er schon fast alle Blicke auf sich gezogen. Er erhielt kein Nicken, kein Hallo, kein Lächeln. Er hatte es nicht anders erwartet.

Die Leute glaubten, dass er nach seinem Vater schlug, und Ian Riley hatte ganz unten auf der Beliebtheitsskala rangiert. Aus gutem Grund, behaupteten die Leute. Er war in die Stadt gekommen, hatte Kathleen Feenley umgarnt und geschwängert. Er hatte ein anständiges Mädchen ruiniert. Aber niemand hatte ihn ernsthaft verurteilt, bis er zum größten Trunkenbold der Stadt geworden war.

Dann hatte Kane selbst Anstoß erregt. Doch es wäre gar nicht nötig gewesen, dass die Leute ihn nun wie einen Aussätzigen behandelten. Denn er verdammte sich selbst schon genug für das, was er getan hatte.

Er ignorierte die Blicke und bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch zu Rachel. An diesem düsteren Tag drang kein Sonnenschein zu den Fenstern herein, dafür war sie selbst der Lichtfleck in diesem Raum. Sie trug verwaschene Jeans und ein leuchtend gelbes Top, das die Rundungen ihrer Brüste umschmiegte. Mitgefühl lag in ihrer Miene, als sie Kane erblickte, und das gefiel ihm gar nicht.

„Wir müssen wohl miteinander reden“, sagte er knapp.

„Es fällt mir so schwer zu glauben, dass Marnie nicht mehr bei uns ist“, sagte sie traurig. Die Worte schienen von Herzen zu kommen, und so war Kane geneigt zu glauben, dass es keine leere Phrase, sondern die Wahrheit war. „Für dich muss es besonders schwer sein.“

„Ein Schock“, erwiderte er freimütig, während er sich ihr gegenüber in die Nische setzte.

„Ich …“ Rachel verstummte, als Rosie Furnam, die älteste Kellnerin des Cafés und stadtbekannte Klatschbase, an ihren Tisch trat.

„Möchten Sie etwas?“, fragte sie Kane und musterte ihn abweisend.

Schon seit Jahren verkehrte er nicht mehr in den Lokalen der Stadt. Wenn er auswärts essen wollte, fuhr er nach Bangor oder in eine der anderen umliegenden Ortschaften. „Nein, danke.“

„Noch Kaffee?“, erkundigte sich Rosie bei Rachel.

„Nein, danke.“

Kane wartete, bis Rosie sich entfernt hatte. „Erzähl mir, was mit meiner Schwester passiert ist.“

„Die Ärzte im Krankenhaus haben eine Gehirnblutung diagnostiziert. Niemanden trifft die Schuld an ihrem Tod, haben sie gesagt. Es hätte jederzeit passieren können.“

Niemanden trifft die Schuld. Diese Worte vermochten Kane nicht zu trösten. Er blickte an die gegenüberliegende Wand, um bloß nicht das Mitgefühl in Rachels Augen wahrnehmen zu müssen. „Du hast dich um die Beerdigung gekümmert?“

Sie nickte und senkte den Blick. „Es war nur eine kleine Trauerfeier mit einigen Nachbarn und Arbeitskollegen.“

Kane wollte keine Details darüber hören. „Lass mich wissen, wie viel ich dir schulde.“ Als sie den Kopf hob, um zu protestieren, fuhr er fort: „Sie war meine Schwester. Und wenn ich dir sonst noch etwas schuldig bin …“

„Ich bitte dich! Sie war meine beste Freundin.“ Rachels Augen schimmerten feucht. „Eine wundervolle Freundin. Ich hätte alles für sie getan. Ich wollte, dass sie ins Krankenhaus geht. Dafür hätte ich ihr sofort meine Ersparnisse gegeben. Sie hätte gehen können.“

Trotz der jahrelangen Trennung wusste Kane, dass Marnie nicht von jedem Almosen akzeptiert hätte. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie von ihm etwas angenommen hätte. Sie hatten als Kinder zu viele milde Gaben akzeptieren müssen. „Sie war schon immer sehr eigensinnig. Wenn sie deine Hilfe nicht annehmen wollte, hättest du sie niemals dazu überreden können.“

„Danke. Ich weiß, dass du versuchst, mich aufzumuntern, aber …“

„Ich versuche gar nichts“, konterte Kane schroff und registrierte zufrieden, dass er Rachel damit beleidigt hatte. Das war ihm ganz recht so, denn er wollte ihre Freundschaft nicht.

„Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Heather ist von Marnie“, sagte sie sehr leise, so als wäre ihr plötzlich bewusst geworden, wie viele Leute sie anstarrten.

Eigentlich hatte Kane das nicht wirklich angezweifelt. Rachel hatte keinen Grund zu lügen, und die Geburtsurkunde bewies die Wahrheit. „Hat Marnie den Namen ausgesucht?“

Autor

Jennifer Mikels
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