Stürmische Nächte im Paradies

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Verzweifelt betrachtet Claudia die Reste ihrer Hotelanlage: Ein mächtiger Sturm hat aus dem charmanten Familienbesitz eine Ruine gemacht. Und wie typisch, dass ihr Geschäftspartner Luke mal wieder durch Abwesenheit glänzt. Nie ist er da, wenn man ihn braucht … doch plötzlich steht er vor ihr! Für ein paar Wochen ist er von London nach Australien geflogen, um ihr zur helfen. Entspannung? Fehlanzeige! Der traumhafte Strand, das Meer und die lauen Nächte beschwören in Claudia einen nie gekannten Sturm der Leidenschaft für den Mann herauf, den sie schon so lange heimlich liebt …


  • Erscheinungstag 01.09.2015
  • Bandnummer 182015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702038
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Luke Hargreaves hatte in seinem ganzen Leben noch nie so eine Verwüstung gesehen. Entwurzelte Bäume zwischen Trümmern eingestürzter Gebäude, überall ungesicherte elektrische Leitungen und Glas. Nur eines der zwölf Gebäude, aus denen die Hotelanlage des Tropicana Nights seit vierzig Jahren bestand, hatte das Unwetter unbeschadet überstanden.

O Gott. Davon würde sich das Hotel nie wieder erholen.

Wenn man hier unter dem makellosen Blau des tropischen Himmels stand und dem sanften Schlagen der Wellen lauschte, konnte man sich kaum vorstellen, dass das Wetter für diese Verheerung verantwortlich war.

Dass die sanfte Brise sich in einen Wirbelsturm verwandeln, dass der wolkenlose Himmel sich unheilvoll schwarz färben und das Meer wild tosen konnte.

Natürlich gehörten Wirbelstürme zum Leben an der Nordküste Australiens dazu, und das Hotel hatte bei den regelmäßigen Unwettern in der Zeit zwischen November und März auch in der Vergangenheit schon Schaden genommen.

Aber noch nie so.

Dieser Wirbelsturm übertraf alles.

Nach den zehn Jahren in England machte er sich nicht mehr groß Gedanken über die Gefahren von Tropenstürmen, doch jetzt, da er die Zerstörung sah, kam es ihm wie ein Wunder vor, dass niemand ums Leben gekommen war.

Dank Claudia.

Lukes Blick wanderte vom verwüsteten Hotel zu der Gestalt am Strand, die, den Rücken zum Meer gewandt, den Schaden begutachtete. Avery hatte ihm erzählt, dass Claudia gut damit fertig wurde. Doch er kannte Claudia Davis. Und dass sie verzweifelt war, erkannte er sogar aus dieser Entfernung.

Irgendwie war sie für ihn noch immer eine dürre Sechsjährige mit blonden Zöpfen und aufgeschlagenen Knien. Und besonders heute hatte sie etwas herzzerreißend Unschuldiges an sich. Ihr Pferdeschwanz, der in der sanften Brise wippte, ihre zarte Gestalt, die in der furchtbaren Polyester-Uniform des Tropicana steckte, die sich seit den Siebzigern nicht verändert hatte, und das alberne Klemmbrett, das sie immer dabeihatte, an die Brust gepresst.

Seufzend zog er sich Schuhe und Strümpfe aus und ließ sie unter den schiefen Palmen zurück, die eine natürliche Grenze zwischen Strand und Land bildeten. Jedenfalls das, was von ihnen übrig war.

Die schöne Palmenallee von Crescent Cove, die sich die ganze Bucht entlangzog, war ebenfalls verwüstet. Ganze Bäume waren entwurzelt, sauber aus dem Boden gerissen und über Strand und Straße verstreut, als wären es Streichhölzer.

Es würde Jahre dauern, alles wieder in alter Pracht erstrahlen zu lassen.

Die Sonne schien heiß auf Lukes Nacken, ein krasser Gegensatz zum kalt-feuchten London, und er schlüpfte aus seiner Jacke. Er knöpfte die Manschetten auf und krempelte die Ärmel hoch. Dann stellte er sein Telefon auf leise und steckte es in die Hosentasche. Er wollte nicht gestört werden, wenn er mit ihr sprach, und er hatte schon drei dringende Textnachrichten aus dem Büro bekommen.

Nachdem er tief durchgeatmet hatte, steuerte er auf die Frau zu, die er fast sein ganzes Leben kannte, und der feine Strandsand knirschte unter seinen Füßen.

Von einem Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung überwältigt, starrte Claudia auf die Szene der Verwüstung. Sie hätte wissen müssen, dass nur ein Wirbelsturm namens Luke so einen Schaden anrichten konnte.

Doch sie weigerte sich, den Tränen, die hinter ihren Augen brannten, freien Lauf zu lassen.

Sie würde nicht heulen.

Heulen war etwas für Weicheier, und sie war kein Weichei. Sie hatte ein Jahr ihres Lebens damit verbracht, ihr geliebtes Familienhotel zu renovieren, und dass es jetzt in Trümmern vor ihr lag, war kein Grund, hysterisch zu werden.

Trostsuchend klammerte sie sich an ihrem Klemmbrett fest. Sie würden es schon schaffen. Sie mussten.

Aber wie? fragte eine kleine Stimme in ihrem Kopf, kaum hörbar unter dem Lärm der Generatoren, der seit Tagen die Luft erfüllte. Dieselbe Stimme, die sie jedes Mal hörte, wenn sie am Strand stand, dem wahren Ausmaß der Zerstörung gegenüber.

Da war zunächst das Hauptgebäude, das ursprüngliche Hotel. Selbst jetzt, inmitten der Trümmer, erstrahlte seine weiße Stuckfassade in der Morgensonne wie ein Leuchtfeuer. Auf wundersame Weise hatte es den Wutausbruch von Mutter Natur mit minimalen Schäden überstanden.

Wie, wusste Claudia nicht.

Wie hatte dieser Dinosaurier – der weiße Elefant, wie Luke ihn nannte – es geschafft zu überleben, während die neueren Bungalows, die höchsten Sicherheitsstandards entsprachen, eingestürzt waren?

Es ergab keinen Sinn. Vier Tage war es her, dass Wirbelsturm Luke, ein Hurrikan der Kategorie fünf, über die Küste hinweggefegt war, und es ergab noch immer keinen Sinn.

Nichts ergab einen Sinn.

Wieder war Claudia den Tränen nahe. Doch Tränen halfen dem Tropicana nicht weiter, und Claudia war fest entschlossen, das Hotel wieder auf die Beine zu bringen. Sie würde sich von der schweren Aufgabe, die vor ihr lag, nicht unterkriegen lassen, ebenso wenig wie letztes Jahr um dieselbe Zeit, als Luke ihr das Ultimatum gestellt hatte, das Hotel wieder aus den roten Zahlen zu holen – sonst …

Er hatte die Drohung nicht näher ausführen müssen – und es spielte auch keine Rolle, denn sie hatte es geschafft. Sie hatten einen Rekordsommer gehabt, schrieben wieder schwarze Zahlen, und vor ihnen lag die beste Wintersaison seit über zehn Jahren.

Und dann kam der Wirbelsturm Luke und versuchte, wie der andere Luke in ihrem Leben, ihr alles zu nehmen, was ihr etwas bedeutete.

„Um Himmels willen, Claude. Davon werdet ihr euch nie erholen.“

Claudia blinzelte, während die vertraute Stimme hinter ihr alles in ihr – ihren Herzschlag, ihren Atem, ihren Stoffwechsel – zum Stillstand brachte.

Luke?

Sie drehte sich um, und da stand er. Groß, schlank, glatt rasiert wie immer. So nah, dass sie ihn anfassen konnte. So nah, dass sie ein vertrautes Ziehen in der Magengegend verspürte.

Luke.

Der Junge, den sie vergöttert hatte, der Teenager, in den sie verknallt gewesen war, der Mann, der sie zutiefst enttäuscht hatte, als er ihrem gemeinsamen Erbe den Rücken kehrte.

Davon werdet ihr euch nie erholen?

Seine Worte waren wie der Schock eines Defibrillators, und dann erwachte alles in ihr wieder zum Leben. Ihre Lungen sogen scharf Luft ein, ihr Herz schlug gegen die Rippen, ihre Zellen setzten den Stoffwechsel wieder in Gang.

Davon werdet ihr euch nie erholen?

O nein! Das sollte wohl ein Scherz sein. Es musste ein Scherz sein. Ein ziemlich schlechter Scherz.

Aber da stand er, in Oberhemd und Anzughose. Am Strand. Und weidete sich an ihrem Elend. Ein emotionaler Tsunami, der sich seit vier Tagen – ach was, seit einem Jahr – in Claudia zusammenbraute, stürmte los.

„Was willst du denn hier?“

Lukes Augen weiteten sich erschrocken. Er zuckte die Schultern. „Ich hab’s im Fernsehen gesehen … Da bin ich gekommen.“

Und so war es auch gewesen. Sosehr er sich dagegen sträubte, dass dieser Ort noch immer so eine Macht über ihn hatte – er konnte einfach nicht anders. Vor zehn Jahren war er ans andere Ende der Welt geflohen und in ein Leben eingetaucht, das nichts mit hier zu tun hatte, doch ein Blick auf die Zerstörung, und er hatte im nächsten Flugzeug gesessen.

Claudia blinzelte ungläubig, dann lachte sie los, ein Lachen, das an Hysterie grenzte. Doch wenn sie nicht lachte, würde sie weinen. Und sie wollte verdammt sein, wenn sie ausgerechnet vor Luke zusammenbrach.

„Wie bist du überhaupt hergekommen?“, wollte sie wissen. „Die Straße ist immer noch in beide Richtungen gesperrt.“

„Jonah hat mich mit seinem Helikopter vom Flughafen abgeholt.“

Vage erinnerte sich Claudia, dass sie den Helikopter vor einer Weile gehört hatte, und heimlich verfluchte sie Jonah. Sie nahm sich vor, Avery einzuimpfen, ihn mit Sexentzug zu bestrafen, weil er sich mit dem Feind verbrüdert hatte. Denn für sie war Luke Hargreaves Staatsfeind Nummer eins.

Aber Avery würde sowieso nicht mitmachen – die beiden waren immer noch so verliebt, dass es einem auf die Nerven gehen konnte.

„Tja, jetzt hast du es gesehen“, blaffte sie ihn an. „Du kannst wieder fahren. Hier ist alles super.“

Super? Luke betrachtete das heillose Chaos und schob die Hände in die Taschen. „Das werde ich nicht tun, Claude.“

Claudia schnaubte abfällig. „Warum nicht? Das machst du doch sonst auch immer.“

„Ich dachte, ich könnte …“ Er deutete mit dem Blick auf das Hotel. „… helfen.“

„Helfen?“ Ihre Stimme klang schrill. „Jetzt willst du helfen?“

„Claude …“, seufzte Luke, obwohl es ihn kaum überraschte, dass sie immer noch sauer war, weil er sich gedrückt hatte, als ihre Eltern ihnen letztes Jahr die Hotelleitung übertragen hatten. „Ich kann beim Aufräumen helfen. Und es müssen Entscheidungen getroffen werden.“

Das brachte Claudia auf die Palme. Glaubte er, sie kapierte nicht, was er damit meinte?

Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von eins fünfundfünfzig auf und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Glaubst du, du hast das Recht, einfach hier anzutanzen …“

Claudia verstummte, als sich ein Druck hinter ihren Augen aufbaute, der zu explodieren drohte und ihr vorübergehend die Fähigkeit raubte, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.

„Hier anzurauschen, wenn alles in Schutt und Asche liegt … und Entscheidungen für das Tropicana zu treffen? Du hast jedes Recht verwirkt, als du letztes Jahr abgehauen bist.“

Luke versuchte ruhig zu blieben, aber Claude hatte, mehr als jede andere Frau, schon immer die Fähigkeit besessen, ihn zur Weißglut zu treiben. Und wenn es um das Hotel ging, verwandelte sich die zierliche, stets gut gelaunte Claudia plötzlich in eine kampflustige Bärenmutter.

Hätte sie damals auf ihn gehört, wäre das Tropicana längst Teil einer großen Kette und finanziell gegen so eine Katastrophe abgesichert gewesen.

Aber nein. Claudia hatte ihre Unabhängigkeit bewahren wollen, um das Hotel so weiterzuführen wie ihre Eltern anno dazumal.

Und er war mit dem Chaos, das seine Ex hinterlassen hatte, zu beschäftigt gewesen, um sich darum zu kümmern. Doch jetzt waren Entscheidungen gefragt.

„Nun, das ist nicht ganz wahr, oder?“

Claudia wusste genau, worauf er anspielte, und bedauerlicherweise hatte er recht. Sein Name stand auf der Partnerschaftsvereinbarung, die ihre Eltern sie zu unterschreiben gezwungen hatten, und er besaß gleiches Mitspracherecht – auch wenn er es bis jetzt nicht beansprucht hatte.

Claudia seufzte und fühlte sich plötzlich geschlagen. „Hör zu, ich hab’s kapiert. Du fühlst dich verantwortlich. Aber du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Alles ist super. Flieg nach London zurück. Mir reicht ein Luke.“

Luke wusste nicht, ob er sie packen und ins Wasser werfen oder in den Arm nehmen sollte. „Ich bleibe hier. Ich habe eine Woche frei. Ich kann bei den Aufräumarbeiten helfen.“

Diesmal war Claudias Lachen tatsächlich hysterisch.

„Eine Woche?“, wiederholte sie mit schriller, bebender Stimme. „Meine Güte, Luke, danke, dass du sieben lausige Tage aus deinem geschäftigen und wichtigen Leben opferst, um der armen alten Claudia beizustehen.“

Angewidert schüttelte sie den Kopf und kämpfte gegen den Drang, ihm das Klemmbrett über den Kopf zu ziehen, ebenso wie gegen die aufsteigenden Tränen. Sie würde nicht weinen!

„Schau dich doch um“, befahl sie und fuchtelte mit den Armen herum, um von ihrer brüchigen Stimme abzulenken. „Glaubst du, das ist in einer Woche zu schaffen?“

Luke sah sich um. Er bezweifelte, dass es in einem Monat zu schaffen war. Doch er hatte einen wichtigen Kunden am Haken, ein Ersatz für den großen Kunden, den er verloren hatte, weil er der Frau vertraut hatte, die er liebte. Er konnte sich nicht erlauben, länger wegzubleiben. Eigentlich konnte er sich nicht einmal sieben lausige Tage erlauben.

Und doch war er hier.

„Lass uns einen Tag nach dem anderen angehen“, schlug er vor, während er versuchte, sich zu beherrschen.

Claudia starrte ihn an. „Behandle mich nicht so herablassend. Ich habe eine ganze Armee von Helfern bereitstehen. Wir brauchen niemanden, der nicht mit dem Herzen dabei ist und dem das Tropicana herzlich egal ist.“

Luke ballte die Fäuste in den Taschen. Nur weil er sein Leben nicht sklavisch dem weißen Ungetüm verschrieben hatte, war es ihm noch lange nicht egal. Er fixierte Claudia. „Und ich nehme an, dass du mit diesem blöden Klemmbrett und dem albernen Hawaiihemd rumläufst, soll demonstrieren, wie viel es dir bedeutet?“

Claudia schnappte nach Luft. Die Uniform gab es schon seit Anbeginn – sie war Kult! Immerhin gab ihr das Gelegenheit, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als das unheilvolle Kribbeln in ihrer Nase. „Ich bin im Dienst“, blaffte sie.

Jetzt schnaubte Luke. „Für wen denn? Es ist niemand hier, Claude.“

Claude gab nicht nach. „Ich bin immer im Dienst.“

Und das war, soweit Luke es beurteilen konnte, eines ihrer Probleme. Sie war siebenundzwanzig und abgesehen von ihren kurzen Aufenthalten in Übersee mit Avery alle paar Jahre gab es für sie nur das Hotel.

„Hast du kein Leben?“, murmelte er, von ihrer Bemerkung verletzt.

„Das fragst ausgerechnet du?“ Wieder lachte sie schrill. „Der Mann, der am Strand einen Anzug trägt?“

„Ich habe den ersten Flug genommen, den ich kriegen konnte“, verteidigte er sich. „Ich bin direkt von der Arbeit nach Heathrow gefahren. Ich weiß, das ist für dich schwer zu glauben, aber es gibt auf dieser Welt noch andere Menschen, die so für ihren Job brennen wie du. Obwohl man in deinem Fall schon von Besessenheit sprechen kann.“

„Das Tropicana ist kein Job. Es ist unser Erbe“, belehrte ihn Claudia.

Luke schüttelte ungläubig den Kopf. Gott, ihre Sturheit trieb ihn auf die Palme.

„Es ist nicht unser Erbe. Es ist nur ein altmodisches Relikt aus einer anderen Zeit, und alle außer dir haben es hinter sich gelassen. Du bist nicht in Dirty Dancing, Claude, und das hier …“ Er deutete auf die Zerstörung, die sie umgab, „… ist nicht das Kellerman’s. Kein Johnny Castle wird vorbeikommen, um dich zu retten.“

Claude blinzelte. Ein Schmerz loderte in ihrer Herzgegend auf, während er alles, woran sie glaubte, nahm und es im heißen, weißen Sand zerquetschte. Ja, sie war sentimental und eine Romantikerin, und sie glaubte, ja sie hatte bewiesen, dass es einen Markt für die Art Hotel gab, die er verunglimpfte. Ihr war nur nicht klar gewesen, dass er so wenig von dem hielt, wofür sie lebte.

Plötzlich fühlte sie sich ganz klein. Unbedeutend. Wertlos.

Und furchtbar traurig. Ihretwegen und seinetwegen. Seine Scheidung hatte ihn zynisch gemacht.

Und das war ihr Verderben. Ihre Sicht verschwamm, die Gefühle, die sie nun schon seit Tagen herunterschluckte, brachen hervor, ob es ihr gefiel oder nicht. Eine einsame Träne lief über ihre Wange.

Luke sah die Träne und hätte sich am liebsten die Zunge herausgeschnitten. Er war wütend gewesen und frustriert, und seine Worte waren grob und unbedacht. Ein paar Strähnen ihres blonden Haares hatten sich gelöst und wehten ihr ins Gesicht, blieben an der feuchten Tränenspur und ihrem Mund kleben.

„Claudia.“ Er machte einen Schritt auf sie zu.

Claudia schüttelte den Kopf und hielt abwehrend eine Hand hoch. Mit der anderen wischte sie die Träne fort, wütend, dass er Zeuge davon geworden war. Dass sie vor seinen Augen schwach und sentimental geworden war. „Geh einfach zurück nach London, Luke.“ Sie drehte sich um und marschierte davon, nur weg von seiner hässlichen Gleichgültigkeit, während ihr neue Tränen übers Gesicht liefen.

Luke sah ihr nach, wie sie über den Strand ging, mit geradem Rücken und stolz gerecktem Kinn, sodass ihr Pferdeschwanz nur ganz wenig wippte, und ärgerte sich über seine Gefühllosigkeit.

Das war ja super gelaufen.

2. KAPITEL

Avery, Jonah, Isis und Cyrus blickten vom Empfangstresen auf, der notdürftig zur Einsatzzentrale umfunktioniert worden war, als die Glastür aufgerissen wurde und Claudia in die weitläufige Lobby stürmte. Ihre Augen waren gerötet, und Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Claude?“, rief Avery ihr nach, und ihr amerikanischer Akzent hallte durch das große, verlassene Foyer. Claudia blieb weder stehen, noch antwortete sie.

„Claudia.“

Diesmal zögerte Claudia kurz, bevor sie ein „Alles okay“ über die Schulter warf und „Ich will nur kurz allein sein“, bevor sie die große elegante Treppe erreichte, die gut in den Palast eines Maharadschas gepasst hätte.

Es herrschte besorgtes Schweigen, während vier Augenpaare die Flucht in ihre Suite im zweiten Stock verfolgten.

„Was war das denn?“, fragte Cyrus, ein Junge aus der Gegend, der im Tropicana als Page angestellt war.

„Keine Ahnung“, meinte Isis, seine Schwester, die normalerweise an der Rezeption arbeitete.

Die Geschwister, hervorgebracht von Hippie-Eltern, glichen sich mit ihrem roten Schopf und den Sommersprossen fast bis aufs Haar.

„Ich glaube, ich weiß, was los ist“, sagte Avery und kniff die Augen zusammen, als sie Luke die breite Eingangstreppe hinaufkommen sah.

Luke trat ein, Schuhe und Jackett in der Hand, und nickte zur Begrüßung in Richtung Empfangstresen. Doch keine der Personen dahinter schien besonders erfreut, ihn zu sehen.

Er schlenderte über die Mosaikfliesen in satten Sandfarben, vorbei an üppigen Teppichen, bequemen Sesseln und Zimmerpalmen. Riesige Säulen stützten die zwei Stockwerke hohe Kuppeldecke, die ein sternenbedeckter, von Palmenblättern umrahmter Nachthimmel zierte.

Als Kind hatte ihn das Deckengemälde fasziniert, jetzt schien es nur ein weiteres Relikt aus längst vergangenen Zeiten.

„Luke Hargreaves“, sagte Avery vorwurfsvoll, als er an die Rezeption kam. „Hast du Claude zum Weinen gebracht?“

Luke sah zu Jonah, der hinter Avery stand und ihm heimlich Zeichen gab. Jonah wusste ebenso gut wie Luke, dass Avery, was Claudia anging, keinen Spaß verstand.

„Ich fürchte ja.“ Er verzog das Gesicht.

Zu Lukes Verblüffung ließ Avery die Schultern sinken und sagte: „O, Gott sei Dank. Das hat sie dringend gebraucht.“

Alle nickten zustimmend, sogar Jonah. „O ja“, meinte Isis. „Seit Tagen sagte sie ständig, alles sei super.“

„Alles super“, wiederholte Cyrus. „Wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat.“

„Tja …“ Luke zuckte die Schultern. „Auftrag ausgeführt.“

Luke war froh, dass die kleine Gruppe jetzt etwas entspannter wirkte. Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen. Was er gesagt hatte, war unverzeihlich.

Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie sie ihn früher angehimmelt hatte. Doch seit er sich geweigert hatte, sein Leben in England aufzugeben, um gemeinsam mit ihr das Hotel zu leiten, war er in ihrem Ansehen gesunken.

Er sah zur Treppe, dann wieder zu den anderen. Er musste zu ihr gehen und sich entschuldigen. „Ich glaube, ich sehe mal nach ihr. Und sage ihr, dass es mir leidtut.“

Avery schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist keine gute Idee.“

Jonah nickte. „Gib ihr etwas Zeit, sich zu beruhigen.“

Sich zu beruhigen? Wie sollte sich irgendjemand bei dieser Hitze beruhigen, die in der Halle herrschte, weil mit dem Strom auch die Klimaanlage ausgefallen war. Plötzlich fühlte er sich erschöpft. Er hatte einen Jetlag, und außerdem schwitzte er wie verrückt in seinem Anzug, doch er musste das in Ordnung bringen.

„Warum hast du mir unterwegs nicht erzählt, dass sie im Moment so zart besaitet ist?“, wollte Luke von Jonah wissen.

„Sie ist nicht zart besaitet“, widersprach Avery. „Sie arbeitet Tag und Nacht wie ein Pferd, damit wir mit den Aufräumarbeiten beginnen können, sobald die offizielle Entwarnung kommt. Ganz abgesehen von den zweihundert Gästen, die wir in den nächsten Wochen erwartet haben.“ Avery sah ihn streng an. „Außerdem hilft sie in der Stadt und bei den anderen Hotels mit. Sie ist unglaublich stark.“

„Warum bricht sie dann gleich in Tränen aus?“, schnaubte er.

Avery schüttelte den Kopf, und Luke fühlte sich noch niedergeschlagener.

„Weil sie erschöpft ist. Weil sie gestresst ist und sich Sorgen macht. Sie hat seit fünf Tagen kaum geschlafen. Weil ihr ganzes Leben in Trümmern liegt und vielleicht, nur vielleicht, hat sie geglaubt, dass gerade du ihre Lage verstehst. Hast du ihr das gesagt, Luke? Dass du verstehst, wie sie sich fühlt?“

Luke mied Averys Blick, denn sein schlechtes Gewissen plagte ihn. „Ich habe sie gefragt, wie es ihr geht“, sagte er und wandte sich an Jonah. „Du hast doch gesagt, es geht ihr gut.“

Jonah nickte. „Es geht ihr ja auch gut. Es geht ihr super. Wenn man bedenkt, dass alles, wofür sie im letzten Jahr gearbeitet hat, in Schutt und Asche liegt. Sie kümmert sich um alles und spielt für uns die Tapfere. Aber du gehörst zur Familie, Alter. Deine Meinung hat schon immer mehr gezählt als die der anderen.“

Lukes Miene verfinsterte sich, denn er wusste, dass Jonah recht hatte. Er hatte ihr wehgetan. „Stimmt“, sagte er nach einer Weile. „Und deshalb werde ich mich bei ihr entschuldigen.“

Avery schnalzte missbilligend mit der Zunge, und Luke funkelte sie an. „Was?“

„Ich weiß, du bist ein Mann, und es liegt in deiner DNA, die Dinge anzupacken, aber sie braucht jetzt ein bisschen Abstand, und wenn du klug bist, lässt du sie in Ruhe. Und danach hältst du am besten die Klappe und nimmst sie einfach in den Arm.“

Jonah nickte. „Gib ihr ein bisschen Zeit. Sonst machst du es nur noch schlimmer.“

Luke wusste, dass sie recht hatten. Doch er ertrug den Gedanken einfach nicht, dass sie da oben ganz alleine weinte, nur weil er sich im Ton vergriffen hatte. Claudia war keine Heulsuse – noch nie gewesen. Sie war stets gut gelaunt, vergnügt, unverwüstlich.

Sie war der reinste Sonnenschein.

Und er hatte sie zum Weinen gebracht. Er war schuld an ihren Tränen.

Luke schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid, das kann ich nicht.“

Und schon war er weg, und vier Augenpaare sahen ihm nach, als er Claudia nach oben folgte.

Avery seufzte. „Ich hätte ihn für klüger gehalten.“

Jonah legte Avery eine Hand auf die Schulter und zog sie sanft an seine Brust. „Selbst kluge Männer machen Dummheiten, wenn eine Frau im Spiel ist.“

Lächelnd legte sie ihre Hand auf seine. „Das ist wahr. Du beispielsweise.“

Jonah lachte leise und küsste sie auf die Schläfe.

„Das wird kein gutes Ende nehmen, oder?“, fragte Cyrus seine Schwester voller Ehrfurcht, dass es überhaupt jemand wagte, sich Claudias ausdrücklichen Wünschen zu widersetzen.

Isis schüttelte den Kopf. „Das ist seine Beerdigung.“

Ohne darüber nachzudenken, ging Luke zur Tür der Copacabana Suite, wo Claudia mit ihren Eltern gewohnt hatte, seit sie sechs war. Er und seine Eltern hatten nebenan in der Mai Tai Suite gewohnt. Er zögerte, bevor er klopfte – vielleicht wohnte sie da gar nicht mehr? Vielleicht war sie in eine kleinere Suite gezogen, nachdem ihre Eltern sich zur Ruhe gesetzt hatten? Doch es war nur ein flüchtiger Gedanke, denn Claudia war sentimental.

Er klopfte. Keine Antwort.

Er klopfte erneut. Lauter. Wieder keine Antwort.

„Claude, ich weiß, dass du da drin bist. Mach auf.“

Keine Antwort.

„Ich kann auch den ganze Tag hier draußen stehen und klopfen“, drohte er, obwohl ihn allein der Gedanke erschöpfte. „Weißt du, ich setze mich einfach hier draußen hin und warte, bis du rauskommst. Irgendwann musst du ja rauskommen. Aber ich fahre nicht nach England zurück. Ich fahre nirgendwo hin, jedenfalls nicht in der nächsten Woche, also gewöhn dich dran.“

Immer noch keine Antwort. Die Tür blieb verschlossen. Luke seufzte und setzte sich mit dem Rücken an das dunkle Holz. Er war zu müde zum Stehen. Obwohl er Business Class geflogen war, hatte er im Flugzeug nicht viel geschlafen – die Sorge um das Hotel, um Claudia hatte ihn wach gehalten.

Luke rieb sich die Augen und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Er spürte schon die ersten Stoppeln, nachdem er sich an Bord des Flugzeugs nur flüchtig rasiert hatte, und das störte ihn, denn er war es gewohnt, glatt rasiert zu sein. Dagegen musste er dringend etwas tun.

Nachdem er geduscht hatte. Und geschlafen.

Tatsächlich störte ihn sein gesamtes Erscheinungsbild. Die Ärmel waren schludrig hochgekrempelt, die drei obersten Knöpfe standen offen, sein teures Oberhemd klebte an seiner verschwitzten Brust, und seine nackten Füße waren immer noch sandig.

Luke bildete sich einiges auf sein Aussehen ein. Er war der festen Überzeugung, dass es viel zu seinem Erfolg beitrug. Wenn man gepflegt aussah, waren die Kunden eher bereit, ihr Geld rauszurücken.

Erneut klopfte er mit den Fingerknöcheln an das Holz hinter seiner Schulter. „Claude.“

Immer noch keine Antwort.

Luke blickte auf seine Füße und rieb seine Zehen aneinander, und ein feiner Sandregen rieselte auf den dünn gelaufenen, alten Teppich mit Palmenmuster nieder, der den Flur zierte, solange er denken konnte.

Plötzlich tauchte ein Paar Schuhe vor seinen Augen auf, und als er aufblickte, sah er Jonah über sich stehen, der einen Schlüssel – ja, im Tropicana gab es natürlich noch echte Schlüssel – von seinem Finger baumeln ließ.

„Der könnte helfen“, sagte Jonah. „Aber wenn du Avery verrätst, dass ich ihn dir gegeben habe, werde ich leugnen.“

Autor

Amy Andrews
<p>Amy war ein Kind, das immer eine Geschichte im Kopf hat. Ihr Lieblingsfach war English und sie liebte es Geschichten zu schreiben. Sollte sie einen Aufsatz mit nur 100 Worten schreiben – schrieb Amy 1.000 Worte. Anstatt nur eine Seite bei dem Thema „ Beschreibt auf einer Seite eure Sommerferien“...
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