Sündhaft, verführerisch und voller Lust (5 heiße Romane)

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DEANNA - VERSUCHUNG PUR von BARBARA MCMAHON
Seit Deanna Stephens bei Jay Masters als Kindermädchen arbeitet, schallt wieder fröhliches Kinderlachen durch Haus und Garten. Jays kleine Töchter lieben die fröhliche, warmherzige Deanna über alles, doch seine Beziehung zu der blondgelockten jungen Frau ist weit komplizierter. Er fühlt sich zwar sexuell stark zu ihr hingezogen und sehnt sich danach mit ihr ins Bett zu gehen. Aber sein Herz gehört noch immer seiner verstorbenen Frau, die nach der Geburt ihres zweiten Kindes starb. Darf er Deanna trotzdem fragen, ob sie ihn heiraten will? Wird sie Ja sagen, obwohl sie weiß, dass er gefühlsmäßig noch gebunden ist?

IMMER WIEDER LUST AUF DICH von ANNETTE BROADRICK
Alles ist genau wie damals: das Begehren, das die hübsche Sozialarbeiterin Mandy für ihre Jugendliebe Rafe McClain empfindet, seine verheißungsvollen Blicke aus dunklen Augen, die von dem sprechen, was er gern mit ihr machen würde. Aber es ist nicht die Lust, die sie auf der Ranch ihres Bruders Dan in Texas zusammengeführt hat, sondern die Sorge um Dan. Denn er ist spurlos verschwunden, nachdem er seinem Freund Rafe einen Brief geschickt hat, in dem er ihn um Hilfe bat. Tagsüber suchen Mandy und Rafe fieberhaft nach Dan - doch die Nächte gehören nur ihrer Liebe ...

HEISSES BEGEHREN von ANNE MATHER
Jakes Kuss weckt in Isobel die leidenschaftlichsten Gefühle! Wie kann sie nur diesen Mann begehren, der sie so tief gekränkt hat? Obwohl Isobel weiß, dass Jake sich endgültig von ihr trennen will, sehnt sie sich nach seiner Liebe. Nur ein Mal noch möchte sie in den Armen ihres Exmannes, der auf ihren Landsitz gekommen ist, um die Scheidung zu besprechen, so glücklich sein wie damals. Isobel bricht fast das Herz, als sie nach Stunden der Liebe von Jake Abschied nimmt - für immer?

SO SEXY, SO VERFÜHRERISCH von BARBARA MCCAULEY
Wo hatte ich nur meine Augen? Erst als der erfolgreiche Bauunternehmer Callan Sinclair seine Ex-Sekretärin Abby verzweifelt sucht und schließlich in einer Bar findet, sieht er, wie sexy diese kompetente, blonde junge Dame ist, die ein Jahr lang kaum beachtet von ihm in seinem Vorzimmer saß. Aber warum hat sie eigentlich gekündigt? Unter Tränen und nach einem unerwartet starken Cocktail beschwipst, erzählt Abby ihm die ganze Geschichte: Er selbst ist der Grund für ihre Kündigung! Denn Abby hat ihren besorgten Tanten, bei denen sie aufgewachsen ist, vorgelogen, sie sei mit Callan verlobt. Jetzt kommen die Tanten zu Besuch -Komplikationen sind vorprogrammiert ...

GETRÄUMTE SÜNDEN von DEBBI RAWLINS
Heiß und kalt wird es der ernsthaften Studentin Emma, als ihr der Frauenheld Nick seine wilden sinnlichen Träume beichtet. Oh, Mann! Diese Fantasien sind echt preisverdächtig. Scheinbar ungerührt schreibt sie alles für ihre Doktorarbeit auf. Aber Nick kann das brennende Verlangen in ihren Augen sehen, als er ihr immer intimere Liebesszenen schildert. Fast hat er ein schlechtes Gewissen, dass er sie mit seinen erotischen Storys so sehr erregt, denn es sind nicht seine echten Träume, sondern Sex-Fantasien aus Männermagazinen, die er ihr erzählt. Hoffentlich findet sie das nie heraus. Doch genau das passiert! Jetzt fühlt sie sich von ihm hintergangen und lächerlich gemacht. Um sich zu rächen, bindet sie ihn bei der nächsten Sitzung an seinem "Traumstuhl" fest und lässt ihn allein. Nun kann er seine geträumten Sünden bereuen!


  • Erscheinungstag 11.08.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515283
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Barbara Mcmahon, Annette Broadrick, Anne Mather, Barbara Mccauley, Debbi Rawlins

Sündhaft, verführerisch und voller Lust (5 heiße Romane)

IMPRESSUM

Deanna - Versuchung pur erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2001 by Barbara McMahon
Originaltitel: „The Substitute Wife“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 1505 - 2002 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Katrin Nowak

Umschlagsmotive: GettyImages_KatarzynaBialasiewicz

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733716936

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

1. KAPITEL

„Dee, überleg dir das gut. Jay Masters ist ein superkorrekter Mensch, für den alles nach Vorschrift laufen muss.“

Deanna Stephens sah ihre Freundin und derzeitige Mitbewohnerin Judy überrascht an, während sie ihre modische Samtweste zuknöpfte. „Na und? Dann bin ich bei dem Vorstellungsgespräch eben auch superkorrekt.“

Judy lachte schallend. „Du?“

Deanna lächelte und betrachtete sich im Spiegel. Das war jetzt das dritte Mal, dass sie sich umgezogen hatte. Wenn sie sich nicht schnell entschied, kam sie zu spät, und es würde schwer sein, ihren zukünftigen Chef von ihrer Korrektheit zu überzeugen. Was sie jetzt trug, sollte reichen. Der dunkelblaue Rock endete knapp oberhalb der Knie, und die bunte Samtweste sah sehr gut dazu aus. Da es zu heiß war, hatte Deanna keine Bluse angezogen. Den ganzen Mai über war es sonnig und warm gewesen, und ihre Beine waren so gebräunt, dass sie keine Strümpfe brauchte.

Mit einem Augenzwinkern wandte sie sich an ihre Freundin: „Glaubst du, ich kann ihn davon überzeugen, dass ich superkorrekt bin?“

„Ich kann mir bei dir schwer vorstellen, dass du dich an irgendwelche Regeln und Vorschriften hältst. Aber vielleicht hast du mir diese Seite von dir bisher unterschlagen. Wir kennen uns ja auch erst seit ein paar Jahren“, spottete Judy.

„Wie kannst du so etwas sagen“, erwiderte Deanna gespielt empört. „Ich halte mich beim Autofahren an die Geschwindigkeitsbeschränkung, überziehe mein Konto nie und sehe sogar nach links und rechts, wenn ich über die Straße gehe. Korrekter kann man doch gar nicht sein!“

„Du fängst um vier Uhr nachmittags an zu arbeiten und machst durch bis vier Uhr morgens. Dann schläfst du den ganzen Tag. Du isst Pizza zum Frühstück und Cornflakes zum Abendessen. Und du bringst deine Großtanten immer viel zu spät ins Heim zurück. Nicht schlecht für den Anfang, oder?“

„Es ist lächerlich, über achtzigjährigen Frauen vorzuschreiben, wann sie im Bett sein sollen. Außerdem liebe ich Pizza zu jeder Tageszeit! Was soll ich denn nur mit meinem Haar machen?“ Deanna schlüpfte in ihre Riemchensandaletten und überlegte gleichzeitig, wie sie ihre blonde Mähne bändigen sollte. Ihre wilde Lockenpracht war ihr großes Problem. Immer schon hatte sie sich gewünscht, mit glattem, dunklem, seidig glänzendem Haar gesegnet zu sein. Und was hätte sie darum gegeben, klein und zierlich zu sein und ein wenig zerbrechlich zu wirken! Aber keiner ihrer Wünsche war in Erfüllung gegangen, und sie hatte sich schließlich damit abgefunden, dass sie groß, schlank und sportlich war und nicht zu bändigendes Haar hatte. Nur in Momenten wie diesem fielen ihr die alten Wunschträume wieder ein.

„Halt es einfach mit einer blauen Spange im Nacken zusammen, die zu deiner Weste passt“, empfahl Judy und setzte sich auf die Bettkante. „Mit offenem Haar siehst du aus wie fünfzehn, dann wird er dich für zu jung halten, um auf seine Töchter aufzupassen. Und wenn du dir eine zu komplizierte Frisur machst, wird er glauben, dass du zu viel Zeit vor dem Spiegel verbringst. Ich verstehe sowieso nicht, warum du den Job unbedingt haben willst. Du kannst doch erst einmal bei mir bleiben. Du bist herzlich willkommen. Das habe ich dir schon hundertmal gesagt.“

Deanna war ihrer Freundin aufrichtig dankbar für ihre Gastfreundschaft, wollte sie allerdings trotzdem nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. „Du warst meine Rettung, Judy. Ich wusste wirklich nicht, wohin, als meine Tanten ins Seniorenheim zogen. Aber es ist keine Dauerlösung. Wenn Peter von seinem Einsatz zurückkommt, wollt ihr das Haus bestimmt für euch allein haben.“

Judys Mann Peter war bei der Marine und mit einem U-Boot auf großer Fahrt. Nach dreimonatiger Abwesenheit sollte er am ersten Juni nach Hause kommen. Deanna konnte verstehen, dass das jung verheiratete Paar gern ungestört sein wollte. Sie war fest entschlossen, bis zu Peters Rückkehr eine eigene Wohnung zu haben.

Judy errötete und lächelte verlegen, aber ihre funkelnden Augen verrieten sie. „Vielleicht hast du recht.“

„Natürlich habe ich recht. Wenn ich den Job bekomme, löst das all meine Probleme auf einmal. Eine Stelle mit Wohnmöglichkeit, guter Bezahlung und flexiblen Arbeitszeiten, damit ich nebenher weiterstudieren kann, wäre einfach perfekt.“

„Wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein, dann ist es das meistens auch. Mach dir lieber nicht zu große Hoffnungen, dass er sich für dich entscheidet. Du lebst nicht gerade in geordneten Verhältnissen“, warnte Judy sie.

„Meine Güte, Judy! Jay Masters ist Sicherheitsexperte. Solche Leute sind für ihre Spontaneität bekannt. Schließlich müssen sie jederzeit auf alles gefasst sein und dann improvisieren können. Ich stelle mir das Leben eines Sicherheitsexperten so vor, dass er ständig auf der Hut ist, um Einbrüche oder Entführungen zu vereiteln. Dabei muss er gut beobachten, schnell denken und noch schneller handeln. Ein solcher Mann weiß doch, dass man ab und zu einmal fünf gerade sein lassen muss.“ Deanna machte die blaue Spange in ihrem Haar fest und überprüfte das Ergebnis im Spiegel.

„Du siehst super aus! Das haut ihn bestimmt um“, lobte Judy.

„Hoffentlich nicht. Dann kann er mich nicht mehr einstellen“, stellte Deanna trocken fest.

Deanna traf lange vor dem verabredeten Termin in dem Bürohochhaus ein, wo das Vorstellungsgespräch stattfinden sollte. Sie stieg in den Aufzug und versuchte, ihre Nervosität zu unterdrücken.

Judy hatte das unauffällige Stellenangebot am Schwarzen Brett der Cafeteria des Bürohochhauses entdeckt und ihr davon erzählt. Jetzt war sie, Deanna, hier, um den Mann zu treffen, der für seine beiden kleinen Töchter, drei und fünf Jahre alt, ein Kindermädchen zu suchen.

Als sie wenige Sekunden später aus dem Aufzug trat, sah sie sich interessiert um, denn sie erwartete, dass der Eingangsbereich mit Monitoren, Überwachungskameras und Lichtschranken ausgestattet war. Immerhin handelte es sich um eine Objekt- und Personenschutzfirma. Aber es war nichts dergleichen zu sehen, stattdessen war der Raum ziemlich kahl. Nichts unterschied ihn von den Büros anderer Firmen, die Deanna kannte. Außer vielleicht, dass er leerer und schmuckloser war. Nirgendwo an den weiß gestrichenen Wänden hing ein Bild. Sie liebte Farben, Formen und schönes Design. Vielleicht sollte sie ihrem zukünftigen Chef anbieten, ihm eins ihrer Bilder zu schenken, damit er den Empfangsbereich etwas freundlicher gestalten konnte.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Einem Mann, dessen Alltag darin bestand, mit Geiselnehmern zu verhandeln und skrupellose Gangster auszutricksen, war es bestimmt völlig gleichgültig, wie seine Bürowände aussahen. Möglicherweise wollte er sie auch absichtlich so schmucklos haben. Am Geld kann es bestimmt nicht liegen, dachte Deanna. Jay Masters’ Firma genoss einen ausgezeichneten Ruf, und die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen stieg ständig, trotz der recht hohen Preise. Das wusste Deanna von Judy.

Eine Empfangssekretärin begrüßte sie und führte sie in den Konferenzraum.

„Mr. Masters wird gleich hier sein“, informierte sie sie.

Deanna setzte sich nicht an den großen, ovalen Konferenztisch in der Mitte, sondern auf einen Stuhl an der Wand. Der Raum lag in Richtung Osten, und die Chesapeake Bay war nur einige Straßenzüge entfernt. Obwohl Bürotürme die Aussicht auf die Bucht versperrten, hoffte sie, zwischen diesen einen Blick aufs Meer erhaschen zu können – vergeblich.

Zwei Minuten später betrat ein großer, dunkelhaariger Mann mit einer Mappe in der Hand den Raum. Die Luft schien plötzlich elektrisch geladen. Deanna gab sich Mühe, unbefangen zu lächeln, obwohl ihr Herz auf einmal heftig klopfte. Der Mann blieb kurz hinter der Tür stehen.

„Deanna Stephens? Ich bin Jay Masters.“ Er hielt sich sehr gerade und überragte sie um etwa einen Kopf, obwohl sie mit ihren einsfünfundsiebzig nicht gerade klein war. Sein dunkelgrauer Anzug war maßgeschneidert, das Hemd war blütenweiß und frisch gebügelt, die dunkel gemusterte Krawatte geschmackvoll und dezent. Jay Masters strahlte Macht und Autorität aus.

Deanna verspürte den verrückten Impuls, aufzuspringen und zu salutieren wie beim Militär. Aber das hätte Jay Masters bestimmt nicht komisch gefunden, und deshalb beherrschte sie sich. Sie griff nach ihrer Handtasche, stand auf und sagte freundlich: „Guten Tag.“

Ihm schien ein einziger Blick auf sie zu genügen, um sie einzuschätzen. Er senkte den Blick auf seine Unterlagen und fing an, darin zu blättern, während er langsam auf den Tisch zuging.

Wie ein Held aus einem Actionfilm oder ein heidnischer Krieger, dachte Deanna. Er war ein Kämpfer- und Beschützertyp. Vor ihrem geistigen Auge trug er keinen Anzug, sondern einen Lendenschurz aus Leder oder ein Tierfell oder gar nichts. Sie hatte plötzlich große Lust, ihn zu zeichnen. Sie würde ihn mit einer Lanze oder einem Schwert posieren lassen, mit nacktem Oberkörper, wie er sich furchtlos und siegessicher seinem Gegner stellte.

Deanna konnte sich seinen muskulösen, männlichen Körper in dem konservativen Anzug in allen Einzelheiten vorstellen. Jay Masters hatte breite Schultern, lange Beine und einen gut trainierten Oberkörper. Das Jackett hatte er nicht zugeknöpft, und so konnte sie unter dem Hemd seine kräftigen Muskeln erkennen. Seine Haut war tief gebräunt und passte gut zu seinem schwarzen Haar. Wahrscheinlich verbrachte er den größten Teil seiner Zeit im Freien. Im Büro konnte er unmöglich so braun werden.

Seine Augen waren metallisch grau und wirkten kühl und taxierend. Er hatte volle Lippen, die aber schmaler wirkten, wenn er sie so wie jetzt zusammenpresste. Deanna fragte sich, in welchen Situationen sein Mund wohl weich wurde. Wenn Jay Masters lachte? Wenn er eine Frau küsste und ihr zärtliche Worte ins Ohr flüsterte? Wenn er leidenschaftlich liebte?

Deanna ließ den Blick erneut über seinen muskulösen Oberkörper gleiten. Sie war sicher, dass ein 25-Cent-Stück daran abprallen würde. Nein, halt, korrigierte sie sich, das mit dem Geldstück sagt man nicht über Muskeln, sondern über straff gespannte Betttücher. Und schon stellte sie sich Jay Masters auf einem Bett vor. Bestimmt schlief er nackt. Ob er am ganzen Körper so sonnengebräunt war wie im Gesicht? Schlief er auf dem Bauch oder auf dem Rücken? Nahm er das ganze Bett ein, oder blieb er auf seiner Seite?

Mit einem Mal wurde ihr klar, dass das Schweigen zwischen ihnen schon viel zu lange andauerte. Als sie Jay Masters ins Gesicht sah, stellte sie fest, dass er sie fragend ansah. Hatte er etwas gesagt? Ihr eine Frage gestellt? Oder gar ihre Gedanken gelesen?

Deanna entschied sich, ihn freundlich anzulächeln, und merkte überrascht, wie ihr dabei heiß wurde. Sie verstand nicht, was mit ihr los war. Nur weil er einen Körper hatte, um den ihn sicher die meisten Männer beneideten und bei den bestimmt viele Frauen schwach wurden, musste sie noch lange nicht so übertrieben reagieren. Ihr Interesse an ihm war rein künstlerisch. Sie liebte einfach schöne Linien und Formen. Und dieser Mann war eindeutig ein Meisterstück der Natur.

Ihr Herz klopfte beinah schmerzhaft. Das sind die Nerven, sagte sie sich. Sie musste den Job bekommen.

Jay Masters legte die Mappe auf den Tisch, lehnte sich an die Kante und verschränkte die Arme. Er ließ sie keinen Moment aus den Augen. Ihre Haut begann zu prickeln. Auf einmal fühlte Deanna sich nur noch als weibliches Wesen, das einem begehrenswerten Mann gegenüberstand. Sie zwang sich, ruhig zu atmen und sich zu konzentrieren. Ich bin hier, um ihm zu zeigen, dass ich korrekt und zuverlässig bin, nicht um ihn in Gedanken auszuziehen, ermahnte sie sich. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und nahm sich zusammen.

„Sie haben ziemlich häufig die Arbeitsstelle gewechselt“, fasste Jay Masters ihren Lebenslauf zusammen. „In den vergangen sieben Jahren hatten Sie sieben verschiedene Jobs: als Kellnerin, als Angestellte in einer Bibliothek, in einem Blumenladen, in einem Kinderhort, bei den ‚Heinzelmännchen‘, was auch immer das sein mag, in einem Hospiz und als Bademeisterin am Strand. Aber nirgends waren Sie länger als acht Monate.“

„Ja, das ist richtig.“

„Sie haben keine Ausbildung als Erzieherin. Und ich brauche jemanden, der sich für länger als ein paar Monate verpflichtet.“ Er klappte die Mappe zu, als wäre das Gespräch für ihn beendet.

Deanna spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Sie stand auf und ging auf ihn zu. Dabei kam sie ihm nah genug, um die Hitze zu spüren, die er ausstrahlte. Entschlossen sah sie ihn an. Sie durfte nicht zulassen, dass das Gespräch so aufhörte.

„Ich kann diese häufigen Wechsel erklären. Ich bin noch Studentin. In den letzten Jahren habe ich immer so lange gearbeitet, bis ich das Geld für das nächste Semester zusammenhatte. Dann habe ich meine Stelle gekündigt und weiterstudiert. Und am Ende des Semesters habe ich mir wieder eine neue Arbeit gesucht.“

„Das löst aber nicht mein Problem. Ich brauche jemanden, der länger bleibt.“

„Genau deshalb bewerbe ich mich ja um Stelle! So könnte ich Arbeit und Studium miteinander vereinbaren. Vorausgesetzt, Sie sind einverstanden, dass ich Ihre Töchter ab und zu für ein paar Stunden im Kinderhort der Universität lasse. Das ist eine Einrichtung für Studentinnen mit Kindern. Es wäre wirklich nur für wenige Stunden pro Tag an vier Tagen in der Woche. Und für Ihre Mädchen wäre es bestimmt gut, unter kompetenter Aufsicht mit anderen Kindern zu spielen.“

„Wo studieren Sie denn?“

„An der Old Dominion University, hier in Norfolk. Wenn ich für Sie arbeiten würde, bräuchte ich bestimmt nicht zu kündigen, um mein Studium fortzusetzen. Ich versichere Ihnen, dass der Kinderhort der Universität erstklassig ist.“

Deanna hatte sich alles ganz genau überlegt. Es würde so viel für sie bedeuten, nicht wieder ein Semester aussetzen zu müssen, um Geld zu verdienen. Wenn er nur einverstanden wäre! Sie war die Richtige für seine Kinder und der Job genau das Richtige für sie.

Jay Masters maß sie mit einem abschätzenden Blick, der nichts darüber verriet, was in ihm vorging. „Was studieren Sie denn?“

„Grafikdesign. Ich hätte gern bildende Kunst studiert, allerdings ist es schwer, davon zu leben, wenn man nicht gerade ein Genie ist. Ich bin zwar gut, aber nicht genial. Als Grafikerin habe ich die Möglichkeit, mit Farben, Formen und verschiedenen Materialien zu arbeiten, und es macht mir fast genauso viel Spaß wie die Malerei. Und die Berufsaussichten sind ziemlich gut, sobald ich meinen Abschluss habe. Ich male und zeichne in meiner Freizeit. So kann ich das Künstlerische mit dem Praktischen verbinden.“

Deanna lächelte ihn strahlend an. Das Gespräch lief bei Weitem nicht so glatt, wie sie es sich erhofft hatte. Als Jay Masters nichts sagte, sprach sie einfach weiter. Sie konnte sich diese Chance nicht einfach entgehen lassen. „In meinen verschiedenen Jobs habe ich sehr viel Erfahrung mit Kindern gesammelt. Im Restaurant habe ich gelernt, was Kinder in der Öffentlichkeit dürfen und was nicht. Ich weiß, was sie gern essen und wie man sie beschäftigt, wenn sie sich langweilen. Am Strand hatte ich sehr viel Gelegenheit, Kinder zu beobachten. Ich kenne mich mit Sicherheitsvorschriften aus und wie man sie durchsetzt. Und ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert.“

Sie lächelte erneut, in der Hoffnung, dass er als Sicherheitsexperte diese Fähigkeiten zu schätzen wusste. „Das Wichtigste war natürlich der Kinderhort. Die Kinder waren zwischen zwei und sechs Jahren alt. Ich habe dort sehr viel gelernt, was Ihren Töchtern zugutekommen würde.“

Jay Masters nickte leicht, sagte jedoch nichts und ließ sie weiterreden.

Deanna atmete tief durch und fuhr fort: „In der Bibliothek habe ich Lesungen für Kinder abgehalten. Daher weiß ich, welche Bücher Kinder mögen, besonders die kleineren. Ihre Töchter sind fünf und drei Jahre alt, stimmt’s?“

Er nickte wieder, schwieg aber immer noch.

Deanna war es nicht gewohnt, so wenig Reaktion von jemandem zu bekommen. Sie fragte sich, ob er sie vielleicht einfach reden ließ und schon längst beschlossen hatte, ihr nachher mitzuteilen, dass sie für den Job nicht infrage kam.

„Bei den ‚Heinzelmännchen‘, das ist übrigens eine Agentur für Haushaltshilfen, habe ich alle möglichen Tricks gelernt, wie man Ordnung hält, auch in Kinderzimmern. Die kann ich Ihren Töchtern gern beibringen“, beendete sie ihre Ausführungen.

„Ich möchte auf keinen Fall ein Kindermädchen einstellen, das in ein paar Monaten kündigt, weil es etwas Besseres hat“, erklärte er schließlich. „Die Mutter meiner Kinder ist tot. Meine Töchter mussten schon sehr viel Trauer und Trennungsschmerz verwinden. Seitdem hat sich meine Schwester um die Mädchen gekümmert. Aber sie zieht jetzt weg, und das bedeutet schon wieder eine Trennung. Ich will nicht, dass so etwas bald zum dritten Mal passiert.“

Er stand auf und nahm die Mappe in die Hand. „Außerdem habe ich an eine etwas ältere Frau gedacht, eine zuverlässige Person, die in stabilen Verhältnissen lebt. Die nicht einfach verschwindet, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Oder die sich Hals über Kopf verliebt und plötzlich heiratet, weil sie ihren Traummann getroffen hat.“

„Auch eine ältere Frau kann sich Hals über Kopf verlieben“, entgegnete Deanna. „Und ich habe auf keinen Fall vor zu heiraten, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich möchte mein Studium abschließen, Arbeit als Grafikerin finden und mir in meinem Beruf einen Namen machen. Das war seit der Schulzeit mein Ziel.“

Jay Masters schien ein wenig erstaunt. „Und da bewerben Sie sich um eine Stelle, die mit Ihrem zukünftigen Beruf überhaupt nichts zu tun hat? Warum machen Sie nicht ein Praktikum in einer Werbeagentur? Ich lege Wert darauf, dass die Mahlzeiten pünktlich auf den Tisch kommen und das Haus ordentlich aussieht. Mit den groben Arbeiten habe ich eine Putzfirma betraut. Aber ich erwarte von einem Kindermädchen, dass es meinen Kindern seine volle Aufmerksamkeit schenkt.“

„Das würde ich auch tun.“

„Mit den Kindern zu spielen und auf sie aufzupassen ist nur ein Teil der Arbeit. Sie müssten sie auch zum Arzt oder Zahnarzt fahren und mit ihnen einkaufen gehen, wenn sie etwas zum Anziehen brauchen.“

„Wenn ich Arbeit und Studium miteinander verbinden kann, schaffe ich meinen Abschluss in drei Semestern. Danach würde ich noch sechs Monate bleiben. Bis dahin geht Ihre große Tochter in die Schule, und die kleine könnte eine Vorschule besuchen. Dort würden sie auch nachmittags betreut werden.“

„Das genügt mir nicht.“

„Warum nicht?“ Deanna fand ihr Angebot, nach ihrem Universitätsabschluss noch ein halbes Jahr zu bleiben, sehr großzügig. Es bedeutete, dass sie ihre Zukunftspläne sechs Monate aufzuschieben. Doch die Chance, in drei Semestern fertig zu sein, war es wert. Warum sah Jay Masters nicht ein, dass sie ihm die ideale Lösung anbot? Sie brauchte diesen Job. Sonst dauerte es Jahre, bis sie ihr Diplom hatte. Ich bin schon fünfundzwanzig, dachte sie. Selbst wenn sie es schaffte, Studium und Job miteinander zu vereinbaren, war sie siebenundzwanzig, bis sie fertig wurde.

„Meine Arbeit bringt es mit sich, dass ich manchmal innerhalb einer Stunde wegmuss und tagelang unterwegs bin. Deshalb brauche ich jemanden, auf den ich mich vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche hundertprozentig verlassen kann. Ich muss wissen, dass meine Kinder gut aufgehoben sind bei jemandem, den sie kennen und dem sie vertrauen und dem ich auch vertraue.“

„Ich bin absolut zuverlässig! Und ich bin bereit, über die Arbeitsbedingungen zu verhandeln.“ Deanna wollte nicht zu verzweifelt wirken, aber sie war verzweifelt. Sie hatte keine Wohnung, keinen Job, und bald begannen die Klausuren. Vorher musste sie unbedingt eine Bleibe gefunden haben. Warum war dieser Mann nur so schwer zu überzeugen?

„Anscheinend hatten Sie nie Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Immerhin hatten Sie sieben Jobs in sieben Jahren“, sagte Jay Masters.

„Ich musste bisher nichts für meine Wohnung bezahlen. Damit ist es jetzt allerdings vorbei, was bedeutet, dass ich in Zukunft viel länger arbeiten muss, um das Geld für ein Semester zusammenzubekommen. Es ist völlig unmöglich, mein Studium mit einem Job zu vereinbaren, in dem ich feste Arbeitszeiten habe. Aber als Kindermädchen würde ich es schaffen. Ich könnte nachts lernen und an meinen Projekten arbeiten, wenn die Kinder schlafen.“

„Was ist mit Ihrer Wohnung passiert?“

Deanna zögerte. Eigentlich ging es ihn nichts an. Außerdem wollte sie jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen. Sie regte sich dabei jedes Mal zu sehr auf.

„Die Umstände haben sich geändert. Ein Punkt, der mich an Ihrem Stellenangebot gereizt hat, ist, dass Sie Unterkunft und Verpflegung bieten. Ich bin sicher, dass ich mich mit Ihren Kindern wunderbar verstehen werden. Rufen Sie die Bibliothekarin an, sie wird Ihnen gern erzählen, wie beliebt meine Vorlesenachmittage waren. Die Besucherzahlen sind in dieser Zeit sprunghaft angestiegen. Oder rufen Sie im Kinderhort an. Sie werden Ihnen sagen, wie vertrauenswürdig ich bin. Rufen Sie ruhig jeden auf dieser Liste an. Alle werden Ihnen bestätigen, dass ich gewissenhaft und zuverlässig bin. Ich kann hart arbeiten und bringe eine meiner Bezahlung entsprechende Leistung.“

Jay Masters musste angesichts ihrer flammenden Rede beinah lächeln. Deanna Stephens wollte den Job offenbar um jeden Preis haben. Er sah noch einmal in ihre Bewerbungsmappe und wusste, dass er eigentlich Nein sagen sollte. Das Vernünftigste wäre, weiterzusuchen, überlegte er. Abgesehen von ihrer Begeisterung und ihrem bewegten Lebenslauf, der sie ihrer Meinung nach befähigte, auf Courtney und Amy aufzupassen, entsprach Deanna Stephens einfach nicht dem Bild, das er sich von seinem zukünftigen Kindermädchen gemacht hatte. Er suchte eine Frau, die älter und gesetzter, die weniger hübsch, weniger lebhaft und weniger temperamentvoll war. Es überraschte ihn, in welche Richtung seine Gedanken gingen. Jay vermied es, Deanna anzusehen, und hielt den Blick fest auf die Mappe gerichtet.

Er war es gewohnt, sich schnell eine Meinung zu bilden und aus dem Bauch heraus eine Entscheidung zu treffen. Was ihn jetzt bewegte, hatte nichts mit der Suche nach einem Kindermädchen zu tun. Er musste sachlich bleiben. Vielleicht war eine junge Frau sogar besser für die Mädchen. Sie konnte besser mit ihnen mithalten. Die beiden waren nicht besonders wild, aber erst drei und fünf Jahre alt und hatten sehr viel Energie. Und er musste sich eingestehen, dass bisher keine Bewerberin seinen Ansprüchen genügt hatte. Es waren nur sieben gewesen, mit Deanna Stephens acht. Die Zeit wurde knapp. Seine Schwester Rachael zog nächste Woche weg, und bis dahin musste er jemanden gefunden haben.

Jay sah Deanna direkt an. Offen und selbstbewusst erwiderte sie seinen Blick. Ihre blauen Augen verrieten Aufrichtigkeit. Er musste an Beth denken. Ihre Augen waren braun gewesen, ganz anders. Deanna Stephens war beinah in jeder Hinsicht das Gegenteil seiner verstorbenen Frau. Beth war zierlich, sanft und auf ihre zarte, mädchenhafte Art sehr sexy gewesen. Sie hatte nie eine eigene Karriere angestrebt, sondern war darin aufgegangen, zu Hause zu bleiben und für ihn und Courtney zu sorgen. Ihr dunkelbraunes Haar und die braunen Augen hatte sie ihren beiden Töchtern vererbt. Wenigstens das war ihm von ihr geblieben. Er vermisste sie immer noch, auch nach drei Jahren tat es noch weh.

Er musste jetzt eine Entscheidung treffen. Wenn er kein Kindermädchen fand, bevor Rachael ging, war er in ernsthaften Schwierigkeiten.

„Amy kommt in drei Jahren in die erste Klasse. Ich brauche jemanden, der sich für diese Zeit verpflichtet.“

„Drei Jahre?“, wiederholte Deanna und wirkte auf einmal ein wenig abwesend, als würde sie in die ferne Zukunft sehen. Wenn sie ablehnte, musste er eben weitersuchen. Dann blickte sie ihn noch entschlossener als vorher an.

„Einverstanden. Drei Jahre. Unter der Bedingung, dass ich nebenbei studieren kann. Und ich habe einige sperrige Malutensilien, die ich mitbringen müsste. Ist dafür genug Platz?“

Jay nickte. „Meine Schwester zieht am nächsten Samstag um. Ihr Mann ist bei der Marine, und er ist seit Kurzem in San Diego stationiert. Das heißt, es wäre gut, wenn Sie schon vorher einziehen könnten. Ist das ein Problem?“

„Nein, im Gegenteil“, antwortete Deanna begeistert.

„Wenn ich zu Hause bin, können Sie sich die Wochenenden freinehmen. Bin ich dagegen weg, muss ich mich darauf verlassen können, dass Sie rund um die Uhr für die Kinder da sind.“

„Selbstverständlich, Mr. Masters.“

Er hatte immer noch kein gutes Gefühl bei der Sache. Warum eigentlich nicht? dachte er. Weil sie zu jung ist? Weil ich bezweifle, dass sie den Kindern wirklich ihre volle Aufmerksamkeit schenken wird? Ihre Art passte ihm nicht. Sie war zu locker, zu spontan.

Jay fragte sich, wie ernst ihre Aussage gemeint war, dass sie ganz bestimmt nicht vorhatte zu heiraten. Eine attraktive Frau wie sie musste doch zahlreiche Verehrer haben. Wahrscheinlich hat sie den Richtigen noch nicht getroffen, überlegte er. Ob sie oft mit Männern ausgeht?

Jay versuchte, die Gedanken zu verdrängen. Er würde Deanna als Kindermädchen für seine Töchter engagieren. Was sie in ihrer Freizeit tat, war ihre Privatsache.

„Wann könnten Sie denn einziehen?“, erkundigte er sich.

„Meine Sachen sind bereits in Kartons verpackt. Ich brauche sie nur ins Auto zu laden und zu Ihrem Haus zu bringen. Heute, morgen – wann immer Sie wollen.“

„Ich würde gern noch Ihre Referenzen überprüfen. Wenn alles in Ordnung ist, rufe ich Sie heute Abend an und gebe Ihnen die Wegbeschreibung. Können Sie denn morgen Nachmittag anfangen?“ Er fragte sich, warum ihre Sachen in Kartons verpackt waren. Heute Nachmittag werde ich ein bisschen herumtelefonieren, nahm er sich vor. Wenn sich herausstellte, dass sie leichtfertig war, würde er sie gar nicht erst in die Nähe seiner Töchter lassen.

„Natürlich kann ich morgen anfangen! Vielen, vielen Dank! Ich werde sehr gut auf Ihre Töchter aufpassen. Ich bin es gewohnt, mich um andere zu kümmern. Bis vor ein paar Wochen habe ich bei meinen Großtanten gewohnt. Ich kümmere mich seit Jahren um sie. Jetzt sind sie in ein Seniorenheim in Ocean View gezogen. Es ist ein schönes Heim, direkt am Strand. Sie haben das Meer immer so geliebt. Aber es gibt dort eine idiotische Hausordnung …“ Deanna verstummte unvermittelt.

Jay wartete neugierig auf weitere Erklärungen, und es überraschte ihn selbst, dass er so daran interessiert war, etwas Persönliches über sie zu erfahren.

Doch sie erzählte nicht weiter, sondern reichte ihm die Hand. „Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören, Mr. Masters.“

Er erwiderte ihren Händedruck, und durch die Berührung wurde ihm plötzlich bewusst, wie attraktiv er sie fand. Sie war groß, schlank und hatte weibliche Rundungen an den richtigen Stellen. Ihre Brüste unter der eng anliegenden Samtweste waren wohlgeformt, der dezente V-Ausschnitt ließ ihren Ansatz nur erahnen. Und ihr Duft war frisch und blumig und erinnerte an eine Sommerwiese.

„Wie soll ich Sie ansprechen? Mit ‚Mr. Masters‘?“, fragte Deanna.

„Nennen Sie mich Jay, und ich sage Deanna zu Ihnen. Die Mädchen sollen das auch tun.“

„Oder einfach Dee. So nennen mich meine Freunde.“

Jay sah sie an. Er hatte nicht vor, sich mit ihr anzufreunden. Es handelte sich um ein reines Arbeitsverhältnis. „Ich habe ja Ihre Telefonnummer und rufe Sie dann heute Abend an.“

„Ich freue mich sehr darauf, Ihre Kinder kennenzulernen.“ Mit einem strahlenden Lächeln verabschiedete sich Deanna und verließ den Raum.

Jay sah ihr nach und bewunderte ihren leichten, wiegenden Gang. Er lehnte sich an den Tisch und hörte, wie sich ihre Schritte entfernten. Deanna Stephens entsprach nicht im Mindesten seiner Vorstellung von einem Kindermädchen für seine Töchter. Allerdings hatte sich auch keine Frau beworben, die seinem Bild von einer grauhaarigen, mütterlichen Witwe gerecht wurde, die leidenschaftlich gern Kuchen backte und Kinder über alles liebte. Wahrscheinlich gab es so etwas gar nicht. Deanna war im Moment die beste Wahl. Er hoffte nur, dass er keinen Fehler machte, wenn er sie einstellte.

Der Eindruck ihres verführerischen Gangs haftete noch in seinem Gedächtnis. Wie sieht ihr Haar wohl aus, wenn sie es offen trägt? fragte Jay sich unwillkürlich. Bestimmt ist es sehr lockig und reicht ihr bis über die Schultern. Er stellte sich vor, wie ihr Haar auf einem Kopfkissen aussah, wenn es ihr Gesicht umrahmte. Er verdrängte diese unpassenden Gedanken. Es war Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen.

Auf dem Weg zurück in sein Büro sah er Deanna vor dem Aufzug stehen. Unwillkürlich ging er langsamer. Wahrscheinlich trägt sie sonst eher Hosen als Röcke, dachte er. Die Art, wie sie sich bewegte, passte eher zu engen Jeans oder Shorts. Darin kamen ihre langen Beine bestimmt perfekt zur Geltung. Jay tat sein Bestes, um sie zu ignorieren, als sie den Aufzug betrat. Beth war jetzt seit drei Jahren tot, und seitdem hatte er keine andere Frau auch nur angesehen. Und jetzt werde ich ganz sicher nicht anfangen, mich für das Kindermädchen meiner Töchter zu interessieren, rief er sich zur Ordnung, egal, wie hübsch und sexy Deanna Stephens sein mag.

Am nächsten Tag nahm Jay sich den Nachmittag frei. Er bat seine Sekretärin, seine Termine zu verlegen, sodass er zu Hause bei seinen Töchtern sein konnte, wenn Deanna eintraf.

Am Vorabend hatte er Deanna wie vereinbart angerufen. Ihre Referenzen waren ausgezeichnet gewesen. Er hatte mit ihr ausgemacht, dass sie gegen eins zu ihm kommen sollte, direkt nach dem Mittagessen. So konnte sie ihre Sachen einräumen und sich ein bisschen einleben. Danach würde sie Gelegenheit haben, etwas Zeit mit den Mädchen zu verbringen, während seine Schwester das Abendessen machte. Wenn alles gut lief, konnte Rachael vielleicht schon früher gehen als geplant und sich um ihren Umzug kümmern.

Er stand am Fenster seines Hauses und sah hinaus in den gepflegten Garten. Der Rasen war gleichmäßig kurz gemäht, die Büsche unter dem Fenster waren sauber zurechtgestutzt, und die symmetrisch angelegten, sorgfältig gejäteten Blumenbeete standen in voller Blüte. Die leuchtend bunten Farben bildeten einen reizvollen Kontrast zu dem dunklen Grün des Rasens.

Jay hatte das Haus nach Beths Tod gekauft. Es war unmöglich gewesen, in ihrem gemeinsamen Haus wohnen zu bleiben. Aber er hatte seinen Entschluss umzuziehen schon manchmal bereut. Das alte Haus hatte sie gekannt, dieses hatte sie nie gesehen. Das schien alles noch endgültiger zu machen.

In diesem Moment bog ein staubbedeckter, alter Kombi in seine Auffahrt ein. Bestimmt will der Fahrer dort nur wenden, überlegte Jay. Doch dann blieb der Wagen stehen, und die Fahrertür wurde von innen geöffnet. Zwei Sekunden später stieg Deanna Stephens aus. Er hatte Recht gehabt: In den Stretchjeans wirkten ihre Beine noch länger und sehr sexy. Darüber trug sie eine lange, ärmellose Bluse, die ein wenig hochrutschte und einen Blick auf ihren wohlgeformten Po gewährte, als sie sich vorbeugte, um etwas aus dem Auto nehmen.

Er war immer stolz auf sein Urteilsvermögen gewesen und auf seine Fähigkeit, Probleme sofort zu analysieren und schnell zu lösen. Jetzt hatte sein neues Kindermädchen noch nicht einmal sein Haus betreten, da war ihm bereits klar, dass es ein großer Fehler gewesen war, sie einzustellen. Und die Gründe dafür waren rein persönlich. Deanna Stephens machte ihm bewusst, dass er ein heißblütiger Mann war und sie eine sehr attraktive Frau.

Nun war es zu spät, sie war hier und bereit, mit der Arbeit anzufangen. Jay brauchte Deanna nur anzusehen, um zu wissen, dass er weiter nach einem geeigneten Kindermädchen suchen musste. Sie würde ihn ständig daran erinnern, wie einsam er war und wie sehr er sich nach einer Frau sehnte. Das waren Gedanken, die er lieber verdrängte.

Er rief seine Kinder aus dem oberen Stockwerk herunter ins Wohnzimmer und ging zur Haustür, um Deanna zu öffnen. Die vernünftigste Lösung war, dafür zu sorgen, dass Deanna hier zurechtkam, und ihr dann aus dem Weg zu gehen.

„Ihre Wegbeschreibung war super“, rief sie ihm fröhlich zu, als er aus dem Haus trat. Sie hatte bereits einen Karton ausgeladen und balancierte ihn auf einer Hand an dem staubigen Auto entlang. Dieses erschien ihm ziemlich alt und klapprig. Er ging ihr entgegen und nahm ihr den Karton ab. Dabei stellte er überrascht fest, wie schwer dieser war.

„Danke! Ich wollte gern schon etwas mit hineinnehmen. Wir können später ausladen. Ich dachte nur, es wäre Blödsinn, den ganzen Weg mit leeren Händen zu machen. Wo ich doch jetzt hier einziehe!“ Deanna zog einen zweiten Karton aus dem Auto. „Ich freue mich, dass meine früheren Arbeitgeber gut über mich gesprochen haben, sonst wäre ich wohl nicht hier, nehme ich an. Mrs. McFanney aus dem Blumenladen sagte mir, Sie hätten sehr streng geklungen. Ich habe ihr erklärt, dass ich hier bin, um mich um Ihre Töchter zu kümmern, nicht um Sie.“

Sie lachte, und Jay spürte, wie sein Atem ein wenig schneller ging. Deanna redete ohne Unterbrechung, während sie ihm ins Haus folgte. Ihre Bemerkungen über die hübschen Häuser und die alten Bäume in der Umgebung ließen ihn seine Wohngegend mit neuem Interesse betrachten. Sie freute sich an den Blumen im Garten, betonte immer wieder, wie glücklich sie darüber wäre, hier einzuziehen, und er fragte sich schon, ob sie ihren Redefluss einmal unterbrechen würde, um Luft zu holen.

Gerade in diesem Moment hörte sie auf zu reden, betrat das Haus und blickte sich aufmerksam um. Jay überlegte, wie lange die Gesprächspause wohl dauern mochte. Er war es nicht gewohnt, lebhafte Menschen um sich zu haben.

Das Haus war in seinen Augen nichts Besonderes, jedenfalls war es nicht außergewöhnlich genug, um jemandem die Sprache zu verschlagen. Es hatte zwei Stockwerke und fünf Schlafzimmer, vier oben und eins hinter dem Wohnzimmer. Auf die zusätzlichen Schlafzimmer hatte er damals beim Kauf besonderen Wert gelegt. Er hatte gewusst, dass er eines Tages Platz für eine Hausangestellte brauchen würde.

„Ein schönes Haus. Hell und großzügig“, befand Deanna. Sie stellte ihren Karton ab und ging ins Wohnzimmer.

Jay bewunderte ihre anmutigen Bewegungen und fragte sich, ob sie wohl gut tanzte. Er stellte ebenfalls seinen Karton ab und folgte ihr.

„Hallo, ich bin Deanna“, stellte sie sich den beiden kleinen Mädchen vor, die nebeneinander auf dem Sofa saßen. Sie setzte sich vor ihnen auf den Boden und zog zwei Kinderbücher aus ihrer großen Umhängetasche. „Ich habe euch ein kleines Geschenk mitgebracht. Wir müssen doch unseren ersten Tag miteinander feiern.“

Lächelnd reichte sie das erste Buch seiner jüngsten Tochter. Diese hatte Zöpfe, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen.

„Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten, Orca, der kleine Wal. Kennst du das schon?“ Das kleine Mädchen sah erst das Buch an, dann ihn.

Jay nickte zustimmend. Er war ein wenig gerührt, dass Deanna daran gedacht hatte, den Kindern etwas mitzubringen.

„Und das ist für dich. Die Hundeparty. Vielleicht können wir ja auch einmal eine Hundeparty feiern.“ Deanna hielt dem älteren Mädchen das Buch hin. Das glänzende dunkle Haar fiel der Kleinen ins Gesicht, als sie verlegen den Kopf senkte.

Jay warf Courtney einen aufmunternden Blick zu. Daraufhin nahm sie das Buch und lächelte Deanna scheu an.

„Danke. Wir haben aber gar keinen Hund.“

„Da müssen wir uns eben etwas einfallen lassen“, sagte Deanna und erwiderte das Lächeln des Mädchens.

Amy presste die ganze Zeit über ihr Buch an sich und schwieg.

„Amy, bedank dich“, forderte Jay sie auf.

„Danke“, sagte sie schüchtern.

Amy erinnerte ihn am meisten an Beth. Er wünschte, Beth hätte sehen können, wie bezaubernd ihre Tochter war. Doch sie war bei Amys Geburt gestorben.

„Deanna, das sind Courtney und Amy. Sagt Deanna Guten Tag, ihr beiden. Sie wird von jetzt an auf euch aufpassen.“ Jay setzte sich vor Amy auf den Boden. Wieder einmal wurde ihm klar, wie sehr er seine Töchter liebte.

„Bist du unsere neue Mommy?“, fragte Courtney.

2. KAPITEL

Es fiel Deanna schwer, weiter zu lächeln. Bei Courtneys Worten durchzuckte sie der Schmerz darüber, dass sie nie Mutter sein würde.

„Nein, Spatz, ich bin nicht eure neue Mommy“, sagte sie sanft. „Ich bin euer Kindermädchen. Ich passe auf euch auf, wenn euer Daddy nicht zu Hause ist. Wir werden bestimmt viel Spaß miteinander haben. Was spielt ihr denn am liebsten?“

Während sie mit den Kindern sprach, versuchte Deanna vergeblich, deren attraktiven Vater zu ignorieren. Jay trug heute keinen Anzug, sondern verwaschene, enge Jeans, unter der sich seine durchtrainierten Oberschenkel abzeichneten, dazu ein ärmelloses T-Shirt, das seine breiten Schultern und muskulösen Oberarme betonte. Deanna hatte große Lust, ihn zu berühren, um die starken Muskeln und die Wärme seiner Haut zu spüren. Der Gedanke verursachte ihr ein Prickeln. Sie nahm sich zusammen. Schließlich war sie wegen der Kinder hier und nicht, um Tagträumen über deren Vater nachzuhängen.

„Habe ich da Stimmen gehört?“, sagte jemand hinter ihr.

Sie drehte sich um. Eine große, sehr gut aussehende Frau war hereingekommen. Ihr Haar war so dunkel wie Jays. Sie sah ihm ein wenig ähnlich, nur ihre grauen Augen waren etwas heller als seine. Ihr Blick war offen und freundlich. „Sie müssen Deanna Stephens sein. Ich bin Rachael Robinson, Jays Schwester. Ich freue mich sehr, dass Sie hier sind. Die Zeit wurde allmählich knapp. Mein Mann hat schon angekündigt, dass wir am Samstag die Stadt verlassen, egal, ob Jay ein Kindermädchen gefunden hat oder nicht. Er fürchtete, dass ich am Ende doch hierbleiben würde, um mich um die Mädchen zu kümmern.“

Deanna stand auf und gab Rachael die Hand. „Seien Sie unbesorgt, ich werde gut auf die beiden aufpassen. Jay sagte, Sie ziehen nach San Diego?“

„Das stimmt, ans andere Ende des Landes. Waren Sie schon einmal an der Westküste?“

„Nein. Ich bin in Norfolk geboren und aufgewachsen und bin noch nie von hier fort gewesen.“

„Wir sind ursprünglich auch von hier. Jay hat Ihnen wahrscheinlich erzählt, dass ich mit einem aufstrebenden Marineoffizier verheiratet bin. Ich werde wohl in den nächsten Jahren noch viel von der Welt zu sehen bekommen. Ich habe mich mit den häufigen Umzügen abgefunden. Gut, dass Sie nicht erst eine andere Stelle kündigen mussten, sondern sofort anfangen können. Tagsüber hätte Jay die Kinder im Hort unterbringen können, aber er könnte jederzeit zu einem Kriseneinsatz gerufen werden, auch mitten in der Nacht.“

Jay stand ebenfalls auf und ging in Richtung des Rundbogens, der vom Wohnzimmer in die Diele führte. „Ich lade Ihre Sachen aus, Deanna. Inzwischen kann Rachael Ihnen Ihr Zimmer zeigen und den Tagesablauf mit Ihnen besprechen.“

„In Ordnung.“

Rachael zeigte Deanna erst das Haus und führte sie dann zu dem Gästezimmer, das hinter dem Wohnzimmer lag. Die beiden kleinen Mädchen kamen mit und hielten stolz ihre neuen Bücher fest.

„Hier ist es. Sie haben natürlich Ihr eigenes Bad, es ist gleich dort drüben“, erklärte Rachael. „Ihr Zimmer liegt ein wenig abseits von den anderen Schlafzimmern, damit Sie sich zurückziehen können. Jay hat eine Überwachungsanlage im Kinderzimmer installiert. Wenn er nicht zu Hause ist, können Sie das Babyfon mit nach unten nehmen, und Sie hören jedes Geräusch aus dem Kinderzimmer.“

Deanna stellte ihre Umhängetasche auf dem Bett ab und sah sich in dem Raum um, der in den nächsten drei Jahre ihr Zuhause sein würde. Durch die Fenster hatte man einen schönen Blick auf den großen Garten mit den alten Pappeln und Ulmen. Sie spendeten angenehmen Schatten, wenn die Sonne in den Sommermonaten auf Virginia herunterbrannte. Das Zimmer selbst wirkte ein wenig nüchtern. Es hing kein einziges Bild an den Wänden. Aber sie besaß genug Drucke und Gemälde, die sie aufhängen konnte. Die hellen Eichenmöbel gefielen ihr gut, besonders das französische Bett. Das Zimmer bot ausreichend Platz für ihre Leinwand, Pinsel und Farben. Es fiel genug Tageslicht herein, das sie zum Malen brauchte.

Wehmütig erinnerte Deanna sich an ihr altes Zimmer im Haus ihrer Tanten. Sie vermisste die breite Krone des knorrigen Walnussbaums, dessen Zweige bei Wind das Haus streiften, Tante Loves Blumen im Garten und das vertraute Knarren der alten Holzdielen unter ihren Füßen. Auf jeden Fall war das Zimmer hier viel schöner als das winzige Gästezimmer in Judys Wohnung.

„Kommt ruhig herein“, forderte sie die kleinen Mädchen auf, die an der Tür stehen geblieben waren. „Ihr könnt mir beim Auspacken helfen und mir verraten, welche Spiele ihr kennt. Vielleicht habt ihr ja auch Lust, mir eine Geschichte zu erzählen?“

Als es Zeit zum Abendessen war, wusste Deanna, dass die Arbeit hier etwas anders aussehen würde als erwartet. Die Kinder waren sehr ruhig, vielleicht sogar ein wenig zu wohlerzogen für ihren Geschmack. Rachael hatte ihr den strengen Tagesablauf in allen Einzelheiten erklärt. Es war alles genau geregelt – wann die Kinder morgens aufstanden, wann und wie lange sie spielten, wann sie ihren Mittagsschlaf hielten und ihr Bad nahmen. Auch die Essenszeiten waren genau festgelegt.

„Jay kann nicht immer zu Hause sein, um mit den Kindern zu Abend zu essen“, sagte Rachael. Sie hatte Deanna mit in die Küche genommen, wo sie gemeinsam das Essen zubereiteten. Die Kinder spielten in ihrem Zimmer. „Es ist ihm wichtig, dass die Kinder pünktlich um sechs essen. Jay isst unterwegs, wenn er länger arbeiten muss. Meistens schafft er es, zu Hause zu sein, bevor die Kinder schlafen. Es sei denn, er hat einen Einsatz.“ Sie machte eine kurze Pause. „Es ist Ihnen doch klar, dass er jederzeit fortgerufen werden kann? Wenn es irgendwo eine Geiselnahme gibt, lassen die zuständigen Behörden ihn einfliegen, damit er mit den Entführern verhandelt. Oder er muss weg, weil einer seiner Kunden bedroht wird und sein Haus schnellstmöglich mit der neuesten Sicherheitstechnik ausstatten möchte. Wir wissen nie vorher, wann er wieder wegmuss. Er ist eben einer der Besten auf seinem Gebiet.“

Deanna nickte und überlegte, wie sie den Tagesablauf der Mädchen taktvoll infrage stellen konnte. Er schien ihr für zwei kleine Kinder viel zu streng.

„Es ist ja alles sehr genau festgelegt“, begann sie vorsichtig. „Hat Jay Ihnen gesagt, dass ich noch studiere? Ich würde die Kinder gern im Universitätskinderhort lassen, während ich die Veranstaltungen besuche.“

„Nein, das hat er nicht erwähnt.“ Rachael war ein wenig skeptisch. „Nun ja, er weiß bestimmt, was er tut.“ Sie wich Deannas Blick aus und sah zum Küchenfenster hinaus. „Wenn Sie jeden Tag zur selben Zeit Veranstaltungen haben, geht es bestimmt in Ordnung. Jay glaubt, Kinder brauchen vor allem Routine und Stabilität. Darum legte er großen Wert auf Disziplin an Bord.“

„An Bord? Sind wir denn auf einem Schiff?“ Rachael lachte.

„Nein, bitte entschuldigen Sie. Wir haben den Ausdruck von unserem Vater übernommen. Er ist Admiral. Als wir Kinder waren, war bei uns zu Hause alles perfekt organisiert. Es gab den gleichen geregelten Tagesablauf wie hier. Es hat seine Vorteile, alles läuft glatt und harmonisch – wenn nicht gerade etwas Unvorhergesehenes passiert.“

„Wie ist denn die Mutter der Kinder ums Leben gekommen?“, fragte Deanna geradeheraus. Es war leichter, mit Rachael darüber zu sprechen, als mit ihrem Bruder.

Rachael warf schnell einen Blick durch die offene Küchentür, um sicherzugehen, dass Jay nicht in der Nähe war, und erwiderte leise: „Wir sprechen nicht darüber. Jay ist über ihren Verlust nie hinweggekommen. Sie erlitt bei Amys Geburt eine Embolie. Es ging sehr schnell.“

„Es ist schon drei Jahre her?“, erkundigte Deanna sich ungläubig. Durch ihre Arbeit in dem Hospiz hatte sie viel mit trauernden Menschen zu tun gehabt. Sie fand es sehr ungewöhnlich, dass eine Familie es nach drei Jahren immer noch vermied, über den Tod eines Angehörigen zu sprechen. Natürlich gab es keine allgemeingültige Regel, wie lange man brauchte, um einen Trauerfall zu verarbeiten. Jeder Mensch reagierte da anders. Trotzdem schienen ihr drei Jahre sehr lang.

„Sie konnte Amy nicht einmal mehr im Arm halten“, erzählte Rachael. „Es war ein Schock für uns alle. Beth war noch so jung.“

„Das tut mir sehr leid für Sie, Ihren Bruder und die Kinder. Es ist hart, ohne Mutter aufzuwachsen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Meine Mutter starb, als ich sieben Jahre alt war. Mir ist aufgefallen, dass hier im Haus nirgends ein Foto von Beth hängt, nicht einmal im Kinderzimmer.“

„Anfangs hat Jay es nicht ertragen, an sie erinnert zu werden. Er hat sie sehr geliebt. Später haben wir einfach nie daran gedacht, Fotos aufzustellen. Jay müsste irgendwo noch Bilder von ihr haben, wenn er sie nach ihrem Tod nicht weggeworfen hat. Er war damals am Boden zerstört. Beth und er waren ein Traumpaar. Er hat sie angebetet.“

Der Name Beth gefiel Deanna. Bestimmt ist sie eine sehr schöne Frau gewesen, überlegte sie. Einen Moment lang war sie beinah ein wenig eifersüchtig. Sie würde nie einen Ehemann haben, der sie anbetete. Deanna fragte sich, wie es wohl sein mochte, wenn man über alles geliebt wurde.

„Wenigstens hat er seine Töchter“, bemerkte sie. „Was essen die beiden denn am liebsten?“ Sie hätte gern mehr über Jay Masters und seine Frau erfahren, aber sie unterdrückte ihre Neugierde. Sie war für die beiden Kinder zuständig, die Eltern gingen sie nichts an.

Um Punkt sechs saßen alle am Abendbrottisch. Deanna dachte darüber nach, was Rachael ihr über die Erziehung der Kinder gesagt hatte. Amy und Courtney hatten ausgezeichnete Tischmanieren, anders als viele Kinder, die sie im Restaurant erlebt hatte. Sie benehmen sich beinah zu perfekt, dachte sie.

„Habt ihr eurem Daddy schon erzählt, dass wir die neuen Bücher gelesen haben?“, wandte Deanna sich an die Kinder, als das Gespräch zwischen den Erwachsenen gerade versiegt war. Jay blickte zuerst fragend zu ihr, dann zu den Mädchen.

„Dee hat uns die neuen Bücher vorgelesen, Daddy“, sagte Courtney.

„Schön. Haben sie euch gefallen?“

Courtney nickte. Als Amy ihre ältere Schwester zustimmen sah, nickte sie ebenfalls.

Deanna erwartete, dass Jay sich erkundigte, wovon die Geschichten handelten. Doch er aß einfach weiter und schwieg. Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu.

„Stimmt etwas nicht?“, meinte er.

Deanna schüttelte den Kopf und beschloss, lieber nichts zu sagen. Wenn er nicht wusste, wie man mit Kindern umging, war es bestimmt nicht ihre Aufgabe, es ihm beizubringen.

Wie kühl und steif die Familie Masters miteinander umging! Deanna hatte nicht viele Vergleichsmöglichkeiten, da ihre beiden Tanten ihre einzigen lebenden Verwandten waren. Allerdings hatten sie sich beim Essen immer lebhaft unterhalten und die Ereignisse des Tages besprochen. Deanna vermisste die beiden sehr.

Unvermittelt verspürte sie große Sehnsucht nach ihrem alten Leben. Schweigend beendete sie ihre Mahlzeit und freute sich darauf, sich bald in ihr Zimmer zurückziehen zu können. Sie würde noch viel Zeit haben, über Jay Masters und seine Kinder nachzudenken und darüber, welche Veränderungen sie in diesem Haus gern vornehmen würde.

Am nächsten Tag blieb Rachael zu Hause, um sich um ihren Umzug zu kümmern. Jay war in der Firma, und Deanna verbrachte den Tag allein mit den Mädchen. Zu ihrer Freude stellte sich beim Ballspielen im Garten heraus, dass die beiden nicht immer so still und brav waren, wie sie befürchtet hatte. Zum Mittagessen machte sie belegte Brote mit Erdnussbutter und frischer Banane. Die Mädchen waren begeistert und hatten ein neues Lieblingsgericht entdeckt. Nach dem Essen durften sie bei ihr auf dem Bett sitzen, während Deanna ihnen aus den neuen Büchern vorlas. Dabei nickten die Mädchen ein, und sie hatte Zeit, ein wenig Ordnung zu machen und in Ruhe ein Glas Eistee zu trinken.

Während sie das Abendessen zubereitete, spielten Courtney und Amy auf dem Küchenfußboden Mikado mit einigen ungekochten Spaghetti. Anders als Rachael gesagt hatte, hatten die Kinder durchaus Lieblingsgerichte. Courtney liebte Spaghetti Bolognese über alles, und Amy aß am liebsten Wiener Schnitzel. Da Deanna nicht wusste, ob Jay zum Essen nach Hause kommen würde, entschied sie sich für Spaghetti. Pasta ließ sich leicht strecken, wenn eine Person mehr mitaß.

Die Mädchen spielten zufrieden mit den ungekochten Nudeln. Deanna wollte die entstandene Unordnung sofort beseitigen, sobald das Essen fertig war. Sie musste nur noch die Soße abschmecken.

„Na, wie war der erste Tag?“, hörte sie plötzlich Jays Stimme.

Überrascht wirbelte sie herum. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn in der Küchentür stehen sah. Der Anzug, den er gewöhnlich im Büro trug, stand ihm ausgezeichnet und betonte seine breiten Schultern. Sie stellte sich vor, wie sie Jays perfekt sitzendes Jackett aufknöpfte und ihm auszog … Halt, ermahnte sie sich. Sie konnte später ihren heimlichen Fantasien nachhängen, wenn sie allein war. Jetzt musste sie ans Abendessen denken.

„Hallo, Jay.“ Gehörte diese fremd klingende Stimme wirklich ihr? Deanna räusperte sich. „Ich wusste nicht, ob Sie zum Essen hier sein würden. Es ist gleich fertig. Amy, Courtney, gebt eurem Daddy einen Kuss! Fragt ihn, was er heute erlebt hat, und erzählt ihm, was für tolle Sachen wir gemacht haben.“

Jay bedachte die Pfanne auf dem Herd mit einem kritischen Blick.

„Warum ist das Essen noch nicht fertig? Es ist fast sechs.“

Sie antwortete mit einer unbestimmten Handbewegung. „Es dauert nur noch zehn Minuten. Ich glaube nicht, dass jemand verhungert, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Wer deckt denn den Tisch? Sie oder die Kinder?“

„Sie, dachte ich. Ist das nicht Frauenarbeit?“

Zuerst glaubte Deanna, nicht richtig gehört zu haben. Dann wurde sie wütend. Sie vergaß den guten Rat ihrer Tanten, erst langsam bis zehn zu zählen, bevor sie ihrem Temperament freien Lauf ließ.

„Frauenarbeit?“ Sie blitzte ihn herausfordernd an.

Jay hielt ihrem Blick stand und nickte.

„Das kann ich nicht glauben!“ Deanna ließ mit einem Knall den Löffel auf die Anrichte fallen.

„Was denn?“

„Dass heutzutage noch jemand in solchen Kategorien denkt und es obendrein laut ausspricht. Frauenarbeit – das ist eine sexistische Bemerkung. Wenn das Ihre Überzeugung ist, kann ich nicht für Sie arbeiten.“

„Sie haben sich gerade für drei Jahre verpflichtet. Sie können ohne triftigen Grund gar nicht kündigen.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass ich es mit einem Neandertaler zu tun haben würde. Ihre Art zu denken, ist bereits seit dem Zweiten Weltkrieg aus der Mode. Da hielten die Frauen nämlich die Wirtschaft dieses Landes am Laufen, während die Männer an der Front kämpften. Wenn Sie glauben, ich arbeite für jemanden, der eine frauenverachtende Einstellung hat, haben Sie sich getäuscht. Das hätten Sie mir beim Vorstellungsgespräch sagen müssen.“

„Einen Moment mal, bitte.“ Jay machte einen Schritt auf sie zu, und unter seinen Schuhen knirschten ungekochte Spaghetti. Stirnrunzelnd ging er um seine spielenden Töchter herum und stellte sich vor Deanna. „Ich habe nichts dergleichen gemeint, ich wollte nur …“

„Das macht es ja noch schlimmer. Sie sagen solche Dinge, ohne darüber nachzudenken?“

Verwirrt schüttelte Jay den Kopf und strich sich übers Gesicht. „Noch einmal ganz von vorn. Ich habe einfach angenommen, Sie würden den Tisch decken. Aber wenn es gegen Ihre Prinzipien verstößt, mache ich es selbst.“

„Wer hat den Tisch denn sonst immer gedeckt?“, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

Er warf einen kurzen Blick auf die spielenden Mädchen, um sich zu überzeugen, dass die Spaghetti sie mehr interessierten als der Streit der Erwachsenen.

„Sonst war der Tisch schon gedeckt, wenn ich nach Hause kam. Ich nehme an, Rachael es getan.“ Ruhig sah er Deanna in die Augen. „Als die Mutter meiner Kinder noch lebte, hat sie sich darum gekümmert. Beth sagte immer, ein Mann hätte genug damit zu tun, das Geld zu verdienen. Sie war gern Hausfrau und hat sich nie etwas anderes gewünscht.“

Ihr Zorn verrauchte so schnell, wie er aufgeflammt war, als sie den trostlosen Unterton in Jays Stimme hörte. Sie begriff, dass die Frauen in seinem Leben ihn immer sehr verwöhnt hatten. Doch sie war nicht seine Dienstmagd, und es gehörte zu ihren Aufgaben als Kindermädchen, seinen Töchtern etwas beizubringen. Sie wollte den Mädchen vermitteln, dass Frauen nicht auf der Welt waren, um Männer zu bedienen. Es sei denn, sie entschieden sich aus freiem Willen dafür, wie Beth es anscheinend getan hatte.

„Und nun?“, erkundigte sich Deanna, da sie nicht recht wusste, was sie sagen sollte.

„Falls das Tischdecken Ihnen Probleme bereitet, übernehme ich es, wenn ich zu Hause bin. Aber es kommt überhaupt nicht infrage, dass Sie kündigen.“

Deanna spürte, dass es ihm damit Ernst war und beschloss, ihn nicht weiter zu provozieren. „Gut.“ Sie versuchte zu lächeln. „Manchmal geht mein Temperament mit mir durch. Ich sage dann Dinge, die ich nicht so meine. Das soll nicht heißen, dass Sie kein Neandertaler sind, denn das habe ich durchaus so gemeint. Allerdings scheinen in diesem Fall mildernde Umstände vorzuliegen.“

„Können Sie das bitte wiederholen, damit ich es verstehe?“

Deanna lachte nervös und schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“ Sie nahm den Löffel von der Arbeitsplatte und rührte die Soße noch einmal um. Dann prüfte sie, ob die Nudeln fertig waren, und warf einen Blick in den Backofen. Der köstliche Duft von frischem Knoblauchbrot erfüllte den Raum. Ihr glühten die Wangen, und sie hoffte, dass Jay es nicht merkte. „Es war nicht so wichtig. Es tut mir leid, dass ich so impulsiv war. Das Essen ist fertig.“

Am Ende trug jeder von ihnen seinen eigenen Teller nebst Besteck von der Küche ins Esszimmer. Deanna fragte sich, welche Grundsatzdiskussionen mit Jay Masters ihr noch bevorstanden. Auf keinen Fall durfte sie das nächste Mal wieder die Beherrschung verlieren, wenn sie sich über etwas ärgerte. Sie brauchte den Job. Jay zahlte ihr ein großzügiges Gehalt, und es war sein gutes Recht, die Regeln festzulegen. Sie wartete, bis die Kinder angefangen hatten zu essen, bevor sie sich an ihn wandte.

„Vielleicht sollten wir ein paar Dinge besprechen, wenn die Kinder im Bett sind“, schlug sie vor. „Rachael ist zwar den Tagesablauf mit mir durchgegangen, aber ich hätte noch Fragen und Vorschläge. Außerdem wäre es bestimmt sinnvoll, wenn ich ein wenig besser über Sie und die Familie Bescheid wüsste, damit ich nicht noch einmal ins Fettnäpfchen trete.“

„Einverstanden. Bringen Sie die Kinder ins Bett, dann können wir uns unterhalten.“

„Kommen Sie denn nicht mit nach oben, um ihnen Gute Nacht zu sagen? Oder ist das Ihrer Ansicht nach auch Frauenarbeit? Wann haben Sie eigentlich Zeit für Ihre Töchter, Mr. Masters?“

Deanna machte keinen Hehl daraus, was sie von ihm als Vater hielt. Jay wurde allmählich ärgerlich. Wie kam sie dazu, sich ein Urteil über ihn anzumaßen? Sie war erst seit gestern hier. Außerdem war sie seine Angestellte. Sie hatte sich nach ihm zu richten, nicht umgekehrt.

„Beth hat sich immer um diese Dinge gekümmert. Und die Kinder sollen sich nicht daran gewöhnen, dass ich sie abends ins Bett bringe. Ich bin oft weg und will nicht, dass sie mich dann vermissen.“

„Kinder sind anpassungsfähiger, als Sie denken.“

„So, wie es jetzt ist, hat es für uns immer gut funktioniert.“ Damit betrachtete er das Thema als abgeschlossen. Jeder seiner Angestellten in der Firma hätte an seinem Ton gehört, dass er nicht länger darüber reden wollte, und niemand hätte es gewagt, ihm noch einmal zu widersprechen.

„Vielleicht funktioniert es“, wandte Deanna ein. „Aber scheint nicht mit viel Freude verbunden zu sein.“

Jay erwiderte nichts, sondern betrachtete sie nur. Sie war das genaue Gegenteil seiner Frau. Beth war immer der Meinung gewesen, dass Kinder vor allem Sicherheit und Stabilität brauchten. Als Rachael ihre Aufgaben übernahm, hatte sie am Tagesablauf nichts geändert. Er war oft unterwegs, arbeitete abends lange und konnte fast nie vorher sagen, wann er nach Hause kommen würde.

Es war eine tragische Ironie des Schicksals, dass Beth vor ihm gestorben war. Er hatte einen gefährlichen Beruf, während sie immer ein behütetes Leben geführt hatte. Aber statt sie als Witwe zurückzulassen, hatte er lernen müssen, ohne sie zu leben. Jetzt war er mit den Kindern allein, nicht sie. Ihr gemeinsames, harmonisches Leben fehlte ihm. Wie er es vermisste, dass sie ihn abends freudig begrüßte! Und heute saß ihm am Abendbrottisch statt seiner liebevoll lächelnden Frau plötzlich eine zornig dreinblickende Fremde gegenüber.

„Wie bitte?“, schreckte Jay aus seinen Gedanken auf, als er merkte, dass Deanna ihn erwartungsvoll ansah.

„Courtney möchte wissen, ob Sie Spaghetti Bolognese mögen. Es ist nämlich ihr Lieblingsessen.“ Ihre Stimme klang ruhig und freundlich, doch ihre Augen funkelten.

„Tatsächlich?“ Er lächelte seiner Tochter zu. „Ich liebe Spaghetti, Schatz. Das war auch mein Lieblingsessen, als ich ein kleiner Junge war.“

„Ich hab Dee beim Kochen geholfen“, erklärte Courtney stolz.

„Das ist schön für Dee.“ Sein Blick begegnete Deannas. Die Kinder scheinen sie zu mögen, dachte Jay. Das ist immerhin etwas. Der erste Tag war schließlich nie einfach. Vielleicht spielten sich die Dinge ja mit der Zeit ein.

Nachdem sie den Kindern gute Nacht gesagt hatte, schlich Deanna aus dem Kinderzimmer und ging die Treppe hinunter. Jay war heraufgekommen, um seinen Töchtern einen Gutenachtkuss zu geben, und sie wollte ihn einige Minuten mit ihnen allein lassen. Die beiden waren frisch gebadet und sahen in ihren gleichen Nachthemden sehr süß aus. Der Anblick der zwei zierlichen Mädchen mit ihrem großen, athletischen Vater war rührend. Deanna hätte die drei gern gezeichnet. Sie nahm sich vor, Jay als ruhenden Krieger in einem Blumengarten zu malen, der von zwei schüchternen kleinen Mädchen bestaunt wurde. Sein durchtrainierter Körper würde einen reizvollen Kontrast zu den Blumen und den Kindern darstellen.

Deanna machte es sich im Wohnzimmer gemütlich. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte sie Zeit, sich zu entspannen. Sie dachte an ihre Tanten. Morgen wollte sie mit den Kindern hinfahren und sie besuchen. Die Mädchen würden Eugenia und Love bestimmt auf Anhieb mögen. Sie musste Jay fragen, ob sie ihre Tanten hierher einladen durfte. Tante Love vermisste ihre Küche. Sie backte leidenschaftlich gern, und niemand konnte ihren Keksen und Kuchen widerstehen. Die Mädchen würden Spaß daran haben, genau wie sie, Deanna, früher.

„Was haben Sie nur mit den Kindern angestellt? Sie waren schon eingeschlafen, bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Haben sie denn keinen Mittagsschlaf gehalten?“, wollte Jay wissen, als er herunter ins Wohnzimmer kam.

Sofort war sie hellwach. „Natürlich haben sie heute Mittag geschlafen. Aber der Tag war ziemlich anstrengend. Am Vormittag haben wir im Garten Versteck gespielt. Wir hatten sehr viel Spaß mit all den tollen Versteckmöglichkeiten im Gebüsch und unter den Gartenmöbeln.“

Jay setzte sich aufs Sofa, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. „Von dem bisschen Versteckspielen sind sie so müde?“

„Wir haben einen langen Spaziergang gemacht und die Gegend erkundet. Ich hatte gehofft, dass es in der Nähe einen Park oder einen Spielplatz gibt, den man zu Fuß erreichen kann. Aber wir haben nichts gefunden …“ Deanna verstummte, als sie merkte, dass er die Augen geschlossen hatte.

„Halte ich Sie vom Schlafengehen ab? Wir können auch morgen weiterreden.“

Er schlug ein Auge auf und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht müde. Keine Sorge, ich höre Ihnen zu. Ich kann mich mit geschlossenen Augen besser konzentrieren. Sie haben also keinen Spielplatz in der Nähe gefunden.“

„Nein. Nach dem Spaziergang haben wir zu mittaggegessen. Dann habe ich ihnen vorgelesen. Dabei sind sie eingeschlafen, sogar für ein paar Stunden. Nachmittags haben wir im Garten Ball gespielt, bis es Zeit fürs Abendessen war.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Ich kann Ihnen gern einen Kaffee machen. Kekse gibt es leider nicht. Ich muss morgen früh einkaufen gehen.“

Jay hob den Kopf und sah sie an. „Hat Rachael Ihnen gezeigt, wo das Haushaltsgeld ist? Im Supermarkt bezahlen wir immer bar, alles andere geht auf Rechnung. Ich kann Ihnen auch Schecks geben. Sie bekommen von mir eine Kontovollmacht, falls Sie einmal Geld brauchen, wenn ich nicht da bin.“

Unwillkürlich streifte sein Blick ihre langen Beine.

Verlegen rutschte sie im Sessel hin und her. Ich hätte eine lange Hose oder einen Rock anziehen sollen, dachte sie. Doch die Shorts war bei der Hitze im frühsommerlichen Virginia einfach am bequemsten. Die Temperatur im Haus war jetzt angenehm. Allerdings hatte Deanna den ganzen Tag über die Fenster offengelassen, damit kühle Luft hereinkam. Im Juli und August wurde es gewöhnlich so heiß, dass man es ohne Klimaanlage kaum aushielt.

Seine grauen Augen waren direkt auf sie gerichtet. „Wir können uns morgen Mittag in der Bank treffen. Was ist nun mit den Grundsatzfragen, die Sie mit mir besprechen wollten?“

„Es hat mit meiner persönlichen Einstellung zu tun“, begann Deanna vorsichtig. „Sie haben mich mit Ihrer Bemerkung über Frauenarbeit ziemlich aus der Fassung gebracht.“

„Ich habe gemerkt, dass ich da einen empfindlichen Punkt bei Ihnen getroffen habe.“

„Meine beiden Großtanten haben alles im Haus selbst gemacht“, versuchte sie ihm ihren Standpunkt zu erklären. „Bei uns war es immer selbstverständlich, dass jeder mit anpackte, egal, um was für eine Art Arbeit es sich handelte. Wenn Sie grundsätzlich anderer Ansicht sind, sollten wir das besprechen. Sollte ich nicht hierher passen, wäre es besser, wir finden es heraus, bevor die Mädchen sich zu sehr an mich gewöhnen.“

Jay nickte. „Sowohl die Mutter meiner Kinder als auch meine Mutter waren Hausfrauen.“ Seine Stimme klang sanfter, als er von Beth sprach. „Beth hat es genossen, Hausfrau und Mutter zu sein. Sie konnte ausgezeichnet kochen, und der Haushalt funktionierte reibungslos. Als Courtney geboren wurde, nähte Beth Vorhänge fürs Kinderzimmer und hübsche Kleidchen für Courtney. Die Aufgaben waren klar verteilt. Ich ging in die Firma, und sie war für das Haus und unser Kind da. Sie wollte es so. Aber es ist natürlich unfair, von Ihnen zu verlangen, dass Sie diese Auffassung teilen.“

Das war die längste Rede, die er bisher in ihrer Gegenwart gehalten hatte. Deanna spürte, dass aus jedem seiner Worte die Liebe zu seiner verstorbenen Frau sprach. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, so geliebt zu werden. Dann nahm sie sich zusammen, um nicht in Träumereien zu versinken.

„Die Rolle, die Ihre Frau für sich gewählt hat, ist nicht unbedingt für jede Frau richtig. Sie wollen doch bestimmt, dass Ihre Töchter später einmal frei entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten möchten.“

„Selbstverständlich. Aber den Tisch zu decken wird bei ihnen wohl keinen bleibenden Schaden hinterlassen, oder?“

„Das nicht. Ihren Vater sagen zu hören, das sei Frauenarbeit, schadet ihnen allerdings bestimmt. Solange ich hier bin, werde ich ihnen beibringen, wie man Ordnung hält und sauber macht. Das sind Dinge, die alle Kinder lernen sollten, egal, ob sie Jungen oder Mädchen sind.“

„Ich gebe Ihnen recht. Sie haben gewonnen. Ich verspreche, mich in Zukunft meiner Neandertaler-Kommentare zu enthalten. Vorausgesetzt, Sie verzichten darauf, meine Töchter zu Frauenrechtlerinnen zu erziehen.“

Deanna lächelte. Sie freute sich, dass Jay Masters Sinn für Humor hatte.

„Einverstanden. Wenn Courtney und Amy einmal größer sind, werden Sie mir noch dankbar sein, dass sie den Rasen mähen und eine kaputte Sicherung auswechseln können.“

„Das wollen Sie ihnen auch beibringen?“

„Keine Angst! Erst wenn sie älter sind.“

„Haben Sie das etwa von Ihren Tanten gelernt?“

„Ja. Wir haben alles im Haus eigenhändig repariert und sogar die Autos selbst gewartet, um Geld zu sparen“, erzählte Deanna lächelnd. Sie dachte gern daran zurück.

„Das sind die beiden Tanten, die jetzt in Ocean View leben, stimmt’s?“

Ihr Lächeln wurde ein wenig wehmütig. „Ja. Ich vermisse sie sehr.“

„Und warum sind Sie dann hier und Ihre Tanten dort?“

3. KAPITEL

„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Deanna ausweichend.

„Ich habe Zeit.“ Jay lehnte sich entspannt zurück. Er hörte ihr gern zu. Ihre klangvolle, sexy Stimme gefiel ihm.

„Eigentlich finde ich es wichtiger, über die Kinder zu sprechen, als Sie mit meiner Lebensgeschichte zu langweilen.“

Er ließ ihren Einwand nicht gelten. „Es ist erst Viertel vor neun. Sie sind zu jung, um eine lange Lebensgeschichte zu haben. Wir können danach über die Kinder sprechen.“

Deanna seufzte und gab nach. „Meine Eltern sind gestorben, als ich sieben war. Tante Eugenia und Tante Love haben mich bei sich aufgenommen.“

„Tante Love? Heißt sie wirklich so?“

„Ihr voller Name ist Pearl Lovitte Stephens, aber ihre Eltern nannten sie als Kind Love, und der Spitzname ist hängen geblieben. Möchten Sie auch Tante Eugenias vollständigen Taufnamen wissen?“

Ein wenig belustigt winkte er ab.

„Sie sind eigentlich die Tanten meines Vaters, also meine Großtanten. Sie waren schon Anfang sechzig, als ich zu ihnen zog.“

„Ist das nicht ein bisschen zu alt, um die Verantwortung für eine Siebenjährige zu übernehmen?“, fragte Jay.

„Meine Tanten hatten mehr Energie als manche Menschen, die halb so alt waren. Allerdings hätte es damals sowieso keine andere Möglichkeit gegeben. Erst viel später ist mir klar geworden, dass sie mich auch in eine Pflegefamilie hätten stecken können. Das hätten sie niemals getan, sie liebten mich vom ersten Tag an sehr. Bei mir hat es etwas gedauert, bis ich mich an sie gewöhnte. Ich habe lange um meine Eltern getrauert. Aber Tante Eugenia und Tante Love waren sehr zurückhaltend und verständnisvoll. Sie gaben mir Zeit. Jetzt liebe ich sie über alles.“

„Und trotzdem haben Sie sich mit ihnen zerstritten?“

„Nein, wie kommen Sie denn darauf?“, meinte sie verblüfft.

„Weil Sie nicht mehr bei ihnen wohnen.“

„Das hat andere Gründe. Das Haus, in dem meine Tanten achtundzwanzig Jahre lang lebten, gehörte einem älteren Herrn, Mr. Phelps. Es war ein gemütliches, altes Holzhaus. Manchmal regnete es herein, der Wind pfiff durch die Ritzen, und im Winter kostete es ein kleines Vermögen, es warm zu bekommen. Aber es war unser Zuhause, und die Miete war niedrig. Mr. Phelps hatte es meinen Tanten zu Anfang sehr günstig überlassen und die Miete nie erhöht.“

„Lassen Sie mich raten. Der gute Mr. Phelps hat vor kurzem das Zeitliche gesegnet, und seine Erben waren nicht ganz so großzügig. Richtig?“, erkundigte Jay sich trocken.

„Ja. Sein Sohn hat die Miete erhöht, und wir konnten einfach nicht so viel bezahlen. Es wäre außerdem unsinnig gewesen, so viel Geld für ein altes Haus auszugeben. Daher haben sich meine Tanten entschlossen, sich nach einer Seniorenanlage umzusehen. Sie fanden eine, die ihnen gefiel und die sie sich leisten konnten. Jetzt genießen sie es, so nah am Meer zu leben.“

„Und Sie Ärmste sind obdachlos geworden.“ Deanna sah ihn misstrauisch an, und beinah hätte er über ihren Gesichtsausdruck gelacht. Er fand, dass das Ganze ein wenig melodramatisch klang.

„Ich habe eine gute Freundin, bei der ich eine Weile wohnen konnte. Allerdings sind sie und ihr Mann jung verheiratet und möchten gern ungestört sein. Da erfuhr ich von der Stelle bei Ihnen. Das klang ideal, und jetzt bin ich hier.“

„Sie haben beim Vorstellungsgespräch gesagt, Sie wären es gewohnt, sich um andere zu kümmern. Heißt das, Sie haben in den letzten Jahren Ihre Tanten gepflegt?“

„Soweit es nötig war, ja. Ich habe die meiste Hausarbeit erledigt und gekocht. Aber im Backen ist Tante Love immer noch unschlagbar. Ihre Kuchen und Pasteten sind unvergleichlich, und ihre Kekse zergehen einem auf der Zunge. Eugenia hat nie gern gekocht. Außerdem leidet sie seit einigen Jahren an Arthritis und ist nicht mehr sehr beweglich. Geistig sind die beiden allerdings immer noch auf der Höhe, ihr Gedächtnis ist sogar besser als meins. Sie werden sie sicher mögen.“

„Ich?“

„Ich habe noch gar nicht gefragt, ob ich sie ab und zu hierher einladen darf. Meine Tanten sind schon neugierig darauf, zu sehen, wie ich jetzt lebe. Die Mädchen werden sie sofort ins Herz schließen, da bin ich sicher. Ein paar zusätzliche Großeltern schaden bestimmt nicht.“

„Meine Kinder haben ihre Großeltern in Hampton.“

„Ich weiß. Rachael hat erzählt, dass Ihre Eltern sich dort zur Ruhe gesetzt haben.“

„Und sie haben die Eltern ihrer Mutter, die in Georgia leben.“

„Irgendwelche Onkel und Tanten außer Rachael?“

„Zwei Onkel, zwei Tanten.“

„Bei so vielen Verwandten fallen zwei Großtanten mehr doch bestimmt nicht ins Gewicht.“

Jay gefiel der Gedanke nicht, dass seine Töchter eine Beziehung zu Deannas Familie aufbauen könnten. Umso härter würde es die Mädchen treffen, wenn Deanna ging. Er war sicher, dass sie nicht drei Jahre bleiben würde. Sie war zu jung und zu lebhaft. Obwohl sie deutlich gemacht hatte, dass sie niemals heiraten wollte, glaubte er nicht, dass sie es ernst meinte.

„Warum haben Sie gesagt, dass Sie niemals heiraten würden?“, erkundigte er sich unvermittelt. Vielleicht konnte sie ihm ja einen Grund nennen, der ihn überzeugte. Er vermutete, dass sie es nur gesagt hatte, um in dem Vorstellungsgespräch einen guten Eindruck zu machen.

Deanna schüttelte den Kopf. „Wir kennen uns nicht gut genug, um über ein derart persönliches Thema zu sprechen. Aber Sie können mir glauben, dass ich es ernst gemeint habe. Ich werde nicht heiraten.“

Abrupt stand sie auf. Sie lächelte höflich, doch ihr Blick war auf einmal hart und distanziert. Es war, als würde plötzlich eine Mauer zwischen ihnen stehen. Jay fragte sich, warum sie auf seine harmlose Frage so heftig reagierte.

„Ich räume die Küche auf und gehe dann schlafen. Geben Sie mir die Adresse der Bank, damit wir uns morgen Mittag dort treffen können“, sagte sie sachlich.

Er stand auch auf. Der Abstand zwischen ihnen war so gering, dass er nur die Hand auszustrecken bräuchte, um sie zu berühren. „Kann ich Ihnen vielleicht in der Küche helfen?“ Sein spontanes Angebot überraschte ihn selbst. Beth hatte er nie angeboten, beim Abwasch zu helfen.

„Nein, danke. Wo ist denn die Bank?“

Jay begriff, dass das Gespräch für sie beendet war. Dabei hatten sie noch nicht einmal angefangen, über die Kinder zu reden. Seine Frage, warum sie nicht heiraten wollte, schien Deanna völlig aus dem Konzept gebracht zu haben. Vielleicht hatte sie auch jemanden verloren, den sie liebte. Aber darüber hätte sie doch sprechen können, dachte er. Er hätte sie verstanden. Schließlich hatte er auch nicht vor, nach Beths Tod jemals wieder zu heiraten.

Ich werde nicht heiraten. Deanna musste an ihre Worte denken, als sie die Töpfe und Pfannen mit der Spülbürste bearbeitete. Seit Jahren vermied sie es, einem Mann so nahezukommen, dass sie ihm die Wahrheit sagen musste. Sie konnte keine Kinder bekommen. Sie war zufrieden mit ihrem Leben. Sie liebte ihre Arbeit. Es gab schließlich viele Möglichkeiten, ein erfülltes Leben zu haben. Sie würde in ihrem Beruf aufgehen und ihr Leben genießen, so gut sie konnte, so wie Tante Love. Es war sinnlos, sich nach etwas Unerreichbarem zu sehnen.

Die nächsten drei Jahre würde sie für Jays entzückende Töchter ihr Bestes geben, ohne sich jedoch gefühlsmäßig zu stark zu engagieren. Am Ende ihrer Zeit als Kindermädchen hatte sie dann ihr Diplom und konnte als Grafikerin arbeiten.

Deanna machte das Licht in der Küche aus und ging in ihr Zimmer. Die Kartons, die Jay gestern hereingetragen hatte, stapelten sich unausgepackt in der Ecke. Morgen kümmere ich mich darum, nahm sie sich vor. Als Erstes würde sie ihre Pastellkreiden, Kohlestifte, Tinte und Zeichenfeder suchen, damit sie zeichnen konnte. Sie konnte es kaum abwarten, mit der Skizze des ruhenden Kriegers zu beginnen.

Solange sie ans Zeichnen dachte, hatte sie ihre Gefühle im Griff. Aber sobald sie unter die Bettdecke geschlüpft war und die Nachttischlampe ausgeknipst hatte, verspürte sie mit einem Mal starke Sehnsucht nach einem Partner. Auch wenn sie versuchte, das Thema Liebe weit wegzuschieben, kam der Wunsch danach immer wieder hoch.

Sie wollte geliebt werden und jemanden lieben dürfen. Wie schön musste es sein, wenn man einem anderen Menschen alles bedeutete! Wenn es jemanden gab, der für einen sorgte, der einen bei der Verwirklichung seiner Träume unterstützte und einen tröstete, wenn die Dinge einmal nicht nach Wunsch liefen. Sie hatte Angst vor den einsamen Jahren, die vor ihr lagen. Denn irgendwann würden auch ihre Tanten nicht mehr da sein.

Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Stattdessen stellte Deanna sich vor, wie sie Jay als mittelalterlichen Helden zeichnen würde, mit den Trümmern einer Burg im Hintergrund. Ja, das ist eine gute Idee, dachte sie noch, kurz bevor sie einschlief.

„Wollen Sie das wirklich unterschreiben?“, fragte Deanna Jay am nächsten Vormittag, als die Bankangestellte sie für einen Moment allein ließ, um einige Formulare zu holen. Deanna und die Mädchen hatten sich wie verabredet mit Jay in der Bank getroffen. Erst als er dann mit der Kundenberaterin über die Kontovollmacht für sie sprach, wurde ihr die volle Bedeutung seines Entschlusses klar. Er vertraute ihr sein Geld an.

„Wenn ich für Ihr Konto unterschriftsberechtigt bin, kann ich theoretisch über Ihr ganzes Geld verfügen. Wäre es nicht besser, Sie würden mir einfach ein Haushaltskonto einrichten, Jay?“

Er beugte sich näher zu ihr, sodass sein Atem ihre Wange fächelte, wenn er sprach. Deanna konnte jedes Fältchen in seinen Augenwinkeln sehen. Sie musste sich zusammennehmen, um ihn nicht zu berühren. Sie waren hier in einer Bank, und Jay führte ein sachliches Gespräch mit ihr. Also versuchte sie, sich auf seine Worte zu konzentrieren.

„Wenn ich Ihnen meine Kinder anvertraue, warum dann nicht auch mein Geld? Geld kann man immer wieder verdienen.“

Offenbar nahm er nicht an, dass sie mit seinen Ersparnissen durchbrennen würde. Trotzdem überraschte sie die Selbstverständlichkeit, mit der er ihr die Kontovollmacht ausstellte.

„Danke für Ihr Vertrauen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich würde Ihr Geld niemals anrühren“, sagte Deanna ernst.

„Das weiß ich.“ Er lehnte sich zurück, als die Bankangestellte mit den Formularen zurückkam.

Deanna versuchte, ruhig zu atmen. Jay hat keine Ahnung, dass er mich verrückt macht, dachte sie. Das war auch gut so. Er durfte auf keinen Fall merken, wie unwiderstehlich sie ihn fand. Sie bemühte sich, den Erklärungen der Bankangestellten zu folgen und die Formulare an den richtigen Stellen zu unterschreiben.

Jetzt besaß sie also eine Vollmacht für sein Konto. Das bedeutete, dass sie allein für alles verantwortlich war, wenn er wieder einmal wegmusste. Sie würde die Rechnungen bezahlen, Lebensmittel einkaufen und dafür sorgen, dass die Mädchen gut gekleidet waren und ordentliche Schuhe trugen. Wie eine Ehefrau. Hoffentlich musste er in nächster Zeit nicht verreisen, denn die Verantwortung machte ihr ein wenig Angst.

„Wie wäre es mit Mittagessen bei McDonald’s?“, schlug Jay vor, als sie auf dem Gehweg vor der Bank standen. Er trug Amy auf dem Arm und lächelte zu Courtney hinab.

Deanna stellte fest, dass er der erste Mann war, neben dem sie sich nicht zu groß fühlte. Sie musste lächeln, als Courtney den Vorschlag ihres Vaters mit großer Begeisterung aufnahm. Sie nahm das Kind an die Hand. „Dann lasst und schnell gehen. Euer Daddy muss bald wieder zurück ins Büro.“

„Sie sind mit Ihrem alten Kombi hier?“, fragte Jay erstaunt, als sie Deannas Auto erreichten. „Es steht doch ein Wagen in der Garage. Hat Rachael Ihnen nicht gesagt, dass Sie ihn benutzen dürfen?“

„Doch. Allerdings fahre ich lieber meinen eigenen. Er ist zwar alt, aber der Motor ist in einem erstklassigen Zustand. Meine Tanten würden mich niemals damit herumfahren lassen, wenn es nicht so wäre.“

„Wer hat das Auto denn zuletzt gewartet? Sie oder Ihre Tanten?“ Deanna hielt Courtney die Wagentür auf und wartete, bis sie auf den Rücksitz geklettert war.

„Ich. Allerdings unter Tante Eugenias strenger Aufsicht. Glauben Sie mir, der Wagen läuft wunderbar. Lassen Sie mich zu McDonald’s fahren, und überzeugen Sie sich selbst. Außerdem ist der Kombi groß und stabil. Das ist ein Vorteil, falls ich einmal in einen Unfall verwickelt sein sollte.“

„Sie haben doch hoffentlich nicht vor, Unfälle zu bauen?“ Jay setzte Amy neben ihre Schwester ins Auto und schnallte sie an.

Deanna lachte. „Bestimmt nicht. Sehen Sie sich das Auto doch an. Trotz seines Alters hat es keine einzige Delle. Das müsste Sie von meiner sicheren Fahrweise überzeugen.“

Jay machte das Wortgefecht mit Deanna Spaß. Er ging auf das Spiel ein und begann, die Karosserie sorgfältig nach Dellen abzusuchen. Natürlich fand er keine einzige. Ihre Blicke trafen sich über dem Autodach, als Deanna um das Auto herum zur Fahrerseite ging.

„Scheint einigermaßen in Ordnung zu sein“, neckte er sie. Sie lachte wieder, und ihm fiel auf, wie häufig sie das tat.

„Der Kombi ist in einwandfreiem Zustand, das wissen Sie genau!“, erklärte sie und stieg ein.

Jay setzte sich auf den Beifahrersitz und beobachtete Deanna, wie sie den Sicherheitsgurt anlegte und den Motor anließ. Sie trug heute hautenge weiße Stretchjeans. Ihr tiefblaues T-Shirt hatte dieselbe Farbe wie ihre Augen. Das Haar trug sie wie immer in einem Pferdeschwanz. Wann würde er es endlich einmal offen zu sehen bekommen? Er ärgerte sich über sich selbst, als er sich bei der Vorstellung ertappte. Schnell gurtete er sich an und blickte geradeaus auf die Straße. Er durfte nicht anfangen, erotischen Fantasien über Deanna nachzuhängen.

Gemeinsam mittagessen zu gehen war keine gute Idee, dachte Jay, als sie in dem Restaurant in der Schlange standen. Deanna, die Kinder und er wirkten wie eine Familie. Aber es war nicht die Familie, die er sich einmal vorgestellt hatte. Beth war nicht dabei. Statt seiner zierlichen, dunkelhaarigen Frau stand eine große, langbeinige Blondine neben ihm. Eine Frau, deren Augen so blau waren wie der Atlantik an einem sonnigen Tag und deren ansteckende Fröhlichkeit sogar die Leute um sie her zum Lächeln brachte.

Gerade beugte sie sich zu Courtney hinunter, um sie zu fragen, was sie essen wollte. Jay hatte wieder Amy auf den Arm. Er war froh darüber, dass die Kleine ihn von Deanna ablenkte. Es kam nicht infrage, dass er sich für das Kindermädchen seiner Töchter interessierte.

Die Mädchen beeilten sich mit dem Essen und konnten es kaum abwarten, spielen zu gehen. Kaum hatten sie aufgegessen, sprangen sie auf und rannten zum Kinderbereich mit der Rutsche und anderen Spielgeräten.

Auch Jay aß ziemlich schnell. Immer wieder warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Eigentlich hatte er genug Zeit, bevor er zurück an die Arbeit musste. Doch je schneller er aß, desto früher konnte er zurück ins Büro gehen. Die Arbeit würde die Gedanken an Deanna Stephens vertreiben. Er beobachtete, wie sie genießerisch ihre Pommes frites aß. Immer wieder tunkte sie eins in den Ketchup und biss dann ein winziges Stück ab.

„In dem Tempo sind Sie bis zum Abendessen noch nicht fertig“, bemerkte er.

Sie lächelte. „Stimmt.“

Jay verspürte ein leichtes Prickeln im Bauch, als sie ihn anblickte. Sie sah umwerfend aus und besaß ein liebenswertes, fröhliches Wesen. Die Tatsache, dass es ihm auffiel, beunruhigte ihn.

„Ich genieße es, zu essen, auch wenn es nur Pommes frites sind.“

Wie sinnlich sie ist, ging es ihm durch den Kopf. Ihm war aufgefallen, wie selbstverständlich sie die Kinder anfasste, ihnen eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, ihnen anerkennend auf die Schulter klopfte oder sie spontan umarmte, wenn sie etwas Lustiges sagten.

Ob sie mich auch umarmt, wenn ich sie zum Lachen bringe? fragte er sich. Unvermittelt stand Jay auf und räumte den Abfall zusammen. „Ich muss zurück ins Büro.“

„Jetzt schon? Die Mädchen haben doch gerade erst angefangen zu spielen.“

„Ich gehe zu Fuß zur Bank zurück, es ist ja nicht weit. Dort habe ich mein Auto stehen. Sie bleiben einfach mit den Kindern hier, solange Sie wollen.“

„Jawohl, Chef!“ Ihr schalkhaftes Lächeln war genauso ansteckend wie ihr Lachen.

Jay nickte ihr zu, drehte sich um und verließ das Lokal. Er brauchte ein wenig Abstand. Der kurze Spaziergang würde ihm guttun. Außerdem vertrieb die körperliche Bewegung vielleicht seine innere Unruhe.

Am Abend brachte Deanna die Kinder ins Bett. Was für süße Mädchen, dachte sie, als sie Amy zudeckte. Ob Jay wusste, was für ein Glück er mit ihnen hatte? Genauso hatte sie sich ihre eigenen Kinder vorgestellt.

„Wo ist Daddy?“, fragte Amy zum wiederholten Mal.

Deanna strich die Bettdecke glatt und lächelte geduldig. „Er kommt heute erst spät, das habe ich dir doch schon gesagt. Und wenn er da ist, kommt er herauf und gibt euch einen Gutenachtkuss, auch wenn ihr schon schlaft.“

„Manchmal muss er ganz lange weg“, ließ sich Courtney vernehmen.

„Ich weiß. Aber er kommt jedes Mal wieder nach Hause, stimmt’s?“ Deanna überlegte, was wohl aus den Kindern werden würde, wenn Jay eines Tages nicht mehr nach Hause käme.

Wahrscheinlich erginge es ihnen wie mir, dachte sie. Sie würden bei Verwandten aufwachsen, vielleicht bei ihrer Tante Rachael. Außerdem hatten sie noch beide Großelternpaare und ihre Onkel und Tanten. Es wäre nicht das Ende der Welt, aber es wäre sicher das Ende einer Welt, wie die Kinder sie kannten.

Deanna ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, das Babyfon in der Hand. Ob Jay absichtlich so lange wegblieb? Hatte sie beim Mittagessen etwas Falsches gesagt? Wahrscheinlich gehörten die unregelmäßigen Arbeitszeiten zu seinem Job. Wie war er dazu gekommen, Experte für Personenschutz zu werden? Wo hatte er gelernt, mit Geiselnehmern zu verhandeln? Ob er es ihr erzählen würde, wenn sie ihn danach fragte?

Gegen elf Uhr gab Deanna das Warten auf. Sie nahm das Essen, das sie für Jay warm gehalten hatte, aus dem Ofen und stellte es in den Kühlschrank. Wenn er so spät kam, hatte er bestimmt schon gegessen. Sie überprüfte, ob alle Türen und Fenster verriegelt waren, und ging zu Bett.

„Deanna?“ Jemand klopfte heftig an ihre Tür.

Im Halbschlaf richtete Deanna sich und stützte sich auf einen Ellbogen. „Ja?“

„Ich bin es, Jay. Sind Sie wach?“

Deanna schlug die Bettdecke zurück und sah auf die Uhr. Drei Uhr früh! Eilig stand sie auf und öffnete die Tür. Es musste etwas passiert sein.

Vor ihrer Tür stand Jay im Halbdunkel. Er hatte nur in der Küche Licht gemacht, nicht im Wohnzimmer.

„Was ist los? Ist etwas mit den Kindern?“

„Nein, mit den Mädchen ist alles in Ordnung. Ich bin gerade nach Hause gekommen und habe schnell meine Tasche gepackt. Ich muss in ein paar Minuten weg und wollte noch kurz mit Ihnen sprechen. Ein Verrückter hält auf einer Hacienda eine ganze Familie gefangen.“ Er nannte ein lateinamerikanisches Land, in dem instabile politische Verhältnisse herrschten. „Er hat sich mit den Geiseln verbarrikadiert, und man hat mich um Unterstützung gebeten. Ein Mitarbeiter aus der Firma holt mich gleich ab. Ich lasse mein Auto hier, falls Ihr Kombi doch einmal ausfallen sollte. Oder nehmen Sie das Auto in der Garage, ganz wie Sie wollen. Haben Sie noch Fragen?“

Sie war zu verschlafen, um ihm folgen zu können, und blickte ihn etwas verwirrt an. „Ich glaube nicht. Sie haben mir ja eine Liste mit Telefonnummern für den Notfall gegeben. Ich weiß über alles Bescheid und werde gut auf Ihre Töchter aufpassen. Haben Sie noch einmal nach ihnen gesehen und ihnen einen Abschiedskuss gegeben?“

„Ja. Sie schlafen fest. Sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen werden? Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie bitte meine Eltern an.“

„Ich weiß. Aber das wird bestimmt nicht nötig sein. Sie sind doch bestimmt bald zurück, oder?“

„Das weiß ich nicht. So etwas kann sich eine Weile hinziehen.“

Später konnte Deanna sich nicht erklären, was plötzlich über sie gekommen war. Sie umarmte Jay, drückte ihn an sich und gab ihm ein Küsschen auf den Mund.

„Passen Sie auf sich auf, und kommen Sie nicht als toter Held zurück“, versuchte sie zu scherzen.

Im nächsten Moment spürte sie seine Arme um sich. Er hielt sie so fest, dass sie schon glaubte, er wollte sie nie mehr loslassen. Ein leiser Pfiff von draußen durchbrach die Spannung, die zwischen ihnen herrschte.

„Das ist mein Fahrer. Ich muss gehen.“ Jay presste die Lippen auf ihre. Es war kein harmloses Küsschen wie ihres, sondern ein heißer, verlangender Kuss, der ihr durch und durch ging. Eine Sekunde später war Jay fort.

4. KAPITEL

Wie konnte ich nur so etwas Dummes tun? Deanna stöhnte und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Warum werfe ich mich einem Mann an den Hals, den ich seit nicht einmal einer Woche kenne? Verzweifelt wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her und machte sich Vorwürfe. Bestimmt hielt Jay sie jetzt für nicht ganz zurechnungsfähig. Oder schlimmer, er glaubte, dass sie es auf ihn abgesehen hatte. Würde er zulassen, dass eine Frau, die so ungehemmt war, weiterhin Courtney und Amy betreute?

Deanna schloss die Augen und durchlebte in ihrer Vorstellung noch einmal seinen Kuss. Sie erschauerte. So etwas hatte sie noch nie empfunden. Wie kann ein einziger Kuss mich so durcheinanderbringen? fragte sie sich. Vielleicht lag es daran, dass es schon so spät war und Jay sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen, und das Prickeln verstärkte sich.

Jetzt arbeitete sie seit nicht einmal einer Woche für ihn, und schon hatte sie ihren Job riskiert. Sie konnte es sich nicht leisten, die Stelle zu verlieren. Sie hatte Jay überzeugen wollen, dass sie genau die Richtige war, und jetzt musste sie fürchten, dass er an ihrem Charakter zweifelte!

Wenn er sie je auf den Kuss ansprach, wollte sie so tun, als würde sie sich nicht daran erinnern. Ob er ihr glauben würde, dass sie schlafwandelte? Bestimmt nicht. Warum war sie nur so impulsiv? Es hätte genügt, ihm eine gute Reise zu wünschen und ihm zu versichern, dass seine Kinder bei ihr in guten Händen waren. Warum hatte sie ihn nur umarmen und küssen müssen? Aber wenn sie ehrlich war, beunruhigte sein erregender Kuss sie noch viel mehr als ihr freundschaftliches Abschiedsküsschen.

Die beiden Mädchen fanden an der Abwesenheit ihres Vaters am nächsten Morgen nichts Ungewöhnliches und schienen ihn überhaupt nicht zu vermissen, obwohl es Samstag war und Deanna annahm, dass Jay das Wochenende gewöhnlich mit den Kindern verbrachte. Auch als sie ihnen erklärte, er würde wohl einige Tage fortbleiben, nahmen sie es gelassen hin. Es rührte sie, dass die beiden sich bei ihr so wohl fühlten.

Sie hatte geplant, heute zusammen mit den Mädchen ihre Tanten zu besuchen. Eugenia und Love hatten zweimal angerufen, seit sie ihnen ihre neue Telefonnummer gegeben hatte. Die alten Damen konnten es kaum abwarten, ihre Großnichte wieder zu sehen und alles über deren neuen Job zu erfahren.

Gerade als Deanna und die Kinder das Haus verlassen wollten, klingelte das Telefon. Deanna nahm den Hörer ab. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie Jays Stimme hörte.

„Ist alles in Ordnung zu Hause?“, erkundigte er sich.

Es war so laut im Hintergrund, dass sie ihn kaum verstand. „Ja, den Mädchen geht es gut. Wo sind Sie?“

„Noch am Flughafen, wir sind vor ein paar Minuten gelandet. Ich weiß noch nicht, wie lange ich hierbleiben muss. Ich fürchte, es wird eine Weile dauern.“

„Wird es denn gefährlich für Sie?“

Jay zögerte einen Moment zu lange, bevor er Nein sagte. Es war also gefährlich, folgerte sie, auch wenn er versucht, mich zu beruhigen. Sie musste darauf vertrauen, dass er mit der Situation umzugehen wusste.

„Die Kinder vermissen Sie“, sagte sie.

„Ich vermisse sie auch. Und wie geht es Ihnen?“

„Gut.“

„Tut mir leid wegen heute Nacht. Es ist normalerweise nicht meine Art, meine Angestellten zu küssen“, entschuldigte er sich.

Deanna atmete tief durch. „Ich hätte Sie nicht umarmen dürfen. Hoffentlich haben Sie jetzt keinen falschen Eindruck von mir bekommen. Es war nicht meine Absicht, mich Ihnen an den Hals zu werfen. Es war nur, weil Sie plötzlich so weit wegmussten.“ Sie wunderte sich, wie ruhig und normal ihre Stimme klang.

„Ich habe keinen falschen Eindruck bekommen. Mir ist schon aufgefallen, dass Sie die Kinder gern und oft in den Arm nehmen. Außerdem war es sehr spät.“ Jay räusperte sich. „Eigentlich fand ich es sehr nett, dass mir jemand gesagt hat, ich solle auf mich aufpassen.“

„Dann ist es ja gut.“ Krampfhaft hielt sie den Hörer fest. Ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Wollte er vielleicht mit seinen Töchtern sprechen? Sobald sie die Augen schloss, sah sie ihn so deutlich vor sich, als würde er neben ihr stehen. Wenn ihm nur nichts zustößt, hoffte sie inständig.

„Ich muss los. Ich melde mich später wieder“, erklärte er unvermittelt.

„Viel Glück! Und seien Sie unbesorgt, hier läuft alles gut. Sie wissen ja, ich bin ein sehr verantwortungsvoller Mensch.“

„Sie würden staunen, was ich sonst noch alles über Sie weiß, Deanna.“ Er legte auf.

Deanna blieb noch eine Weile regungslos stehen, den Hörer in der Hand, und rätselte, was seine letzte Bemerkung wohl bedeutete.

„Gehen wir jetzt?“ Courtney kam in die Küche gelaufen, um zu sehen, wo sie blieb.

„Ich bin fertig“, verkündete Amy zwei Sekunden später.

Deanna legte den Telefonhörer auf und lächelte den beiden kleinen Mädchen zu. Die beiden sahen ihrem Vater sehr ähnlich. Nein, ich fange jetzt nicht schon wieder an, von Jay Masters zu träumen, ermahnte sie sich. Er hatte nur angerufen, um sich nach den Kindern zu erkundigen und sich für den Kuss zu entschuldigen. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte sich nicht dafür entschuldigt.

„Ja, meine Süßen, wir fahren sofort los.“

Auf der Fahrt nach Ocean View dachte Deanna über Jay nach. Er vermisste seine Frau noch immer, obwohl sie bereits seit drei Jahren tot war. Oder hatte er die Vergangenheit doch schon hinter sich gelassen? Traf er sich bereits mit anderen Frauen?

Sie nahm sich vor, mit ihren Tanten über Jay zu reden. Die beiden hatten in ihrem Leben auch Verluste verkraften müssen. Vielleicht konnten sie ihr mit ihrer Klugheit und Lebenserfahrung dabei helfen, Jay besser zu verstehen. Das Wichtigste war, dass sie, Deanna, sich in Zukunft besser im Griff hatte. So etwas wie der Abschiedskuss durfte nicht noch einmal passieren.

Wie Deanna vorausgesehen hatte, waren ihre Tanten hingerissen von den Mädchen. Courtney und Amy plauderten unbefangen mit den alten Damen, ihre Schüchternheit war wie weggeblasen. Eugenia Murray und Love Stephens bewohnten eine eigene Zweizimmerwohnung in dem riesigen Apartmentkomplex. Da die Wohnung jedoch zu klein für Besuch war, wichen sie auf den Park aus.

„Es ist warm genug, um draußen zu sitzen“, stellte Eugenia fest und ließ sich ein wenig ungelenk auf der weiß lackierten, schmiedeeisernen Bank unter der alten Eiche nieder. Deanna wusste, dass ihrer Tante die Arthritis zu schaffen machte, und wünschte, man könnte etwas dagegen tun.

Eugenia war groß und sehr schlank. Ihr weißes Haar war gut frisiert und umrahmte vorteilhaft ihr Gesicht. Ihre blauen Augen hatten dieselbe Farbe wie Deannas, und sie trug ein schlichtes, aber elegant wirkendes Kleid.

„Es wird früh genug Herbst, und dann ist es zu kühl“, stimmte Tante Love zu und nahm auf der benachbarten Bank Platz. Auch sie war sehr schlank, doch ihre Aufmachung war nicht so perfekt wie die ihrer älteren Schwester. Ihre Kleider wirkten immer ein wenig zerknittert, selbst wenn Love sie gerade erst angezogen hatte.

„Setz dich zu mir, Courtney, und erzähl mir, was ihr mit Deanna schon alles unternommen habt. Sie hat früher bei uns gewohnt, wusstest du das?“ Tante Love klopfte mit der flachen Hand auf den freien Platz neben sich.

„Du musst uns öfter besuchen kommen“, sagte Eugenia zu Deanna. „Es ist so ungewohnt, dass wir dich nicht mehr jeden Tag sehen. Du fehlst mir.“

„Ich komme, sooft ich kann“, versprach Deanna.

„Bring die Mädchen ruhig mit. Schade, dass dein Vater nicht mehr Kinder hatte. Ein Sohn wäre schön gewesen, allein um den Familiennamen weiterzugeben.“

„Ich weiß, das hast du schon oft genug gesagt“, rutschte es Deanna heraus. Das Thema war ein wunder Punkt bei ihr. War sie denn nicht genug? Warum hatten erst ihr Vater und dann auch ihre Tanten immer das Fehlen eines Sohnes in der Familie beklagt?

„Kleine Mädchen sind etwas ganz Besonderes“, bemerkte Tante Love und lächelte liebevoll. „Du warst ein großes Geschenk für uns, seit dem Tag, an dem du zu uns kamst.“

Deanna erwiderte Loves Lächeln, und der Schmerz ließ etwas nach. Obwohl ihre Tante eingelenkt hatte, wusste Deanna jedoch, dass auch Love der Meinung war, Männer bräuchten Söhne. Sie hatte es in ihrer Kindheit immer wieder gehört.

Falls Jay jemals wieder heiratete, wünscht er sich bestimmt auch Söhne, dachte sie. Ihre Freunde Judy und Peter wollten auch Kinder haben. Peter hoffte zuerst auch einen Jungen, dann auf eine Tochter. Die Welt war nun einmal so, und man musste sich damit abfinden.

Die Mädchen spielten in der weitläufigen Parkanlage Fangen. Von Zeit zu Zeit unterbrachen sie ihr Spiel, um mit einem Bewohner oder einer Bewohnerin der Seniorenresidenz zu plaudern. Dann liefen sie zurück zu Deanna, um ihr Bericht zu erstatten.

„Die beiden sind entzückend“, meinte Love.

„Sehr lebhafte, fröhliche Kinder“, fügte Eugenia hinzu.

„Zu Hause sind sie meistens still und brav. An meinem ersten Nachmittag habe ich befürchtet, ich würde nicht in diese Familie passen. Ich weiß nicht, ob es vielleicht Rachaels Einfluss war. Der Vater der Kinder legt großen Wert auf Disziplin.“

„Wie kommt er denn mit den beiden Kleinen zurecht? Hat er ein enges Verhältnis zu ihnen?“

„Er liebt sie über alles, aber er kann leider nicht viel mit ihnen anfangen. Aus den wenigen Gesprächen, die ich mit ihm geführt habe, weiß ich, dass seine Frau sich allein um Courtney gekümmert hat. Sie ist bei Amys Geburt gestorben.“

„Männer sind mit kleinen Kindern überfordert“, sagte Eugenia.

Deanna musste lachen. „Das ist ein Vorurteil, Tante Eugenia. Nicht nur die Männer, sondern auch wir Frauen haben manchmal veraltete Ansichten.“

Als Eugenia wissen wollte, was sie damit meinte, berichtete Deanna von dem hitzigen Wortwechsel mit Jay über „Frauenarbeit“ und wie sie ihre neue Stelle beinah schon am ersten Arbeitstag gekündigt hatte. Eugenia bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick, sodass Deanna sich schon fragte, ob ihre Tante etwas von ihren Gefühlen für Jay ahnte. Aber sie war sicher, dass sie sich nichts hatte anmerken lassen. Der Kuss würde ihr Geheimnis bleiben.

Das Wochenende verging wie im Flug. Es machte Deanna nichts aus, keinen freien Tag zu haben. So hatten sie und die Kinder viel Zeit, einander kennenzulernen. Es machte ihr großen Spaß, mit ihnen zusammen zu sein. Die Offenheit und Neugierde der Mädchen war einfach herzerfrischend.

Die ersten Tage der folgenden Woche zogen sich lange hin. Deanna besuchte ihre Seminare an der Universität. Zu ihrer Erleichterung waren die Mädchen begeistert vom Kindergarten und freuten sich jedes Mal darauf, wenn sie sie hinbrachte.

Bis zum Ende des Semesters musste sie mehrere Projekte fertigstellen. Die Arbeit daran beanspruchte fast ihre ganze Freizeit. Obwohl sie so beschäftigt war, ertappte sich Deanna immer wieder dabei, dass sie an Jay dachte. Er meldete sich jeden Abend, und sie erwartete seine Anrufe mit Vorfreude.

Am Mittwoch fing sie gar nicht erst mit ihrer Arbeit für die Universität an, nachdem sie die Mädchen ins Bett gebracht hatte. Stattdessen setzte sie sich in die Küche neben das Telefon und wartete. Gewöhnlich rief er gegen halb neun an. Da er selbst bestimmt hatte, dass die Mädchen um acht Uhr zu Bett gingen, wusste sie, dass er nicht anrief, um mit seinen Töchtern zu sprechen.

Sie liebte die abendlichen Gespräche mit Jay, obwohl sie nicht viel Persönliches enthielten. Sie liefen immer nach dem gleichen Muster ab. Erst erkundigte er sich nach den Kindern, anschließend fragte sie ihn, wie die Verhandlungen mit dem Geiselnehmer liefen. Wenn beide Themen erschöpft waren, herrschte eine Weile Schweigen. Dann wünschte sie, sein Gesicht sehen zu können, um zu erraten, was in ihm vorging. Wollte er gern noch über andere Dinge mit ihr sprechen, oder rief er nur an, um über den Alltag zu Hause auf dem Laufenden zu sein? Zum Schluss bat er sie noch, den Kindern seine Grüße auszurichten, bevor er auflegte.

Allein seine Stimme zu hören belebte sie, und sie verspürte jedes Mal zärtliche Gefühle. Ihr fiel auf, dass Jay und sie am Telefon mehr miteinander sprachen als je zuvor. Sie überlegte, ob sie sich durch diese Telefonate tatsächlich näher kamen oder ob sie es sich nur wünschte.

Deanna sah auf die Uhr und stellte fest, dass es schon nach neun war. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie die Zeit vergangen war. Enttäuschung stieg in ihr auf. Jay rief heute nicht an. Dazu war er natürlich nicht verpflichtet. Sie hatte sich nur so daran gewöhnt. Wahrscheinlich würde er es albern finden, wenn er wüsste, wie sehnsüchtig sie seine Anrufe erwartete.

Langsam stand sie auf. Vielleicht konnte er gar nicht anrufen, weil die Situation eskaliert war? Da klingelte auf einmal das Telefon. Sofort nahm sie den Hörer ab.

„Hallo?“

„Deanna? Hier ist Jay.“

Sie hätte seine Stimme auch so erkannt. „Geht es Ihnen gut?“, fragte sie. Er klang müde. Ob er genug Schlaf bekam? Er ist ein erwachsener Mann, ermahnte sie sich. Immerhin war er sein ganzes Leben lang ohne sie zurechtgekommen.

„Sogar sehr gut! Es ist alles vorbei, die Geiseln sind in Sicherheit.“

„Das ist ja wunderbar! Sie haben es geschafft! Sie haben den Mann dazu gebracht, die Familie freizulassen, stimmt’s? Sie müssen sehr stolz auf sich sein. Ich bin so froh, dass alles gut gegangen ist.“

„Ich bin auch froh.“

„Sie müssen mir alles ganz genau erzählen! Was hat den Geiselnehmer denn dazu bewogen aufzugeben?“

„Ich kann jetzt nicht lange sprechen. Ich wollte mich nur kurz melden. Den Rest erzähle ich Ihnen, wenn ich wieder zu Hause bin.“

„Schön, dass Sie angerufen haben. Wenn Sie wieder hier sind, feiern wir. Ich stelle eine Flasche Sekt kalt. Was ist denn Ihr Lieblingsessen? Die Mädchen und ich kochen es für Sie.“

Es herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Das ist nicht nötig“, sagte Jay nach einer Weile.

„Den Mädchen wird es Spaß machen, eine Party vorzubereiten. Feiern Sie denn Ihre Erfolge sonst nicht?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Dann ist es eben das erste Mal! Was ist nun Ihr Lieblingsessen?“

„Steak.“

„Wie originell!“, bemerkte Deanna lachend.

Jay lachte auch. „Wir haben jetzt Nachbesprechungen und müssen noch ein Konzept ausarbeiten, das die Sicherheit der Familie für die Zukunft garantiert. Aber ich wollte Sie gern anrufen. Ich wusste, dass Sie …“

Es war ein Rauschen in der Leitung. Deanna konnte ihn nicht mehr verstehen. Oder hatte er gar nichts mehr gesagt?

„Was wussten Sie?“, hakte sie nach.

„Nicht so wichtig. Ich muss jetzt aufhören. Ich komme Ende der Woche nach Hause.“

„Wissen Sie noch nicht, wann genau?“

„Nein. Ich rufe wieder an.“

„Dann planen wir die Party für Samstag. Bis dahin sind Sie doch zurück, oder?“

„Ja, ganz sicher. Passen Sie auf sich auf.“

Als Deanna den Hörer auflegte, fiel ihr auf, dass Jay gar nicht nach den Kindern gefragt hatte. Es war ja auch ein sehr kurzes Gespräch gewesen. Sie lächelte bei dem Gedanken, dass er sie trotz der Aufregung angerufen hatte.

Deanna ging in ihr Zimmer und setzte sich an ihren Zeichentisch. Jay hat es geschafft! dachte sie. Durch ihn ist eine Familie wieder frei und in Sicherheit. Sie schlug das Skizzenbuch auf und begann zu zeichnen. Mit kräftigen Linien skizzierte sie Jay als unerschrockenen Forscher, der sich mit einer Machete einen Weg durch den Dschungel bahnte. Das passte zu dem Land, in dem er war, und der Art, wie er mit dem Geiseldrama fertig geworden war. Sein Gesicht zu zeichnen fiel ihr am schwersten. Es gelang ihr nicht, den traurigen Zug einzufangen, der oft in ihm lag. Doch sie hatte keine Mühe, seine überwältigende Ausstrahlung wiederzugeben. Ob sie jemals in der Lage wäre, ihn nur als ihren Arbeitgeber zu betrachten?

Am Freitag hoffte Deanna, dass Jay an diesem Tag nach Hause kam. Am Vorabend hatte er wieder kurz angerufen. Sie wünschte, es ginge alles ein wenig schneller. Geduld war nicht gerade ihre Stärke. Spätestens morgen ist er wieder da, tröstete sie sich.

Sie hatte ihm viel zu erzählen. Seine Töchter waren in den letzten Tagen aufgeblüht. Das Spielen im Freien tat ihnen gut. Sie hatten rote Wangen, und ihre Augen strahlten. Außerdem hatten die beiden ihre Leidenschaft fürs Malen entdeckt. Als sie ihre Malutensilien gesehen hatten, wollten sie sofort auch Pinsel und Farben haben. Also hatte sie ihnen Wasserfarben und eine große Rolle Packpapier gekauft. Sie hatte das Papier mit Klebestreifen an der Wand über der Treppe befestigt und ihnen erlaubt, ein Wandbild zu malen.

Die Werke der beiden Nachwuchskünstlerinnen hängte sie überall im Haus auf. Es war schwer zu sagen, wer stolzer auf die Bilder war, sie oder die Mädchen. Courtney hatte ein sehr gutes Auge für Farben. Amy dagegen liebte es, alle Töne miteinander zu mischen. Deanna kommentierte jedes neue Gemälde, als wäre es ein kleines Meisterwerk. Es machte ihr Freude zu, sehen, wie viel Spaß die Kinder am Malen hatten.

Am Freitagnachmittag arbeiteten Deanna und die Mädchen wieder an dem Wandbild. Die Kinder trugen alte T-Shirts von ihr, damit ihre Kleider keine Farbspritzer abbekamen. Eine dicke Schicht Zeitungspapier bedeckte den Boden. Courtney und Amy malten hingebungsvoll die Umrisse der Bäume, Blumen und Häuser aus, die sie mit Bleistift skizziert hatte. Deanna saß neben ihnen auf dem Boden und zeichnete sie. Courtney war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie sich auf die Lippe biss. Sie gab sich große Mühe, innerhalb der vorgezeichneten Umrisse zu malen. Amy mischte die Farben bunt durcheinander und malte einfach drauflos.

Plötzlich ging die Haustür auf, und Jay kam herein. Er blieb abrupt stehen, als er sah, wie seine Töchter die Wand über der Treppe bunt anmalten.

„Was ist denn hier los?“, fragte er ärgerlich und ließ die Tür hinter sich in Schloss fallen.

Deannas Herz machte einen Sprung. Er war zu Hause! Und er sah noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Aber er schien wütend zu sein. Sie richtete sich auf und wischte die Hände an ihren Shorts ab.

„Hallo! Willkommen zu Hause.“

Jay stellte seine Tasche ab. „Ich kann nicht glauben, dass Sie den Kindern erlauben, die Wand anzumalen.“ Er funkelte sie zornig an. „Überall liegt Spielzeug herum, die Wände sind mit Farbe beschmiert, und meine Töchter laufen herum wie Lumpensammler. Verstehen Sie das unter ‚verantwortungsvoll‘, Miss Stephens? Kinder, legt sofort die Pinsel weg, und geht in euer Zimmer.“

„Einen Moment mal!“ Deanna gab den Mädchen ein Zeichen zu bleiben. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und fuhr ärgerlich fort: „Wenn Sie sich eine Sekunde Zeit genommen hätten, um Ihren Töchtern Hallo zu sagen, hätten Sie sich diesen peinlichen Auftritt erspart. Wie können Sie glauben, ich ließe die Kinder die Wand anmalen? Haben Sie so wenig Vertrauen zu mir? Warum haben Sie mich überhaupt eingestellt, wenn Sie mich für unfähig halten? Wir malen auf Packpapier.“

„Packpapier?“

Sie nickte und blickte wieder zu den Mädchen, die ihren Vater erstaunt ansahen. „Gebt eurem Vater einen Begrüßungskuss, meine Süßen. Ich bin sicher, dass er sich sehr freut, euch zu sehen“, meinte sie sanft. Dabei beobachtete sie Jay aus den Augenwinkeln.

„Ich brauche niemanden, der meinen Kindern erklärt, dass ich mich freue“, fuhr er sie an.

„Ach, nicht? Dann habe ich mich wohl getäuscht“, sagte Deanna ironisch, aber so leise, dass er es nicht hörte.

Die Mädchen rannten auf ihren Vater zu. Er küsste sie, strich ihnen übers Haar und fragte sie nach den alten T-Shirts, die sie trugen.

„Das sind unsere Malerkittel“, erklärte Courtney stolz. „Die tragen wir, damit unsere Kleider nicht schmutzig werden.“

„Meiner ist blau.“ Amy schmiegte sich an sein Bein und strahlte ihn an.

„Ihr versinkt ja beinah darin!“, neckte Jay die Mädchen. Dann wandte er sich an Deanna. „Ich bin schrecklich müde. Ich habe die ganzen letzten Tage unter Stress gestanden und musste wichtige Entscheidungen treffen. Aber ich hätte trotzdem nicht so überreagieren dürfen. Es tut mir leid.“

Seine Entschuldigung besänftigte sie etwas. Er wirkte tatsächlich abgespannt. Die Verantwortung für das Leben der Geiseln musste schwer auf ihm gelastet haben.

„Die Spielsachen räume ich sofort auf, und die Farben und Pinsel sind bis zum Abendessen auch verschwunden. Wenn wir gewusst hätten, dass Sie heute Nachmittag kommen, hätten wir gar nicht erst angefangen.“ Ihr Ärger auf ihn verflog völlig, als Deanna die dunklen Ringe unter seinen Augen und die Falten um seinen Mund bemerkte.

Amy streckte die Arme nach ihrem Vater aus. Er nahm sie hoch und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. Sie lachte vergnügt und kuschelte sich an ihn. Einen Moment lang war Deanna beinah eifersüchtig. Warum stört es mich, wenn er zärtlich zu seinen Töchtern ist, fragte sie sich erstaunt. Sie gestand sich ein, dass sie auch gern einen Begrüßungskuss von ihm bekommen hätte.

„Wollt ihr zwei mit nach oben kommen und mir beim Auspacken helfen?“, schlug er vor. Courtney stimmte begeistert zu und stürmte zurück zu Deanna, um den Pinsel ins Wasserglas zu stellen.

Eine Minute später war Deanna allein in der Diele. Aus dem oberen Stock hörte sie seine Stimme und das Gelächter der Kinder. Sie fühlte sich sehr allein, während sie die Malsachen wegräumte.

Sie kämpfte gegen die Enttäuschung darüber an, dass Jay sie nicht herzlicher begrüßt hatte. Es gab keinen Grund, warum er sie anders behandeln sollte als seine anderen Angestellten. Seine Anrufe hatten nichts zu bedeuten. Er hatte nur wissen wollen, ob es seinen Kindern gut ging. Trotzdem wünschte sie sich sehnlichst, dass Jay ihr sagte, sie hätte ihm gefehlt.

Jay stopfte seine schmutzigen Sachen in den Wäschekorb. Courtney hatte keinen Moment aufgehört zu reden. Er hörte ihr mit halbem Ohr zu, während er sich über sich selbst ärgerte. Wie hatte er so auf Deanna losgehen können? Doch die unerwartete Freude, die er verspürt hatte, als er Deanna mit den Kindern sah, hatte ihn ganz aus der Fassung gebracht. Am liebsten hätte er sie umarmt und festgehalten. Aber solche Gefühle waren unangebracht. Schließlich war sie das Kindermädchen seiner Töchter, sonst nichts.

Amy kletterte auf seinem Bett herum und versuchte immer wieder, Courtneys Redefluss zu unterbrechen und ihre Version der Ereignisse zu erzählen. Beide Mädchen sprachen und lachten über Dinge, die ihm nichts sagten. Deanna hätte sofort gewusst, was sie meinen, dachte er und bemühte sich, ihnen zu folgen. Er war überrascht, wie seine stillen, schüchternen Kinder sich verändert hatten, und es gefiel ihm. Sie sprühten auf einmal vor Temperament und Lebensfreude. Ob es an Deannas Einfluss lag?

Kaum dachte er an sie, hatte er auch schon ihr Bild vor Augen, wie sie mit einer einzigen anmutigen Bewegung aus dem Schneidersitz aufstand. Er sah ihre langen Beine vor sich, atmete tief durch und zwang sich, seinen Töchtern zuzuhören. Deannas Bild ließ sich allerdings nicht aus seinem Kopf vertreiben. Der Gedanke, wann er ihr langes Haar endlich einmal offen sehen würde, machte ihn allmählich verrückt. Sie band es sogar nachts im Nacken zusammen. Jedenfalls war es neulich so gewesen, als er sie vor seiner Abreise nach Südamerika geweckt hatte.

Er hatte darauf gefasst sein müssen, dass das Wiedersehen mit ihr eine starke Reaktion bei ihm auslöste. Schließlich hatte er sie jeden Abend angerufen, um ihre Stimme zu hören.

„Das hier hab ich gemalt. Gefällt es dir?“ Courtney zeigte auf ein Bild an der Wand. Daneben hing noch ein zweites.

„Das andere ist meins, Daddy. Es ist schön, nicht?“ Amy fing an, auf seinem Bett herumzuhüpfen. Ihre Sprünge wurden immer gewagter, während sie mit dem Finger auf ihr Bild deutete.

„Schluss jetzt mit dem Gehüpfe“, sagte Jay entschieden, packte Amy und hob sie hoch über seinen Kopf. Sie quietschte vor Vergnügen. Dann drückte er sie an sich und hielt sie fest. Sie war so klein und zart. Wie gern wollte er sie vor allen Gefahren der Welt beschützen! Er setzte sich auf die Bettkante und zog auch Courtney an sich.

„Also, wer hat nun was gemalt?“ Er verdrängte den Gedanken an Deanna. Seine Töchter verdienten seine volle Aufmerksamkeit, und die wollte er ihnen auch geben.

Als Jay später die Treppe hinunter ging, war die Diele sauber und aufgeräumt. Nur das Wandgemälde hing noch an seinem Platz. Er blieb stehen, um es sich anzusehen. Er lächelte über die Versuche der Kinder, die Umrisse auszumalen, die Deanna skizziert hatte. Was sie als Profi wohl von dem Gekleckse der Mädchen hielt?

Auf der Schwelle zur Küche blieb er stehen, um sie bei der Arbeit zu beobachten. Sie wandte ihm den Rücken zu und bemerkte ihn nicht gleich. Er genoss es, sie eine Weile ungestört betrachten zu können. Sie bewegte die langen, sonnengebräunten Beine so anmutig, als würde sie zu einer Melodie tanzen, die nur sie hören konnte. Ihr Hüftschwung war unbewusst verführerisch, während sie Gemüse schnippelte. Er hoffte, dass sie sich mit dem scharfen Messer nicht schnitt. Ihr blonder Pferdeschwanz wippte leicht hin und her.

Die Erinnerung an den Kuss wurde in ihm wach, und er sehnte sich danach, sie aufzufrischen. Aber das würde Deanna ganz sicher aus dem Haus treiben. Das durfte er nicht riskieren, schließlich brauchte er sie wegen der Kinder.

„Ich nehme an, ich habe die beiden Kunstwerke über meinem Bett Ihnen zu verdanken“, sagte er.

Deanna wirbelte herum. Das Gemüsemesser in ihrer Hand blitzte gefährlich. „Sie haben mich erschreckt.“ Sie sah ihn ein wenig argwöhnisch an, als wäre sie nicht ganz sicher, in was für einer Stimmung er gerade war. Dann entspannte sie sich. „Gefallen Ihnen die Bilder? Ich dachte, die kahlen Wände könnten etwas Farbe vertragen. Und ich habe zufällig einen guten Draht zu den Künstlerinnen.“

„Ich kenne mich mit moderner Kunst nicht aus, aber ich Zukunft werde ich mich wohl damit beschäftigen müssen.“

Deanna lachte, und er fühlte sich plötzlich sehr wohl. Ihr Lachen tat ihm gut.

„Courtney gibt sich große Mühe. Amy liebt es, alle Farben miteinander zu mischen, bis ein schlammiges Grün-Schwarz herauskommt.“

„Das habe ich schon bemerkt. Die Bilder hängen schließlich im ganzen Haus.“

„Sie werden ständig gegen neue ausgetauscht. Die Mädchen malen ungefähr ein Bild pro Minute, also mussten wir eine Art Galerieplan aufstellen. Sonst wären die Wände von oben bis unten mit Kunstwerken gepflastert.“

Es gefiel Jay, dass sie von sich und den Kindern als „wir“ sprach. Sie schien sich mit den beiden wirklich gut zu verstehen.

„Wenn meine unerwartete Ankunft Ihre Pläne durcheinanderbringt, kann ich auch auswärts essen“, bot er an.

„Das kommt nicht infrage! Ich mache ein einfaches Pfannengericht. Ich schneide einfach etwas mehr Gemüse hinein. Sie sind bestimmt müde und wollen früh ins Bett.“

Das Wort Bett ließ ihn zusammenzucken. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau dachte er darüber nach, mit einer Frau ins Bett zu gehen. Mit Deanna Stephens. Der Gedanke schockierte ihn. Der Verlust seiner Frau hatte eine tiefe Wunde hinterlassen. Er wollte sich nie wieder auf jemanden einlassen und das Risiko eingehen, noch einmal einen solchen Schmerz erleben. Er hatte seine Arbeit und seine Kinder. Sein Leben war ausgefüllt. Doch ob es ihm gefiel oder nicht, er begehrte Deanna.

„Möchten Sie darüber sprechen?“ Sie konzentrierte sich wieder aufs Schneiden.

Worüber, über Sex? fragte Jay sich erschrocken. Hatte sie etwa seine Gedanken gelesen?

„Ich meine die Veränderungen, die ich im Tagesablauf der Kinder vorgenommen habe“, fügte sie hinzu, als er nicht antwortete.

Jay verschränkte die Arme vor der Brust. Erleichtert stellte er fest, dass Deanna nicht ahnte, was in ihm vorging.

„Wie viel haben Sie denn geändert?“

„Einiges, um ehrlich zu sein. Ich halte nicht viel von Vorschriften und Zeitplänen.“

„Aber Kinder brauchen eine gewisse Routine. Beth hat gesagt …“

„Ich möchte auf keinen Fall dem widersprechen, was Ihre Frau gesagt hat. Aber bedenken Sie, dass Courtney jünger war, als Amy jetzt ist, als Ihre Frau starb. Kinder werden älter, und damit verändern sich auch ihre Bedürfnisse. Sie müssen Gelegenheit bekommen, Dinge auszuprobieren und Neues zu entdecken. Was für eine Zweijährige gut ist, ist nicht unbedingt auch das Richtige für ein Schulkind.“

Das klang vernünftig. Allerdings nahm er es gar nicht richtig wahr. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich darüber zu wundern, dass es nicht mehr so wehtat wie früher, über Beth zu sprechen.

5. KAPITEL

Die Mädchen schliefen noch, als Deanna in der Küche ihren Morgenkaffee trank. Sie blickte nachdenklich in den Garten hinaus. Für heute Vormittag hatte sie ihre Tanten eingeladen. Tante Love hatte den Kindern versprochen, mit ihnen Kekse zu backen. Deanna fragte sich, ob sie den Besuch absagen sollte, weil Jay nach Hause gekommen war.

Als er wenig später herunter in die Küche kam, trug er einen Anzug, obwohl Samstag war.

„Gehen Sie weg?“, fragte Deanna. Wenn er nicht da war, würde ihn der Besuch ihrer Tanten ganz bestimmt nicht stören.

„Ich weiß, dass heute eigentlich Ihr freier Tag ist. Aber wenn Sie heute bei den Kindern bleiben können, nehme ich mir nächste Woche einen Tag frei und bleibe zu Hause. Ich muss heute leider ins Büro.“

„Kein Problem. Ich war sowieso nicht sicher, ob Sie heute zu Hause sein würden, darum habe ich mir nichts vorgenommen.“ Außer der Backparty, ergänzte sie in Gedanken. Die Kekse können wir heute Abend zum Nachtisch essen.

„Vielen Dank. Ich weiß das zu schätzen. Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor ich gehe?“

Sein geschäftsmäßiger Ton stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu den Gesprächen, die sie jeden Abend am Telefon geführt hatten. Wo waren seine Wärme und sein Interesse geblieben?

„Nein, alles in Ordnung. Sie wissen doch noch, dass wir für heute Abend Ihre kleine Feier geplant haben? Sie sind hoffentlich rechtzeitig zu Hause?“

„Ja. Wo sind denn die Mädchen? Sollten sie nicht längst aufgestanden sein?“ Jay sah auf die Uhr.

„Ich lasse sie heute mal ausschlafen. Wozu soll es gut sein, sie in einen strengen Stundenplan zu zwingen?“

„Es sind meine Kinder, und ich entscheide über ihre Erziehung. Ich lege nun einmal Wert auf Regelmäßigkeit.“

„Aber sie sind noch so klein! Was sie mehr als alles andere brauchen, ist Ihre Aufmerksamkeit.“

Aus zusammengekniffenen Augen sah er sie eine Weile schweigend an. „Ich muss gehen.“

Verwundert blickte Deanna ihm nach. Fand er den Gedanken, Zeit zu Hause zu verbringen, so schrecklich? Er hatte sich nicht einmal Zeit genommen, um zu frühstücken. Sie wurde aus ihm nicht klug. Jay liebte seine Töchter aufrichtig, und gestern Abend hatte er viel Geduld bewiesen und ihren Erzählungen zugehört. Trotzdem hatte sie den Eindruck, dass er immer ein wenig angespannt war, wenn er mit ihnen zusammen war. Er nahm die Kinder ernst und beantwortete ihre Fragen, hatte allerdings etwas überfordert gewirkt, als Amy nach dem Essen auf seinen Schoß geklettert war und ihn gebeten hatte, eine Geschichte zu erzählen.

„Hallo, Dee, ich habe Hunger.“ Courtney kam in die Küche.

Deanna lächelte ihr zu. Jetzt hatte der Tag wirklich begonnen. Wenn Courtney aufgestanden war, würde Amy nicht lange auf sich warten lassen.

Jay ließ den Kugelschreiber fallen und sah aus dem Fenster. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Dabei hatte er Berichte zu lesen und einen Stapel Briefe zu beantworten. Seine Sekretärin hatte alles gut vorbereitet. Gewöhnlich machte ihm seine Arbeit Spaß. Doch heute hatte er ständig das Bild der jungen Frau vor Augen, die auf seine Kinder aufpasste.

Er war nicht sicher, was er erwartet hatte, als er gestern Abend nach Hause gekommen war. Jedenfalls nicht, dass er das starke Bedürfnis verspüren würde, Deanna in die Arme zu schließen, zu küssen und ihre Wärme zu spüren. Ärgerlich über sich selbst, stand er auf und ging zum Fenster. Der Blick auf die benachbarten Bürohochhäuser und die Bäume, die die Straße säumten, war vertraut und beruhigend. Der strahlend blaue Himmel kündigte einen heißen Tag an.

Was mache ich eigentlich hier im Büro, statt zu Hause bei meinen Kindern zu sein? fragte sich Jay. Deanna hatte recht, er sollte mehr Zeit mit Courtney und Amy verbringen. Aber das bedeutete, dass er auch Zeit in ihrer Nähe verbrachte, und das wollte er vermeiden.

Es gefiel ihm nicht, dass sie solche Gefühle in ihm weckte. Er hatte seine Frau geliebt. Und er hatte immer geglaubt, sein Typ wären kleine, zierliche Brünette. Und jetzt löste ausgerechnet eine große, langbeinige Blondine erotische Fantasien bei ihm aus! Bestimmt lag es an dem Stress der letzten Tage, dass er so empfänglich für Deannas Reize war. Es hatte nichts zu bedeuten.

Entschlossen ging er zur Tür und nahm sein Jackett vom Garderobenständer. Am Montag war genug Zeit, die liegen gebliebene Korrespondenz zu erledigen. Heute wollte er den Nachmittag mit den Kindern verbringen und versuchen, deren attraktives Kindermädchen so gut wie möglich zu ignorieren. Am Montagmorgen würde er wieder einen klaren Kopf haben.

„Lass mich!“ Amy versuchte, ihre Schwester von der Teigschüssel wegzudrängen.

„Nein, ich bin dran“, wehrte sich Courtney und hielt die Schüssel fest umklammert.

„Amy, jetzt ist Courtney an der Reihe. Du musst ein bisschen warten“, sagte Deanna entschieden und nahm das Mädchen auf den Arm.

„Du darfst gleich wieder rühren“, tröstete Tante Love Amy und tätschelte ihr die Wange. „Ungeduld zahlt sich im Leben nicht aus.“

Deanna lachte. „Sie ist doch erst drei Jahre alt!“ Sie sah auf und erstarrte. Jay Masters stand auf der Schwelle.

„Ich dachte, Sie seien im Büro!“ Die Küche sah chaotisch aus. Der Boden, die Anrichte und die beiden Kinder waren mit Mehl bedeckt. Überall standen benutzte Schüsseln und Tassen herum. Die Kinder hatten ihre eigene Rührschüssel für die Brownies, die sie gerade backten. Der Duft frisch gebackener Kekse lag in der Luft.

Tante Eugenia, die gerade den Teig ausrollte, blickte auf. Sie sah erst zu Jay, dann zu Deanna. „Gibt es ein Problem?“, fragte sie.

„Kommen Sie doch herein, junger Mann. Aber passen Sie auf Ihren dunklen Anzug auf, hier ist alles voll Mehl. Vielleicht sollten Sie sich umziehen, dann können Sie gern mithelfen“, forderte Tante Love Jay freundlich auf.

„Hallo, Daddy!“ Courtney strahlte ihren Vater an. „Wir backen Kekse. Ich bin dran mit Rühren.“

„Ich will auch!“, ließ Amy sich aus Deannas Armen vernehmen.

Sein Gesichtsausdruck bewies, dass Jay nicht gerade begeistert war. „Deanna, kann ich Sie einen Moment sprechen?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging hinaus in die Diele.

„Ich glaube, ich muss ihm das hier erklären. Tante Love, kannst du Amy nehmen?“ Deanna klopfte sich das Mehl von den Sachen, so gut es ging, und folgte Jay nach draußen.

Sie fand ihn im Wohnzimmer. Er stand am Fenster und sah hinaus. Als er sie hereinkommen hörte, drehte er sich um. Sein Ausdruck war schwer zu deuten.

„Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, dass ich meine Tanten zum Backen eingeladen habe“, begann sie. „Es fehlt ihnen, seit sie keine richtige Küche mehr haben. Die Mädchen sind begeistert. Bis zum Abendessen ist die Küche wieder sauber und aufgeräumt. Außerdem hatte ich gar nicht damit gerechnet, dass Sie hier sein würden. Ich dachte, Sie wollten den ganzen Tag arbeiten.“

„Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch?“, fragte er.

„Nein, so war das nicht gemeint. Wir hatten schon länger geplant, heute zu backen. Machen Sie doch einfach mit. Aber Tante Love hat recht, Sie sollten sich umziehen. Wir sind nämlich nicht gerade das bestorganisierte Küchenteam der Welt.“

Jay ließ den Blick über sie gleiten. Deanna spürte sein Interesse und wünschte, sie wäre nicht von Kopf bis Fuss mit Mehl bedeckt und hätte etwas Make-up aufgelegt. Ihn schien es allerdings nicht abzuschrecken. Er war ganz in ihren Anblick versunken.

„Jay?“ Sie hoffte, dass er ihr nicht anmerkte, wie verlegen sie war. „Kommen Sie, backen Sie mit Ihren Töchtern Kekse. Das wird ein besonderes Erlebnis für sie sein. Und Sie haben Gelegenheit, meine Tanten kennenzulernen.“

Nach kurzem Zögern war er einverstanden. „Gut. Ich ziehe mich nur schnell um.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wenn ich hinterher so aussehe wie Sie, sollte ich wohl besser meine ältesten Sachen heraussuchen.“

Deanna lachte. „Es wird Ihnen Spaß machen, Courtney und Amy zu beobachten. Sie bestehen darauf, nach jedem Rühren den Teig zu probieren. Sie wiegen die Zutaten nach Lust und Laune ab und wollen viel mehr machen, als sie schon können. Aber es macht ihnen einen Heidenspaß, und meine Tante haben ihre Freude daran.“

Er machte einen Schritt auf sie zu und berührte leicht ihr Kinn. „Und Sie? Macht es Ihnen nicht eine Menge zusätzlicher Arbeit?“

„Das ist es mir wert. Solche Tage bleiben Kindern in Erinnerung. Jeder Mensch sollte möglichst viele schöne Erinnerungen an seine Kindheit haben, finden Sie nicht?“

Jay schwieg nachdenklich und ließ sie los. „Ich sage Ihnen lieber nicht, was ich gerade denke.“ Er drehte sich um und ging die Treppe hinauf.

Sie sah ihm nach, bis er in seinem Schlafzimmer verschwunden war. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Wenn ihre Wangen so glühten, wie sie sich anfühlten, würden ihre Tanten ihr sofort anmerken, was mit ihr los war. Ein heißes Prickeln durchlief sie nach seiner Berührung. Das Gefühl war schön und erregend, aber es machte ihr auch Angst. Eine unglückliche Liebe kam in ihren Zukunftsplänen nicht vor.

Während sie in die Küche zurückging, gestand sie sich ein, dass es sehr schwer werden würde, sich Jay aus dem Kopf zu schlagen. Sie konnte es kaum abwarten, ihn in einigen Minuten wieder zu sehen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Tante Eugenia mit einem bedeutungsvollen Blick.

„Natürlich. Jay zieht sich schnell um, dann kommt er herunter und hilft uns. Das wird ein Spaß, Kinder! Euer Daddy backt mit uns Kekse.“

„Toll!“, freute sich Courtney. Sie steckte den Finger in den Teig und führte ihn zum Mund, wobei das meiste auf die Arbeitsplatte tropfte.

Deanna lächelte ihren Tanten zu und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie nervös sie war. Hoffentlich bestand Jay nicht darauf, dass sie sofort sauber machten und nicht erst, wenn sie mit Backen fertig waren. Sie befürchtete auch, dass er die Kinder kritisieren und entmutigen könnte. Natürlich waren die beiden keine große Hilfe, doch ihre glücklichen Gesichter waren ja der eigentliche Zweck des Backtags.

Ihre Sorgen stellten sich als unbegründet heraus. Als Jay sich wenige Minuten später zu ihnen gesellte, fügte er sich perfekt ein. Jedenfalls so perfekt, wie es bei einem großen, kräftigen Mann möglich war, der vom Backen nicht mehr verstand als seine Töchter. Er unterhielt sich entspannt mit ihren Tanten und lobte Courtneys Geschick beim Teigrühren. Als er aufmerksam beobachtete, wie Amy Tante Love dabei half, ein Blech Brownies aus dem heißen Ofen zu nehmen, sagte Deanna leise: „Keine Sorge, sie passt schon auf, dass Amy sich nicht verbrennt.“

Seine Augen funkelten belustigt. „Ich sehe selbst, wie vorsichtig Ihre Tante mit Amy ist. Ihre Tanten gehen beide sehr gut mit den Kindern um. Tante Eugenia ist die, die Arthritis hat, stimmt’s?“

„Ja. Aber sie lässt sich dadurch von nichts abhalten.“

„Wann bekommen wir denn die Brownies zu essen?“

„Sobald sie abgekühlt sind. Haben Sie Lust, ein paar Butterplätzchen auszustechen?“

„Gern, wenn Sie mir zeigen, wie das geht.“

„Liegt Ihre Kindheit denn schon so weit zurück?“, neckte Deanna ihn.

Jay zuckte die Schultern. „Wir haben immer alles im Laden gekauft. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter einmal zu Hause Kekse gebacken hätte.“

„Dann werde ich Ihnen jetzt zeigen, was ich kann. Passen Sie gut auf!“

„Das klingt ja sehr verführerisch“, antwortete er so leise, dass nur sie seinen neckischen Unterton hören konnte.

Ihr Puls beschleunigte sich, als Jay hinter ihr stand und ihr über die Schulter sah, während sie das Ausstechförmchen in den ausgerollten Teig drückte.

„So, jetzt sind Sie an der Reihe.“ Deanna drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Sie konnte die Fältchen in seinen Augenwinkeln sehen und spürte, wie sein Atem ihre Wange fächelte. Wenn er noch ein kleines bisschen näher käme, würden seine Lippen ihre berühren.

Die Zeit schien plötzlich still zu stehen. Das Blut rauschte Deanna in den Ohren, und der Raum um sie her versank. Für einen langen Augenblick schienen sie und Jay ganz allein auf der Welt zu sein.

Die Erinnerung an den Abschiedskuss vor einer Woche wurde wach. Jays Nähe weckte in Deanna dasselbe sinnliche Verlangen wie damals. Was würde passieren, wenn sie jetzt nur ein wenig den Kopf hob, damit ihr Mund seinen berührte? Beinah glaubte sie schon, seine heißen Lippen auf ihren zu spüren. Es fehlte nicht viel, und sie hätte ihrer Sehnsucht nachgegeben, ihn zu küssen, zu berühren und sich von ihren Gefühlen mitreißen zu lassen.

Jay hielt ihren Blick fest. Seine Augen verdunkelten sich. Fasziniert beobachtete Deanna, wie sie die Farbe von geschmolzenem Silber annahmen. Sie las in ihnen dasselbe Begehren, das sie empfand.

„Deanna!“

Es dauerte einen Moment, bis Tante Eugenias Stimme ihr ins Bewusstsein drang. Deanna blinzelte, kehrte in die Wirklichkeit zurück und sah zu ihrer Tante hinüber.

„Ja, Tante Eugenia?“

Ihre Tante zeigte auf Amy, die mit einem Backblech in den Händen neben Deanna stand. „Amy wartet darauf, dass du die Plätzchen auf das Blech legst.“

Eine heiße Woge der Verlegenheit durchflutete Deanna. Alle in der Küche blickten sie und Jay an. Ich muss verrückt geworden sein, schalt sie sich. Sie nahm Amy das Backblech ab.

„Amy, es tut mir leid, mein Kleines. Hier, rück deinen Hocker näher zu mir, dann kannst du dich draufstellen und siehst mehr. Ich habe schon ein paar Plätzchen ausgestochen, die anderen sind gleich soweit.“ Deanna konzentrierte sich auf die Plätzchen und versuchte, Jay zu ignorieren. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn vor ihren Tanten und seinen Kindern geküsst. Sie hoffte, dass die Mädchen davon nichts mitbekommen hatten. Auch er wirkte ein wenig verlegen.

Während Jay Plätzchen ausstach und auf das Backblech legte, dachte er über sein Verhalten nach. Wie nach einem Einsatz analysierte er, was gut und was weniger gut gelaufen war. In diesem Fall war die Liste seiner Fehler ziemlich lang. Er ging im Geiste die Schritte durch, die dazu geführt hatten, dass er beinah alles um sich her vergessen und Deanna geküsst hätte.

Sein größter Fehler waren die Anrufe aus Südamerika gewesen. Damit hatte es angefangen. Hätte er nicht jeden Abend mit ihr telefoniert, würde er sich jetzt nicht so stark zu ihr hingezogen fühlen. Er suchte ihren Blick, doch sie wich ihm aus. Während ihre Tanten unbefangen mit Courtney und Amy scherzten und auch ihn mit einzubeziehen suchten, sprach Deanna kein Wort. Sie hatte sich völlig in sich selbst zurückgezogen.

Aber vielleicht waren die Anrufe aus Südamerika gar nicht der Anfang, überlegte er weiter, sondern der Kuss vor seiner Abreise. Oder hatte es gar schon beim Vorstellungsgespräch begonnen?

Er musste laut gedacht haben, denn Deanna sah ihn verwundert an und fragte: „Wie bitte?“

„Nichts.“ Jay schüttelte den Kopf. Sie wandte sich schnell wieder ab. Er wollte die Hand auf ihre Wange legen und ihre zarte Haut spüren. Wie gern hätte er ihr das Mehl vom Kinn gewischt und tief in ihre blauen Augen geblickt! Er musste sich zusammennehmen. Er war hier, um Zeit mit den Kindern zu verbringen, und nicht, um eine Affäre mit dem Kindermädchen anzufangen.

„Möchte noch jemand ein paar Plätzchen ausstechen?“, fragte er seine Töchter. Angesichts der Unordnung in der Küche musste er an seinen Vater denken. Dieser hätte ein solches Chaos in seinem Haus nie zugelassen. Er hätte einen Wutanfall bekommen und dafür gesorgt, dass sofort aufgeräumt wurde. Doch er, Jay, war nicht wie sein Vater. Er freute sich darüber, dass seine Töchter so viel Spaß hatten. Die beiden hatten zwar keine Erinnerung an ihre Mutter, aber er würde dafür sorgen, dass sie viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit hatten. Deanna ist trotz ihrer Jugend sehr weise, dachte er. Er entspannte sich und begann, den Nachmittag zu genießen.

Eugenia war dabei, die Schüsseln abzuwaschen.

„Lass mich das machen, Tante Eugenia.“ Deanna trat neben ihre Tante an die Spüle.

„Ach, was. Das warme Wasser auf den Händen tut mir gut. Love war immer die Köchin in der Familie, und ich habe abgewaschen. Du kannst gern abtrocknen, wenn du möchtest.“

Deanna nahm sich ein Handtuch. Sie war froh, dass sie etwas zu tun hatte. Sie stapelte die trockenen Schüsseln auf der sauberen Arbeitsfläche neben der Spüle. Es war kaum zu glauben, wie viel Geschirr sie für einige Kekse gebraucht hatten.

Eugenia bearbeitete eine weitere Schüssel mit der Spülbürste und sah sich suchend um, ob noch irgendwo schmutziges Geschirr herumstand. Sie lächelte Deanna an. „Jay Masters war am Ende genauso voll Mehl wie seine Töchter. Ein sehr netter junger Mann.“

Deanna nickte. In den Augen ihrer über achtzigjährigen Tante war Jay wohl wirklich ein junger Mann. Dabei war er acht Jahre älter als sie.

„Ich finde, er hat eine sehr gute Beziehung zu seinen Kindern“, sprach Eugenia weiter.

„Anfangs hatte ich das Gefühl, dass er sehr förmlich ist“, erinnerte sich Deanna.

„Natürlich braucht ein Mann wie er Söhne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit diesen zarten, kleinen Mädchen Fußball spielt oder zu Sportveranstaltungen geht.“

Die Bemerkung ihrer Tante versetzte Deanna einen Stich. Sie wusste, dass Eugenia sie nicht verletzen wollte. Sie sprach einfach nur ihre Gedanken aus. Doch sie, Deanna, wurde dadurch wieder daran erinnert, warum sie und Jay nie zusammenkommen würden. Wenn er je wieder heiratete, dann eine Frau, die ihm gesunde Söhne schenkte. Jungen, mit denen er herumtoben, spielen und raufen konnte.

„Kommt er denn aus einer großen Familie?“, erkundigte sich Eugenia.

„Seine Eltern leben ganz in der Nähe. Er hat eine Schwester.“

„Ach ja, richtig. Rachael, die vor dir auf die Kinder aufgepasst hat.“

„Ja, Rachael.“ Die Worte ihrer Tante brachten auf den Punkt, was ihre Aufgabe in diesem Haus war. Sie passte auf die Kinder auf. Das war alles. Sie hatte die Stelle bei Jay Masters angenommen, um Arbeit und Studium miteinander verbinden zu können. Sie durfte nicht alles aufs Spiel setzen, indem sie sich in ihren Chef verliebte.

Am Spätnachmittag war das letzte Blech mit Keksen fertig gebacken. Die Mädchen lagen im Bett und hielten ihren Mittagsschlaf. Die Küche war wieder blitzsauber, und der appetitliche Duft frischen Gebäcks erfüllte das ganze Haus. Deanna machte sich auf die Suche nach Jay und fand ihn in seinem Arbeitszimmer am Computer.

„Können Sie ein Auge auf die Kinder haben?“, fragte sie. „Ich glaube, sie werden noch eine Weile schlafen. Aber wenn Sie aufwachen, wäre es gut, wenn Sie da sind.“

„Wo wollen Sie denn hin?“ Er blickte vom Computer auf.

„Ich bringe meine Tanten zurück ins Heim. Ich bin rechtzeitig wieder hier, um das Abendessen zu kochen.“

„Bleiben Ihre Tanten denn nicht zu unserer kleinen Feier? Das wäre bestimmt nett.“

„Ich hatte nicht eingeplant, dass sie zum Essen bleiben. Ich habe nicht genug Steaks.“

„Dann fahren Sie doch schnell zum Supermarkt. Ich leiste Ihren Tanten solange Gesellschaft.“ Jay speicherte seine Datei, schaltete den Computer aus und stand auf.

„Sind Sie sicher?“ Es war eine Sache, ihre Tanten zum Backen mit den Kindern hierher zu bringen, aber eine andere, sie zum Abendessen mit Jay einzuladen.

„Ganz sicher. Ihre Familie hat viel mehr Erfahrung im Feiern als ich. Wir brauchen sie, damit wir alles klappt.“

Deanna lachte. „Jay, es ist einfach ein Abendessen mit ein paar Extras. Das bekommen die Mädchen und ich schon allein hin.“

„Trotzdem geht nichts über Erfahrung. Los, gehen Sie schon einkaufen, Deanna!“

„Jawohl, Chef!“ Wieder einmal verspürte sie den verrückten Impuls zu salutieren.

Vielleicht lag es daran, dass sein Vater Admiral war, und etwas davon auf Jays Haltung abgefärbt hatte. Oder daran, dass sie es nicht gewohnt war, mit Männern umzugehen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie selten Männer um sich gehabt.

Die Stimmung beim Abendessen war festlich und dennoch ungezwungen. Deanna ließ die Mädchen ihre Lieblingskleider tragen und zog selbst ein hübsches Kleid an, das sie für besondere Anlässe aufbewahrte. Ihre Tanten bedauerten, dass sie in ihren einfachen Sommerkleidern nicht mithalten konnten, aber Deanna versicherte ihnen, dass sie sehr gut aussähen, vor allem nachdem sie sich das Mehl abgebürstet hatten.

Jay hatte sich ebenfalls schick gemacht. Er trug ein Sakko, hatte allerdings auf eine Krawatte verzichtet. Er erklärte Deanna, er wäre schließlich der Ehrengast. Daher hätte er das Recht, sich einige Freiheiten herauszunehmen.

Courtney und Amy hatten Bilder gemalt, die ihren Vater als Helden zeigten. Deanna hatte eine Skizze gezeichnet, auf der Jay in der einen Hand den Telefonhörer hielt, in der anderen ein Schwert. Er machte aus seiner Freude keinen Hehl, als sie ihm ihre Zeichnung überreichte. In dem Moment wusste sie, dass er sich genau wie sie an ihre abendlichen Telefongespräche erinnerte.

Eugenia und Love erzählten Geschichten von früheren Familienfesten. Die komischen Ereignisse aus ihrem und Deannas Leben brachten alle zum Lachen. Nachdem sie eine Anekdote über Deannas Schulabschlussfeier zum Besten gegeben hatten, wandte sich Eugenia an sie. „Genauso war es doch, Deanna, oder?“

Aber Deanna hatte gar nicht zugehört. Sie hatte in Gedanken ein neues Bild von Jay und seinen Töchtern entworfen. Diesmal stellte sie sich ihn vor, wie er hilflos inmitten von schmutzigen Teigschüsseln auf dem Fußboden saß, umgeben von einer Mehlwolke. Die Gesichter von Courtney und Amy sollten dem Ganzen Situationskomik verleihen. Ich werde die Kleider dunkel malen, damit der Kontrast zu dem Mehl stärker ist, nahm sie sich vor.

„Das hat sie manchmal“, sagte Eugenia gutmütig.

„Dass sie in Gedanken woanders ist?“ Jay betrachtete Deanna, die Courtney anblickte, offenbar ohne diese wahrzunehmen.

„Sie entwirft gerade ein neues Bild“, erklärte Tante Love. „Ach, diese Momente haben mir gefehlt!“

„Es passiert aus heiterem Himmel“, ergänzte Eugenia. „Sie hat eine Idee und verfällt dann in eine Art Trancezustand. Stimmt’s, Deanna?“, fragte sie laut.

„Wie bitte?“ Deanna sah ihre Tante ein wenig verwirrt an.

„Ich habe Jay gerade erzählt, dass du in Trance fällst, wenn du eine Idee für ein Bild hast.“

„Ja, manchmal schon.“ Deanna blickte Jay schuldbewusst an.

„Weiß er denn, dass du dann oft die ganze Nacht wach bleibst und zeichnest?“, neckte Tante Love sie liebevoll.

Deanna schüttelte den Kopf. „Damit ist es vorbei. Ich muss jetzt früh aufstehen wegen der Kinder. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Jay, dass ich meine Pflichten vernachlässige.“

„Über was für ein Bild haben Sie denn gerade nachgedacht?“

„Courtney und Amy beim Backen.“ Dass er in ihrem Entwurf auch vorkam, behielt sie lieber für sich. Sie konnte es kaum abwarten, ihren Skizzenblock zu nehmen und anzufangen.

Es war schon spät, als Deanna endlich allein in ihrem Zimmer war. Erst hatte sie ihre Tanten nach Hause fahren und die Kinder zu Bett bringen müssen. Einen Moment lang glaubte sie, Jay nach ihr rufen zu hören. Vielleicht hatte sie sich auch getäuscht. Sie beschloss, nicht darauf zu reagieren. Sie brauchte jetzt ein wenig Zeit für sich, um zu zeichnen.

Nichts beruhigte sie so sehr, wie ihren Kohlestift über das weiße Papier gleiten zu sehen. Es entstand eine Zeichnung nach der anderen: Jay am Telefon vor der Kulisse einer südamerikanischen Stadt, Jay, der mit Amy zusammen Plätzchen ausstach, Jay, wie er über einen Scherz von Tante Love lachte. Und Jay, wie er sich konzentriert über die Steaks auf dem Grill beugte.

Müde lehnte Deanna sich zurück und dehnte die Finger. Erschrocken stellte sie fest, dass es schon nach drei war. Sie packte die Zeichnungen in eine Mappe und verschnürte diese. Sie waren gut geworden, aber es wäre vernünftiger gewesen, früh schlafen zu gehen. Es wurde schon bald wieder Tag.

Deanna war immer noch zu angespannt, um einschlafen zu können. Nachdem sie das Licht ausgemacht hatte, lag sie noch lange mit offenen Augen da und blickte starr in die Dunkelheit. Sogar jetzt sah sie immer noch Jays Gesicht vor sich, erinnerte sich an seinen Kuss und sehnte sich danach, noch einmal von ihm gehalten und geküsst zu werden.

6. KAPITEL

Als Deanna am Sonntagmorgen aufwachte, wurde ihr bewusst, dass heute ihr erster freier Tag war, seit sie für Jay Masters arbeitete. Sie genoss das herrliche Gefühl, tun und lassen zu können, was sie wollte.

Zuerst würde sie sich ein Frühstück in einem Café mit Blick aufs Meer gönnen. Sie kannte eins mit einer großen Terrasse, ganz in der Nähe des Seniorenheims, in dem ihre Tanten jetzt wohnten. Sie wollte sich die Sonntagszeitung kaufen und sie beim Frühstück in aller Ruhe lesen.

Danach würde sie ihre Tanten abholen und mit ihnen zur Kirche in den Stadtteil fahren, in dem sie früher gewohnt hatten. Es war nett, die alten Freunde und Bekannten wiederzusehen. Anschließend konnten sie in einem kleinen Restaurant in der Nähe der Universität zu mittagessen. Wenn sie ihre Tanten zurück ins Heim gebracht hatte, würde sie Judy anrufen. Vielleicht hatte ihre Freundin Lust, ins Kino zu gehen.

In dem Gefühl, dass sie den ganzen Tag vor sich hatte, ließ Deanna sich mit dem Aufstehen und Anziehen Zeit. Noch bevor sie fertig war, hörte sie die Mädchen lärmend die Treppe hinunterlaufen. Sie lächelte und fragte sich, wie zwei kleine, zarte Geschöpfe so viel Krach machen konnten.

Das Wetter war sonnig und warm. Daher entschied Deanna sich für ein leichtes, buntes Sommerkleid. Ihr Haar band sie im Nacken zusammen, weil es so kühler war.

Auf dem Weg zur Haustür ging sie kurz bei Jay und den Kindern in der Küche vorbei, um sich zu verabschieden. Als sie in die Küche kam, saßen Amy und Courtney am Tisch und aßen ihre Frühstücksflocken. Jay stand am Tresen und schenkte sich einen Becher Kaffee ein. Er sah in den Shorts und dem ärmellosen T-Shirt umwerfend attraktiv aus. Der Anblick seines durchtrainierten, muskulösen Oberkörpers raubte Deanna für einen Moment den Atem.

Wieder reizte sie der Gedanke, ihn als heidnischen Krieger zu zeichnen und seine überwältigende männliche Ausstrahlung auf ein Blatt Papier zu bannen. Doch eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass es ihr nicht nur ums Zeichnen ging. Sie wollte jeden Zentimeter seiner Haut mit den Fingerspitzen erforschen, ihn streicheln und berühren, ihn riechen und schmecken. Wie mochte es sein, der Spannung nachzugeben, die sich von Tag zu Tag stärker zwischen ihnen aufbaute? Deanna zwang sich, ruhig zu atmen und freundlich zu lächeln, in der Hoffnung, dass Jay ihr nichts anmerkte.

Er hatte sie hereinkommen gehört und drehte sich zu ihr um. Seine Augen verdunkelten sich. Er ließ den Blick von ihrem Gesicht abwärts gleiten. Sie hatte das Gefühl, als würde er sie mit den Händen berühren. Ihr wurde heiß.

„Ich gehe jetzt“, sagte sie in die gespannte Stille.

Jay nickte.

„Wo willst du hin?“, fragte Courtney.

„Heute ist Deannas freier Tag. Wo sie hinwill, ist ihre Sache und geht dich nichts an“, erklärte Jay seiner Tochter. „Los, ihr beiden, esst auf.“

„Ich will mit!“

„Das geht nicht. Deanna braucht ein bisschen Zeit für sich allein.“

„Kommen Sie denn ohne mich zurecht?“ Auf einmal hatte sie gar keine große Lust mehr wegzufahren.

„Kein Problem.“

„Ich könnte früh genug wieder hier sein, um das Abendessen zu machen“, bot sie an.

„Das ist nicht nötig. Wir fahren zu meinen Eltern und kommen bestimmt erst spät am Abend zurück.“ Mit einem scherzhaften Unterton fügte er hinzu: „Aber ich weiß Ihr Angebot, an Ihrem freien Tag zu kochen, sehr zu schätzen. Das ist sehr verantwortungsbewusst.“

Deanna zuckte die Schultern. Es war nicht nur Pflichtbewusstsein. Sie fragte sich wirklich, ob Jay mit den Mädchen allein zurechtkam. Er war zwar ihr Vater, aber manchmal schien er mit den beiden ein wenig überfordert.

„Wenn ich nicht heute Nacht zu einem Kriseneinsatz gerufen werde, haben Sie Ausgang bis zum Wecken“, sagte er und lehnte sich lässig an den Tresen, die Arme vor der Brust verschränkt.

Deanna schaffte es gerade noch, ein Seufzen zu unterdrücken. Er wirkte unglaublich selbstsicher und ausgeglichen, wie er so dastand. Wenn sie nicht sofort ging, würde sie ihn am Ende noch fragen, ob sie ihren freien Tag nicht mit ihm verbringen durfte. Und natürlich mit den Kindern.

Jay beobachtete, wie Deanna den Kindern ein Abschiedsküsschen gab und ging. Er lehnte immer noch am Tresen und gab sich lässig. Dabei verspürte er das starke Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, bis die Welt um sie herum versank. Sie hatte atemberaubend ausgesehen, als sie in die Küche kam. Sie war schön, groß, schlank und sexy. Er fand sie attraktiver als jede andere Frau, die er kannte. Der fließende Stoff ihres Kleids schmeichelte ihr und ließ ihre Figur noch aufregender erscheinen. Der Rock schwang leicht beim Gehen und umspielte ihre langen Beine.

Jay hörte, wie sie ihren Wagen anließ und davonfuhr. Wohin wollte sie? Mit wem verbrachte sie ihren freien Tag? Und warum interessierte es ihn überhaupt? Es ging ihn nichts an, wie er vorhin zu Courtney gesagt hatte.

Trotzdem gelang es ihm nicht, seine Neugierde zu unterdrücken, ebenso wenig wie sein Verlangen. Jay stieß sich vom Tresen ab. Es gab viel zu tun. Seine Eltern warteten auf ihn und die Kinder, und er musste die beiden Mädchen anziehen. Er hatte keine Zeit zu träumen. Doch das war leichter gesagt als getan. Er fürchtete, dass ihm der Tag ohne Deanna sehr lang vorkommen würde.

Es war schon nach zehn Uhr abends, als er mit den Kindern nach Hause kam. Sein Vater hatte alles über die Befreiung der Geiseln in Südamerika wissen wollen. Er hatte mit dem Erzählen gewartet, bis sein Vater und er nach dem Essen allein waren. Daher hatten sie das Haus seiner Eltern so spät verlassen, dass die Mädchen im Auto sofort eingeschlafen waren.

Als er in die Einfahrt bog, stellte Jay erfreut fest, dass im Haus Licht brannte. Der alte Kombi stand auf seinem Platz vor der Garage. Deanna war also zu Hause. Sie musste ihn gehört haben. In dem Moment, als er den Motor abstellte, kam sie aus dem Haus.

„Sie haben zwar gesagt, es würde spät werden. Aber allmählich habe ich gar nicht mehr damit gerechnet, dass Sie heute noch nach Hause kommen“, sagte sie.

Sie hatte sich umgezogen und trug nicht mehr das Sommerkleid, sondern Shorts und ein knappes Top, dessen Farbe er in der Dunkelheit nicht richtig erkennen konnte. Aber ihre Silhouette im Gegenlicht verriet, dass es eng anlag und sehr sexy war. Er schluckte, wandte den Blick von ihr ab und stieg aus dem Auto.

„Wir sind spät losgefahren. Die Kinder schlafen fest. Ich trage sie nach oben, das Bad lassen wir heute wohl ausfallen.“

„Ich nehme Amy, wenn Sie Courtney tragen“, schlug Deanna vor und machte die hintere Autotür auf.

Jay war einverstanden. Einen Moment lang musste er jedoch an einen anderen Abend, ein anderes Haus und eine andere Frau denken. Beth und er waren von einem Besuch bei Freunden nach Hause gekommen. Courtney war noch ein Baby gewesen. Sie hatte im Auto geschlafen, und Beth hatte sie aus dem Kindersitz genommen und ins Haus getragen. Genauso, wie Deanna es mit Amy machte. Sie sah ganz anders aus als Beth, aber es wirkte genauso vertraut und selbstverständlich. Jeder Außenstehende hätte sie beide für Eltern gehalten, die ihre schlafenden Kinder ins Haus trugen.

Jay fragte sich, warum ihm in letzter Zeit ständig solche Gedanken kamen. Er brauchte bestimmt keine neue Ehefrau. Er hatte Deanna als Kindermädchen engagiert. Wenn die Kinder größer waren, würde er eine andere Lösung finden. Er und seine beiden Töchter waren eine vollständige Familie.

Gemeinsam trugen sie die Mädchen die Treppe hinauf ins Kinderzimmer, zogen ihnen die Nachthemden an und legten sie ins Bett. Die beiden waren nur kurz aufgewacht und sofort wieder eingeschlafen.

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte Jay ein wenig schroff, als Deanna Amy liebevoll zudeckte.

„Hatten sie viel Spaß bei ihren Großeltern?“, fragte sie und strich Amy über die Wange, als würde es ihr schwer fallen, sie loszulassen.

„Meine Mutter hat sie mit in den Country Club genommen, dort konnten sie im Schwimmbecken herumplanschen.“

„Das hat ihnen bestimmt gefallen! Sie mögen Wasser, wir haben neulich im Garten im Planschbecken gespielt. Ich wollte bald einmal mit ihnen zum Strand fahren. Courtney sagt, sie könne schon schwimmen.“

„Rachael hat es ihr letztes Jahr beigebracht. Amy war noch zu klein.“

„Sie wird es bestimmt bald lernen. Sonst macht sie ihrer großen Schwester ja auch alles nach.“

„Sie hat noch viel Zeit.“ Er betrachtete seine kleinen Töchter. Sie schienen so zart und zerbrechlich.

„Hatten Sie denn auch einen schönen Tag?“, fragte Deanna ihn.

Jay sah auf, direkt in ihre ausdrucksvollen, tiefblauen Augen. Für einen Moment vergaß er den Besuch bei seinen Eltern und dass er sich gerade im Kinderzimmer seiner Töchter befand. Das Einzige, woran er denken konnte, war, wie sehr er Deanna begehrte.

Er wich ihrem Blick aus und nickte nur kurz. „Es ist spät. Ich will Sie nicht länger vom Schlafen abhalten. Danke, dass Sie Amy ins Bett gebracht haben.“

„Gern geschehen. Gute Nacht“, erwiderte sie und verließ schnell das Kinderzimmer. Sie hatte enttäuscht geklungen, sogar ein wenig verletzt.

Autor

Barbara Mc Mahon
Barbara McMahon wuchs in einer Kleinstadt in Virginia auf. Ihr großer Traum war es, zu reisen und die Welt kennenzulernen. Nach ihrem College-Abschluss wurde sie zunächst Stewardess und verbrachte einige Jahre damit, die exotischsten Länder zu erforschen. Um sich später möglichst genau an diese Reisen erinnern zu können, schreib Barbara...
Mehr erfahren
Annette Broadrick
<p>Bis Annette Broadrick mit sechzehn Jahren eine kleine Schwester bekam, wuchs sie als Einzelkind auf. Wahrscheinlich war deshalb das Lesen immer ihre liebste Freizeitbeschäftigung. Mit 18 Jahren, direkt nach ihrem Abschluss an der Highschool, heiratete sie. Zwölf Monate später wurde ihr erster Sohn geboren, und schließlich wurde sie in sieben...
Mehr erfahren
Anne Mather
<p>Ich habe schon immer gern geschrieben, was nicht heißt, dass ich unbedingt Schriftstellerin werden wollte. Jahrelang tat ich es nur zu meinem Vergnügen, bis mein Mann vorschlug, ich solle doch meine Storys mal zu einem Verlag schicken – und das war’s. Mittlerweile habe ich über 140 Romances verfasst und wundere...
Mehr erfahren
Barbara McCauley
Mehr erfahren
Debbi Rawlins
Endlich daheim – so fühlt Debbi Rawlins sich, seit sie mit ihrem Mann in Las Vegas, Nevada, lebt. Nach viel zu vielen Umzügen beabsichtigt sie nicht, noch ein einziges Mal den Wohnort zu wechseln. Debbie Rawlins stammt ursprünglich aus Hawaii, heiratete in Maui und lebte danach u.a. in Cincinnati, Chicago,...
Mehr erfahren