Süße Zeit der Wunder

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Ianthe hat es geahnt: Die glühenden Liebesbriefe ihres Verlobten hat in Wirklichkeit sein Freund Jeremiah Faulk verfasst. Nun ist sie Witwe, und kurz vor Weihnachten steht Jeremiah vor ihrer Tür …


  • Erscheinungstag 27.11.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751513401
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Der lange Krieg war vorüber. Napoleon hatte sich unter Protest auf der Atlantikinsel St. Helena einrichten müssen. Da war es doch gewiss höchste Zeit, dass das Parlament, befreit von den Sorgen des Schlachtenlärms, sich an eine die ganze Bevölkerung betreffende Gesetzesvorlage machte, nämlich an ein Gesetz gegen das Zaudern.

Ich kann nicht die Einzige in England mit Hang zum Aufschieben sein, dachte Ianthe Mears. Sie hockte auf ihrer Bettkante und betrachtete den Inhalt ihres offenen Kleiderschranks und die herausgezogenen Schubfächer ihres Schreibtischs. In den Möbelstücken hatte sich das Treibgut von zehn Jahren angesammelt. Ungeachtet der Tatsache, dass sie keineswegs eine reiche Witwe war. Sie hatte einfach zu viel Zeug angehäuft und hatte es immer wieder aufgeschoben, sich von etwas zu trennen – bis heute, als sie ihren Sachwalter ermächtigt hatte, ihr Haus zum Verkauf auszuschreiben.

Sie musste umziehen. Das Problem war, dass sie ebenfalls aufgeschoben hatte, Jem zu erklären, warum sie erst kürzlich eine Kaution auf eine Mietwohnung im oberen Stockwerk von einem der bescheideneren Speiselokale Torquays hinterlegt hatte. Gewiss, er war erst zehn Jahre alt und betrachtete die Sache als Abenteuer, weswegen er nicht verwundert gewesen war, als sie ihn auf Verschwiegenheit eingeschworen hatte.

„Wenn du nach Plymouth fährst, um Diana heimzubegleiten, sag ihr kein Wort davon“, hatte sie gedrängt, als sie ihn auf das Frachtboot, das die Küstenroute fuhr, brachte und ihm außerdem ans Herz legte, Matrosen und anderen zwielichtigen Charakteren aus dem Weg zu gehen. Besser, sie selbst sagte es Diana. Das Haus zu verkaufen ging nämlich einher mit dem nicht so unwichtigen Detail, dass die häuslichen Sparmaßnahmen auch bedeuteten, die weitere Ausbildung für ihre geliebte Tochter in Miss Pyms Mädchenpensionat in Bath würde entfallen.

Wenn sie ihre Kinder erst wieder beide unter ihrem Dach hatte, würde sie ihnen natürlich irgendwann erklären müssen, warum sie sie ihrem bisherigen Heim entrissen und Dianas Internatskarriere – also ihre Studien in Italienisch, feiner Handarbeit und Weltliteratur – ein Ende gesetzt hatte.

Ärgerlich über sich selbst ließ Ianthe sich rücklings auf das Bett fallen, starrte an die Decke und wünschte zum zigsten Mal, ihr möge eine andere Möglichkeit einfallen, wie sie genug Geld für Dianas Mitgift beiseitelegen könnte und auch noch so viel übrig hätte, um Jem eine Lehre bei einem Kaufmann in Torquay oder Plymouth zu verschaffen. Wenn sie nicht jetzt Opfer brachten, würde es für keinen ihrer beiden Lieblinge eine Zukunft geben.

Sie stand auf und steckte diverse Kleider, die längst aus der Mode waren, in eine große Schachtel, bis die alten Uniformen ihres verstorbenen Gatten nicht mehr zu sehen waren. Zehn Jahre war es her, dass er bei Trafalgar gefallen war, und immer noch brachte sie es nicht über sich, die blauen Marineuniformen anzuschauen. Da deckte sie sie besser mit den übrigen Kleidungsstücken zu. Ein zufälliger Beobachter hätte Ianthe Mears Verehrung für ihren dahingeschiedenen Marinehelden – war nicht jeder, der bei Trafalgar dabei war, ein Held? – bedauert, hätte jedoch ihren Konflikt nie verstanden.

Die Jahre hatten den grausamen Schmerz über James’ Tod gemildert; nur gelegentlich entfloh ihr noch der ein oder andere Seufzer. Unmittelbar nach seinem Tod hatte sie nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft ihrem Zorn darüber Schweigen gebieten können, dass ihr Ehemann sie verarmt und mit einem Kind unter dem Herzen zurückgelassen hatte. Eine kurze Weile hatte sie Jim sogar gehasst, bis der Kummer überwog, ein Gram, so wahrhaft, dass er dem forschenden Blick jeder kritischen Matrone standhielt.

Die profane Überlegung, was aufbewahrt, was weggegeben werden sollte, besänftigte sie nun. Eben stellte sie die Schachtel mit Jims Briefen fort, als sie darunter einen einzelnen Brief entdeckte. Es war der, den Jeremiah Faulk ihr nach der Schlacht bei Trafalgar geschickt hatte, in dem sich auch Jims letztes, nur halb fertiges Schreiben befand. Schon wollte sie es zu den anderen in die Schachtel legen, da sah sie einen weiteren Brief.

Sie setzte sich wieder auf das Bett und drehte und wendete ihn zwischen den Fingern. Sollte sie ihn behalten? Sechs Monate nach Trafalgar hatte Miah ihn in kaum zu entziffernder Handschrift hingekritzelt und ihr darin mitgeteilt, ihm sei aufgetragen worden, ihr Jims Anteil am Prisengeld anzuweisen.

„Lügner. Du schicktest mir deinen Anteil!“, sagte sie leise und trocknete sich mit dem Schürzenzipfel die Augen, die ihr selbst jetzt noch, nach zehn Jahren, feucht wurden, wenn sie an seine Großherzigkeit im Angesicht der eigenen kargen Mitteln dachte. Als sie damals die Bankanweisung erhielt, wusste sie, sie sollte das Geld zurückgeben, doch sie hatte es benutzt, um das Haus zu erwerben, in dem sie bis heute lebten und das sie nun zu verkaufen beabsichtigte. In einem kurzen Schreiben hatte sie ihm ihre Dankbarkeit bekundet, jedoch nie wieder etwas von ihm gehört. Sie hätte ihm gerne weiterhin geschrieben, war sich jedoch bewusst, wie ungehörig das gewesen wäre.

Ianthe fand, dass sie das Blatt nicht wegwerfen konnte, und legte es in die Schachtel. Sie schaute aus dem Fenster auf die winterlich kalte Tor Bay. Ihre Mutter hatte nie verstanden, warum sie nach dem Tode ihres Vaters nicht mit ihr nach Northumberland gezogen war. Wie entsetzt Mama gewesen wäre, wenn ihre hochanständige Tochter ihr gestanden hätte, dass sie in Torquay geblieben war, weil sich hier vielleicht eines Tages Captain Faulk auf ihrer Schwelle einfinden könnte.

Was er nicht tat. Sie wusste, er lebte noch – wer weiß wo – da sie den Pfarrer gebeten hatte, den Naval Chronicle regelmäßig durchzusehen, ein für Damen nicht als passend betrachteter Lesestoff. Vielleicht war, schlicht zu wissen, dass er noch lebte, ihr einziger Trost. Schließlich war sie eine praktische Frau und eine bravere Witwe als die meisten.

1. KAPITEL

Nur wenn ihm während der zweiundzwanzig Jahre des Seekrieges ein wenig Zeit geblieben war, Tagebuch zu führen, hatte Captain Jeremiah Faulk sich in innerer Einkehr geübt. Nun ergab er sich derselben, als er die beinahe leere Spartan durchstreifte – seine Fregatte und sein Heim während acht von jenen Jahren. Er fragte sich, ob vielleicht der Frieden das schlimmste Ereignis seiner Karriere in der königlichen Marine war. Mein Schiff gehört mir nicht mehr, dachte er, und ich bin heimatlos.

Dann tat er etwas Unvorstellbares; er stützte die Unterarme auf die Reling des Kommandodecks und sah zu, wie die Kanonen in die Höhe gehievt wurden. Er wusste, er war ein strenger Kapitän, aber er wusste auch, dass während vieler gefahrvoller Situationen nur sein unbezwingbarere Wille sein Schiff und seine Mannschaft über Wasser gehalten hatte, auch dann, wenn andere Kapitäne versagt hätten. Trotzdem war er nicht auf das vorbereitet gewesen, was sich vorhin zugetragen hatte, bevor seine Männer in die Jollen geklettert waren, um an Land und hinein in eine fremde Welt zu gehen.

Nein, es hatte ihn vollkommen überrascht, als sie sich um ihn geschart, ein kräftiges Hip-Hip-Hurra angestimmt hatten und sein Bootsmann vorgetreten war, um ihm im Namen der Mannschaft einen Chronometer zu überreichen. Gott weiß, woher sie das Geld für eine solche Gabe genommen hatten oder sich ihnen die Möglichkeit zum Kauf geboten hatte. Er würde dieses Andenken schätzen wie nichts sonst in seinem Leben. Es kam von Männern, die er gehetzt, angetrieben und angebrüllt, aber auch gelobt, ihnen gut zugeredet und sie ermutigt hatte. Sie hatten ihn der Alte genannt, wie er wusste. Vielleicht nahmen sie an, er betrachte sie wie ein Vater. Zumindest waren sie nett genug gewesen, die Tränen in seinen Augen zu übersehen, wie er ja auch die ihren.

„Captain?“

Immer noch auf die Reling gestützt, sah er sich nach seinem Segelmeister um. Der Mann klang unsicher, und Faulk fragte sich, ob er krank war. Dann bemerkte er, wohin der Mann schaute, und richtete sich rasch auf. „Ja, Mr. Benedict?“, fragte er, bemüht, frostig genug zu klingen, um jeden Kommentar zu seiner mit jeder Tradition brechenden Haltung zu entmutigen.

„Ich fragte mich nur …“, begann der Mann, dann hielt er inne, denn die Welt musste wohl stehen geblieben sein, wenn sein Kapitän ganz offen und in einem solchen Ausmaß die Disziplin außer Acht ließ.

„Mir geht es gut, Mr. Benedict.“ Konnte er sein Ungemach eingestehen? Vielleicht. „Nun, ich gebe eine gewisse Beklemmung zu. Es ist hart, das Schiff zu verlassen.“

Sein Segelmeister nickte.

„Wir sollten froh sein, wissen Sie“, sagte Faulk und setzte sein Ansehen bei seinem Segelmeister auf Spiel, indem er seine lässige Haltung an der Reling wieder einnahm. „Dies ist Ihr erstes Weihnachtsfest mit der Familie seit wie vielen Jahren?“

„Ich kann sie kaum zählen, Captain“, antwortete Benedict. „Gestern bekam ich den Brief von meiner Frau.“ Er seufzte. „Sie sagte, das Haus wird überquellen von Verwandten, die darauf versessen sind, mich zu sehen.“

Er seufzte noch tiefer, und Faulk wandte lieber den Kopf, um sein Lächeln zu verbergen. In seinem bärbeißigen Segelmeister hatte er einen verwandten Geist.

„Sie sind wohl nicht übermäßig erfreut?“, fragte er.

Die Männer schauten einander an. Sie verstanden sich wortlos. Und doch, dachte Faulk, wird irgendwann der Augenblick kommen, wenn Verwandte und Gäste gegangen sind und das Ehepaar Benedict allein ist. Stumm wünschte Faulk ihnen Freude und eine frohe Vereinigung. Was ihn selbst anging, er würde sich zum Drake in Plymouth begeben. Was Benedict willigen Herzens bekam, würde er selbst leicht gegen Geld bekommen, doch er wollte nicht – wenigstens im Augenblick nicht – seine Moneten für eine Prostituierte ausgeben. Es war mehr als ein Jahr her, dass er eine Frau gehabt hatte, und der Himmel wusste, er hatte daran gedacht, doch er zweifelte, dass er eine beide Seiten zufriedenstellende Leistung zustande brächte – nicht in seiner augenblicklichen Stimmung.

„Sie gehen ins Drake, Sir?“

„Aye.“

„Und dann?“

„Mal sehen, Mr. Benedict.“

Plötzlich wünschte er, der Segelmeister würde einfach gehen, weil er wusste, was ihn nun erwartete. Mach dich gefasst, Miah, dachte er.

„Sir, Sie wären zum Weihnachtdinner in meinem Haus willkommen.“

Und das war ehrlich gemeint; die Benedicts waren die Freundlichkeit in Person. Dennoch würde der Zeitpunkt kommen, da man sich verabschiedet hatte, und er wieder draußen auf der Straße sein würde, auf dem Weg zurück zu einem Hotel oder – wie früher – zu seiner Fregatte. Es würde ihn daran erinnern, wie einsam er war und nun auch noch ganz heimatlos.

„Sagen Sie Mrs. Benedict für ihre gütige Einladung meinen Dank, aber ich meine wohl, ich bleibe dieses Mal einfach im Drake.“

„Gut denn, Captain“, erwiderte Benedict, blieb jedoch auf dem Deck stehen. Er räusperte sich.

„Dann breche ich jetzt auf, Captain.“

Faulk wusste, er würde seinen Segelmeister verblüffen, trotzdem trat er auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin. „Schütteln wir uns die Hände, David“, sagte er, erneut die Etikette der Marine brechend, indem er den Vornamen seines Untergebenen benutzte. „Sie waren mir der beste Master, der je auf einem Schiff diente.“

Es sprach sich leichter aus, als er gedacht hätte, wahrscheinlich, weil er es Wort für Wort meinte. Beide vermieden es, sich in die Augen zu schauen.

Eine Stunde später verließ auch Faulk die Spartan; sie brauchte keinen Kapitän mehr. Es gab keine Kanonen mehr zu bedienen, man musste nicht mehr auf dem Deck patrouillieren, keine französischen und spanischen Häfen mehr blockieren. Die kleine Restmannschaft würde die Spartan vor Verfall schützen und durch Verbrennen von Schwefel die Ratten vertreiben. Möglicherweise würde das Schiff überholt und neu ausgerüstet, vielleicht auch an einen Handelsmann verkauft oder gar zerlegt werden. Wenn es Ersteres war, wäre Faulk nur neidisch auf den neuen Kapitän; das Letztere wollte er lieber erst gar nicht wissen.

Sein Gepäck war schon zum Drake geschafft worden. Er sollte das Ganze besser hinter sich bringen, besonders, da es zurzeit so früh dunkel wurde. Sein Logbuch unter den Arm geklemmt, schaute Faulk noch ein letztes Mal auf dem Schiff umher, dann ließ er sich vom Bootsmann hinunter in ein schaukelndes Beiboot hieven, um die kurze Strecke in den Hafen gerudert zu werden. Als er seine Füße auf trockenes Land setzte, gab es kein Zurück auf die See, die seine Heimat gewesen war.

Den ersten Schreck bezüglich der neuen Ordnung der Dinge an Land bekam er, als er einen Blick in den Spielsalon des Drake warf, während der letzten zwei Jahrzehnte der Schauplatz dessen, was jeder Offizier „das endlose Whistspiel“ genannt hatte. Der Raum war leer. Faulk hielt sich nicht länger dort auf, denn es erschien ihm wie ein Grab.

Er hatte befürchtet, das Dinner im Drake würde ihm in seiner trüben Stimmung wie Asche schmecken, doch die Wirtin Mrs. Fillion hatte sich selbst übertroffen. Der Braten war zart, die Kartoffeln genau so zubereitet, wie er es mochte.

Er aß allein und schweigend, was nicht ungewöhnlich war. Er beobachtete zwei junge Leute, fast noch Kinder, vermutlich Bruder und Schwester, die offenbar über Kreuz miteinander waren.

Die junge Dame war ein hübsches Ding, ihr goldenes Haar zu einer, wie er annahm, modischen Frisur aufgesteckt, die sich jedoch nun in betrüblicher Auflösung befand. Er konnte nur vermuten, dass sie bis vor Kurzem gereist war und die Pracht unter dem Schlingern und Schaukeln der Postkutsche gelitten hatte. Sie mochte vierzehn oder fünfzehn sein.

Stärker wurde sein Interesse von dem jüngeren Bruder in Anspruch genommen, denn der kam ihm vage bekannt vor. Das kann nicht sein, dachte er, woher soll ich einen so jungen Knaben kennen? Trotzdem war da etwas an dem braunen Haarschopf und dem verärgerten Blick, mit dem er seine Schwester ansah, das Faulk verwirrte.

Nicht lange allerdings. Mrs. Fillion brachte ihm persönlich den einfachen Käse, den er, wie sie wusste, dem kostspieligeren Stilton vorzog, und ließ sich damit bei ihm am Tisch nieder, bereit, ihm beim Verzehr desselben Gesellschaft zu leisten.

„Captain Faulk, werden Sie dieses Mal lange bei uns bleiben?“

Die Frage stellte sie ihm schon seit zwei Jahrzehnten immer aufs Neue. Üblicherweise schüttelte er dann den Kopf und bat darum, dass seine gesamte Kleidung so bald wie möglich mit Süßwasser gewaschen werden möge, weil er schon bald wieder in See stechen müsse. Darüber hinaus hatte er nie mehr als frisches Trinkwasser verlangt und Platz für weitere seiner Tagebücher.

Autor

Carla Kelly
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