Süße, wilde Madeline

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Vier Jahre lebte Madeline in Boston, nun kehrt sie nach England zurück. Dominic hat sie damals abgewiesen - jetzt will Madeline ihn...


  • Erscheinungstag 02.08.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779276
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der Sicherheitsgurt war angelegt, der Sitz hoch gestellt. Madeline verspürte jenes unverwechselbare Kribbeln in der Magengegend, das immer auftrat, wenn der Druck in der Kabine abnahm. Als sie ein vertrautes Brummen hörte, wusste sie, dass die riesige Boeing endlich zur Landung im Flughafen London Heathrow ansetzte. Plötzlich fühlte sie Panik in sich aufsteigen, und ihr Mund wurde trocken. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und ballte die Hände im Schoß zu Fäusten.

War sie wirklich bereit für dies alles?

Was für eine Frage! schalt sie sich im Stillen. Wie konnte sie sich ausgerechnet jetzt eine so sinnlose Frage stellen!

Natürlich war sie bereit. Und auch wenn es nicht der Fall gewesen wäre, wäre sie dennoch gekommen.

Nichts würde sie davon abhalten, an Ninas Hochzeit teilzunehmen – nicht einmal das Wiederaufflackern jener Panik, die sie während der vergangenen vier Jahre stets bekämpft hatte.

Vier Jahre, dachte sie gequält. Die Zeit, die sie im Ausland verbracht hatte, um für ihre Jugendsünden zu büßen, war sicher lang genug gewesen. Es bestand also kein Anlass, derart zu empfinden. Vier Jahre zuvor war sie, Madeline, einfach zu jung und unerfahren gewesen, um mit dem Schmerz und der Demütigung fertig zu werden. Damals hatte sie sich selbst am meisten geschadet. Nun bin ich aber vier Jahre älter, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie war klüger geworden und hatte die Reife und Gewandtheit erworben, die sie so dringend benötigt hatte. Diese Eigenschaften würden ihr dabei helfen, sich gegen das zu wappnen, was sie hier in London erwartete.

„Ist alles in Ordnung, Schatz?“

Madeline zwang sich, ihrem Begleiter ein zuversichtliches Lächeln zu schenken. Als Perry sich zu der Reise eingeladen hatte, hatte sie nach kurzem Zögern zugestimmt. Den Grund dafür kannte sie selbst nicht genau. Einerseits glaubte sie, allen daheim zeigen zu müssen, wie gut sie allein zurechtkam. Andererseits war ihr unangenehm bewusst, dass sie Perry für ihr neues Image brauchte.

Perry Linburgh war sozusagen ihre neueste Errungenschaft. Er war der älteste Sohn und Erbe einer sehr einflussreichen, wohlhabenden Bostoner Familie. Und so sieht er auch aus, stellte Madeline liebevoll fest, während sie sein ebenmäßiges Profil betrachtete. Er hatte aschblondes, modisch kurz geschnittenes Haar, haselnussbraune Augen und ein natürliches Lächeln, das ihn auf Anhieb sympathisch machte.

Perry und sie waren seit einigen Monaten zusammen, und ihre Beziehung ließ sich Madelines Ansicht nach am treffendsten als „herzlich platonisch“ beschreiben. Sie hatten beide eine gelöste Verlobung hinter sich und trösteten sich auf diese Weise darüber hinweg.

Als Ninas Einladung zu ihrer Hochzeit eingetroffen war, hatte Perry daher sofort vorgeschlagen, Madeline zu begleiten.

„Ich muss für meinen Vater einige Dinge in unserer Londoner Niederlassung regeln und kann die Reise damit verbinden. Dadurch werde ich wenigstens an den Wochenenden bei dir sein.“ Und dich nach Kräften unterstützen, falls es nötig ist, hatte er in Gedanken hinzugefügt. Sie verstanden sich ohne viele Worte.

„Wie ist deine Stiefschwester eigentlich?“ erkundigte er sich jetzt. „Doch wohl hoffentlich nicht von der bösen Sorte?“

„Nina?“ rief Madeline. „Du meine Güte, nein!“

Wenn überhaupt, überlegte sie reumütig, bin ich die böse Stiefschwester, und Nina ist der Engel.

Sie, Madeline, war das einzige Kind aus Edward Gilburns erster Ehe. Diese Verbindung hatte nur sechs stürmische Jahre gedauert, bevor ihre Eltern in gutem Einvernehmen geschieden wurden. In Anbetracht ihrer alles andere als freundschaftlichen Beziehung war das umso erstaunlicher. Madeline, die zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt war, blieb mit ihrem Vater in England. Ihre Mutter hingegen beschloss, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, denn sie war in Boston geboren und aufgewachsen. Dee sah ein, dass es ihrer Tochter das Herz gebrochen hätte, wenn man sie von ihrem Vater getrennt hätte. Madeline und Edward Gilburn brauchten einander mehr, als sie Dees bedurften. Dee zog also ohne Verbitterung nach Boston, wo Madeline sie daraufhin in regelmäßigen Abständen besuchte.

Als sie acht war, verkündete ihr Vater, er wolle wieder heiraten. Sie fasste den Entschluss, ihre Rivalin zu hassen, doch die schöne, sanftmütige Louise war die Liebenswürdigkeit in Person. Ihre Tochter Nina, zart und elfengleich, hatte dieselben ängstlich dreinblickenden kornblumenblauen Augen und denselben verletzlichen Zug um den Mund wie ihre Mutter. Als die verzogene, eigensinnige Madeline die beiden zum ersten Mal gesehen hatte, war sie überaus fasziniert gewesen.

Bei der Erinnerung an jene Zeit fragte sich Madeline, warum ihre sofortige Kapitulation alle derart überrascht hatte. Im Lauf der Jahre hatten ihr Vater und sie doch stets bewiesen, wie ähnlich sie sich in ihren Gedanken und Gefühlen waren und dass sie dieselben Menschen liebten.

Umso schmerzlicher war es für sie beide gewesen, als Dominic und sie sich getrennt hatten …

Dominic Stanton … Erneut fühlte Madeline Panik in sich aufsteigen. Seinetwegen war sie vier Jahre zuvor nach Boston geflohen. Und sie musste sich insgeheim eingestehen, dass sie sich auch seinetwegen entschieden hatte, nach England zurückzukehren.

Sie musste einen Schlussstrich ziehen unter eine Liebe, die längst erloschen war.

Als sie nach der langwierigen Abfertigung endlich ihren Gepäckwagen in die überfüllte Ankunftshalle schob, sah sie sich suchend in der Menge um. Dabei bemerkte sie nicht, dass sie alle Blicke auf sich zog.

Madeline war groß und schlank, und das klassische dunkelblaue Seidenkostüm, das sie trug, hatte dieselbe Farbe wie ihre Augen. Obwohl sie nach dem langen Flug etwas blass war, strahlten ihre Züge eine natürliche Schönheit aus. Ihr langes blauschwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, so dass sie genauso gepflegt aussah wie zwölf Stunden zuvor. Sie war eine auffallende Frau und schien dazu bestimmt zu sein, zu einem besonderen Mann zu gehören.

Ihr Begleiter passte hervorragend zu ihr. Er verkörperte die lässige Kultiviertheit eines wohlhabenden Elternhauses, und sein heller Teint bildete einen reizvollen Kontrast zu ihrer dunklen Eleganz.

„Madeline!“

Sie wandte sich um und entdeckte die große Gestalt ihres Vaters. Mit einem leisen Aufschrei warf sie sich ihm in die Arme.

„Du hast dich verspätet“, beschwerte er sich, nachdem er sie freigegeben hatte. „Ich warte bereits seit über zwei Stunden hier.“

Madeline lächelte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Die Sicherheitsvorkehrungen sind doch nur zu unserem Besten.“

Edward Gilburn hielt seine Tochter auf Armeslänge von sich, um sie anzuschauen. „Du siehst zum Anbeißen aus“, erklärte er, „und es ist mir ein Rätsel, wie du das nach einer solchen Reise schaffst.“

„Mummy erweist sich in einigen Dingen als ganz nützlich“, sagte sie und lachte, weil ihr Vater geringschätzig die Augen verdrehte.

Ihre Eltern hatten nicht allzu viel füreinander übrig. Ihr Vater betrachtete Dee als schöne, aber dumme Partylöwin, während diese ihren Exmann für einen ungehobelten, unsensiblen Tyrannen hielt. Das Einzige, worin sie sich einig waren, war der Wunsch nach dem Wohlergehen ihrer Tochter.

„Wo ist denn nun der junge Mann, von dem deine Mutter mir so viel erzählt hat?“

Madeline drehte sich um und hielt Ausschau nach Perry. Sie bemerkte, dass ein großer, dunkelhaariger Mann zu ihm getreten war und ihn wie einen alten Freund begrüßte.

„Forman!“ rief sie überrascht.

Der Mann lächelte und kam zu ihr, um sie auf die Wange zu küssen. Sie war Forman Goulding einige Male in Boston begegnet. Er war Perrys Cousin und kümmerte sich um die geschäftlichen Belange seiner Familie in Europa. Er verfügte über genau die maskuline Ausstrahlung, vor der sie neuerdings zurückschreckte.

Während seines Aufenthalts in London würde Perry bei Forman wohnen und Madeline lediglich an den Wochenenden in Lambourn besuchen. Nachdem sie sich alle begrüßt hatten und Edward Gilburn Forman und Perry nach Lambourn eingeladen hatte, verließen sie das Flughafengebäude. Draußen neben dem Bentley erwartete sie bereits Rogers, der Chauffeur, der sogleich das Gepäck im Kofferraum verstaute. Der Wagen davor konnte nur Forman Goulding gehören.

Perry nahm Madeline in die Arme und küsste sie sanft. Dann versprach er, bis Samstag Mittag bei ihr in Lambourn zu sein.

„Das war eine nette Zuneigungsbekundung“, sagte ihr Vater, sobald sie im Wagen saßen und Rogers gestartet war.

„Tatsächlich?“ murmelte Madeline und wechselte geschickt das Thema. Sie erkundigte sich bei ihrem Vater nach den neuesten Ereignissen und lauschte aufmerksam seinen Erzählungen.

Mit seinen fünfundfünfzig Jahren war Edward Gilburn noch immer ein ausgesprochen attraktiver Mann. Er hatte dichtes, vorzeitig ergrautes Haar und war von einer Aura der Macht umgeben. Beruflich ging er stets große Risiken ein, und der Umstand, dass er immer die richtige Entscheidung traf, brachte ihm allgemeinen Respekt in seiner Branche ein. Im Spekulationsgeschäft wagte es niemand, ihn zu unterschätzen.

„Und was ist dieser Charles Waverley für ein Typ?“ fragte sie, da ihr Vater Ninas neuen Verlobten bisher nicht erwähnt hatte. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass unsere kleine Nina heiratet und das Haus verlässt“, fügte sie trocken hinzu.

„Charles ist der perfekte Ehemann für sie“, versicherte Edward Gilburn. „Er trägt sie auf Händen.“

Madeline schwieg. Immer wenn sie an Liebe und Ehe dachte, wurde ihr das Herz schwer. Sie hatte gelernt, mit diesem Gefühl zu leben und es zu unterdrücken, damit niemand es erriet. Liebe war für sie nur mit bitteren Erinnerungen und Erfahrungen verbunden, die sie nicht einmal ihrem schlimmsten Feind wünschte.

„Und wie geht es Louise?“ erkundigte sich Madeline weiter.

„Sehr gut“, erwiderte ihr Vater bestimmt, und seine Miene verriet den ganzen Stolz eines Ehemannes, der seine Frau abgöttisch liebte. Louise passte wesentlich besser zu ihm als Dee, denn ihr war es gelungen, die sanftere Seite seines Charakters zum Vorschein zu bringen. „Und sie freut sich darauf, dich wieder zu Hause zu haben“, ergänzte er herzlich.

Daran zweifelte Madeline nicht. Louise war eine wunderbare Stiefmutter gewesen, und sie hatte sich weder zwischen Vater und Tochter gestellt noch Dee schlecht gemacht.

„Sie wollte dich überraschen und hat deine Zimmer komplett neu gestalten lassen. Dann hat sie sich Sorgen gemacht, ob sie nicht doch alles beim Alten hätte lassen sollen. Nina konnte sie gerade noch davon abhalten, es wieder rückgängig zu machen.“ Er klang ausgesprochen erleichtert. „Sie hat ihr gesagt, dass die neue Madeline, von der ich ihnen berichtet habe, es hassen würde, in einem bonbonrosa Zimmer mit Verzierungen und Rüschen zu schlafen.“

Madeline lachte höflich, doch tief in ihrem Innern empfand sie ein intensives Gefühl des Verlustes. Würden die anderen sie jetzt als Fremde betrachten? Sie erschauerte bei der Vorstellung. Nein, sie war endlich erwachsen geworden, das war alles.

Edward Gilburn hingegen, der seine Tochter verstohlen beobachtete, ahnte, was sie bewegte. Als sie vier Jahre zuvor nach Boston abgereist war, hatte er sich schreckliche Sorgen um sie gemacht. Er hatte andererseits zugeben müssen, dass Dee großartig zu ihr war. Sie zwang Madeline regelrecht dazu, wieder unter Menschen zu gehen, statt zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen. Dennoch fragte er sich beunruhigt, ob diese schockartige Therapie seine Tochter verändern würde. Obwohl er sich während seiner regelmäßigen Besuche in Boston von ihrem Wohlergehen überzeugt hatte, war er nicht allzu glücklich über den starken Einfluss, den ihre relativ oberflächliche Mutter auf sie ausgeübt hatte.

Von der übersprudelnden Lebensfreude, die Madeline mit achtzehn zu einer so bezaubernden Person gemacht hatte, war nichts mehr zu spüren. Dee hat wirklich ganze Arbeit geleistet, dachte er grimmig.

Und einmal mehr verfluchte er Dominic Stanton, der dafür verantwortlich war, dass seine Tochter sich in den Einflussbereich ihrer Mutter begeben hatte.

„Nina fürchtete schon, du würdest nicht kommen“, sagte er leise.

„Du meinst, wegen Dominic?“ Wie immer kam Madeline gleich zur Sache, und ihr Vater schmunzelte. Offensichtlich war es Dee nicht gelungen, sie in dieser Hinsicht zu zügeln. Seine Miene verfinsterte sich gleich wieder bei der Erinnerung daran, wie diese Aufrichtigkeit es Madeline umso schwerer gemacht hatte, das Scheitern ihrer Beziehung zu Dominic zu ertragen.

„Was Dominic mir angetan hat, war grausam“, sagte Madeline ohne Umschweife. „Aber was ich ihm angetan habe, war unverzeihlich. Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, um das einzusehen“, gestand sie und lächelte schwach. „Und wenn ich recht darüber nachdenke, hat Mummy mich genauso grausam behandelt.“ Sie zuckte mit den Schultern und blickte ihren Vater forschend an. „Hast du ihr geraten, mich nicht in Selbstmitleid zerfließen zu lassen?“

Madeline konnte die Antwort an seinem Gesichtsausdruck ablesen. Wenn jemand sie zu nehmen wusste, dann war es dieser Mann. „Danke.“ Sie lehnte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Dein Instinkt lässt dich selten im Stich, stimmt’s?“

„Bei Dominic schon“, sagte Edward Gilburn. Er hatte Dominic Stanton gemocht und respektiert, und wie dessen Familie hatte er die Beziehung zwischen den beiden gefördert. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass seine Tochter ihren Willen stets durchsetzte.

Sie hatte Dominic gewollt – so sehr, dass allein die Erinnerung daran sie noch schmerzte. „Wir haben einfach nicht zusammengepasst“, erklärte sie. „Vielleicht sollten wir dafür dankbar sein, dass wir es rechtzeitig gemerkt haben.“ Unvermittelt wechselte sie das Thema. „Was macht Charles Waverley eigentlich genau?“

„Er leitet einen Rennstall, und zwar sehr erfolgreich …“

Edward Gilburn beobachtete, wie das Gesicht seiner Tochter wieder einen verbindlichen Ausdruck annahm und jede Gefühlsregung darin erlosch. Er ertappte sich dabei, wie er sich nach der Zeit sehnte, als Madeline seinen Seelenfrieden gestört und ihn immer wieder aufs Neue schockiert hatte. Während Nina ausgesprochen häuslich war, heckte Madeline stets etwas aus, was ihr seinen Zorn einbrachte – und seinen geheimen Respekt. Sie ritt wie eine Amazone und übte jede erdenkliche Sportart mit Begeisterung aus. Später, als sie eine wilde, eigensinnige junge Frau war, steckte sie all die jungen Männer, die in sie vernarrt waren, in die Tasche.

Dee zufolge waren seine Erziehungsmethoden der Grund für Madelines Wildheit. Sogar sie musste jedoch einräumen, dass ihre Tochter die Männer nur so anzog. Obwohl Madeline sehr eigenwillig war, besaß sie die seltene Eigenschaft, über sich selbst lachen zu können.

Dominic hatte nicht gelacht, dieser verdammte Narr! Falls er es in jener schicksalhaften Nacht auf dem Ball des Country Clubs getan hätte, wäre sie vielleicht nicht davongelaufen. Vielleicht würde sie dann nicht neben ihm, Edward Gilburn, sitzen und mit der Gelassenheit eines Mitglieds der gehobenen Gesellschaft sprechen.

Womöglich hätte Madeline sich im Laufe der Zeit ohnehin in die gleiche Richtung entwickelt, und Dominic Stanton hatte lediglich einen natürlichen Prozess beschleunigt. Das konnte Edward Gilburn sich allerdings nicht vorstellen. Er kannte seine Tochter und wusste, welche Kraft sie antrieb, denn dieselbe Kraft hatte auch ihn angetrieben. Er hatte mehr als vierzig Jahre benötigt, um sein Temperament zu zügeln, und hatte von Madeline nicht erwartet, dass sie es früher schaffte.

Nein, Dominic war dafür verantwortlich. Er hatte sie gelehrt, ihre Impulsivität und ihr wahres Ich zu unterdrücken!

Was für ein feierliches Empfangskomitee, dachte Madeline, als der Wagen vor dem grauen Herrenhaus hielt. Louise, Nina und ein ernst dreinblickender Mann standen am Fuß der breiten Steintreppe, um sie zu begrüßen.

Louise hatte sich nicht verändert, seit Madeline sie vier Jahre zuvor zum letzten Mal gesehen hatte. Klein und zierlich, hatte sie noch immer wundervolles goldblondes Haar. Ihr Lächeln war genauso sanft wie damals bei ihrer ersten Begegnung. Nina hingegen hatte sich verändert, wie Madeline erschrocken feststellte. Ihre Stiefschwester war schöner geworden, und ihr hellblondes Haar umrahmte in weichen Locken ihr engelhaftes Gesicht. Bei dem Mann musste es sich um Charles Waverley handeln. Er war groß und wettergegerbt und hatte die Statur eines Landwirts. In seinen dunkelbraunen Augen lag ein reservierter Ausdruck.

Madeline lächelte ihm zuerst zu. Vermutlich erwartete Nina von ihr, dass sie ihren zukünftigen Mann in der Familie willkommen hieß.

Charles Waverley warf Nina einen unsicheren Blick zu, bevor er Madeline anschaute. Madeline bemerkte den Anflug von Erleichterung in seinen Zügen. Es schien, als hätte Charles eine sehr wichtige Prüfung abgelegt und als wäre er froh, dass diese nun vorüber war.

„Madeline, mein Schatz!“ Louise trat als Erste vor und umarmte sie. „Ich freue mich so, dich zu Hause zu haben!“ Wie Edward zuvor, hielt sie sie anschließend auf Armeslänge von sich, um sie zu betrachten. „Du siehst so anders aus, so schrecklich elegant!“

„Es ist nett, wieder hier zu sein“, erklärte Madeline, die die überschwängliche Begrüßung nicht erwidern konnte. Das wird schon wieder, versuchte sie sich einzureden und schalt sich insgeheim für ihre Zurückhaltung. Erst in diesem Moment, da sie mit diesen ihr so vertrauten Menschen zusammen war, fiel ihr auf, wie sehr sie sich während der vergangenen Jahre unter Kontrolle gehalten hatte. „Und du hast dich überhaupt nicht verändert.“ Sie bemühte sich, natürlich zu klingen. „Hoffentlich macht es Nina nichts aus, wenn ich dir sage, dass ich zwei Mal hinschauen musste, um euch voneinander zu unterscheiden.“

„Dafür bekommst du einen Kuss“, sagte Nina spontan und nahm ihre Stiefschwester in die Arme. „Dass ich wie Mummy aussehe, ist das schönste Kompliment, das man mir machen kann. Hallo, Madeline“, fügte sie heiser hinzu. „Hast du uns vermisst?“

„Jeden Tag“, versicherte Madeline, die die Wahrheit nicht eingestehen mochte. Tatsächlich hatte sie um ihrer selbst willen in den ersten Jahren alles verdrängt, was sie nur im Entferntesten an zu Hause erinnerte. „Und du siehst wunderbar aus. Hat das vielleicht mit dem tollen Typen da zu tun?“ neckte sie.

Nina errötete und wandte sich um, um Charles Waverley zu sich zu ziehen. „Das ist Charles, Madeline“, stellte sie vor. „Und wenn ihr euch nicht auf Anhieb sympathisch seid, macht ihr mich unglücklich.“

Madeline streckte ihm die Hand entgegen. „Ich verspreche Ihnen, Sie auf Anhieb zu mögen, Charles, falls Sie mir versprechen, gut auf Nina aufzupassen.“

„Es wird mir nicht schwer fallen, das Versprechen zu halten.“ Er lächelte und schüttelte ihr die Hand.

„Lasst uns doch hineingehen“, forderte Edward Gilburn sie auf und ergriff den Arm seines zukünftigen Schwiegersohnes. „Frauen sind einfach albern, wenn es um Begrüßungs- oder Abschiedszeremonien geht. Wir können einen Drink zu uns nehmen, während die drei miteinander tratschen.“

Lachend folgten die Frauen ihnen ins Haus und plauderten dabei angeregt – oder besser gesagt, Nina und Louise plauderten. Madeline lauschte ihren Erzählungen und warf dann und wann etwas ein. Im Gegensatz zu ihr schienen die beiden ihre Zurückhaltung nicht zu bemerken. Das wird schon wieder, sagte sie sich erneut und runzelte die Stirn. Sobald sie sich eingelebt hatte, würde alles so sein wie früher.

2. KAPITEL

Madeline hatte sich jedoch geirrt, denn nichts war so wie früher. Daher floh sie aus dem Haus, sobald sie konnte.

Es war ein klarer Vollmondabend im April. Sie lenkte Minty, ihre Fuchsstute, in Richtung Fluss und trieb sie zu einem gemächlichen Galopp an. Obwohl es nicht einmal neun Uhr war, war es ziemlich kalt, so dass sie zu Jeans und Pullover eine Schaffelljacke trug.

Ihre Familie hatte ihren Entschluss, allein auszureiten, besorgt aufgenommen, sie aber dennoch gehen lassen. Nicht, dass Madelines Sicherheit ihnen nicht am Herzen lag. Seit Madeline alt genug war, ein Pferd zu besteigen, war sie in dieser Gegend ausgeritten. Es verletzte ihre Familie nur, dass sie so kurz nach ihrer Ankunft das Bedürfnis verspürte, allein zu sein.

An diesem Abend hätte sie nicht mehr ertragen können.

Ihre Familie hatte ihr das Gefühl vermittelt, als wäre sie eine Kranke, die zur Genesung nach Hause gekommen war. Alle fassten sie mit Samthandschuhen an und hatten vorher offenbar abgesprochen, welche Themen in ihrer Gegenwart tabu waren. Bereits nach zwei Stunden sehnte Madeline sich danach zu fliehen. Wegen ihrer eigenen Anspannung und der Unsicherheit ihrer Familie stellte das Abendessen eine Tortur für sie dar.

Als sie die besorgten Mienen der anderen bemerkte, nannte sie die Zeitverschiebung als Grund für ihre innere Unruhe. „Natürlich!“ rief ihr Vater ein wenig zu verständnisvoll. „Ein Ausritt ist jetzt genau das, was du brauchst, um dich wieder zu Hause zu fühlen!“ Louise hatte zugestimmt, während Nina sie lediglich aus großen Augen angeblickt hatte.

Madeline presste die Lippen zusammen. Sie hatte ihre Familie verletzt, doch sie konnte es momentan nicht ändern. Vier Jahre waren eine lange Zeit. Alle mussten sich darauf einstellen – besonders ihre Familie, denn sie war ein anderer Mensch geworden.

Mintys Hufe stampften auf den gefrorenen Boden, und Madeline gab sich ganz dem berauschenden Gefühl des Ausritts hin. Je weiter sie sich vom Haus entfernte, desto mehr entspannte sie sich.

Sie wusste nicht, warum sie so empfand. Von dem Augenblick an, da sie aus dem Wagen gestiegen war, hatte sie eine Art Lähmung überkommen. Fast wurde sie heimgesucht von Erinnerungen, über die niemand von ihnen auch nur nachzudenken vermochte.

Eine Baumgruppe, die sich dunkel gegen den Himmel abhob, kennzeichnete eine scharfe Biegung des Flusses. Nachdem Madeline das kleine Wäldchen umrundet hatte, traf sie auf den Pfad, der direkt zum Fluss führte. Da sie früher oft hier entlang geritten waren, fand Minty ihr Ziel allein: Zwischen den Bäumen erstreckte sich eine kleine Lichtung, auf der das weiche Gras bis zum steilen Ufer reichte.

Madeline liebte diesen Ort. Sie saß ab und stand regungslos da, um die friedliche Atmosphäre ihrer Umgebung in sich aufzunehmen, die um diese Zeit eine sehr viel intensivere Wirkung auf sie ausübte. Ihr Vater hatte sie stets ein Wesen der Nacht genannt. „Du bist wie eine Eule, Nina ist wie eine Lerche“, hatte er gesagt.

Der Mond tauchte alles in ein fahles Licht. Lediglich auf dem Wasser, das majestätisch dahinfloss, formten seine Strahlen silberne Muster.

Sie ließ die Zügel fallen, damit das Pferd grasen konnte, und sog tief die kühle, klare Luft ein. Als sie wieder ausatmete, spürte sie, wie ihr Körper sich allmählich entspannte. Ihr war bewusst, dass sie ihrer Familie gegenüber unfair war. Sie waren freundliche, liebevolle Menschen, die für sie nur das Beste wollten und ihr Glück wünschten.

Aber wie sollte sie, Madeline, ihnen klar machen, dass sie vergessen hatte, was Glück bedeutete? Das wahre Glück hatte sie bereits erfahren, ohne sich damals jedoch Gedanken darüber zu machen.

Sie seufzte und ging zum Ufer, wo das Wasser einige Meter tiefer gegen den Kieselgrund plätscherte.

Auf der anderen Seite des Flusses, hinter einer weiteren Baumgruppe versteckt, erhob sich dunkel ein altes Gebäude, von dem lediglich die Schornsteine zu erkennen waren. Es stammte aus der elisabethanischen Zeit, und angeblich spukte es darin. Sein Besitzer, Major Courtney, hatte diesen Behauptungen nie widersprochen. Er war ein exzentrischer Einsiedler, der seine Privatsphäre stets grimmig verteidigt hatte. In ihren stürmischen Jugendjahren hatte Madeline es geliebt, ihn zu provozieren, indem sie sich in seinen verwilderten Garten geschlichen hatte. Jedes Mal war er dann mit seinem Gewehr im Anschlag aus dem Haus gelaufen.

Die Stille, die sie umgab, übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Madeline fühlte, wie die Trostlosigkeit, die sie bei ihrer Ankunft im Elternhaus ergriffen hatte, von ihr wich. Sie, Madeline, hatte nicht damit gerechnet, dass alles, was sie ansah, sie an Dominic erinnerte.

„Zur Hölle mit ihm“, flüsterte sie und kuschelte sich enger in ihre Jacke.

„Noch ein Schritt, und du fällst die Böschung hinunter“, warnte eine leise Stimme hinter ihr.

In diesem Moment wurde der Mond von einer kleinen Wolke verdeckt. Mit einemmal von Dunkelheit umgeben, stieß Madeline einen erstickten Schrei aus. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und vor Angst war sie drauf und dran, tatsächlich hinunterzuspringen.

Sie wirbelte herum, die Augen vor Schreck geweitet, und versuchte, in der Dunkelheit eine Gestalt auszumachen.

Neben Minty stand ein anderes Pferd. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie den Reiter gar nicht bemerkt hatte. Es war jedoch niemand zu sehen, und sie stand mucksmäuschenstill da, während die plötzliche Stille förmlich in ihren Ohren dröhnte.

„Wer ist da?“ fragte sie mit zittriger Stimme.

„Was glaubst du wohl?“ kam die spöttische Antwort.

Als sie die dunkle Stimme erneut vernahm, verflog ihre Furcht, und eine andere, weitaus beunruhigendere Empfindung ergriff von ihr Besitz. Dort, wo die Pferde standen, bewegte sich etwas, und Madeline ballte die Hände zu Fäusten.

Die große Gestalt eines Mannes löste sich aus dem Schatten der Bäume.

„Die verlorene Tochter ist also zurückgekehrt.“

„Hallo, Dominic“, sagte sie und zwang sich, kühl und unbeteiligt zu klingen. „Was führt dich ausgerechnet heute Nacht hierher?“

Autor

Michelle Reid
Michelle Reid ist eine populäre britische Autorin, seit 1988 hat sie etwa 40 Liebesromane veröffentlicht. Mit ihren vier Geschwistern wuchs Michelle Reid in Manchester in England auf. Als Kind freute sie sich, wenn ihre Mutter Bücher mit nach Hause brachte, die sie in der Leihbücherei für Michelle und ihre Geschwister...
Mehr erfahren