The Cabot Sisters - drei Schwestern nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand - 3-teilige Serie

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Drei Schwestern nehmen ihr Los selbst in die Hand, um ihre Familie und ihr eigenes Wohlergehen zu schützen, bevor der Stiefbruder ihr Schicksal bestimmt.

SKANDAL IN MAYFAIR
"Ich soll was für Sie tun?" George Easton traut seinen Ohren nicht. Hat die entzückende Miss Honor Cabot ihn tatsächlich gebeten, die Verlobte ihres Stiefbruders zu kompromittieren? Immerhin hat die eigenwillige Debütantin einen einleuchtenden Grund für ihr skandalöses Ansinnen: Besagte Dame droht nämlich damit, den Cabot-Schwestern die gesellschaftliche Stellung zu rauben. Halb amüsiert, halb beeindruckt lässt der umtriebige Lebemann sich auf das riskante Spiel ein. Schließlich ist er berüchtigt für seine pikanten Affären. Doch nur allzu bald wird ihm klar, dass er viel lieber die erfrischend unkonventionelle Miss Honor verführen würde …

DER TEUFEL VON BLACKWOOD HALL
Ein höchst verwegener Plan: Die schöne Grace Cabot hat sich zu einem verschwiegenen Rendezvous mit dem vermögenden Lord Amherst verabredet. Durch eine kompromittierende Situation will sie ihn zur Ehe zwingen und so den Ruin von ihrer Familie abwenden. Und kaum betritt sie den dunklen Raum, spürt sie seinen hungrigen Mund, heiße Hände und das Reißen des Stoffs über ihren Brüsten … Doch als das Licht angeht, sieht sie schockiert, wer sie da schamlos verführt hat: nicht der charmante Lord Amherst, sondern sein düsterer Bruder Jeffrey, Earl of Merryton! Man sagt, er sei mit dem Teufel im Bunde - und ihn muss Grace nun heiraten!

DER ABENTEURER UND DIE LADY
Der Skandal um ihre Familie hält jeden Ehekandidaten fern! Die zauberhafte Miss Prudence Cabot fürchtet, als alte Jungfer zu enden. Aus Verzweiflung beschließt sie, eine weit entfernt lebende Cousine zu besuchen. Doch auf dem Weg dorthin trifft sie einen waghalsigen Amerikaner, der ihr Herz in allergrößte Unruhe versetzt. Roan Matheson ist so ganz anders als die stocksteifen englischen Gentlemen. Er hat breite Schultern, ein freches Lächeln, warme, starke Hände … und küsst so zärtlich und verführerisch! Ein Abenteuer beginnt, das Prudence‘ Ruf für immer zerstören könnte - oder macht es sie vielleicht zur glücklichsten Engländerin auf Erden?


  • Erscheinungstag 15.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735548
  • Seitenanzahl 960
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Julia London

The Cabot Sisters - drei Schwestern nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand - 3-teilige Serie

IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2014 by Dinah Dinwiddie
Originaltitel: „The Trouble With Honor“
erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLD
Band 287 - 2015 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Claudia Heuer

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733761714

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Im Frühjahr 1812 fing der ganze Ärger an. Und das ausgerechnet in einer Spielhölle in Southwark am südlichen Ufer der Themse, die sogar in diesem Stadtviertel einen besonders schlechten Ruf hatte, weil es hier von Dieben nur so wimmelte.

Es war mehr als merkwürdig, doch gerade dieses alte, baufällige Haus, das noch aus Zeiten stammte, als die Wikinger England erobert hatten, war jetzt zum vornehmsten Treffpunkt für junge Gentlemen aus den besten Familien geworden. Die Einrichtung des Etablissements war kostbar, mit dicken Vorhängen aus rotem Samt, Holzvertäfelungen und kunstvoll verzierten Decken. Jede Nacht strömten die jungen Herren des ton in Scharen aus dem vornehmen Viertel Mayfair herbei. Sie fuhren in gut bewachten Kutschen vor, um anschließend horrende Summen aneinander beim Glücksspiel zu verlieren. Sobald einer der Gentlemen sein Limit für den Abend erreicht hatte, konnte er sich noch immer anderen Vergnügungen widmen, denn es mangelte weder an bequemen privaten Räumlichkeiten noch an französischen Damen, von denen jede einzelne ihnen gern zu Diensten war.

In einer eiskalten Nacht – etwa einen Monat vor Beginn der Ballsaison – betrat eine Gruppe sportlicher junger Gentlemen das Etablissement. Eigentlich hatten sie vorübergehend die Spielhölle gegen die Salons und Ballsäle von Mayfair eingetauscht, wo sie sich zur Abwechslung auf gesellschaftlich akzeptierte Weise vergnügen wollten. Aber dort waren sie mit dem süßen Lächeln und dem inständigsten Flehen junger Damen überredet worden, ihnen diese Spielhölle zu zeigen.

Den jungen Damen diesen Wunsch zu erfüllen, war nicht ohne Risiko für ihren Ruf. Aber jung, rücksichtslos und zu jedem Spaß aufgelegt, wie sie nun einmal waren, kamen sie der Bitte gerne nach. Es verstieß zudem gegen die Regeln des Etablissements, Frauen mitzubringen, doch davon ließen sie sich genauso wenig abschrecken. Auch die anderen Risiken für die jungen Damen wie Unglücksfälle oder Verbrechen kamen ihnen kaum in den Sinn. Für sie war das Ganze ein kleines Abenteuer im ansonsten trostlosen Winterhalbjahr.

In eben dieser Spielhölle in Southwark traf George Easton zum ersten Mal auf Miss Honor Cabot, eine Debütantin dieser Saison.

Der Aufruhr um die Ankunft der jungen Hitzköpfe und ihrer Eroberungen war ihm zunächst überhaupt nicht aufgefallen. Dabei waren sie ganz erfüllt von ihrem Wagemut und vom Stolz darauf, dass es ihnen gelungen war, den Türsteher dazu zu bringen, sie hereinzulassen. Georges Aufmerksamkeit war vom Kartenspiel gefangen gewesen, in dem er gerade dabei war, dem notorischen Spieler Charles Rutherford dreißig Pfund abzunehmen. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass etwas nicht in Ordnung war, bis Rutherford sagte: „Was zum Teufel soll das denn?“

Dann erst fiel sein Blick auf die jungen Damen, die in der Mitte des Raumes standen und herumflatterten und die Köpfe reckten wie ein Schwarm Vögel. Die Kapuzen ihrer Umhänge rahmten ihre hübschen Gesichter ein, mit ihrem Gekicher steckten sie sich immer wieder gegenseitig an. Neugierig blickten sie die Männer an, die sie im Gegenzug ansahen wie eine Herde guter Pferde auf dem Viehmarkt.

„Zur Hölle“, murmelte George. Als er seine Karten niederlegte, stand Rutherford auf und schubste dabei unsanft das Mädchen zu Boden, das auf seinem Schoß gesessen hatte.

„Was in drei Teufels Namen wollen die denn hier?“, wollte Rutherford wissen. Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Das ist doch vollkommen verantwortungslos. Sehen Sie mich an!“, polterte er laut. „Das ist ganz und gar unmöglich! Die Damen müssen sofort wieder gehen!“

Die drei jungen Gentlemen, auf deren Konto dieses Abenteuer ging, sahen einander betreten an. Der kleinste von ihnen reckte schließlich das Kinn, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Die Damen haben das gleiche Recht, hier zu sein, wie Sie, Sir!“

Mr Rutherfords Gesichtsfarbe nach zu urteilen, würde ihn gleich der Schlag treffen, deshalb sagte George schnell: „Dann sorgen Sie um Gottes willen dafür, dass sie Plätze finden und spielen können. Wenn sie da herumstehen, lenken sie nur die anderen Gentlemen ab.“

„Spielen?“, fragte Rutherford, während ihm die Augen beinahe aus den Höhlen quollen. „Sie sind nicht einmal in der Lage zu spielen.“

„Das bin ich wohl“, sagte eine einzige Frauenstimme.

Na, das war ja allerhand, welche der Damen wagte denn jetzt zu sprechen? George beugte sich zu Rutherford hinüber, um besser sehen zu können. Doch da die Vögelchen ständig durcheinanderflatterten, konnte er nicht erkennen, welches von ihnen gepiepst hatte.

„Wer hat das gesagt?“, wollte Rutherford wissen, so laut, dass die Herren an den umstehenden Tischen auf die Auseinandersetzung aufmerksam wurden.

Keine der jungen Damen machte einen Mucks; sie sahen den Bankdirektor vielmehr mit weit aufgerissenen Augen an. Gerade als Rutherford zu einem weiteren Wutausbruch ansetzte, trat jedoch eine von ihnen vor. Sie blickte zunächst Rutherford und dann George an. Ihre Augen waren von atemberaubend tiefem Blau, im Kontrast dazu waren ihre Wimpern und ihr Haar tiefschwarz und ihre Haut alabasterweiß. Eine solche jugendliche Schönheit sah man hier nicht oft.

„Miss Cabot?“, rief Rutherford ungläubig. „Was in drei Teufels Namen haben Sie denn hier verloren?“

Sie machte einen Knicks, als befänden sie sich mitten in einem Ballsaal, und verschränkte dabei die Hände miteinander. Dabei hatte sie noch immer ihre Handschuhe an. „Meine Freundinnen und ich wollten mit eigenen Augen den Ort sehen, an den die Gentlemen stets verschwinden.“

Eine Welle von Gelächter lief durch die Menge der Anwesenden. Rutherford wirkte beunruhigt, so als wäre er in irgendeiner Weise verantwortlich für diesen Verstoß gegen die Regeln des Anstandes. „Miss Cabot … dies ist nun wirklich nicht der richtige Ort für eine tugendhafte junge Dame.“

Eines der Vögelchen, die hinter ihr standen, flatterte und flüsterte ihr etwas zu, aber Miss Cabot achtete nicht auf sie. „Verzeihen Sie mir, Sir, aber ich verstehe nicht ganz, wie ein Ort genau der richtige für einen tugendhaften jungen Herren sein kann, aber nicht für eine tugendhafte Dame.“

Sie schaute George wieder aus ihren unglaublich blauen Augen an. Dabei verspürte er ein seltsames Ziehen in der Brust. Dann fiel ihr Blick auf die Spielkarten, die auf dem Tisch lagen. „Sie spielen Commerce?“, fragte sie.

„Allerdings“, antwortete George. Es erstaunte ihn sehr, dass sie dies sofort erkannt hatte. „Wenn Sie spielen möchten, Miss, dann lassen Sie sich um Himmels willen nicht davon abhalten.“

Rutherford war in der Zwischenzeit kreidebleich geworden und George bemerkte nicht ganz ohne Belustigung, dass er aussah, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. „Auf keinen Fall!“, rief Rutherford. Dabei schüttelte er energisch den Kopf und hob abwehrend die Hände. „Ich muss doch sehr bitten, Miss Cabot, aber ich kann diese Tollheit auf keinen Fall dulden. Sie müssen sofort wieder nach Hause fahren.“

Miss Cabot wirkte enttäuscht.

„Dann übernehme ich die Verantwortung“, sagte George und schob mit dem Fuß einen der Sessel in ihre Richtung. Ein Raunen ging durch die Menge und die dicht gedrängte Gruppe kleiner Vögel begann aufgeregt zu flattern, dass die Säume ihrer Umhänge dabei über den Boden fegten. Aufgeregt tuschelten sie miteinander. „Wen habe ich das Vergnügen, an diesem Tisch zu dulden?“, fragte er.

„Miss Cabot“, antwortete sie. „Aus Beckington House.“

Sie war also die Tochter des Earl of Beckington. Wollte sie ihn etwa beeindrucken? Dann war ihr das keineswegs gelungen. George zuckte mit den Schultern. „George Easton. Aus Easton House.“

Die Mädchen hinter ihr kicherten, aber Miss Cabot verzog keine Miene. Sie lächelte ihm höflich zu. „Es ist mir ein Vergnügen, Mr Easton.“

Wahrscheinlich hatte sie dieses Lächeln schon in frühester Kindheit benutzt, um zu bekommen, was sie wollte. George hielt sie für eine bemerkenswert schöne junge Frau. „Das sind hier keine Gesellschaftsspiele, Miss, haben Sie Geld für Ihren Einsatz?“

„Das habe ich allerdings“, antwortete sie und hielt ihm ihre Geldbörse hin.

Gott, war das Mädchen naiv. „Das stecken Sie lieber wieder weg“, sagte er. „Hinter der hübschen Fassade, den seidenen Halstüchern und polierten Lederstiefeln verbirgt sich eine echte Diebesbande.“

„Zumindest haben wir noch einen Geldbeutel, Easton, und haben nicht alles mit einem Schiff versenkt“, warf jemand ein.

Einige der Gentlemen lachten bei dieser Bemerkung, doch George nahm keine Notiz von ihnen. Er hatte sich sein Vermögen hart erarbeitet und einige der Männer waren neidisch auf die Klugheit, mit der er dabei vorgegangen war.

Er lud die liebreizende Miss Cabot mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. „Sind Sie überhaupt alt genug, um die Feinheiten eines Spiels wie Commerce zu verstehen?“

„Warum fragen Sie?“, wollte sie wissen, dabei zog sie eine Augenbraue hoch und ließ sich anmutig auf dem Sessel nieder, den er ihr hingeschoben hatte. „Wie alt muss man denn sein, um sich in einem Spiel zu versuchen, bei dem es hauptsächlich um Glück geht?“

Hinter ihr tuschelten die Vögelchen eifrig, doch Miss Cabot sah George ruhig in die Augen, während sie auf seine Entgegnung wartete. Sie ließ sich nicht so leicht einschüchtern, weder von ihm noch von der ungewohnten Umgebung oder von sonst irgendetwas.

„Ich würde mir nicht anmaßen, eine Altersgrenze festzulegen“, antwortete er galant. „Meinetwegen könnte jedes Kind mitspielen.“

„Easton“, rief Rutherford in warnendem Ton. George aber folgte eben nicht den Regeln der adligen Gentlemen und das wusste Rutherford auch ganz genau. Die Angelegenheit war ein netter Zeitvertreib; George hatte ganz und gar nichts dagegen, eine Stunde oder auch länger mit einer Dame zu verbringen – in London war er dafür wohlbekannt –, vor allem, wenn die junge Dame so attraktiv war wie diese hier. „Ist Ihnen klar, dass Sie alles bis auf den letzten Penny verlieren können?“

Sie lachte ein perlendes Lachen. „Das habe ich keineswegs vor.“

Die anwesenden Gentlemen stimmten in ihr Lachen ein, einige von ihnen waren sogar aufgestanden, um sich das Geschehen aus der Nähe anzusehen.

„Man muss stets darauf gefasst sein zu verlieren, Miss Cabot“, warnte George sie noch einmal.

Sie öffnete mit großer Sorgfalt ihr Handtäschchen, nahm ein paar Münzen heraus und blickte ihn stolz an. George ermahnte sich innerlich, sich nicht von ihrem Lächeln beeindrucken zu lassen … zumindest nicht am Spieltisch.

Rutherford hingegen starrte erst George und dann Miss Cabot entsetzt an, ehe er sich langsam und sehr zögerlich wieder hinsetzte.

„Soll ich geben?“, fragte George, indem er den Kartenstapel in die Höhe hielt.

„Bitte“, antwortete Miss Cabot und legte ihre Handschuhe sorgfältig geglättet zur Seite, direkt neben ihren kleinen Stapel Münzen. Während George die Karten mischte, schaute sie sich im Saal um. „Wissen Sie, ich bin tatsächlich noch nie in den Vierteln südlich der Themse gewesen.“

„Das erstaunt mich wenig“, brummte er, während er ausgab. „Ihr Einsatz, Miss Cabot.“

Sie sah sich die Karten an, die vor ihr lagen, und legte ein Schillingstück in die Mitte des Tisches.

„Mit diesem Einsatz kommen Sie in diesem Spiel nicht weit“, sagte George.

„Ist es denn zulässig, so zu setzen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Natürlich.“

Statt einer Antwort lächelte sie nur.

Rutherford folgte sofort und auch die junge Dame, die schon beinahe den ganzen Abend über auf seinem Schoß gesessen hatte, nahm ihren Platz wieder ein. Der Blick, den sie Miss Cabot zuwarf, während sie sich auf seinen Knien zurechtrückte, war eine Provokation.

„Oh“, murmelte Miss Cabot. Offensichtlich hatte sie gerade erst verstanden, was für eine Sorte Frau da auf Rutherfords Schoß Platz nahm, denn sie wandte den Blick ab.

„Sind Sie schockiert?“, flüsterte George amüsiert.

„Ein wenig“, gab Miss Cabot zu, während sie der noch jungen Hure einen Seitenblick zuwarf. „Ich hätte gedacht, sie wären irgendwie schlichter. Aber sie ist sehr hübsch, nicht wahr?“

George sah zu der jungen Frau auf Rutherfords Schoß hinüber. Er hätte sie als verführerisch bezeichnet, aber nicht unbedingt als hübsch. Miss Cabot selbst war hübsch.

Er sah sich sein Blatt an – er hatte ein Paar Könige. Das war eine leicht gewonnene Partie, dachte er, als er seinen Einsatz machte.

Eines der Dienstmädchen kam mit einem Tablett voll Essen vorbei, um es an einen der Tische zu bringen, an dem das Spiel ebenfalls wieder aufgenommen worden war. Miss Cabot schaute ihr nach.

„Miss Cabot“, sagte George.

Sie sah ihn an.

„Sie sind an der Reihe.“

„Oh!“ Sie sah lange ihre Karten an, nahm eine weitere Münze und legte sie zu den anderen Einsätzen.

„Gentlemen, es liegen zwei Pfund auf dem Tisch. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, dann ist das Spiel noch nicht zu Ende, wenn die Sonne wieder aufgeht.“

Miss Cabot lächelte ihm zu, dabei funkelten ihre blauen Augen vor Vergnügen.

George musste sich ins Gedächtnis rufen, dass er sich keine schönen Augen machen lassen durfte.

In der nächsten Runde schien Rutherford seine Vorbehalte aufgegeben zu haben, mit einer Debütantin zu spielen. In der übernächsten setzte Miss Cabot zwei Schillinge auf einmal ein.

„Miss Cabot, werden Sie nicht übermütig. Sie wollen doch nicht schon im ersten Spiel alles verlieren“, sagte einer der jungen Kerle und lachte dabei nervös.

„Ich denke, dass es nicht weniger schmerzlich ist, mein ganzes Geld in sechs Spielen zu verlieren, als in einem, Mr Eckersly“, antwortete sie heiter.

George gewann diese Runde, wie er erwartet hatte, doch Miss Cabot schien nicht so leicht aufgeben zu wollen. „Ich finde, es sollte überall mehr Glücksspiele geben, meinen Sie nicht?“, fragte sie die umstehende Menge, die zusehends größer wurde. „Sie sind so viel unterhaltsamer als Whist.“

„Nur wenn man gewinnt“, wandte einer der Männer ein, die weiter hinten standen.

„Und das mit dem Geld seines Vaters“, witzelte Miss Cabot zum großen Vergnügen sowohl der umstehenden Herren als auch der Vögelchen, die sie begleiteten, denn sie hatten jetzt die Aufmerksamkeit aller anwesenden Gentlemen.

Sie machten eine Zeit lang so weiter: Miss Cabot setzte hier und da einen Schilling und unterhielt die Menge mit geistreichen Bemerkungen. Die Einsätze waren bei Weitem zu gering, als dass George Spaß am Spiel gehabt hätte, aber dafür hatte er umso mehr Spaß an Miss Cabot. Sie war ganz und gar keine gewöhnliche Debütantin. Sie war geistreich und spielte gern, genoss ihre kleinen Triumphe und diskutierte ihr Spiel mit jedem, der gerade hinter ihr stand.

Nach etwa einer Stunde hatte Miss Cabot gerade noch zwanzig Pfund in ihrer Geldbörse. Sie war mit Mischen und Geben an der Reihe. „Sollen wir den Einsatz erhöhen?“, fragte sie leichthin.

„Wenn Sie meinen, dass Sie meinen Einsatz halten können, bin ich ganz Ohr“, sagte George.

Sie warf ihm einen kecken Blick zu. „Zwanzig Pfund für das Spiel“, sagte sie und begann, die Karten zu verteilen.

George musste angesichts von so viel Naivität lachen. „Aber das ist alles, was Sie noch haben“, stellte er fest.

„Nehmen Sie einen Schuldschein von mir?“, fragte sie und sah ihn an. Sie hatte noch immer dieses Funkeln in den Augen. Doch ihr Blick hatte sich verändert. Sie wollte ihn herausfordern. Der Himmel mochte wissen, was das Mädchen im Schilde führte, doch sie hätte George keinen größeren Gefallen tun können. Er grinste.

„Miss Cabot, ich muss Ihnen dringend abraten“, sagte einer der jungen Männer, derselbe, der schon während des gesamten Spiels hinter ihr gestanden hatte und dabei immer nervöser geworden war. „Es ist höchste Zeit, dass wir nach Mayfair zurückkehren.“

„Ihre Vorsicht und Ihre Sorge um die vorgerückte Stunde habe ich verstanden und schätze sie sehr, Sir“, sagte sie mit zuckersüßem Lächeln. Dabei hielt sie den Blick auf George gerichtet. „Aber Sie sind doch noch im Spiel, Mr Easton, oder etwa nicht?“, fragte sie. „Und nehmen einen Schuldschein von mir?“

George hatte einer Dame noch nie etwas abschlagen können, speziell, wenn er sie so anziehend fand. „Aber mit dem größten Vergnügen“, sagte er mit der eleganten Andeutung einer Verbeugung. „Ich würde einen Schuldschein über jede beliebige Summe von Ihnen nehmen.“

Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Saal und im Handumdrehen war die Menge der Umstehenden noch größer geworden. Alle wollten Zeuge werden, wie eine Debütantin ein Vermögen an George Easton verlor, der sich selbst als Bastard des Duke of Gloucester bezeichnete.

Die Einsätze wurden immer höher, bis Rutherford sich schließlich aus dem Spiel zurückzog, weil er den Gedanken nicht ertrug, dass eine Debütantin ihm Geld schuldete. George und Miss Cabot spielten von da an alleine weiter, was ihr erstaunlich wenig auszumachen schien. Das war typisch für die Gesellschaft aus Mayfair, dachte George. Vollkommen gleichgültig, wie viel vom Geld ihres Vaters sie verspielte – Schuldscheine wie Münzen würden wie von Zauberhand wiederauftauchen.

Der Einsatz war bis auf einhundert Pfund gestiegen, als George innehielt. Auch wenn er ihre Chuzpe bewunderte, war ihm doch nicht wohl bei dem Gedanken, einer Debütantin so viel Geld abzunehmen. „Wir sind jetzt bei einhundert Pfund, Miss Cabot. Wird Ihr Herr Vater diese Summe einfach so wieder in Ihr Täschchen stecken?“, fragte er, woraufhin die umstehenden Herren anfingen, zustimmend zu lachen.

„Du liebe Zeit, Mr Easton, ist diese Frage nicht ein wenig persönlich? Sollte ich mich vielleicht ebenfalls vergewissern, dass Sie einhundert Pfund in der Tasche haben, für den Fall, dass ich gewinne?“

Was für ein freches kleines Ding. Um sie herum war einige Unruhe entstanden und George wagte nicht, sich auszumalen, wie sehr diese Bemerkung einigen der Herren im Raum gefallen hatte. Er warf eine Handvoll Geldscheine auf den Tisch und zwinkerte ihr zu. „Das habe ich allerdings.“

Sie ging mit, nachdem sie sich von jemandem ein Blatt Papier hatte geben lassen, auf dem sie mit ihrer Unterschrift bestätigte, dass sie ihm einhundert Pfund schuldig war.

George legte seine Karten auf den Tisch. Er hatte eine kleine Straße, die Zehn war der höchste Wert. Sie hatte kaum eine Chance, dieses Blatt zu schlagen, und tatsächlich holte Miss Cabot vor Überraschung tief Luft. „Du lieber Himmel, das ist ja sehr beeindruckend!“, sagte sie.

„Ich spiele ja heute nicht zum ersten Mal.“

„Natürlich nicht.“ Sie hob den Blick und lächelte ihn an und in diesem Augenblick wusste George, dass er sich geschlagen geben musste. Ihr Lächeln war einfach zu frech und zu triumphierend.

Als sie ihre Karten auf den Tisch legte, waren überall um sie herum überraschte Ausrufe zu hören, gefolgt von Applaus. Miss Cabot hatte ihn mit einem Dreier geschlagen, sie legte drei Zehnen auf den Tisch. George starrte ungläubig die Karten an, dann hob er langsam den Blick und sah ihr in die Augen.

„Darf ich?“, fragte sie ungerührt und fing an, mit beiden Händen das Geld einzustreichen, das auf dem Tisch lag. Sie nahm alles an sich, bis auf die letzte Münze, und steckte es in ihre elegante kleine Handtasche. Sie dankte George und Mister Rutherford, dass sie sie hatten mitspielen lassen, und entschuldigte sich dann höflich. Anschließend zog sie ihre Handschuhe wieder an und schlüpfte wieder in ihren Umhang, ehe sie zu ihrem kleinen Vogelschwarm zurückkehrte.

George sah ihr nach und trommelte dabei mit den Fingern auf den Tisch. Er war ein erfahrener Spieler und war gerade von einer Debütantin abgezockt worden.

Das war jedoch nur der Anfang des Ärgers mit Honor Cabot.

2. KAPITEL

Lady Humphreys jährliches Frühjahrskonzert galt gemeinhin als das Ereignis, bei dem die Damen der vornehmen Gesellschaft ihre modischen Vorstellungen von der beginnenden Saison preisgaben. Dabei stach jedes Jahr unweigerlich eine von ihnen besonders heraus. Im Jahre 1798 trug Lady Eastbourne ein Kleid mit kurzen Flügelärmeln, das viele für so gewagt und doch für so klug befanden, dass in ganz Mayfair wochenlang von nichts anderem geredet wurde. 1804 hatte Miss Catherine Wortham zum allgemeinen Entsetzen auf jede Form von Unterrock für ihren Musselin verzichtet, sodass der Umriss ihrer Beine für alle sichtbar war.

Im wunderschönen Frühjahr 1812 allerdings hinterließ Miss Honor Cabot bleibenden Eindruck mit ihrem eng geschnittenen Ballkleid, das ein gewagt tiefes Dekolleté zierte. Sie war in exquisite Pariser Seide gehüllt, die allem Anschein nach ein kleines Vermögen gekostet hatte. Immerhin wurde es von Schmuckbändern und umfangreichen Perlenstickereien gesäumt. An Pariser Mode war zudem in diesen Tagen nicht leicht heranzukommen, befand sich England doch noch immer im Krieg mit Frankreich. Die Seide hatte das Blau von Pfauenfedern, das die Farbe ihrer Augen besonders schön zur Geltung brachte. Auch ihr rabenschwarzes Haar hatte sie mit kleinen Kristallen geschmückt, welche den Farbton ihres Kleides spiegelten.

Honor Cabot war auch sonst ein Sinnbild für Schönheit. Ihre Kleider waren stets hervorragend geschnitten, ihre ebenmäßige helle Haut bildete einen hübschen Kontrast zu ihren dunklen Wimpern, den vollen roten Lippen und der gesunden Farbe ihrer Wangen. Sie wirkte stets heiter und ihre Augen funkelten vor Vergnügen, wenn sie mit ihren vielen Freunden oder den Gentlemen, die sie anhimmelten, um die Wette lachte.

Sie hatte den Ruf, die Grenzen vornehmen und tugendhaften Benehmens für Debütantinnen ständig zu verschieben. Alle hatten von ihrem jüngsten Abenteuer in Southwark gehört. Skandalös! Die Gentlemen der vornehmen Gesellschaft nannten sie im Scherz einen Haudegen.

An diesem Abend, als die Gesangsdarbietung gerade vorüber war und die Gäste eingeladen waren, über Hanover Square zum Stadthaus der Humphreys zu promenieren, um dort das Abendessen einzunehmen, war es jedoch nicht das Ballkleid, das für allgemeinen Gesprächsstoff sorgte, sondern ihre Haube.

Und was für eine kunstvoll gestaltete Haube sie trug! Lady Chatham, die anerkannte Autorität in allen Belangen der Hutmacherei, behauptete, dass niemand anders als die exklusive Firma Lock and Company in der St James Street diese Kreation entworfen haben konnte. Die Materialien waren schwarzer Crêpe und tiefblauer Satin und der Stoff war auf einer Seite zu einem kleinen Fächer zusammengefasst, der von einem funkelnden Aquamarin zusammengehalten wurde. Aus diesem ragten wiederum zwei Pfauenfedern hervor, die, wenn man Lady Chatham glauben durfte, den langen Weg aus Indien nach London gekommen waren. Sie sagte das, als müsste jedermann wissen, dass indische Pfauenfedern den englischen weit überlegen waren.

Als Miss Monica Hargrove diese Haube auf Honors dunkelhaarigem Schopf zu sehen bekam, hätte sie um ein Haar einen Herzanfall erlitten.

In ganz Mayfair verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, dass es im Damensalon zu einem unglücklichen Zusammenstoß zwischen Miss Cabot und Miss Hargrove gekommen sei. Es ging sogar so schnell, dass die Neuigkeit den Earl of Beckington in seinem Stadthaus am Grosvenor Square erreicht hatte, ehe Miss Cabot selbst wieder zu Hause war.

Honor war sich keiner Schuld bewusst, als sie sich mit dem ersten Hahnenschrei ins Haus zurückstahl. Sie lief, so schnell sie konnte, die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf sie die Haube auf das Sofa, zog das wunderschöne Kleid aus, das Mrs Dracott extra für sie angefertigt hatte, und fiel kurze Zeit später in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ihre dreizehnjährige Schwester Mercy weckte sie nur wenig später unsanft aus ihrem Schlummer, indem sie sich über sie beugte und sie unverwandt anstarrte.

Honor erschrak fürchterlich, umklammerte die Bettdecke, während sie sich aufsetzte und fragte: „Mercy, was um Himmels willen ist denn los?“

„Augustus sagt, du sollst zu ihm kommen“, sagte Mercy und sah Honor dabei durch ihre großen Brillengläser hindurch eindringlich an. Mercy hatte die gleichen blauen Augen und dunklen Haare wie Honor. Ihre beiden Schwestern, Grace, die mit einundzwanzig nur ein Jahr jünger war als Honor selbst, und die sechzehnjährige Prudence hingegen waren blond und hatten haselnussbraune Augen.

„Augustus?“, wiederholte Honor und gähnte dabei. Sie war an diesem Morgen nicht in der Stimmung, mit ihrem Stiefbruder zu sprechen. War es überhaupt schon Morgen? Sie warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims, die halb zwölf zeigte. „Was will er denn?“

„Woher soll ich das wissen?“, fragte Mercy zurück und setzte sich mit einem Schwung auf das Fußende von Honors Bett. „Warum hast du so schwarze Ränder unter den Augen?“

Honor stöhnte. „Müssen wir heute Besuche empfangen?“

„Nur Mr Jett“, sagte Mercy. „Er hat dir seine Karte dagelassen.“

Der gute Mr Jett – der Mann wollte einfach nicht glauben, dass Honor nicht wünschte, dass er ihr den Hof machte. Es schien ihr Schicksal zu sein, immer genau diejenigen Gentlemen der Londoner Gesellschaft anzuziehen, für die sie auch in ihren wildesten Träumen keinerlei Zuneigung hätte entwickeln können. Mr Jett war bestimmt zweimal so alt wie sie und außerdem hatte er außerordentlich fleischige Lippen. Es wurmte sie, dass es von Frauen erwartet wurde, jeden Mann zu akzeptieren, dessen Vermögen und Status mit dem eigenen mithalten konnten. Was war denn mit Seelenverwandtschaft? Mit gegenseitiger Wertschätzung?

Am nächsten war Honor solchen Gefühlen im Jahr ihres Debüts gekommen. Damals hatte sie sich unsterblich in Lord Rowley verliebt, einen gut aussehenden, charmanten jungen Gentleman, der bisher ungeahnt zärtliche Gefühle in ihr geweckt hatte. Honor war so sehr von ihm eingenommen gewesen, dass sie geglaubt hatte – und sie war auch in diesem Glauben gelassen worden –, dass ein Antrag kurz bevorstand.

Tatsächlich war auch ein Antrag gefolgt … allerdings an Delia Snodgrass.

Honor war zum Tee bei jemandem zu Gast gewesen, als sie von der Verlobung erfahren hatte, und die Nachricht hatte sie so aus der Bahn geworfen, dass Grace sie hatte entschuldigen müssen. Honor war schnurstracks nach Hause gelaufen. Diese Enttäuschung hatte ihr das Herz gebrochen und sie war wochenlang nicht über ihren Liebeskummer hinweggekommen. Es hatte sie zu sehr geschmerzt, mit ansehen zu müssen, wie Rowley Miss Snodgrass den Hof machte, und sie hatte sich in ihrem Schmerz immer und immer kleiner und unbedeutender gefühlt.

Wie hatte sie sich nur so schrecklich täuschen können? Hatte ihr Rowley nicht immer wieder Komplimente für ihre Anmut und Schönheit gemacht? Hatte er ihr nicht ins Ohr geflüstert, wie gern er sie küssen würde, und nicht nur auf die Wange? Waren sie nicht lange im Park spazieren gegangen und hatten dabei über ihre Wünsche und Träume für die Zukunft gesprochen?

Eines Tages, nachdem sie die Wahrheit erfahren hatte, hatte sie Lord Rowley zufällig getroffen. Er hatte gelächelt und ihr hatte das Herz bis zum Hals geklopft. Sie konnte nicht anders als ihn zur Rede zu stellen und ihn – so höflich, wie es ihr eben möglich war – zu fragen, was aus dem Antrag geworden war, den sie von ihm erwartet hatte.

Solange sie lebte, würde sie niemals den überraschten Gesichtsausdruck seiner Lordschaft vergessen. „Verzeihen Sie, Miss Cabot, aber ich hatte ja keine Ahnung von der Tiefe Ihrer Gefühle für mich“, hatte er als Entschuldigung vorgebracht.

Diese Reaktion hatte sie entsetzlich schockiert. „Sie wussten es nicht?“, hatte sie gefragt. „Aber Sie haben mich so oft besucht! Wir sind im Park zusammen spazieren gegangen und haben Zukunftspläne geschmiedet, wir haben sogar sonntags nebeneinander in der Kirche gesessen.“

„Ja, also“, hatte er gesagt und dabei sehr unbehaglich ausgesehen. „Ich habe viele Freunde des schönen Geschlechts. Ich bin unzählige Male spazieren gegangen und habe viele interessante Gespräche geführt. Aber mir war nicht klar, dass Sie Gefühle für mich entwickelt hatten, die über Freundschaft hinausgingen. Sie haben sich nicht das Geringste anmerken lassen.“

Honor war sprachlos gewesen. Natürlich hatte sie sich nichts anmerken lassen! Sie war immerhin ein wohlerzogenes Mädchen – sie war ordentlich und tugendhaft, so wie man es ihr beigebracht hatte! Sie hatte geduldig darauf gewartet, dass der Gentleman den ersten Schritt machte, so wie sie glaubte, dass solche Dinge funktionierten.

„Und ich möchte ausdrücklich betonen, Miss Cabot“, hatte er mit leidvoller Miene hinzugefügt, „dass es nichts geändert hätte, wenn ich es gewusst hätte.“ Dann war er rot geworden bis über beide Ohren und hatte mit den Schultern gezuckt. „Unsere Verbindung wäre bestimmt nicht glücklich gewesen.“

Das hatte sie noch mehr schockiert als seine anfängliche Täuschung. „Wie bitte?“

Er hatte sich geräuspert und auf seine Hände gestarrt. „Ich will damit sagen, dass ich der erstgeborene Sohn eines Earls bin und von mir erwartet wird, mich nicht mit Beckingtons Stieftochter zufriedenzugeben … oder der Tochter eines Bischofs, was das angeht.“ Er konnte ihr dabei nicht in die Augen sehen. „Das verstehen Sie doch sicherlich.“

Honor hatte sehr gut verstanden, was er ihr sagen wollte. Für Rowley, ebenso wie für die anderen Gentlemen in Mayfair, ging es bei einer Heirat ausschließlich um Position und Status. Liebe oder auch nur Zuneigung waren ihm vollkommen gleichgültig. Und sie war ihm erst recht gleichgültig.

Die Wunden, die Honor sich in diesem Sommer zugezogen hatten, waren nur schlecht verheilt und wirklich erholt hatte sie sich von ihnen nie. Sie hatte sich und ihren Schwestern geschworen, sich niemals wieder in eine solche Lage zu begeben. Niemals.

Sie gähnte und sah Mercy an. „Kannst du bitte Augustus sagen, dass ich gleich unten bin?“

„In Ordnung, aber beeile dich, er ist ziemlich wütend auf dich.“

„Warum? Was habe ich denn nun schon wieder getan?“

„Ich weiß nicht, aber auf Mama ist er auch wütend“, fügte Mercy hinzu. „Angeblich hat er Mama gestern gesagt, dass die Hargroves zum Abendessen kommen, aber sie sagt, das hat er nicht getan. Sie hat kein Essen vorbereiten lassen und sie haben sich ziemlich gestritten.“

„Oh nein“, sagte Honor. „Und was ist dann passiert?“

„Wir haben kaltes Hühnchen zum Abendessen gegessen“, antwortete Mercy. „Ich muss gehen“, fügte sie unbekümmert hinzu und hüpfte aus dem Zimmer.

Honor stöhnte noch einmal und schälte sich aus der Bettdecke. Sie hatte Augustus wirklich sehr gern, alles in allem. Er war jetzt seit zehn Jahren ihr Stiefbruder. Er war vierundzwanzig, kaum größer als Honor und ein wenig korpulent. Er war nie der Typ gewesen, der lange Wanderungen unternimmt oder auf die Jagd geht. Er verbrachte seine Nachmittage lieber mit einem Buch oder seinen Freunden im Club, wo er mit ihnen die englischen Flottenmanöver diskutierte. Die Einzelheiten dieser Gespräche gab er dann beim Abendessen zum Besten.

Aber von seinem schrecklich langweiligen Lebensstil abgesehen war Augustus Devereaux, Lord Sommerfield, ein guter Mann. Er war freundlich und fürsorglich, aber schwach und fürchterlich schüchtern, wenn es um Frauen ging. Jahrelang hatten Honor und Grace ihn leicht um den Finger wickeln können. Das hatte sich allerdings geändert, nachdem er sich in Monica Hargrove verliebt und sich mit ihr verlobt hatte. Wäre der Earl nicht bei so schlechter Gesundheit gewesen, wären die beiden in der Zwischenzeit verheiratet. Doch wie die Dinge standen, erschien es allen Beteiligten geschmacklos, die Hochzeit des Erben des Titels von Beckington zu feiern, solange das Leben des Earls am seidenen Faden hing. Honors Stiefvater litt unter Schwindsucht. Die vielen Ärzte, die im Haus ein und aus gingen, glaubten, dass er nur noch Monate, wenn nicht sogar Wochen zu leben hatte.

Honor zog ein schlichtes Tageskleid an und bürstete ihr Haar, ohne es wieder aufzustecken, denn dazu war sie einfach zu erschöpft. Sie ging die Treppe hinunter, wo sie ihre Schwestern und Augustus im Frühstückszimmer antraf. Sie war nicht eben froh darüber, dass all ihre Geschwister anwesend waren, insbesondere wenn sie Graces finstere Miene betrachtete – das war ganz und gar kein gutes Zeichen. Der Anblick des Essens auf der Anrichte hingegen weckte Honors Lebensgeister, denn sie konnte sich kaum noch erinnern, wann sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte. „Guten Morgen allerseits“, sagte sie fröhlich, während sie über die kostbaren Teppiche hinweg zur Anrichte schritt und sich einen Teller nahm.

„Honor, meine Liebe, wann genau bist du letzte Nacht nach Hause gekommen?“, fragte Augustus mit scharfer Stimme.

„Es war noch nicht spät“, antwortete Honor ausweichend und versuchte, ihm nicht in die Augen zu sehen. „Ich wollte eigentlich auch schon früher gehen, aber Lady Humphrey hat eine Partie Faro organisiert und ich habe über dem Spiel die Zeit vergessen …“

„Faro! Das ist ein schmutziges Spiel, das von Trunkenbolden in Spelunken gespielt wird! Ich muss schon sagen, denkst du denn nie darüber nach, was dein Verhalten für eine Wirkung hat?“

„Doch, das tue ich immer“, gab Honor zu.

Augustus blinzelte verwirrt. Er zog die Stirn kraus. „Und was glaubst du, welcher Gentleman eine Debütantin heiraten will, die das Vermögen ihres Stiefvaters verspielt und erst in den frühen Morgenstunden nach Hause kommt?“, fragte er.

Honor blieb die Luft weg, doch dann sah sie ihrem Stiefbruder fest in die Augen. „Ich habe keineswegs das Vermögen des Earls verspielt, Augustus! Ich habe mit dem Geld gespielt, das ich gewonnen habe!“ Sie würde sich dafür nicht entschuldigen – sie gewann gar nicht so selten. Vor nicht einmal einem Monat hatte sie einem Mr George Easton vor aller Augen in einer Spielhölle in Southwark einhundert Pfund abgenommen. Sie erinnerte sich noch lebhaft an die Niederlage in seinen Blick.

Doch so leicht ließ sich Augustus nicht beschwichtigen. „Und inwiefern verbessert es deinen Ruf, wenn du gewinnst?“, wollte er wissen.

„Erzähl uns lieber vom Konzert“, sagte Prudence eifrig und ging damit einfach über Augustus’ Empörung hinweg. „War die Musik himmlisch? Wer war alles eingeladen? Wie haben die Kleider der Damen ausgesehen?“

„Die Kleider?“, wiederholte Honor gedankenverloren, während sie sich mit einem Teller voller Käse und Crackern neben Augustus an den Tisch setzte. „Ich habe nicht wirklich darauf geachtet. Ich nehme an, das Übliche: Musselin und Spitzen.“ Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Und was war mit Hauben?“, fragte Augustus wütend und nahm sich einen der Cracker von Honors Teller.

Honor war klar, dass er vom Streit mit Monica wusste. Sie zögerte nur eine Sekunde, dann richtete sie sich auf, lächelte ihren Stiefbruder an und sagte: „Ich kann mich nur an meine eigene Haube erinnern.“

„Siehst du, Augustus!“, sagte Grace triumphierend. „Siehst du? Sie kann unmöglich Monicas Haube genommen haben.“

„Genommen?“, fragte Honor ungläubig.

„Wir alle wissen, dass Honor einen zur Weißglut treiben kann, aber sie ist durch und durch aufrichtig“, fuhr Grace fort, so als sei Honor überhaupt nicht anwesend. „Im Gegenteil! Wenn man ihr etwas vorwerfen kann, dann, dass sie zu ehrlich ist!“

„Wie kann man denn zu ehrlich sein?“, wollte Prudence wissen. „Entweder man ist ehrlich oder eben nicht.“

„Ich will damit sagen, dass es ihr manchmal an Taktgefühl fehlt“, erklärte Grace.

„Vielen Dank auch“, sagte Honor trocken. „Das ist wirklich zu nett von dir.“

Grace blinzelte, als sei sie sich keiner Schuld bewusst.

„Miss Hargrove kann man ebenso wenig einen Mangel an Aufrichtigkeit vorwerfen“, sagte Augustus streng. „Sie würde mir gegenüber nicht solche Vorwürfe äußern, wenn sie nicht wahr wären.“ Wie um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, stopfte er sich das letzte Stück des Crackers in den Mund und kaute eifrig, während er Honor finster anstarrte.

Honor verkniff sich die Bemerkung, dass es Monica Hargrove noch an ganz anderen Dingen fehlte und dass sie es wissen musste, denn immerhin kannten sie sich schon seit ihrem sechsten Lebensjahr, als ihre Mütter es für angezeigt gehalten hatten, sie gemeinsam zu einem Tanzlehrer zu schicken. Soweit Honor sich erinnern konnte, war dieser Lehrer ein einfältiger Kerl mit einer spitzen Nase und langen, dünnen Armen gewesen, der Monica besonders gemocht und ihr bei allen Aufführungen die besten Rollen gegeben hatte. Außerdem hatten Monicas Kostüme immer Flügel gehabt, Honors aber nie. Das hätte Honor auch hingenommen, wenn Monica es ihr nicht immer wieder unter die Nase gerieben hätte. „Vielleicht wirst du ja auch noch besser und darfst nächstes Jahr dieses Kostüm tragen“, hatte sie gesagt, während sie sich hin und her drehte, damit Honor ihr Kostüm in seiner ganzen Pracht bewundern konnte.

In den nächsten sechzehn Jahren war die Konkurrenz zwischen den beiden immer stärker geworden.

„Monica würde auch mit dem kleinsten Missverständnis zu dir kommen, wenn es bedeutet, dass sie bei dir besser dasteht als ich“, sagte Honor.

„Willst du etwa leugnen, dass Miss Hargrove bei Locke and Company eine Haube bestellt hat“, fuhr Augustus fort, der jetzt seinen Cracker heruntergeschluckt hatte, „und dass sie empört darüber war, sie während des Konzerts auf deinem Kopf zu sehen? Sie muss einen schrecklichen Schock erlitten haben, die Arme!“

Mercy, die in einem Buch blätterte, ohne darin zu lesen, musste lachen, aber ein finsterer Blick von Grace brachte sie sofort zum Schweigen. Grace sagte beruhigend zu Augustus: „Das ist bestimmt nur ein kleines Missverständnis.“

„Nein“, sagte Augustus und schüttelte dabei den Kopf. „Miss Hargrove hat mir selbst erzählt, dass sie Honor beim Abendessen zur Rede gestellt und dass Honor alles abgestritten hat. Aber als Miss Hargrove sagte, die Bestellung habe sie eine erhebliche Summe gekostet, hat Honor gesagt, so erheblich auch nun wieder nicht. Also bitte, sie hat Miss Hargrove gegenüber quasi zugegeben, dass sie ihre Haube gestohlen hat.“

„Ich habe damit nur sagen wollen, dass ich sie nicht so teuer fand, als ich die Haube gekauft habe“, sagte Honor mit sanfter Stimme.

Augustus lief fleckig rot an, wie er es immer tat, wenn er erregt und verwirrt war. „Honor, das …“ Er schwieg, dabei schob er seine Brust nach vorn, im Versuch, Autorität auszustrahlen. „So geht das nicht.“

„Was geht so nicht?“, fragte Honor und hielt ihm den Teller mit den Crackern hin. „Sie hat meine Haube bewundert und dann behauptet, dass sie ihr gehört. Aber wie kann sie ihr gehören, wenn der Hutmacher sie mir verkauft hat und ich sie auf meinem Kopf hatte, frage ich dich? Frag doch bei Locke and Company nach, wenn du mir nicht glaubst.“

Augustus wirkte sehr verwirrt, als er in seinem Kopf versuchte, Ordnung in die Sache mit der Haube zu bringen. „Es liegt mir doch überhaupt nichts daran, deine Verlobte gegen mich aufzubringen, Augustus“, fuhr Honor fort. „Ich möchte, dass wir Freundinnen sind, wirklich! Aber ich will dir nichts vormachen, ich frage mich manchmal, welche Absichten sie eigentlich wirklich hat.“

„Sie hat nur die allerbesten Absichten!“, sagte Augustus. „Ich kann mir keine liebenswertere und sanftmütigere Frau vorstellen.“ Plötzlich griff er nach Honors Hand, doch dabei stieß er mit dem Handrücken gegen den Teller, deshalb umfasste er ihr Handgelenk und sah sie flehend an. „Ich muss darauf bestehen, dass du das nicht noch einmal tust, Honor. Oder … oder dass du nicht die Sachen kaufst, auf die sie ein Auge geworfen hat“, sagte er verunsichert.

Hinter Augustus’ Rücken verdrehte Grace die Augen.

„Ich gebe dir mein Wort“, sagte Honor feierlich. „Ich werde nicht Monicas Hauben stehlen.“ Das unterdrückte Kichern kam von Prudence, die sich alle Mühe gab, nicht laut herauszuplatzen.

„Ich will zwischen euch keinen Streit haben“, fuhr Augustus fort. „Du bist meine Stiefschwester und sie wird meine Frau sein. Ich will kein Gerede über euch zwei in der Stadt und für Papas Gesundheit ist es auch nicht gut.“

„Nein, da hast du natürlich recht“, sagte Honor, die sich nun ein klein wenig schuldbewusst fühlte. „Wie geht es dem Earl heute?“

„Er ist sehr schwach. Ich war vor dem Frühstück bei ihm, da hat er mich darum gebeten, die Vorhänge zuzuziehen, damit er schlafen kann. Die Nacht war wohl sehr unruhig.“

Augustus erhob sich, dabei streifte er mit seinem runden Bauch die Tischkante. Er zog seine Weste zurecht, die sich ständig nach oben schob, wenn er saß, und nahm die Serviette ab, die er sich in den Kragen gesteckt hatte. „Ihr entschuldigt mich?“

„Ich wünsche dir einen schönen Tag, Augustus!“, sagte Grace freundlich.

„Alles Gute!“, rief Honor ihm nach.

Grace warf ihr dafür einen bösen Blick zu, ehe sie sagte: „Alles klar, Pru, Mercy, bitte lasst euch jetzt die Haare machen, ja? Wir unternehmen nach dem Mittagessen einen Ausritt mit Mama.“

Mercy hüpfte von ihrem Stuhl. „Darf ich den Fuchs reiten?“

„Da musst du Mr Buckley fragen.“ Grace scheuchte sie mit einer Handbewegung zur Tür hinaus. Während Mercy und Prudence folgsam den Salon verließen, lächelte Grace dem Lakaien zu, der sie bediente, und sagte: „Vielen Dank, Fitzhugh. Meine Schwester und ich kommen jetzt allein zurecht.“

Fitzhugh folgte den jüngeren Schwestern und schloss die Tür hinter sich.

Als sie allein waren, wandte Grace sich mit finsterem Blick in den haselnussbraunen Augen Honor zu. Diese leerte heißhungrig ihren Teller und tat so, als bemerke sie nichts.

„Was hast du getan?“, fragte Grace leise.

„Gar nichts.“ Doch Honor konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Also gut, ich habe eine Haube gekauft.“ Sie nahm ein Stück Käse.

„Warum ist Monica dann so außer sich?“

„Ich vermute, weil sie die Haube für sich hat machen lassen.“ Honors Lächeln wurde immer breiter.

Grace sah sie mit offenem Mund an und brach dann in schallendes Gelächter aus. „Du lieber Gott, du bist wirklich unverbesserlich! Du richtest uns noch alle zugrunde!“

„Das ist so nicht ganz richtig. Ich bin sehr verbesserungswürdig.“

„Honor, also wirklich!“, sagte Grace, die noch immer lachen musste. „Wir hatten doch ausgemacht, dass du sie nicht schon wieder ärgern solltest.“

„Ach, weißt du, was ist schon eine Haube?“, sagte Honor und schob den Teller von sich weg. „Sie lag im Schaufenster von Locke and Company und ich fand sie wunderschön. Die Verkäuferin fand überhaupt nichts dabei, mir zu erzählen, dass Miss Monica Hargrove sie vor über einem Monat in Auftrag gegeben hatte, es ihr aber noch nicht eingefallen war, die Rechnung zu bezahlen. Da lag sie also, Grace, die wunderschöne Haube, und wenn ich das so frei heraus sagen darf, hatte sie ohnehin die falschen Farben für Monicas farbloses Gesicht. Der Laden wäre sonst vielleicht auf den Kosten für die Herstellung sitzen geblieben! Natürlich war die Verkäuferin froh, dass ich sie gekauft habe. Und ehrlich gesagt war es mir vollkommen egal, ob Monica sie bestellt hatte oder nicht. Sie ist eine unangenehme Person! Weißt du, was sie gestern Abend zu mir gesagt hat?“, fragte sie und beugte sich zu ihrer Schwester hinüber. „Sie hat gesagt: Ich weiß, was du vorhast, Honor Cabot“, Honor sprach in übertrieben tiefem und drohendem Ton, „aber es wird dir nicht gelingen. Augustus und ich werden heiraten und du kannst nichts tun, um das zu verhindern. Und wenn wir erst verheiratet sind, wirst du dich in einem Cottage in den Cotswolds wiederfinden und dort brauchst du ganz bestimmt keine vornehme Haube, das kannst du mir glauben.“ Honor lehnte sich zurück und ließ ihre Worte auf ihre Schwester wirken.

Grace holte tief Luft. „In den Cotswolds? Warum verbannt sie uns nicht gleich in die afrikanische Wüste? Das wäre auch nicht viel schlimmer! Mein Gott, Honor, genau davor hatten wir doch immer Angst und jetzt hast du sie genau dazu provoziert!“

Honor schnaubte verächtlich und nahm sich noch ein Stückchen Käse. „Glaubst du im Ernst, dass Monica Augustus dermaßen im Griff hat? Ihm liegt das Wohlergehen seiner Schwestern doch am Herzen.“

„Ja natürlich!“, sagte Grace mit bewegter Stimme. „Ja, ich glaube allerdings, dass sie so viel Einfluss auf ihn hat! Egal, wie sehr wir alle Augustus am Herzen liegen, glaubst du im Ernst, dass Monica ein Haus mit uns allen teilen wird, wenn der Earl stirbt? Ganz gleich, ob Beckington oder das Landhaus in Longmeadow oder überhaupt irgendeins?“

Honor seufzte tief. Es war gesellschaftlich allerdings alles andere als üblich, dass ein frischgebackener Earl und dessen ebenfalls frischgebackene Ehefrau die dritte Ehefrau des verstorbenen Earls mit allen vier Stieftöchtern bei sich aufnahmen. Grace hatte vollkommen recht, aber Monica war einfach so … herrschsüchtig! Und so vollkommen, bescheiden, sittsam und so hübsch!

„Du bist manchmal einfach rücksichtslos“, sagte Grace. „Was soll denn aus Prudence und Mercy werden, wenn wir auf dem Land festsitzen? Und aus Mama?“

Es wäre allerdings sehr schwierig für ihre Mutter, einen neuen Ehemann zu finden, dem es nichts ausmachte, auch für ihre vier unverheirateten Töchter zu sorgen, die einen ziemlich luxuriösen Lebensstil gewohnt waren und eine nicht unerhebliche Mitgift erwarteten. Die Familie Cabot hatte nur wenig eigenes Vermögen in die Ehe eingebracht, das reichte ganz bestimmt nicht aus, um alle vier Töchter gut zu verheiraten. Sie waren vollkommen abhängig vom Vermögen des Earls.

Erschwerend kam noch hinzu, dass die Cabots sich ganz bestimmt am Rande der vornehmen Gesellschaft wiederfinden würden, wenn irgendjemand erfuhr, was Grace und Honor bei ihrer Mutter beobachteten: Sie verlor langsam, aber sicher den Verstand. Es hatte vor zwei Jahren angefangen, nach einem Aufenthalt in Longmeadow. Ihre Mutter war in einen Unfall verwickelt gewesen, bei dem sich ihr Zweispänner überschlagen hatte und sie auf die Straße geschleudert worden war. Körperlich hatte sich die Countess wieder erholt, aber Honor und Grace hatten danach immer wieder bemerkt, dass ihr Geist nicht ganz klar zu sein schien. Meistens waren es Gedächtnisschwierigkeiten. Aber es gab auch andere Veränderungen, die offensichtlicher waren. Einmal erzählte sie davon, wie sie ihre Schwester getroffen hatte, so als wäre diese noch am Leben. Ein anderes Mal konnte sie sich nicht mehr an den Titel des Earls erinnern.

In letzter Zeit war es eher schlimmer mit ihrer Mutter geworden als besser. An den meisten Tagen war sie bei klarem Verstand und wich ihrem Gatten nicht von der Seite. An anderen Tagen hingegen konnte sie mehrmals dieselbe Frage stellen oder sie machte innerhalb von wenigen Minuten drei oder sogar vier Mal dieselbe Bemerkung über das Wetter. Honor hatte einmal versucht, ihre Mutter auf ihre immer schlimmer werdende Vergesslichkeit anzusprechen, daraufhin war ihre Mutter sehr verwirrt und auch wütend gewesen. Sie hatte Honor sogar vorgeworfen, ihr ihre eigene Vergesslichkeit in die Schuhe schieben zu wollen.

„Und ich muss dir ja wohl nicht sagen, dass der Earl seit zwei Tagen das Bett nicht mehr verlassen hat“, fügte Grace hinzu.

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Honor mit trauriger Stimme. Sie zog die Füße unter sich auf ihre Stuhl. „Grace … ich habe nachgedacht“, sagte sie zögernd. „Was wäre, wenn Monica Augustus nicht heiraten würde?“

„Warum sollte sie denn nicht?“, fragte Grace und schnitt Honor damit das Wort ab. „Augustus ist ganz hingerissen von ihr. Er läuft ihr nach wie ein Hündchen.“

„Aber was wäre, wenn … wenn Monica von einem noch größeren Vermögen angelockt würde?“

„Wie bitte?“ Grace sah Honor ängstlich an. „Wie? Warum?“

„Nehmen wir nur einmal an, dass Monica weggelockt werden würde. Das würde uns die Zeit verschaffen, die wir brauchen, um unsere Angelegenheiten zu regeln. Sieh mal, Grace, wenn der Earl stirbt, wird Augustus sie so schnell wie möglich zum Altar führen – und was sollen wir dann noch machen? Aber wenn sie nicht ganz so schnell heiraten …“

„Das ist alles schön und gut, du vergisst dabei nur eins: Augustus liebt sie“, sagte Grace und war dabei sichtlich bemüht, einen kühlen Kopf zu bewahren.

„Das habe ich nicht vergessen. Aber er ist ein Mann, oder etwa nicht? Er wird sie vergessen und eine andere finden.“

„Aber doch nicht unser Augustus!“, sagte Grace zweifelnd. „Monica Hargrove ist die erste Frau, die er auch nur genauer angesehen hat, und selbst das hat noch mehrere Jahre gedauert!“

„Ich weiß“, antwortete Honor, der bei der Sache nicht ganz wohl war. „Ich versuche doch bloß, ihre Hochzeit ein bisschen zu verschieben.“

„Und bis wann?“

„So weit war ich noch nicht“, musste Honor zugeben.

Grace sah ihre Schwester eine Weile nachdenklich an, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Das ist doch lächerlich. Eine fixe Idee! Monica gibt doch nicht einfach so den Spatz in der Hand wieder her – selbst wenn Augustus blind und taub wäre, wäre ihr das egal. Außerdem habe ich eine bessere Idee.“

„Und welche?“, fragte Honor mit skeptischem Blick.

Grace richtete sich auf. „Wir heiraten vor den beiden. So schnell wie möglich. Wenn wir verheiratet sind, müssen unsere Ehemänner Mutter und unsere Schwestern mit aufnehmen, wenn der Earl stirbt.“

„Wer hat hier jetzt die fixe Idee?“, fragte Honor. „Was glaubst du denn? Dass wir nur mit den Fingern schnipsen müssen, um einen Ehemann zu finden? Wen sollten wir denn heiraten?“

„Mr Jett, zum Beispiel …“

„Auf gar keinen Fall! Das ist der schlechteste Plan überhaupt, Grace. Erstens hat er keiner von uns einen Antrag gemacht und zweitens will ich überhaupt noch nicht heiraten. Ich will mich nicht um einen Ehemann kümmern und tun, was er von mir verlangt, und vielleicht aufs Land ziehen, wo nichts los ist, weil er das so will.“

„Wovon redest du denn? Wer ist denn dazu gezwungen worden, aufs Land zu ziehen? Jetzt mal im Ernst, Honor, willst du denn nicht heiraten? Sehnst du dich nicht nach Liebe und Zweisamkeit und Kindern?“

„Natürlich“, sagte Honor mit deutlichem Zweifel in der Stimme. Sie mochte ihre Freiheit. Sie sehnte sich nicht wie andere Frauen in ihrem Alter nach Familienglück und Ehe. „Aber im Augenblick bin ich in niemanden verliebt und ich will nicht einfach nur heiraten, weil es von mir erwartet wird. Es macht mich wütend, dass wir tun sollen, was man von uns verlangt, und diesen Mann heiraten oder jenen Antrag annehmen. Warum sollten wir das machen? Wir sind freie Menschen. Wir sollten tun und lassen können, was uns gefällt, so wie die Männer.“

„Du vergisst, dass wir nicht allein auf der Welt sind“, gab Grace zu bedenken. Damit meinte sie vor allem Prudence und Mercy.

Diese Bemerkung versetzte Honors Begeisterung für Gleichberechtigung einen Dämpfer.

„Außerdem kannst du Rowley nicht für immer nachtrauern …“

„Ich trauere ihm nicht nach“, setzte Honor an, doch Grace hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.

„Ich will dir wirklich nicht zu nahetreten, aber seit dem Vorfall bist du wirklich nicht mehr dieselbe, Honor. Du lässt überhaupt niemanden mehr an dich heran.“

Ehe Honor noch zu einer Gegenrede ansetzen konnte, fuhr Grace fort: „Zumindest sind wir uns in einem einig: Es muss etwas passieren.“

„Ja, natürlich sind wir uns einig. Deswegen will ich ja Monica von Augustus weglocken. Und ich weiß auch schon, wer der Köder sein wird.“

„Wer?“, fragte Grace skeptisch.

Honor musste lächeln, so genial fand sie ihren eigenen Plan. „George Easton!“

Vor Überraschung riss Grace die Augen auf und vergaß, den Mund wieder zu schließen. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder sprechen konnte. „Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?“

„Das bin ich nicht“, verkündete Honor entschieden. „Er ist genau der richtige Mann dafür.“

„Reden wir von dem George Easton, dem du in diesem skandalösen Glücksspiel in Southwark einhundert Pfund abgenommen hast?“

„Allerdings!“

Grace stieß einen Laut aus, der genauso gut Verzweiflung wie Überraschung bedeuten konnte, Honor war sich nicht sicher, doch plötzlich erhob sich ihre Schwester und kam im Halbkreis um ihren Stuhl herum. Die Hände verschränkte sie dabei hinter dem Rücken. Als sie Honor schließlich gegenüberstand, kreuzte sie die Arme über der Brust und sah sie streng an. „Nur damit wir uns richtig verstehen, wir reden von dem Mann, der sich selbst den Bastard des Duke of Gloucester nennt? Dem Mann, der ein Vermögen genauso schnell verliert wie verdient?“

„Genau der“, bekräftigte Honor, von ihrer Idee überzeugt. „Er sieht gut aus, er ist ein Neffe des Königs und zur Zeit sind seine Taschen, soweit wir wissen, gut gefüllt.“

„Aber er ist ein Mann ohne eigenen Titel. Und ohne Verbindungen in der vornehmen Gesellschaft. Es nützt überhaupt nichts, wenn alle glauben, dass er der leibliche Sohn des verstorbenen Dukes ist, wenn der Duke selbst ihn niemals als sein Fleisch und Blut anerkannt hat. Und wo wir gerade davon sprechen: Der jetzige Duke – der ja dann Eastons Halbbruder wäre, wenn seine Geschichte stimmt – meidet ihn vollständig. Man darf in seiner Gegenwart nicht einmal Eastons Namen erwähnen! Um Himmels willen, Honor, seine angebliche Herkunft nützt ihm gar nichts! Monica Hargrove wird niemals den Titel des Hauses Beckington für ihn aufgeben, auf gar keinen Fall.“

„Vielleicht doch“, beharrte Honor. „Wenn man es nur geschickt anstellen würde mit der Verführung.“

Grace blinzelte verwirrt. Sie sank wieder auf ihren Stuhl, legte die Hände auf die Knie und sah ihre Schwester mit offenem Mund an. „Das ist eine nicht nur lächerliche, sondern auch gefährliche Idee. Du musst mir versprechen, dass du keine solchen Gemeinheiten vollbringen wirst.“

„Gemeinheiten!“ Honor war ein wenig gekränkt, dass Grace die Genialität ihres Planes nicht erkannte. „Er soll sie doch nur ein wenig verführen, nicht kompromittieren! Er soll sie nur in dem Glauben lassen, es gäbe noch andere Interessenten an einer Ehe mit ihr, dann wird sie schon von selbst versuchen, ihre Optionen auszuloten, ehe sie Augustus heiratet. In meinen Augen ist der Plan so einfach wie genial. Oder hast du eine bessere Idee?“

„Allerdings“, sagte Grace im Brustton der Überzeugung. „Wenn du nicht heiraten willst, dann werde ich es eben tun.“

„Oh, hast du Anträge bekommen, von denen du mir noch nichts erzählt hast?“

„Nein“, sagte Grace und schnaubte dabei. „Aber ich habe schon eine Idee, wie ich einen bekomme.“

„Zum Beispiel?“

„Das geht dich nichts an“, konterte Grace. „Aber du musst mir versprechen, dass du keine Dummheiten machst.“

„Also gut, also schön“, antwortete Honor und wedelte dabei vor Ungeduld mit der Hand. „Ich verspreche es dir“, sagte sie mit dramatischem Tonfall, dann nahm sie ihren Teller wieder in die Hand. „Ich verhungere fast.“

Honor hatte tatsächlich fest vor, ihr Versprechen zu halten. Das hatte sie eigentlich immer.

Aber dann traf sie noch am selben Nachmittag zufällig auf George Easton.

3. KAPITEL

Finnegan, der für George Easton sowohl Butler als auch Lakai und Kammerdiener war, hatte Georges besten dunkelbraunen Mantel und die dazu passende Weste sowie ein Halstuch im selben Farbton sorgfältig gebügelt. Er hatte die Kleidungsstücke so aufgehängt, dass sie George sofort ins Auge fallen mussten: direkt vor dem Waschbecken, sodass er an ihnen vorbei nicht in den Spiegel sehen und auch die Rasierklingen, Bürsten und Manschettenknöpfe nicht erreichen konnte.

Bevor er Finnegan engagiert hatte, war George mit zwei Lakaien, einer Köchin und einer Haushälterin als einzigen Dienstboten vollkommen zufrieden gewesen. Doch seine Geliebte, Lady Dearing, hatte darauf bestanden, dass George Finnegan einstellte, nachdem ihr eigener Ehemann den Kammerdiener auf die Straße gesetzt hatte. Lady Dearings Aussage nach war diese Entlassung den schlechten finanziellen Verhältnissen im Hause Dearing zu verdanken. George kannte sich mit finanziellen Schieflagen aus, er hatte in seinen einunddreißig Lebensjahren durchaus schon einige erlebt.

Es waren einige Wochen in Georges Dienst verstrichen, ehe er den wahren Grund für Finnegans Entlassung erfuhr: Er war ebenfalls von Lady Dearing eingeladen worden, ihr Bett zu teilen. George war durchaus nicht verborgen geblieben, dass seine blonde Löwin einen überaus großen Appetit besaß, aber der Kammerdiener? Das verstieß gegen die Regeln des guten Geschmacks. Doch in der Zwischenzeit hatte George sich an Finnegans Dienste gewöhnt und so hatte er sich der Geliebten entledigt und ihn als Butler behalten.

Er hatte sich gerade fertig angezogen, als Finnegan mit einem Hut in der Hand in der Tür seines Schlafzimmers erschien.

„Was ist das?“

„Ihr Hut, Sir.“

„Das sehe ich selbst, warum bringen Sie ihn mir?“

„Sie haben einen Termin mit Mr Sweeney. Anschließend treffen Sie sich mit den beiden Misses Rivers bei den Ställen von Cochran. Sie haben die jungen Damen zu einem Ausritt eingeladen.“

George runzelte entnervt die Stirn. „Was habe ich? Und wann soll ich diese Einladung ausgesprochen haben?“

„Offensichtlich gestern Abend, Sir. Ein Lakai der Rivers war vorhin hier, um die Nachricht zu überbringen, dass beide Misses Rivers Ihre Einladung mit dem größten Vergnügen annehmen.“ Er lächelte. Oder grinste. Ganz sicher war George sich da nie.

Er konnte sich an keinerlei Einladung erinnern, doch andererseits hatte er wohl gestern Abend im Coventry House Club ein wenig zu viel Spaß gehabt. Der Club war genau das Richtige für Männer wie ihn, er wurde viel von den Gentlemen der feinen Gesellschaft besucht, die – so wie George selbst – über ein üppiges Budget fürs Glücksspiel verfügten und sowohl Whiskey als auch südamerikanische Zigarren schätzten. Der Club war das Gegenteil von versnobt und damit von White’s in St. James. Zumindest stellte sich George das so vor.

Tom Rivers, der Bruder der beiden Damen, war gestern Abend ebenfalls im Coventry House gewesen, daran konnte er sich erinnern, ebenso an zu viele Drinks und jede Menge Gelächter. „Gott im Himmel“, murmelte er, stand auf und streckte die Hand nach dem Hut aus.

Er lief die mit dicken Teppichen ausgelegten Treppen des repräsentativen Hauses in Mayfair hinunter, das er in aller Stille dem Count of Wellington abgekauft hatte. Der Count hatte an einen Mann wie ihn – den unehelichen Sohn eines Dukes und Halbbruder eines anderen, der den Gedanken an seine Existenz schon kaum aushalten konnte – keineswegs verkaufen wollen, aber er hatte das Geld gebraucht, das George ihm zu bieten hatte.

Auch für die Verhältnisse der eleganten Audley Street in Mayfair war es ein geradezu spektakuläres Haus. Von der hohen Decke der Eingangshalle hing ein reich verzierter Kronleuchter von der Größe eines Pferdes herab und die Treppen wanden sich um ihn herum. Die mit Seidentapeten bespannten Wände der Halle waren mit Gemälden und Porträts geschmückt, die allesamt noch der Vorbesitzer zusammengetragen hatte.

Mittlerweile fielen sie George kaum noch auf, aber er hatte früher viel Zeit damit verbracht, sie einzeln sehr genau zu studieren und nach Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Äußeren zu suchen. Schließlich war er zu dem Schluss gekommen, dass sie alle als seine Vorfahren in Frage kamen. Was spielte es schon für eine Rolle, um wen genau es sich handelte? Wenn man der Sohn eines Dukes und eines niederen Zimmermädchens war – eines Zimmermädchens, welches der Duke sofort entlassen hatte, als er von der Schwangerschaft erfuhr –, ist einem nichts so sicher wie verschlossene Türen und unangenehmes Schweigen, wenn man nach seinen Vorfahren forscht.

Barns, einer seiner Lakaien, stand an der Tür und öffnete sie, noch ehe George sie erreicht hatte. Das war Finnegans Werk. Finnegan war der einzige Mensch in seinem Leben, jetzt oder früher, der ihn jemals wie den Urgroßenkel eines Königs und Neffen eines weiteren behandelt hatte. George war sich nie ganz sicher, ob ihm diese Behandlung gefiel. Er zog es eigentlich vor, seine Türen selbst zu öffnen. Er sattelte auch sein Pferd lieber selbst – da er das schon als kleiner Junge gelernt hatte, als er in den Stallungen der Royal Mews gearbeitet hatte, während seine Mutter dort die Nachttöpfe ausleerte, ging es bei ihm sehr schnell.

„Vielen Dank, Barns“, sagte George. Er war einen ganzen Kopf größer als sein Lakai. George verfügte über die Statur der königlichen Familie und die robuste Gesundheit der Familie seiner Mutter. All seine Verwandten mütterlicherseits hatten sich mit ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdient. In Montagu House aber hing ein Porträt seines Vaters, das George sich gewissenhaft angesehen hatte, als sich die Gelegenheit dazu ergab. Es kam ihm so vor, als hätte er die schmale, aristokratische Nase und das energische Kinn seines Vaters, aber das kastanienbraune Haar seiner Mutter und ihre hellblauen Augen. Die anderen Kinder, die in den Royal Mews arbeiteten, hatten gesagt, er sei ein Mischling, nicht der Neffe eines Königs.

Georges Pferd stand bereits gesattelt auf dem gepflasterten Bürgersteig vor seinem Haus. Er warf dem Stallburschen einen Viertelpenny zu, der die Münze geschickt auffing und in die Tasche steckte, während er George die Zügel übergab. „Tach auch, Sir“, sagte er und rannte zurück zu den Ställen.

George setzte sich den Hut auf, schwang sich in den Sattel und trieb sein Pferd im Trab die Audley Street hinunter.

Eine Viertelstunde später kam er beim Büro von Sweeney and Sons an. Sam Sweeney, sein Anwalt und Schiffsmakler, grinste breit. „Woher die gute Laune?“, fragte George, als er kurz darauf in der Eingangshalle seinen Hut einer alten Dienstbotin mit einer Spitzenhaube übergab.

„Es gibt allen Grund zur Freude, ja zum Glücklichsein“, antwortete Mr Sweeney, während er Georges Hand ergriff und überschwänglich schüttelte. „Kommen Sie doch bitte herein, Mr Easton. Ich habe wunderbare Neuigkeiten.“

„Ist das Schiff wiederaufgetaucht? Hat man es in den Hafen gebracht?“

„Nicht ganz“, gab Mr Sweeney zu, während er George in sein Büro bat. Umständlich wedelte er mit seinem Taschentuch über die Polster eines Ledersessels und bat George, dort Platz zu nehmen.

Als George sich hingesetzt hatte, sagte Mr Sweeney: „Die ‚St. Lucia Rosa‘ liegt im Hafen. Ich habe mit dem Kapitän selbst gesprochen. Er hat mir berichtet, dass Godsey und seine Mannschaft Indien erreicht haben und eine Woche später nach England aufbrechen sollten. Das bedeutet, er müsste in spätestens einer Woche hier sein.“

Erleichterung durchflutete George. Er hatte einen nicht unerheblichen Teil seines Vermögens in dieses Schiff investiert und den Gedanken, alles zu verlieren und wieder einmal von vorn anzufangen, konnte er kaum ertragen.

„Lassen Sie uns außerdem nicht vergessen, dass Kapitän Godsey ein Mann mit viel Erfahrung ist“, ergänzte Sweeney.

Sweeney hatte Godsey aufgetrieben. George vertraute seinem Urteil – Sweeney und er arbeiteten seit Jahren zusammen, seit George angefangen hatte, das Geld zu investieren, das der Duke of Gloucester ihm bei seinem Tod vor ein paar Jahren hinterlassen hatte. Das war und blieb die einzige Anerkennung, die George von seinem Vater jemals erhalten hatte. Es war kein großes Vermögen gewesen, sondern gerade genug, um das Gewissen eines Mannes zu erleichtern, eher er vor seinen Herrn und Schöpfer trat. Alles andere hatte der älteste Sohn des Dukes geerbt, Georges Halbbruder, den er nur ein einziges Mal getroffen hatte. Dieser hatte daraufhin prompt verfügt, dass George Easton keinen Fuß in irgendwelche Bereiche des Londoner Lebens setzen durfte, in denen er selbst verkehrte.

George hatte inzwischen Übung darin, die bitteren Enttäuschungen von sich abperlen zu lassen, die er um der Umstände seiner Geburt willen erleiden musste. Er machte sich nicht mehr viel daraus, wenn man ihn einen Lügner, einen Emporkömmling oder einen Betrüger nannte, dem es ausschließlich um das Gloucester’sche Vermögen ging. Er hatte sich lieber darauf konzentriert, sich selbst einen Namen zu machen. In seine letzte Unternehmung, den Import von indischer Baumwolle, hatte er viel Geld investiert.

Er war ein hohes Risiko eingegangen, aber George hatte sein Vermögen damit gemacht, sorgfältig kalkulierte Risiken einzugehen. Mit seinem Vermögen war auch sein Selbstvertrauen gewachsen. Die Damen mochten ihn, aber er gestand sich niemals zu, für eine von ihnen besondere Zuneigung zu entwickeln. Er spielte ein Männerspiel, nahm sich von ihnen, was er bekommen konnte, und hielt sie ansonsten von sich fern. Wenn nämlich eins sicher war, dann, dass er niemals mehr als ein Bastard für diese Leute sein würde.

George hatte keinerlei Illusionen, wenn es um seine Position in der Gesellschaft ging. Aber er hoffte sehr, dass diese Position in Zukunft um ein lukratives Baumwollgeschäft bereichert wurde.

Durch den anhaltenden Krieg mit Frankreich waren Männer wie George heute in der Lage, bislang unentdeckte Geschäftsfelder zu nutzen. Vor zwei Jahren hatte er mit einem Inder einen Vertrag über die Lieferung von Baumwolle auf die Britischen Inseln geschlossen. Es war ein risikoreiches Geschäft, es gab so vieles, was dabei schiefgehen konnte. Aber dieses Leben hatte George sich selbst ausgesucht – er ergriff jede Gelegenheit, die sich ihm bot. Erstaunlich lukrative Gelegenheiten. Die Risiken machten ihm sogar Spaß; sie ließen ihn wachsam bleiben, der Balanceakt, den sie erforderten, war zu seinem Lebenselixier geworden.

Bei der ersten Baumwolllieferung war er richtiggehend euphorisch gewesen. Die Ladung war wie vereinbart in London eingetroffen und George hatte sie mit außergewöhnlich hohem Gewinn weiterverkauft. Das Kapital, das er hier erworben hatte, hatte er dann in ein eigenes Schiff mit Mannschaft investiert, um so noch mehr Baumwolle nach England zu bringen.

Dies war bei Weitem das größte geschäftliche Risiko, das er jemals eingegangen war. Niemand hinderte etwa die Mannschaft daran, sich mit der Ladung aus dem Staub zu machen und sie selbst zu verkaufen. Das Schiff konnte auf der Überfahrt in Seenot geraten und sinken. Es konnte auch von Piraten aufgebracht werden. Und das waren nur die offensichtlichen Gefahren. George war sich darüber klar, dass er im Grunde nicht wusste, was alles passieren konnte, denn er selbst war in seinem ganzen Leben noch nirgendwohin gesegelt. Aber wenn alles gut ging, würde er ein unvorstellbar wohlhabender Mann werden. Und wenn nicht, nun ja … George würde schon etwas einfallen.

Er würde schlicht und einfach von vorne anfangen.

Er besprach mit Sweeney, wie schnell er die Baumwolle zu Geld machen konnte, wenn das Schiff erst den Hafen erreicht hatte, und als er sein Büro wieder verließ, war ihm deutlich leichter ums Herz als bei seiner Ankunft.

Bei den Ställen von Cochran warteten schon die Zwillinge Miss Eliza und Miss Ellen Rivers auf ihn. Bei ihnen war eine Frau mit säuerlicher Miene, die wohl ihr Kindermädchen sein musste, wenn er bedachte, wie jung die Damen tatsächlich waren, echte Kinder im Vergleich zu seinen einunddreißig Jahren. Aber die jungen Mädchen waren fröhlich und aufgeregt an diesem kühlen Frühlingsnachmittag, ihre Wangen leuchteten wie rote Äpfel. „Bei allem, was mir heilig ist“, sagte George, „ich kann mich nicht entscheiden, welche von Ihnen hübscher ist.“

Die Mädchen kicherten und George musste zugeben, dass ihm das Geräusch gefiel; es klang nach Frühling. Gerne machte er sich mit den beiden Vögelchen auf den Weg zur Reitbahn Rotten Row; ihre kleinen Pferde trotteten neben seinem Araber her, den er in gemächlichem Tempo gehen ließ.

George fiel sofort auf, dass die beiden Debütantinnen die Angewohnheit hatten, die Sätze der jeweils anderen zu beenden, sodass er Mühe hatte, der Unterhaltung zu folgen. Deshalb überschlug er im Kopf, wie viele Schritte es noch waren, ehe er die jungen Damen wieder bei den Ställen abliefern konnte – er lenkte sich gerne einmal mit Rechnereien ab –, da kam plötzlich eine blaue Wolke mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf ihn zugerast.

Er richtete sich im Sattel auf und sah der blauen Wolke verwundert entgegen, ehe er erkannte, dass es sich tatsächlich um eine Dame handelte, die so schnell und rücksichtslos ritt, dass er dachte, ihr Pferd müsse durchgegangen sein. Er machte sich bereit, das Tier zu verfolgen und anzuhalten, um die Dame zu retten, da zügelte sie direkt vor ihm ihr Pferd und lächelte freundlich. „Guten Tag, Miss Rivers, Miss Rivers“, sagte sie freudig und atemlos und legte eine Hand an ihren Hut.

Georges Begleiterinnen waren von ihrem plötzlichen Eintreffen so perplex, dass sie sie mit offenem Mund anstarrten, aber George hatte sie sofort erkannt: Honor Cabot.

Sie lachte fröhlich. „Mr Easton!“, sagte sie, als hätte sie ihn eben erst bemerkt. „Was für ein unerwartetes Vergnügen, Sie hier wiederzusehen, Sir!“

„Miss Cabot“, sagte er und nickte ihr zu. „Sie haben uns aber erschreckt.“

„Oh, wirklich?“ Sie lachte übermütig. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, das war ganz und gar nicht meine Absicht. Ich wollte nur, dass das alte Mädchen sich einmal ordentlich austoben kann.“ Sie beugte sich dabei über den Hals ihres Pferdes und klopfte ihn liebevoll. „Miss Rivers, wie geht es Ihren Eltern?“, fragte sie.

„Ausgezeichnet, danke der Nachfrage“, sagte eine von ihnen.

„Das freut mich sehr zu hören. Ich wollte Ihre kleine Gesellschaft nicht stören. Ich verabschiede mich, dann können Sie in Ruhe weiterreiten“, sagte sie und fügte hinzu: „Ich bitte nochmals um Entschuldigung, falls ich Sie erschreckt haben sollte.“

„Schon vergessen“, sagte eine der Zwillingsschwestern.

„Einen schönen Tag noch!“ Miss Cabots Lächeln wurde fast unmerklich schwächer, als sie sich George zuwandte. „Mr Easton“, sagte sie und musterte ihn dabei von oben bis unten, während sie ihr Pferd wendete und in die andere Richtung davongaloppierte. Seltsamerweise schien ihr Blick an George zu haften.

Plötzlich zügelte Miss Cabot noch einmal ihr Pferd und warf einen Blick zurück über ihre Schulter. „Verzeihung, aber mir ist gerade eben ein Gedanke gekommen! Mr Easton, sind Sie nicht zur Teegesellschaft heute Nachmittag im Gunter’s eingeladen, die mein Bruder Lord Sommerfield gibt?“

Sommerfield? Wohl kaum. George hielt nichts von verweichlichten Männern, die Bücher dem Sport vorzogen. Er sah sie neugierig an und fragte sich, wie sie wohl auf diese Idee kommen mochte.

„Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl die Güte hätten, ihm eine Nachricht von mir zu überbringen? Ich sehe ihn heute sonst gar nicht mehr, weil ich noch andere Verpflichtungen habe.“

„Ich bin nicht …“

„Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, warf sie schnell ein. „Würden Sie ihm wohl sagen, dass ich mit der Kutsche des Earls so etwa um halb sechs komme, um ihn abzuholen? Ich möchte Ihr Treffen nicht unterbrechen.“

Er öffnete den Mund, um zu erklären, dass eine Verwechslung vorliegen musste, aber ehe er etwas erwidern konnte, sagte sie: „Das ist sehr nett von Ihnen. Sie vergessen es doch nicht? Halb sechs vor Gunter’s Teestube. Ich nehme die Kutsche des Earls.“

George kam es auf einmal so vor, als ob Miss Cabot beabsichtigte, sich mit ihm zu treffen, aber das war natürlich absurd.

Nein. Ganz ausgeschlossen. Das würde eine wohlerzogene junge Dame niemals tun. Aber dennoch hatte sie es gerade eben getan. Was konnte sie nur von ihm wollen? Er war sprachlos. Und sehr neugierig. „Ich überbringe Ihre Nachricht mit dem größten Vergnügen“, sagte er. „Halb sechs, ich werde es nicht vergessen.“

Sie lächelte. „Vielen Dank.“ Dann wendete sie und trieb ihr Pferd an, sodass sie die anderen Reiter weiter unten auf der Bahn schnell überholt hatte.

Eher zufällig warf George einen Seitenblick auf Miss Eliza Rivers.

Sie starrte ihn ungläubig an. „Sind Sie mit Miss Cabot näher bekannt?“

„Wir sind uns schon einmal vorgestellt worden“, antwortete er, beließ es aber bei dieser Auskunft. „Sollen wir weiterreiten?“ Er trieb sein Pferd an und machte eine Bemerkung über das schöne Wetter.

Es war streng genommen nicht ganz richtig, dass sie einander vorgestellt worden waren, aber er hatte sie immerhin in Southwark getroffen, als sie ihn nach allen Regeln der Kunst eingewickelt und vorgeführt hatte.

Wenn George Easton eins nicht ausstehen konnte, dann war es, ein Spiel zu verlieren.

Und wenn es etwas gab, dass er ganz und gar nicht ausstehen konnte, dann, ein Spiel an eine schöne junge Dame zu verlieren.

Und wenn es etwas gab, das er noch weniger mochte, als gegen eine schöne junge Dame zu verlieren, dann war es, das vor Publikum zu tun, und noch dazu, weil er sich mehr um ihr appetitliches Dekolleté gekümmert hatte als um das Blatt, das er auf der Hand hatte.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, was Miss Cabot heute im Schilde führte, aber er würde auf jeden Fall um halb sechs bei dieser Teestube sein. Es war mehr als gewagt, ihn auf diese Weise allein treffen zu wollen. Weit weg von allen Beobachtern.

So eine Einladung würde kaum ein Mann ausschlagen, und George Easton ganz bestimmt nicht.

4. KAPITEL

Honor gab sich große Mühe mit ihrer Garderobe für ihr Treffen mit Mr Easton. Sie wollte auf gar keinen Fall einen falschen Eindruck erwecken, denn sie stand so schon auf sehr dünnem Eis. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sie in Southwark angesehen hatte: Mit durchdringendem Blick hatte er sie von oben bis unten genau gemustert.

Sie brauchte etwas sehr Schlichtes. In dem sie reserviert wirkte. Sie entschied sich für ein Kleid aus weißem Musselin mit hohem Kragen und grüner Umsäumung und zog darüber noch ein ebenfalls grünes Jäckchen. Dazu setzte sie eine Haube mit passendem Band auf und zog dunkelgrüne Handschuhe an.

Honor sah sich kritisch im Spiegel der Frisierkommode an. Das würde gehen – niemand würde auf den Gedanken zu kommen, dass sie Gunter’s Teestube aus einem anderen Grund besuchte, als eine Tasse Tee zu trinken oder ein Eis zu essen. Vor allem nicht, um allein, ohne Anstandsdame, einen Gentleman zu treffen. „Ganz sicher nicht“, sagte sie und lächelte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu.

Aber ihr Lächeln kam ihr selbst gekünstelt vor. Als wüsste ihr Mund ganz genau, wie unangemessen ihr Benehmen war.

Sie steckte ein paar Münzen in das mit Perlen besetzte Handtäschchen, das Prudence für sie gemacht hatte, dann machte sie sich auf den Weg nach unten, dabei gab sie acht, Grace nicht in die Arme zu laufen. Sie bat Beckingtons Butler, Mr Hardy, darum, die Kutsche vorfahren zu lassen. Als sie in der Eingangshalle stand und wartete, kam Augustus herein.

„Honor!“, rief er, überrascht, sie zu treffen. „Gehst du aus?“

„Eine Verabredung zum Tee“, sagte sie und versuchte, dabei fröhlich zu klingen, um ihre Nervosität zu verbergen. „Sehe ich dich beim Abendessen?“

„Beim Abendessen? Nein, ich fürchte, heute nicht.“ Er gab Hardy seinen Hut und fügte mit Stolz in der Stimme hinzu: „Ich bin zum Abendessen mit Miss Hargrove und ihren Eltern verabredet.“ Er warf einen Seitenblick auf Hardy und flüsterte hörbar: „Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“

„Aber natürlich, ich bin ganz verrückt nach Geheimnissen!“

Augustus zog an seiner Weste, die schon wieder über seinen Bauch nach oben gerutscht war. Seine braunen Augen glänzten und er konnte sein Lächeln kaum unterdrücken. „Ich habe es noch niemandem erzählt, aber Papa hat eingewilligt, dass Miss Hargrove und ich im Frühling heiraten.“

Honor hatte das Gefühl, als habe ihr Herzschlag kurz ausgesetzt. Sie war fest davon ausgegangen, dass es ganz ausgeschlossen war, dass diese Hochzeit stattfand, solange der Earl krank, aber noch am Leben war. „Dieses Frühjahr schon?“

„Allerdings, ist das nicht fantastisch? Als ich Papa erzählte, wie sehr Miss Hargrove an einer Heirat gelegen ist – genau wie mir natürlich –, hat er gesagt, dass er wahrscheinlich noch Monate vor sich hat und es keinen Sinn hat, die Sache auf die lange Bank zu schieben. Ich glaube, er freut sich, wenn ich heirate, ehe er … also … ehe das Unvermeidliche geschieht.“

Honor versuchte, ihren Schreck hinter einem strahlenden, herzlichen Lächeln zu verbergen.

„Am liebsten würde ich den Termin schon in Longmeadow verkünden“, fügte Augustus mit glücklichem Lächeln hinzu.

Die Beckingtons waren jedes Jahr vor Beginn der Parlamentssaison Gastgeber einer großen Landpartie auf dem Sitz der Familie in Longmeadow. Das herrschaftliche georgianische Anwesen hatte dreißig Gästezimmer und jedes Frühjahr nahmen mindestens einhundert Menschen an diesem Ereignis teil.

„Könnte es einen besseren Ort und eine bessere Zeit geben?“, fuhr Augustus fröhlich fort.

„Es gibt keinen besseren“, stimmte Honor ihm zu, dabei wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf wild durcheinander. Das Abendessen, mit dem Longmeadow jedes Jahr begann, fand in nicht einmal drei Wochen statt.

„Monica ist ein wenig unsicher. Ich habe ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht, denn meine Schwestern sind sehr gastfreundlich.“ Er sah Honor eindringlich an.

Ganz besonders zu guten Freunden, will ich meinen“, sagte Honor und das schloss Monica natürlich aus, aber sie sah keine Veranlassung, die Situation jetzt durch solche Erklärungen unnötig kompliziert zu machen.

Augustus warf Hardy einen verstohlenen Blick zu, dann lehnte er sich zu Honor hinüber und flüsterte: „Ich fürchte, es kommt ihr so vor, als ob ihr vier sie als Eindringling in unsere glückliche Familie betrachtet. Ich habe ihr versichert, dass euch nichts ferner liegen könnte. Das hat sie ein wenig beruhigt und sie hat außerdem gesagt, dass ihr ja früher oder später auch alle heiraten werdet.“ Augustus lächelte Honor entschuldigend zu. „Ich sollte nicht darüber reden, aber ich glaube, sie wäre euch gern dabei behilflich.“

„Daran habe ich keinerlei Zweifel“, sagte Honor trocken.

„Denk darüber nach, Honor. Man kann nicht ewig im Elternhaus wohnen bleiben, ich habe das selbst festgestellt.“

„Nein, natürlich nicht.“ Also fing Monica jetzt schon an, Stimmung gegen sie zu machen? Honor würde auf jeden Fall etwas dagegen unternehmen, ehe es zu spät war, dessen war sie sich jetzt ganz sicher. „Was für ein freudiges Ereignis“, sagte sie zu Augustus. „Du musst unserer Freundin unbedingt klarmachen, dass wir sie in keinster Weise als Eindringling betrachten.“ Sie pikste ihm mit dem Finger in die Brust, um ihre Worte zu unterstreichen.

Die Tür wurde geöffnet und einer der Lakaien kam herein. „Oh, deine Kutsche ist bereit“, sagte Augustus, der sehr zufrieden aussah. „Ich richte Miss Hargrove deine herzlichen Glückwünsche aus, wenn es dir recht ist.“

„Unbedingt“, bestätigte Honor und stellte sich vor, wie sie die Hände um Monicas Hals legte.

„Ich wünsche dir einen schönen Tag, Schwesterherz“, sagte er gutmütig.

„Einen schönen Tag, Augustus.“ Honor sah ihm nach, wie er pfeifend davoneilte. Sie ging zur Tür. Hardy wartete noch immer auf sie, während er die Tür aufhielt. „Möge Gott uns allen beistehen, Hardy“, sagte sie, als sie an ihm vorbeirauschte.

„In der Tat, Miss.“

Honor erblickte Mr Easton im selben Augenblick, als die Kutsche auf den Berkeley Square einbog. Seine stattliche Gestalt war auch kaum zu übersehen. Mit lässig verschränkten Armen und überkreuzten Beinen lehnte er an einem Geländer und sah den Menschen zu, die über den Platz gingen. An jenem Abend in Southwark hatten seine männliche Ausstrahlung und seine attraktive Erscheinung sie schon sehr gereizt. Sie verstand jetzt sehr gut, woher die Gerüchte kamen, er sei Londons größter Schwerenöter und habe unzählige Affären. Wenn sie ihn ansah, regte sich etwas tief in ihrem Inneren.

Honor öffnete die Trennscheibe zum Fahrer. „Jonas, halten Sie bitte vor dem Gunter’s an und öffnen Sie die Tür, sodass der Gentleman im schwarzen Jackett und mit der goldenen Weste einsteigen kann“, rief sie ihm zu.

Der Wagen bog schließlich um die Ecke und verlangsamte die Fahrt. Unruhig rückte Honor ihre Haube zurecht. Doch beim Gedanken an Monica und die bevorstehende Hochzeit kehrte ihre Entschlossenheit zu ihr zurück.

Nur kurze Zeit später war draußen Jonas’ tiefe Stimme zu vernehmen. Die Kutschentür ging auf und Mr Easton neigte sich ein wenig nach rechts, um hineinsehen zu können. Dabei blieb er am Geländer, an dem er sich abgestützt hatte, stehen. Honor lächelte ihm zu. „Guten Tag!“, sagte sie.

Er stieß sich vom Geländer ab und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war wirklich hoch gewachsen. Mit seinen muskulösen Beinen und seinen breiten Schultern wirkte er beinahe zu groß, um überhaupt in die Kutsche zu passen. Jetzt kam er auf sie zu. Dabei blieb seine Miene unergründlich. Sein Blick war ihr schon an jenem Abend in Southwark aufgefallen. Er sah sie an, als könne er direkt in sie hineinblicken. Damals war es ihr so vorgekommen, als könne er ihre Karten sehen, jetzt hatte sie das Gefühl, alle ihre Gedanken seien ein offenes Buch für ihn. In der fraglichen Nacht hatte sie ein Flattern wie von Tausenden Schmetterlingen in der Brust verspürt.

Jetzt flatterte es wieder.

Direkt vor der offenen Kutschentür hielt er einen Augenblick inne, zog eine Augenbraue hoch und sagte: „Ihr Stiefbruder muss wohl an einem anderen Ort speisen.“

Honor versuchte, ihre Nervosität herunterzuschlucken. „Wollen Sie nicht hereinkommen, Mr Easton?“

Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie prüfend an, musterte sie von oben bis unten. Dann lächelte er fast unmerklich. Schließlich hielt er sich am Handlauf der Kutsche fest und schwang sich hinein. Während er sich ihr gegenüber hinsetzte, schwankte das Gefährt heftig. Dann fiel die Tür hinter ihm zu.

Honor hatte ihn richtig eingeschätzt – er war wirklich zu groß für diese Kutsche. Seine Knie ragten an beiden Seiten der ihren hervor und er füllte die Sitzbank beinahe ganz aus. Er hatte es sich gleich bequem gemacht und einen Arm über die Rückenlehne gelegt. So, wie er dasaß, erinnerte er sie an einen Wolf, der in aller Seelenruhe einem Hasen zusieht, der ihm über den Weg läuft.

Er neigte den Kopf. „Miss Cabot.“

„Mr Easton, wie geht es Ihnen?“ Sie klopfte mit der Hand an das Dach der Kutsche und rief dem Fahrer zu: „Bitte fahren Sie uns um den Park herum, Jonas.“ Dann schloss sie die Trennscheibe und lächelte ihrem Gast zu. „Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.“

„Wie hätte ich eine so außergewöhnliche Einladung wohl ausschlagen können?“ Seine Stimme war voll und tief, und während er sprach, überlief sie ein kleiner Schauer und kribbelte erst in ihrer Brust und dann noch tiefer.

Plötzlich machte der Wagen eine scharfe Wendung; Mr Easton stieß mit seinem Knie an ihr Bein. Er sagte nichts, aber er lächelte, als ob er das sehr witzig fände. „Also, Miss Cabot?“, fragte er. „Wem oder was verdanke ich das unerwartete Vergnügen einer Spazierfahrt im Park in einer der Kutschen der Familie Beckington? Haben Sie etwa vor, mich zu verführen? Ich wäre dem ganz und gar nicht abgeneigt, wenn es so sein sollte.“ Er ließ den Blick an ihr hinab- und auf ihr hochgeschlossenes Dekolleté gleiten. „Ich finde, dass die Verführung eines der größten Vergnügen im Leben ist.“

Honor hätte beinahe hinabgeschaut, um sicherzugehen, dass ihre Jacke bis obenhin zugeknöpft war.

Easton hob den Blick. „Also? Ich komme um vor Neugier.“

Plötzlich hatte sie ganz feuchte Hände, ihr Herz klopfte wie verrückt, sodass sie keinen Ton herausbekam. Aber sie musste jetzt etwas sagen, sonst war der Augenblick vorüber, ohne dass sie etwas unternommen hatte. „Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Mr Easton.“

Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch.

„Sie müssen mir helfen, also wenn Sie so nett wären …“ Sie lächelte hilflos.

Mr Easton sah sie noch einmal von oben bis unten an und sein Blick blieb dabei fast unmerklich an ihrem Dekolleté haften. „Sind wir denn schon so vertraut miteinander, dass Sie mich einfach so um einen Gefallen bitten können?“ Er stieß ihren Fuß mit einem seiner Schuhe an.

„Ich …“ Sie zögerte.

Jetzt lächelte er, als ob er soeben die Oberhand gewonnen hatte, als ob diese Frage ausschließlich mit einem Nein beantwortet werden konnte.

Da hatte er im Grunde genommen natürlich recht – von Nein abgesehen, konnte es keine Antwort auf diese Frage geben, alles andere war vollkommen undenkbar. Aber die leichte Genugtuung, die in seinen Augen lag, ließ Honor jetzt nicht aufgeben. „Man könnte sagen, dass etwa einhundert Pfund Ihres Vermögens dafürsprechen, Sir.“

Mr Easton wäre das Lächeln beinahe vergangen. Honor fiel in diesem Augenblick auf, was für ein außergewöhnliches Blau seine Augen hatten, die Farbe erinnerte sie an blasse chinesische Seide. Für einen kurzen Augenblick konnte sie nicht umhin, sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte, unter diesem Mann zu liegen und in seine Augen zu schauen.

„Sie haben mich erwischt, Miss Cabot“, antwortete er. „Ich bin zwar noch nie auf diesem Wege um einen Gefallen gebeten worden, aber Sie sind zu schön, als dass ich Ihnen irgendetwas abschlagen könnte. Würden Sie Ihre Röcke anheben, damit ich sehen kann, auf was ich mich einlasse?“

„Was?“, fragte sie entsetzt, während sie die Erkenntnis, in welcher Situation sie sich befand, wie ein Blitz durchzuckte. „Nein, nein, Mr Easton, Sie haben mich vollkommen missverstanden!“

„Habe ich das?“, fragte er mit einem unschuldigen Lächeln.

„Allerdings. Ich möchte Sie um einen anderen Gefallen bitten, nicht … nicht darum“, sagte sie atemlos.

Er lachte. „Ich bewege mich für gewöhnlich nicht in den gleichen Kreisen wie Debütantinnen.“

Er bewegte sich nicht wo? Honor blinzelte verwirrt. Die Erregung, die sie eben noch verspürt hatte, wurde von Empörung abgelöst. „Um Himmels willen, ich will Sie doch nicht zum Tanzen auffordern. Meine Tanzkarte ist schon gefüllt, ehe ich den Tanzsaal auch nur richtig betreten habe.“

„Voll bis zum Bersten, was?“, fragte er trocken.

„Ich will damit nur sagen, dass ich es nicht nötig habe, mich mit Gentlemen zu treffen, nur damit sie sich mit mir auf die Tanzfläche wagen. Oder sonst wohin“, fügte sie schnell hinzu.

„Ich habe auch nicht angenommen, dass Sie mich darum bitten wollten, Sie zum Tanzen aufzufordern, Miss Cabot. Ich war davon ausgegangen, dass Sie mich aus offensichtlicheren und …“, er zögerte und ließ die Zunge über seine Lippen gleiten, während er sie noch einmal prüfend ansah, dann fuhr er fort, „… angenehmeren Gründen hergebeten haben. Mittlerweile bin ich mir jedoch ziemlich sicher, dass Sie mich für irgendeinen Debütantinnenstreich einspannen wollen, und das“, sagte er, „finde ich ganz und gar nicht attraktiv.“

Ihr Herz klopfte wie wild, während sie im Geiste die angenehmen Gründe durchging. „Es ist doch wirklich seltsam“, sagte sie und versuchte dabei, sich nichts anmerken zu lassen. „Wenn Sie es so ausdrücken, klingt es, als hätten Debütantinnen nichts anderes als Streiche im Sinn.“ Was, das musste Honor schon zugeben, in diesem Moment auf sie durchaus zutraf.

„Das oder ihren Schönheitsschlaf. Kommen Sie schon, keine falsche Bescheidenheit.“ Mit einer Handbewegung forderte er sie auf fortzufahren. „Ich würde sagen, dass es mir nicht grundsätzlich widerstrebt, jemandem einen Gefallen zu tun … ganz besonders natürlich nicht, wenn ich Grund zu der Annahme habe, dass dieser Gefallen mir auch ein gewisses Vergnügen bereiten wird.“ Er warf noch einen Blick auf ihr Mieder. „Knöpfen Sie einmal die Jacke auf.“

„Auf keinen Fall!“, rief Honor, gleichzeitig entsetzt und erregt.

„Dann wird es wohl nichts mit uns beiden“, sagte er und schickte sich an, an das Kutschendach zu klopfen, damit der Fahrer anhielt.

Honor öffnete schnell die Knöpfe ihrer Jacke. Er zog eine Augenbraue hoch; sie runzelte die Stirn und öffnete die Jacke widerwillig so weit, dass er ihren Oberkörper betrachten konnte.

Er lehnte sich wieder zurück und schaute sie wie beiläufig an. Honor war es nicht neu, wie Männer sie ansahen. Doch sie hatte dabei noch nie so starke Gefühle verspürt. Ihr rauschte das Blut in den Ohren. Sie wusste noch nicht, ob sie ihn verabscheuungswürdig oder anziehend finden sollte.

„Hmmm“, sagte er nachdenklich, während er ihr hochgeschlossenes Kleid musterte. „Das macht die Sache nicht wesentlich besser.“

Honor zog die Jacke um sich zusammen. „Wie schon gesagt, Mr Easton, ich bin nicht hier, um ein Techtelmechtel mit Ihnen anzufangen.“

„Offensichtlich nicht“, sagte er. „Oder Sie sind ganz einfach eine extrem fantasielose Verführerin.“ Sein herablassendes, herausforderndes Lächeln sorgte dafür, dass das Kribbeln in Honors Brust ihre Wirbelsäule hinunterlief und sich in ihrem Bauch breitmachte. „Ich glaube trotzdem, dass wir beide unseren Spaß haben werden.“

Honor konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ihre Vorstellungskraft war längst mit ihr durchgegangen.

„Also fahren Sie ruhig fort, Miss Cabot. Ich bin sehr gespannt. Wenn Sie mir nicht gestatten wollen, Ihnen zu zeigen, wonach Ihr jugendliches Herz sich eigentlich sehnt, dann sagen Sie mir bitte, was ich sonst für Sie tun kann.“

Jetzt nicht die Nerven verlieren. Honor versuchte, sich nicht von ihrer eigenen Atemlosigkeit aus dem Konzept bringen zu lassen, und ignorierte auch die Hitze, die durch ihren Körper strömte, und das Verlangen, sich nun wirklich ihrer Jacke zu entledigen, dann sagte sie: „Ich will offen mit Ihnen sprechen, Mr Easton. Der Gefallen, um den ich Sie bitten möchte, verlangt schon etwas … Überredungskunst.“

„Jetzt wird es interessant.“ Er sah ihre Lippen an. „Mir war schon klar, dass Sie furchtlos sind, Miss Cabot. Eine junge Dame von Ihrem Stand muss schon sehr wagemutig sein, wenn sie einfach so in einer Spielhölle in Southwark auftaucht. Welche Art von Überredungskunst haben Sie denn im Sinn?“ Er streckte die Hand aus, griff nach den Enden der Schleife, die ihre Haube an ihrem Platz hielt, und rieb den Samt zwischen seinen Fingern.

Sie zog die Bänder aus seinem Griff. „Sie sollen jemanden verführen.“

Er ergriff erneut die Schleife ihrer Haube und lächelte dabei so entwaffnend, dass Honor innerlich zu schmelzen begann. „Das versuche ich ja gerade, Miss Cabot.“

Sie nahm ihm die Bänder wieder weg. „Aber nicht mich.“

Er lachte in sich hinein und der Klang hallte in ihrer Brust wider. „Das ist wirklich sehr schade. Aber ich nehme an, dass Sie dafür doch zu zartbesaitet sind. Kenne ich diejenige Person? Oder kann ich mir jemanden aussuchen?“

„Es ist eine meiner Bekannten.“ Sie versuchte gerade, sich die Worte zurechtzulegen, mit denen sie ihm die Situation erklären wollte, als George Easton plötzlich nach ihrem Handgelenk griff und sie fest umklammert hielt, sein Daumen drückte sich dabei in die Vene an ihrer Hand. Konnte er fühlen, wie ihr Puls raste? Ihr Herz schien kurz auszusetzen – sie war für einen Augenblick außer sich, als sie seine Hand auf ihrem Handgelenk sah; im Vergleich mit ihrem schmalen Arm wirkte sie riesig. Sie war so dumm – woher sollte sie wissen, dass er ihr nichts antun würde, wenn er sie nun gewaltsam …

„Wovon zum Teufel reden Sie da?“, fragte er mit sanfter Stimme und fuhr dabei mit dem Daumen an der Innenseite ihres Handgelenks entlang.

Bei allem, was ihr heilig war, jetzt gab es kein Zurück mehr – sie war schon zu weit gegangen, hatte den Pfad von Tugend und Anstand längst verlassen. „Wie ich bereits sagte, ist es unerlässlich, dass Sie jemanden verführen.“

Er hob ihren Arm an und berührte durch einen Spalt im Leder ihres Handschuhs hindurch die Innenseite ihres Handgelenks mit den Lippen, dann sah er sie mit wissendem Blick an. „Mir scheint, ich habe auch in dieser Kutsche mehr Erfolg in der Verführung, als ich zuerst dachte.“ Er zog sie an sich, dabei sah er sie mit flammendem Blick an. „Wenn es nicht um Sie geht, mein Vögelchen, um wen denn dann?“

„Miss … Miss Monica Hargrove.“

Mr Easton blinzelte verwirrt. Er ließ ihr Handgelenk jäh wieder los und sank in die Sitzpolster zurück. „Miss Hargrove“, wiederholte er ungläubig.

Honor nickte. Zum Glück ließ ihr seine Verwunderung Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Sie legte sich eine Hand auf die Brust und atmete tief.

„Aber ist Sommerfield nicht mit Miss Hargrove verlobt?“

Honor nickte noch einmal.

„Ihr Stiefbruder“, stellte er fest, so als wäre ihr nicht klar, dass Augustus Viscount Sommerfield war.

Als Honor ihm eine Antwort schuldig blieb, brach Easton plötzlich in schallendes Gelächter aus. „Von allen möglichen verwerflichen …“

„Verwerflich!“, protestierte Honor. „Du lieber Himmel, Mr Easton, Sie sollen sie doch nicht entehren. Ich möchte nur, dass Sie ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen“, erläuterte sie und machte dabei eine unbestimmte Bewegung mit der Hand.

„Und aus welchem Grund sollte ich ihre Aufmerksamkeit auf mich ziehen?“, fragte er, indem er ihre Geste nachahmte.

„Es dürfte wohl keinen Zweifel hinsichtlich des Zwecks geben.“

„Der einzige Zweck, der mir dazu einfällt, wäre, dafür zu sorgen, dass Ihr Stiefbruder die Verlobung löst, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Ihnen daran irgendetwas liegen könnte …“

„Ich habe meine Gründe“, sagte sie nur.

„Haben Sie die?“, murmelte er und faltete die Arme über der Brust. „Und welche sind das, wenn ich fragen darf?“

„Das geht Sie überhaupt nichts an …“

„Zum Teufel, und wie mich das etwas angeht. Sie wollen, dass ich der Verlobten Ihres Bruders den Kopf verdrehe, und glauben im Ernst, dass ich nicht zu wissen brauche, warum?“

„Ich hatte ganz bestimmt nicht vor, mit Ihnen zu streiten“, sagte sie gereizt, während sie gedankenverloren mit den Kordeln des Vorhangs spielte. Dabei versuchte sie, blitzschnell einen neuen Plan aufzustellen. „Ich kann Ihnen einfach nicht verraten, was ich über Miss Hargrove erfahren habe“, sagte sie zögernd, „aber ich versichere Ihnen, dass ich gute Gründe dafür habe, mir zu wünschen, sie würde Augustus nicht heiraten.“ Sie warf Easton einen verstohlenen Blick zu, der sie vollkommen fassungslos ansah. In seinen Augen loderten noch immer Flammen, aber auf eine andere Weise als zuvor. Honor musste schlucken. „Aus dieser Verbindung kann einfach nichts werden. Sie müssen mir in diesem Punkt vertrauen“, betonte sie. „Und ich dachte … Ich dachte, dass Sie mir vielleicht helfen würden.“

„Natürlich“, sagte er mit gespielter Ernsthaftigkeit. „Weil ich der bin, der ich bin.“

„Allerdings! Weil Sie ein Mann sind, der das Risiko nicht scheut, und außerdem sind Sie ziemlich …“ Sie kam nicht umhin, ihn bewundernd anzusehen, seine breiten Schultern, seine muskulösen Beine, seinen angenehmen Mund.

„Ziemlich was?“, wollte er wissen und stieß mit dem Knie noch einmal ihr Bein an. „Ein ziemlicher Bastard? Ein Mann, dessen bloßer Umgang einen Fleck auf der Reputation einer Debütantin hinterlassen kann, der sich nicht wieder löschen lässt?“

„Keinesfalls!“, widersprach Honor, die fühlte, wie sie bei diesen Worten errötete. „Ich wollte sagen, Sie sind ziemlich gut aussehend, Mr Easton. Und … wohlhabend. Zumindest wird allgemein angenommen, dass Sie das sind. Das kann ich natürlich nicht wissen.“

„Natürlich nicht“, sagte er etwas herablassend.

Oh Gott, es klang wirklich absurd, wenn man es laut aussprach. Sie sah zum Fenster hinaus und versuchte, sich wieder auf ihren ursprünglichen Plan zu konzentrieren, aber sie konnte sich kaum noch erinnern, was sie eigentlich vorgehabt hatte. Seine männliche Ausstrahlung und sein offensichtliches sinnliches Vergnügen, wenn er sie ansah, brachten sie vollkommen aus dem Konzept. Als sie zum ersten Mal über ihren Plan nachgedacht hatte, war er ihr so perfekt erschienen, aber Grace hatte eigentlich vollkommen recht. Sie machte sich gerade lächerlich.

Ein weiterer Stoß mit dem Knie riss sie aus ihren Gedanken. Sie warf Easton einen finsteren Blick zu.

„Und was, wenn Sommerfield dann die Verlobung gelöst hat? Bilden Sie sich vielleicht ein, dass Sie ihn damit vor einer großen Blamage gerettet und ihm Leid erspart haben? Wollen Sie so das letzte bisschen Gewissen beruhigen, das Sie noch haben, nachdem Sie um einen solchen Gefallen gebeten haben?“

Er hatte noch nicht endgültig abgelehnt? „Nun ja“, sagte Honor und rutschte dabei vor Unbehagen auf ihrem Sitz hin und her. „Ich hätte es wohl nicht genau so ausgedrückt, aber …“

„Aber“, unterbrach er sie und beugte sich erneut vor, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Er legte ihr die Hand aufs Knie und drückte es, sodass Honor schon wieder vergaß, was sie eigentlich hatte sagen wollen. „Jetzt, wo Beckington jeden Moment sterben kann, haben Sie Angst, dass eine neue Countess die vier Stiefschwestern nicht mit derselben Fürsorge behandeln wird, mit der sie bisher behandelt worden sind.“

Honor holte vor Schreck tief Luft – wie war er nur darauf gekommen?

„Deshalb wollen Sie verhindern, dass Sommerfield Miss Hargrove heiratet, nur damit Ihr Leben weitergeht wie bisher. Und das, meine liebe Miss Cabot, finde ich mehr als nur ein wenig bösartig.“ Er drückte noch einmal ihr Knie, als habe er vor, es zu durchstechen, dann lehnte er sich zurück, breitete die Arme auf der Rückenlehne aus und bedachte sie mit einem sehr überheblichen Blick. Dabei hob er eine Augenbraue, als wolle er sie herausfordern, jetzt noch eine passende Antwort zu finden.

Honor musste ihm insgeheim zustimmen, aber sie würde sich von ihm nicht so abkanzeln lassen. Wer zum Teufel glaubte er wohl, dass er war? Blitzschnell beugte sie sich zu ihm hinüber und legte ihm ihrerseits die Hand aufs Knie – doch mit ihren Fingern konnte sie es kaum ganz umfassen. Sie versuchte zuzudrücken, aber sein Knie war hart wie Stein. „Und wenn schon? Was würde das für Sie für einen Unterschied machen?“

Er lachte laut vor Vergnügen. „Mein Gott, Sie trauen sich wirklich was! Sie geben es ja sogar noch zu!“

„Mir ist durchaus klar, wie so etwas funktioniert, Mr Easton. Ich bin keine grüne und unschuldige Debütantin mehr.“

„Nein, das sind Sie ganz sicher nicht“, erwiderte er heiter.

„Und bevor Sie mich verurteilen, sollten Sie lieber daran denken, mit welcher Rücksichtslosigkeit allen anderen gegenüber Sie selbst Ihre Interessen verfolgen.“ Sie drückte noch einmal mit aller Kraft sein Knie, aber das schien ihn überhaupt nicht zu beeindrucken.

„Verzeihung?“, sagte er und lachte laut auf. „Was wollen Sie denn damit sagen?“

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Kommen Sie schon“, sagte sie und rollte dabei entrüstet mit den Augen, „die ganze Stadt weiß von Ihrer Affäre mit Lady Dearing. Und das ist nur die Spitze eines Eisberges, wenn man die Gerüchte über Sie und Lady Uxbridge bedenkt und erst die über Mrs Glover, die Sie offensichtlich zur gleichen Zeit verführt haben, als Sie ihrer Tochter den Hof machten …“

„Schon gut, schon gut“, sagte er fröhlich und hob abwehrend die Hände, um ihr Einhalt zu gebieten. „Sie haben sich deutlich genug ausgedrückt.“

„Das will ich meinen“, sagte sie geziert und strich den Rock ihres Kleides glatt. Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Gedanke – hatte er wohl Miss Glover genauso verführt? „Was jetzt also Miss Hargrove angeht, ich muss zugeben, dass ich mich in einem Dilemma befinde.“

„Wirklich?“, sagte er in skeptischem Ton und machte eine ausladende Handbewegung, um sie zum Weiterreden aufzufordern.

„Es ist ein ungeschriebenes Gesetz in unserer Gesellschaft, dass Frauen, die nicht von einem Bruder, Vater oder auch nur einem Onkel unterstützt werden, gänzlich hilflos sind. Wir können ja immerhin nicht unseren eigenen Lebensunterhalt verdienen. Die einzige Möglichkeit, uns ein Auskommen zu verschaffen, ist, selbst zu heiraten.“

„Was Miss Hargrove zweifelsfrei vorhat“, stellte er fest. „Und was Sie selbst auch tun sollten, wenn Sie mich nach meiner Meinung fragen.“

„Vielen Dank, aber ich habe keinerlei Verwendung für Ihre Meinung.“

Er grinste und daraufhin fing das Kribbeln in ihrem Magen wieder an.

„Miss Hargrove könnte an jedem Finger zehn Heiratskandidaten haben, wenn sie wollte“, sagte Honor, und das war die reine Wahrheit. Auch wenn es ihr schwerfiel, das zuzugeben, war Monica eine sehr schöne Frau und wurde von Männern und Frauen gleichermaßen für ihr Aussehen bewundert. „Sie braucht Augustus überhaupt nicht. Aber da sie sich ausgerechnet Augustus ausgesucht hat, steht für mich viel auf dem Spiel.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass es Ihnen auch nicht an Anträgen mangelt“, sagte er. „Wäre es nicht die bessere Lösung, einen davon anzunehmen?“

„Ja, natürlich, der einzige Wunsch, den eine Frau haben kann: eine gute Ehe. Vielen Dank für Ihre Offenheit, aber um mich geht es hierbei überhaupt nicht.“

„Vielleicht hätten Sie dann lieber jemandem Ihre Gunst schenken sollen, Miss Cabot. Das Versprechen ehelicher Freuden finde ich wesentlich attraktiver.“

„Ich muss doch sehr bitten“, sagte Honor mit großem Nachdruck. „Ich würde niemals einen Gentleman darum bitten, um meine Hand anzuhalten!“

„Ich verstehe. Sie würden niemals einen Mann darum bitten, Sie zu heiraten, finden aber nichts dabei, ihn zu fragen, ob er nicht die Frau verführen will, die Ihre Schwägerin werden soll.“

„Das sind doch zwei grundverschiedene Dinge, Mr Easton!“, verteidigte sie sich. „Meine Schwester Grace und ich werden unseren Weg schon machen, egal, ob Augustus uns unterstützt oder nicht, aber meine zwei jüngeren Schwestern hatten noch nicht einmal ihr Debüt und ohne ordentliche Einführung in die Gesellschaft haben sie so gut wie keine Chance auf eine gute Ehe. Und dann ist da noch meine Mutter …“ Sie unterbrach sich im letzten Moment und atmete tief durch.

„Was ist mit Ihrer Mutter?“, bohrte er nach.

Jetzt war es heraus. Nervös strich sie wieder über ihren Rock. „Meiner Mutter geht es nicht besonders gut“, sagte sie und sah ihn an. „Das weiß bis jetzt noch niemand.“

Er blickte sie eine Weile nachdenklich schweigend an. „Es tut mir leid, das zu hören“, antwortete er leise.

Seine plötzliche Sanftheit überraschte sie. Und seltsamerweise fing das Kribbeln jetzt an, sich über ihre Haut auszubreiten. „Ich bezweifle sehr, dass meine Mutter in der Lage ist, meinen Schwestern das zu bieten, was Grace und ich hatten. Ich fürchte, sie werden ganz einfach aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.“

„Und warum reden Sie nicht einfach mit Sommerfield über Ihre Bedenken? Er scheint mir doch ein sehr anständiger Kerl zu sein. Er würde sicherlich für ein angemessenes Auskommen sorgen …“

„Er lässt sich einfach zu leicht von Miss Hargrove beeinflussen. Und Miss Hargrove ist … Ich will damit sagen, dass sie …“ Honor seufzte vor Verzweiflung, weil es ihr so schwerfiel, zu erklären, worauf sie hinauswollte. „Also, ich will ja keine Lügen verbreiten“, sagte sie schließlich vorsichtig. Welchen Zweck hätte das auch? „Miss Hargrove hat nicht gerade viel für mich übrig.“

„Aha. Und da sind Sie sich ganz sicher?“

„Ziemlich“, sagte Honor mit einer abwehrenden Handbewegung. „Sie findet mich unsympathisch.“

„Tatsächlich?“ Er lächelte jetzt wieder. „Das kommt mir merkwürdig vor, denn ich finde Sie wirklich sehr sympathisch.“

Bei dieser Bemerkung lief ihr ein kleiner Schauer den Rücken hinab. Sie wollte sich eigentlich kein Lächeln gestatten, aber sie konnte nicht anders. „Trotz allem?“

„Trotz allem.“ Er sah sie mit einem warmen Lächeln an.

Er hatte jetzt so gar nichts Raubtierhaftes mehr an sich und dennoch … dennoch war Honor erneut atemlos.

„Also erklären Sie mir mal, Miss Cabot, falls ich mich darauf einlassen sollte, Ihre unglaublich verabscheuungswürdige und nicht sehr ratsame Bitte zu erfüllen, um Ihre armen Schwestern und Ihre kranke Mutter zu retten …“

Sie holte tief Luft und vergaß vor Überraschung beinahe das Ausatmen. „Das würden Sie wirklich tun?“

„Ich sagte, falls“, warnte er sie. „Aber wenn ich mich einverstanden erklären sollte, was bekomme ich dann eigentlich dafür?“

„Was wollen Sie denn damit sagen?“

„Kommen Sie schon, Mädchen, ich habe gesehen, wie Sie Karten spielen. Sie sind viel zu gerissen, um anzunehmen, dass ich keine Gegenleistung erwarten würde.“

Offensichtlich war sie weniger gerissen, als er annahm, denn darauf war sie wirklich noch nicht gekommen.

Er beugte sich ruckartig wieder vor und sah sie demonstrativ von oben bis unten an. Mit den Fingerknöcheln berührte er ihre Wange und ließ sie langsam bis zu ihrem Kinn hinabgleiten, sodass Honors Herz wieder einmal wie wild schlug. „Was bieten Sie mir im Gegenzug an?“, fragte er mit tiefer und sanfter Stimme.

Sie rückte von ihm ab. „Wie können Sie es wagen …“

Easton ergriff ihren Arm und zog sie zu sich heran. „Wie kann ich es wagen?“, fragte er, während er ihren Mund bewunderte. Er erinnerte sie an eine Katze, die mit einer Maus spielt und sich fragt, wie lange sie noch spielen soll, ehe sie tötet. „Wie ich es wagen kann, für so ein Verbrechen eine Gegenleistung zu erwarten?“ Plötzlich schob er eine Hand unter ihre Brust, so als wäre es das selbstverständlichste überhaupt. Honor hielt die Luft an; er lächelte verhalten und fing an, sie zu streicheln. „Wie kann ich im Gegenzug eine Gefälligkeit verlangen?“, fragte er mit sanfter Stimme, während Funken des Begehrens Honors Rückgrat entlangtanzten.

„Sie verlangen zu viel“, sagte sie und rückte von ihm ab. „Wie können Sie sich nur einen Gentleman nennen?“

„Ich habe mich nichts dergleichen genannt, meine Liebe.“ Er strich mit den Knöcheln über ihre Brust, sodass das Feuer ihren Rücken hinabloderte. Dann schob er ihr die Hand unters Kinn und streichelte mit dem Daumen ihre Wange.

Honors Herz raste derartig, dass sie meinte, es müsse ihr gleich aus der Brust springen. Sie verstand sehr gut, wie es ihm gelang, Frauen zu verführen und für sich zu gewinnen. Ihr wurde klar, wieso so viele Frauen ihn zum Liebhaber genommen hatten. Sie fühlte sich sehr von ihm angezogen, vor allem von seinem intensiven Blick, der gleichzeitig bewundernd und hungrig war. Von seinen Berührungen, unnachgiebig und doch sanft. „Erlauben Sie mir, einen angemessenen Tausch vorzuschlagen“, sagte sie schnell, ehe die Katze sich anschicken konnte, ihre Beute zu verschlingen. „Ich bezahle Sie für Ihre Dienste“, sagte sie und erschreckte sich selbst etwas, weil ihre Stimme zitterte. „Ich habe doch Ihre einhundert Pfund gewonnen. Ich könnte Sie Ihnen als Ausgleich für Ihre Hilfe zurückgeben.“

„Sie würden einhundert Pfund ehrlich gewonnenes Geld dafür wiederhergeben?“, fragte er mit sanfter Stimme und berührte mit dem Finger ganz leicht die Spitze ihrer Brust.

„Tatsächlich“, sagte sie und hielt dabei die Augen auf seinen Mund gerichtet, „würde ich Ihnen zweiundneunzig Pfund zurückgeben.“ Es fiel ihr nicht im Traum ein, ihm zu erzählen, dass sie eine Haube, ein Paar Schuhe und Unterwäsche von der Differenz gekauft hatte.

„Sehr verlockend. Aber an Geld denke ich überhaupt nicht.“ Er legte seine Hand in ihren Nacken und zog sie zu sich heran. „Ich habe für Sie etwas ganz Bestimmtes im Sinn.“ Er näherte sich mit dem Mund ihrem Ohr und flüsterte: „Etwas, das Ihr furchtsames Herz zum Zerspringen und ihre Wangen zum Glühen bringen wird.“ Er legte eine Hand in ihren Schoß und drückte mit den Handballen gegen ihren Unterleib. „Wissen Sie, was die Wangen einer Frau zum Glühen bringt, Miss Cabot?“

Sie versuchte, den Kopf zu drehen, aber sie hatte nicht die Kraft dazu. „Ich bin kein Kind, Mr Easton.“

„Sind Sie nicht?“, flüsterte er und nahm ihr Ohrläppchen zwischen seine weichen, feuchten Lippen, zupfte daran.

Gott im Himmel, das überlebte sie nicht. Sie schloss die Augen und sog seinen Duft ein – würzig und warm –, dabei genoss sie die Berührung seiner Hände. Sie stellte sich vor, wie er sie überall berührte, und fühlte sich, als ob ihr Herz gleich zu schlagen aufhören und sie hier auf dieser Sitzbank sterben müsste. Und doch, irgendwie gelang es ihr, sich wieder zu fassen. „Ich biete Ihnen die zweiundneunzig Pfund und sonst nichts, Sir.“

Er rückte näher, mit seinen Lippen berührte er jetzt ihre Wange und Honor glaubte, dass er sie küssen wollte. Ihr Verstand schrie, dass sie an das Kutschendach klopfen und nach Jonas rufen sollte, damit er sie rettete. Aber ein anderer, wollüstiger Teil von ihr flüsterte: Küss mich. Küss mich, küss mich

Er ließ seine Hand ihre Rippen hinauf bis neben ihre Brust gleiten. „Ich denke über Ihre zweiundneunzig Pfund nach“, murmelte er. Dabei konnte sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spüren, er machte sie fast verrückt.

„Sie werden es tun“, sagte sie leise, überrascht öffnete sie die Augen. „Sie tun mir den Gefallen.“

„Jetzt sind Sie abscheulich und überheblich. Ich habe nicht gesagt, dass ich es tun werde.“

„Aber ich kann es Ihnen ansehen“, sagte sie und drehte sich um, um ihn mit einem strahlenden Lächeln anzusehen. „Danke, Mr Easton!“

Er umfasste ihre Finger mit seiner Hand.

„Suchen Sie mich morgen in Beckington auf, bitte, dann werde ich Ihnen die Sache in aller Offenheit erklären.“

„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand noch offener sein könnte, Miss Cabot.“

„Ich wusste, dass Sie mitspielen“, sagte sie, und plötzlich war ihr ganz leicht ums Herz.

„Ich habe keineswegs eingewilligt.“

„Ich erwarte Sie um halb drei. Dann sind die Mädchen beim Unterricht und Augustus ist in seinem Club. Vielen Dank, Sir“, sagte sie noch einmal, mit aller Dankbarkeit in der Stimme, die sie in diesem Augenblick empfand. „Ich stehe in Ihrer Schuld.“ Sie schickte sich an, an die Decke zu klopfen, um Jonas zu signalisieren, dass die Fahrt vorbei war.

Da erst wurde ihr bewusst, dass Mr Easton noch immer ihre Hand hielt.

5. KAPITEL

Honor war noch immer atemlos von ihrer gefährlichen Begegnung, als sie nach Beckington House zurückkehrte. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie die Eingangshalle betrat, wo Prudence und Mercy sich lautstark stritten.

„Honor!“, rief Prudence, als sie ihre ältere Schwester sah. „Bitte sag Mercy, dass sie mir sofort meine Schuhe wiedergeben soll!“

„Mercy, gibt Pru bitte sofort ihre Schuhe zurück“, sagte Honor, ohne auch nur einen Blick auf Mercys Füße zu werden.

„Aber warum darf sie sie immer haben?“, erwiderte Mercy. „Ich verstehe überhaupt nicht, was dabei ist, wenn ich sie mir manchmal ausleihe.“

„Du verstehst nicht, was dabei ist?“, fragte Prudence entrüstet. „Honor, du musst dringend etwas tun. Sie ist komplett skrupellos! Wenn du sie nicht dazu bringen kannst, dass sie mir die Schuhe zurückgibt, dann ziehe ich sie ihr selber von den Füßen!“

„Also wirklich, Mercy“, sagte Honor abwesend, während sie die Schleife ihrer Haube löste. Dabei fuhr sie mit dem Finger versonnen über dasselbe Samtband, das Easton berührt hatte. Mit den Fingern, die außerdem die Haut an ihrem Arm berührt hatten und ihr Gesicht. Sie erschauerte leicht, als sie daran dachte. „Sie gehören Pru und du hast einen ganzen Schrank voller Schuhe.“

„Was ist mit den Schuhen?“ Die Mutter der Mädchen, Joan Devereaux, Lady Beckington, trat aus einem der Korridore. „Hier zieht niemand irgendjemandem mit Gewalt die Schuhe aus, meine Lieben.“ Ihre blauen Augen wirkten vollkommen klar; es gab kein Anzeichen des Schattens, den Honor in den Augen ihrer Mutter gesehen hatte, wenn ihr Geist sich verwirrte. Joan Devereaux war eine beeindruckende Frau, ein Sinnbild von Eleganz und Anmut, und früher hatte sie als eine der schönsten Damen der vornehmen Gesellschaft gegolten. Sie schenkte ihren Töchtern ein warmes Lächeln und sah eine nach der anderen an. „Was ist denn mit euch Mädchen los?“

„Nur das Übliche, Mama“, sagte Prudence würdevoll und schritt auf die große Freitreppe zu. „Mercy hat die Angewohnheit, sich ohne Erlaubnis Dinge auszuleihen, und niemand sagt etwas dagegen!“

„Jetzt übertreibst du aber ein wenig, meine liebe Pru“, schalt Lady Beckington sanft, während sie ihrer Tochter nachsah, die die Treppe hinaufhastete.

„Mir war schon klar, dass du so reagieren würdest – dich betrifft es ja auch nicht!“, gab Prudence über die Schulter hinweg zurück und trat in den Korridor am Kopf der Treppe.

Lady Beckington seufzte und sah ihre jüngste Tochter tadelnd an. „Mercy, Liebling, du solltest dir wirklich angewöhnen, zu fragen, ehe du dir irgendetwas ausleihst. Ich schlage vor, du gehst und entschuldigst dich bei deiner Schwester, dann gibst du ihr die Schuhe zurück. Jetzt geh und zieh dich zum Abendessen um.“

„Aber wir haben doch gerade erst Tee getrunken“, beschwerte Mercy sich.

„Nun geh schon, Liebling.“ Ihre Mutter schob sie sanft in Richtung Treppe. Honor hingegen hielt sie einen Arm hin, den Honor nur zu gern ergriff. Die Bänder ihrer Haube flatterten hinter ihr her, als sie gemeinsam gingen. Sie bemerkte, dass die Verzierungen am Ärmel ihrer Mutter beschädigt waren – ein Faden hatte sich gelöst. „Was ist denn hier passiert?“, fragte sie und beugte sich hinunter, um die Sache genauer zu betrachten.

„Was?“ Ihre Mutter hatte kaum einen Blick übrig für ihren Ärmel. „Lass das doch jetzt. Wo bist du eigentlich heute Nachmittag gewesen?“, fragte sie, als sie die Treppe hinaufstiegen.

„Nirgendwo eigentlich.“ Sie lächelte ihre Mutter verlegen an.

„Ich kenne dich besser, Honor. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, dass es etwas mit einem Gentleman zu tun hat, dass du heute nicht beim Tee warst.“

Honor konnte fühlen, wie sie rot wurde. „Mama …“

„Du musst mir gar nichts sagen“, antwortete sie und drückte liebevoll ihre Hand. „Aber deine arme Mutter wünscht sich nichts sehnlicher, als dass du zumindest darüber nachdenkst, ob nicht die Zeit gekommen ist, sich für einen einzigen Verehrer zu entscheiden und Hochzeitspläne zu schmieden, wie es sich gehört.“

„Warum soll ich denn jetzt heiraten?“ Der Gedanke gefiel Honor überhaupt nicht. Sie kam sich einfach noch zu … unfertig vor.

„Weil es an der Zeit ist“, sagte ihre Mutter. „Eine ganz neue Welt erwartet dich. Du brauchst dich nicht davor zu fürchten.“

„Wer fürchtet sich denn? Die Leute nennen mich einen Haudegen, Mama.“

„Das kann schon sein und du bist vielleicht im Ballsaal eine Draufgängerin. Aber ich kenne doch mein Mädchen und dein Herz scheint mir noch immer verletzt zu sein.“

In solchen Momenten war es kaum zu glauben, dass der Geist ihrer Mutter sich langsam verwirrte. Honor kam nicht umhin, sich zu fragen, ob sie nicht falschlag, ob Grace und sie sich alles nur einbildeten. Ihre Mutter wirkte ruhig, schien vollkommen bei der Sache zu sein und war sogar ziemlich mütterlich. „Was soll ich zum Abendessen anziehen?“, fragte Honor und wechselte damit so abrupt das Thema, dass ihre Mutter ihr keine weiteren Fragen stellen konnte.

Diese lachte. „Also gut, du musst es ja wissen. Das blaue Seidenkleid“, fügte sie hinzu. „Das steht dir so gut.“

„Das blaue dann also“, sagte Honor.

Sie begleitete ihre Mutter in ihre Räume und läutete nach Hannah, die ihr beim Umziehen helfen sollte. Dann ging sie in ihr Zimmer hinüber. Es überraschte sie nicht, dass sie dort Grace vorfand, die mit verschränkten Armen auf dem neuen französischen Aubusson-Teppich stand. Die Nachmittagssonne fiel durch die geöffneten Fenster herein und warf tiefe Schatten auf die Seidentapeten an den Wänden und auf Graces Gesicht.

Doch auch diese Schatten konnten Graces Zorn nicht verbergen. „Wo bist du gewesen?“, fragte sie.

„Aus.“

„Ja, ja, ganz offensichtlich warst du aus. Hardy hat gesagt, du bist in der Kutsche zu Gunter’s gefahren.“

„Und wenn schon?“, erwiderte Honor mit einem Schulterzucken.

„Ich versuche, mir vorzustellen, was du wohl ganz alleine im Gunter’s gemacht hast. Man isst doch nicht allein ein Eis. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob dich dort wohl jemand erwartet hat. War es so? Vielleicht der uneheliche Sohn eines gewissen Dukes, der dort seinen Tee getrunken hat?“

Honor blinzelte. „Wie um alles in der Welt hast du das erfahren?“, rief sie.

„Mercy hat gesehen, wie du im Park mit einem Gentleman geredet hast, Dummkopf. Sie konnte ihn genau beschreiben.“

„Mir scheint, diese Brille verbessert ihr Sehvermögen mehr, als wir gehofft hatten“, murmelte Honor und warf ihre Haube achtlos aufs Bett.

„Dann streitest du es also nicht ab?“

„Nein“, gab Honor zurück.

„Gott im Himmel!“, rief Grace den Girlanden und Engeln aus Stuck zu, mit denen die Decke verziert war. „Du hast es mir versprochen!“

„Ich weiß.“

„Denk doch nur an den Skandal, den es geben wird!“

„Grace! Es gibt überhaupt gar keinen Skandal. Es tut mir leid, wenn …“

„Erspare mir bitte deine Entschuldigungen“, unterbrach Grace sie und ließ sich theatralisch auf das Sofa sinken, das vor dem Kamin stand. „Es tut dir immer leid und du wolltest nie etwas Böses. Als du von diesem albernen Plan angefangen hast, habe ich noch gelacht. Ich war so naiv zu glauben, dass selbst du nicht so weit gehen würdest, dass selbst du nicht dieses Risiko eingehen würdest, nur wegen einer Albernheit.“

Honor runzelte die Stirn, sie war nicht glücklich darüber, dass Grace sie so gut zu kennen schien. „Es geht nicht um irgendeine Albernheit, mir zumindest nicht. Und ganz ehrlich, Grace, du trägst auch einen Teil der Verantwortung, oder etwa nicht?“

„Ich!“

„Warst du es nicht, die darauf bestanden hat, dass ich Mama und euch zum Ausreiten im Hyde Park begleiten soll? Ich hätte mir überhaupt gar keine Gedanken mehr über die ganze Sache gemacht, wenn ich Easton nicht dort getroffen hätte.“

Grace starrte sie ungläubig an. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus und ließ sich rückwärts in die Kissen fallen. „Das ist ja wohl die absurdeste Verteidigungsrede, die ich in meinem ganzen Leben gehört habe!“

Honor musste zugeben, dass sie auch damit recht hatte. „Also gut“, sagte sie beschwichtigend, während sie sich neben Grace auf das Sofa setzte. „Ich gebe ja zu, dass ich vielleicht ein wenig vorschnell gewesen bin. Aber die Idee war so neu und so verführerisch für mich, Grace. Und dann war er auf einmal da, ausgerechnet in Begleitung der Rivers-Zwillinge. Da konnte ich nicht anders, ich habe gedacht, wenn er sich mit diesen beiden Elstern abgibt, dann ist Monica immerhin eine echte Verbesserung.“

Selbstverständlich ist Monica eine Verbesserung, vor allem den beiden gegenüber, aber das ist doch hier gerade gar nicht die Frage, oder? Das Problem ist, dass du ganz alleine losgezogen bist, um dich mit diesem Mann zu treffen. Du kennst ihn kaum und hast ihm trotzdem deinen abstrusen Vorschlag gemacht. Das war nicht nur unverantwortlich von dir, sondern es wird wahrscheinlich auch deinen Ruf ruinieren.“

„So kann man es natürlich sehen“, entgegnete sie erschöpft. „Aber wenn eine Frau in dieser Männerwelt ohne Ehemann ihren Weg machen will, muss sie schon einiges riskieren. Es ist ja nicht so, dass ich einen Rechtsbeistand hätte, der einfach nur seinem Rechtsbeistand einen Besuch abzustatten bräuchte. Ich kann Monica auch keine Geldprämie anbieten, wenn sie sich einen anderen Verehrer sucht. Ich bin nun einmal eine Frau und als solche habe ich keinerlei Einfluss auf meine Lebensumstände, es sei denn, ich reiche jemandem die Hand zur Ehe. Wenn ich so darüber nachdenke, finde ich es ganz ungeheuerlich …“

„Honor …“

„Ist ja schon gut. Um dich zu beruhigen, ja, ich habe ihn vor Gunter’s Teestube getroffen. Aber außer Jonas hat mich niemand gesehen. Easton ist zu mir in die Kutsche gestiegen und wir haben uns unterhalten.“

Nach der Art und Weise zu urteilen, wie sie das Gesicht in den Händen vergrub, schien diese Enthüllung Grace nur noch mehr zu beunruhigen. Honor streichelte ihr beruhigend über das Haar. „Ich sehe einfach keine andere Möglichkeit für uns, Liebes.“

„Du kannst deinen guten Ruf nicht einfach so aufs Spiel setzen. Wenn ich dich daran erinnern darf, ist er ohnehin schon hier und da etwas angekratzt.“ Grace hob den Kopf und zog eine ihrer goldblonden Augenbrauen hoch, als warte sie nur darauf, dass Honor ihr widersprechen würde.

„So schlecht habe ich mich auch wieder nicht benommen“, murmelte Honor.

„Kannst du dir nicht vorstellen, was für einen Sturm du heraufbeschworen hättest, wenn jemand euch gesehen hätte?“

„Es ist mir gerade schmerzlich bewusst geworden.“ Honor war schon klar, dass sie sich nicht immer verantwortungsbewusst verhielt. Sie wollte ihren guten Ruf auch keineswegs ruinieren und verstand ganz genau, warum Grace sich Sorgen machte.

„Lass uns nicht weiter davon reden, was geschehen ist, ist geschehen.“ Mit einem Ruck drehte Grace sich um und sah sie direkt an. „Also? Was hat er denn nun gesagt?“

Honor lächelte ihre Schwester verschmitzt an. „Er hat gesagt, dass ich verabscheuungswürdig sei.“

Grace schnappte vor Verblüffung nach Luft.

„Aber dass er es sich überlegen würde.“

Grace hielt die Luft an, dann sagte sie: „Was? Er will es wirklich tun?“

„Das werden wir morgen wissen.“ Honor erhob sich und knöpfte ihre Jacke auf. „Wenn er einverstanden ist, wird er mich morgen hier besuchen.“

Hier! Das sieht natürlich nach außen wesentlich besser aus, aber was soll Augustus denken?“

„Grace, jetzt beruhige dich doch bitte. Augustus verschwendet derzeit keinen Gedanken an irgendetwas anderes als an seine Hochzeit. Ich habe Mr Easton gebeten, um halb drei zu kommen, wenn die Mädchen beim Unterricht sind und Augustus das Haus verlassen hat, um in seinen Club zu gehen.“

Grace sah so aus, als wolle sie weitere Einwände erheben, doch sie wurde von einem ohrenbetäubenden Hustenanfall unterbrochen, der über den Gang hallte; sie lauschten beide. Nur wenige Sekunden später hörten sie, wie ihre Mutter in die Richtung eilte, aus der das Geräusch gekommen war.

Grace sank wieder in die Sofapolster zurück. „Es wird immer schlimmer, findest du nicht auch?“, fragte sie verdrießlich; sie meinte den Gesundheitszustand des Earls, der sich zusehends verschlechterte.

„Den Eindruck habe ich auch“, stimmte Honor ihr zu.

„Dein Plan grenzt an Wahnsinn, ist dir das klar?“

„Und das ist noch milde ausgedrückt“, sagte Honor. „Aber der Wahnsinn könnte ganz unterhaltsam werden.“

Grace lächelte mitleidig. „Ich glaube, bei dir ist jede Hoffnung verloren.“

„Ganz im Gegenteil, meine Liebe – ich bin ganz erfüllt von Hoffnung“, sagte Honor. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sich etwas bewegte, und drehte sich zur Tür um. Ihre Mutter stand im Türrahmen und blickte starr ins Zimmer hinein.

„Mama?“, fragte Honor. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“

Lady Beckington runzelte leicht die Stirn.

„Mama“, wiederholte Honor und trat zu ihrer Mutter hin. „Wolltest du nach dem Earl sehen?“

„Oh, Honor“, rief ihre Mutter mit deutlicher Erleichterung in ihrer Stimme. „Du bist wieder zu Hause! Ja, dem Earl geht es nicht gut. Ich sollte einmal nach ihm sehen“, fuhr sie fort und drückte liebevoll Honors Hand, dann drehte sie sich um und lief den Korridor hinab zum Schlafzimmer des Earls.

Honor drehte sich zu Grace um. „Ich verstehe das einfach nicht. Vor nicht einmal einer Viertelstunde war sie ganz normal.“

„Wir sollten nach Dr. Cardigan schicken“, schlug Grace vor.

„Dann riskieren wir, dass der gesamte ton Bescheid weiß, noch ehe der Earl unter der Erde ist. Dr. Cardigan macht Hausbesuche bei jeder alten Schachtel in ganz Mayfair! Das können wir nicht machen Grace, nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.“

Es brach einem schlichtweg das Herz, mit ansehen zu müssen, wie die eigene geliebte Mutter langsam senil wurde. Die charmante, kluge Joan Devereaux – Honor kannte wirklich niemanden, der eine schlechte Meinung von ihr hatte; außerdem war sie unglaublich erfindungsreich gewesen – hatte wie keine Zweite gewusst, wie man sich in einem Ballsaal bewegen musste, und sie hatte es geschafft, ihren Töchtern ein gutes Leben zu bieten, nachdem ihr Ehemann verstorben war. Damals war Honor gerade elf Jahre alt gewesen, doch sie erinnerte sich noch genau daran, wie ihre Mutter einmal zwei alte Kleider zu einer Freundin gebracht hatte – gemeinsam hatten sie dann ein atemberaubendes Ballkleid daraus gemacht. Ihre Mutter hatte es beim nächsten großen Ball getragen und schon am Morgen darauf hatte sie ihre Töchter noch im Bett um sich versammelt, um ihnen vom Earl of Beckington zu erzählen.

Sie hatte aus der Not heraus die Nähe des Earls gesucht, aber Honor war fest davon überzeugt, dass ihre Mutter mit der Zeit echte Zuneigung zu dem wesentlich älteren Mann gefasst hatte. Niemand hätte Lady Beckington einen Vorwurf gemacht, wenn sie die Pflege des Earls einer Krankenschwester überlassen hätte, doch ihre Mutter hatte sich geweigert, das zu tun. Sie kümmerte sich Tag für Tag um ihn.

Der Klang rasselnden Hustens drang erneut zu ihnen. „Ich gehe ihr helfen“, sagte Grace und erhob sich vom Sofa, um sich auf den Weg zu machen. An der Tür drehte sie sich jedoch noch einmal um und sah ihre Schwester an. „Pass bloß auf dich auf, Honor. Du spielst ein sehr gefährliches Spiel.“

„Ganz bestimmt“, versicherte Honor.

Später sollte sie sich an das leichtherzige Versprechen erinnern, das sie ihrer Schwester gegeben hatte. Sie hatte nicht ernsthaft geglaubt, dass George Easton sie in Beckington aufsuchen würde.

Aber genau das tat er.

6. KAPITEL

George war wirklich nicht leicht zu beeindrucken, doch Honor Cabot hatte es gerade geschafft. Angefangen bei ihrer unverschämten Einladung bis hin zu ihrem lächerlichen, unsinnigen, hirnverbrannten Vorschlag, hätte George nichts mehr verblüffen können, nicht einmal, wenn der König von England ihn als legitimen Neffen anerkannt hätte.

Nachdem er Berkeley Square gestern verlassen hatte, hatte er in seinem eigenen Saft geschmort. Ihre Schönheit hatte ihn, wie sie es immer tat, erregt und gleichzeitig empfand er Abscheu vor Miss Cabot ebenso wie vor sich selbst, weil er sich von ihr wieder hatte um den Finger wickeln lassen. Was hatte diese Debütantin nur an sich, dass sie ihn mit ihrem Lächeln so einfach umgarnen konnte? Er war fest entschlossen, sie nicht wiederzusehen. Sie bedeutete nichts als Scherereien. Tatsächlich wäre er beinahe nach Beckington House geritten, um diesem Einfaltspinsel Sommerfield zu erzählen, was seine Stiefschwester vorhatte. Sie verdiente es wirklich nicht besser.

Doch George war nicht nach Beckington House geritten. Stattdessen hatte er sich auf den Heimweg gemacht, er war schnell geritten, auf der Flucht vor einem Paar blauer Augen mit schwarzen Wimpern, deren Bild er nicht wieder loswurde.

Verdammt. Verdammt!

Er hatte trotzdem geglaubt, dass er nur darüber schlafen musste, um die Geschichte zu beenden, dass er danach keinen flüchtigen Gedanken mehr an die junge Frau verschwenden würde. Gestern Abend war er ausgegangen wie immer und hatte mit einigen anderen Gentlemen im Coventry House Club zu Abend gegessen. Danach konnten weder das Kartenspiel noch die Gespräch seine Aufmerksamkeit lange gefangen halten, deshalb war er schon vor Mitternacht nach Hause zurückgekehrt.

Finnegan hatte kein Wort darüber verloren, dass er so viel früher heimkam als üblich. Er hatte nur eine Augenbraue fragend hochgezogen. „Machen Sie nicht so ein vielsagendes Gesicht“, hatte George gebrummt, als er an ihm vorbeigeeilt war.

George war zwar früh schlafen gegangen, doch er hatte sich unruhig hin und her gewälzt. Schließlich legte er sich auf den Rücken, legte einen Arm über seinen Kopf, den anderen auf seine nackte Brust und starrte den Betthimmel über sich an. Mit zusammengebissenen Zähnen dachte er über die seltsame Begegnung nach.

Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie so etwas Törichtes gehört wie Honor Cabots Vorschlag. Außerdem konnte er es kaum ertragen, die Horden von Debütantinnen anzusehen, die sich in Mayfair tummelten – alberne Gänse in hübschen Kleidchen, die Spielchen mit ihren Verehrern spielten.

Honor Cabot war jedoch die Schlimmste von allen, denn ihr Spiel war regelrecht gefährlich.

Das Problem lag darin, dass George, das hatte er sehr wohl erkannt, sich von gefährlichen Frauen angezogen fühlte. Er machte sich keinerlei Illusionen – Honor Cabot war von Natur aus eine gefährliche Frau und das wurde noch verstärkt dadurch, dass sie eine Schönheit mit einem gewinnenden Lächeln war. Unglücklicherweise waren es Schönheit und Gerissenheit, die ihn an einer Frau am meisten reizten.

Warum nur, fragte er sich, als er grübelnd allein in der Dunkelheit der Nacht lag, konnte er sich nicht einfach mit einer tugendhaften Frau zufriedengeben? Einer keuschen Frau, die eine gute Gattin abgab und ihm hübsche Kinder schenkte, jemandem, der ihn dazu zwang, den Sonntagsgottesdienst zu besuchen und Bettlern ein Almosen zu geben, die pflichtbewusst die Beine für ihn spreizen würde? Er nahm an, dass er sich eines Tages für genau so eine Frau entscheiden würde, die gut und rein war, immer wusste, wo seine Brille und seine Hausschuhe waren und mit der er die Abende verbringen konnte, er mit Lesen und sie mit Handarbeiten.

Eines Tages.

Jetzt hatte er für so etwas jedoch keine Zeit, nicht, wenn ein Schiff voller Baumwolle, das von seinen Abnehmern sehnlichst erwartet wurde, mit Verspätung auf dem Weg in den Hafen war.

Wie kam es dann bloß, dass George am nächsten Nachmittag auf dem Grosvenor Square stand und das imposante Stadthaus der Beckingtons betrachtete, dessen lange Reihen von Fenstern in der Nachmittagssonne schwarz wirkten? Was für ein unverzeihlicher Leichtsinn.

Zunächst antwortete niemand, als er dreimal an die Tür klopfte, aber als er sich schon wieder zum Gehen wandte, wurde plötzlich geöffnet. Ein Mann mit schütterem Haar stand gebieterisch vor ihm.

George fischte eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Mantels. „Mr Easton, ich bin hier, um Miss Honor Cabot zu besuchen. Wenn Sie wohl so freundlich wären?“

Der Mann nickte und verschwand für einen Augenblick, dann kehrte er mit einem Silbertablett zurück, das er George hinhielt. Nachdem George seine Karte auf das Tablett gelegt hatte, öffnete sich die Tür weiter. Der Mann trat zur Seite und neigte den Kopf, um George hereinzubitten. Dieser trat über die Schwelle. Dabei nahm er vorsorglich den Hut ab.

„Wenn ich Sie bitten dürfte, hier zu warten, Mr Easton, ich werde Miss Cabot darüber informieren, dass Sie hier sind“, sagte der Butler und eilte los, dabei hielt er das Silbertablett hoch vor sich.

George sah sich in der luftigen Eingangshalle um und betrachtete den reich verzierten Kronleuchter, der in großer Höhe über ihm schwebte. An den Wänden hingen Gemälde, Porträts und Landschaften. Der Marmorboden war poliert worden, bis er glänzte, und auf einem Tisch in der Nähe standen goldene Leuchter mit frischen Bienenwachskerzen sauber aufgereiht.

Er hörte den Butler zurückkommen, ehe er ihn sah, seine schnellen Schritte hallten den Korridor hinab, in dem er vorher verschwunden war. Der Mann verbeugte sich vor ihm. „Erlauben Sie bitte, dass ich Sie in eines der Empfangszimmer begleite, Sir“, sagte er und stellte sorgsam das Silbertablett ab, das jetzt leer war. Dann ging er voran in die entgegengesetzte Richtung, aus der er gekommen war, den westlichen Korridor hinab.

George folgte ihm. Hintereinander gingen sie einen Flur entlang, der mit Teppich ausgelegt war, vorbei an blank polierten Holztüren und Kerzenhaltern mit noch mehr Bienenwachskerzen an den Wänden. George musste daran denken, wie sehr seine Mutter sich immer gefreut hatte, wenn sie sich einmal eine oder zwei Bienenwachskerzen leisten konnten, weil es im Haus dann eine Zeit lang nicht nach den Talglichtern gerochen hatte, die sie normalerweise benutzte.

Der Butler betrat den letzten Raum auf der rechten Seite. Er öffnete die breite Flügeltür, stieß sie weit auf und brachte mit dem Fuß einen Türstopper in Position. Dann durchquerte er den kleinen Raum und öffnete die schweren Fenstervorhänge, die er mit Schnüren befestigte, ehe er sich zu George umdrehte. „Ist Ihnen der Raum angenehm, Sir, oder soll ich einen der Lakaien schicken, um den Kamin anzuzünden?“

„Das wird nicht nötig sein“, sagte George förmlich. „Ich habe nicht vor, lange zu bleiben.“

„Wie Sie wünschen, Sir. Wenn es an irgendetwas fehlt, der Klingelzug befindet sich gleich hier drüben.“ Der Butler wies mit dem Kinn auf ein Seil aus breiten Samtstreifen neben der Tür. „Miss Cabot wird Ihnen gleich Gesellschaft leisten.“ Mit diesen Worten verließ er den kleinen Salon.

George legte seinen Hut ab und betrachtete eines der Gemälde an der Wand, während er wartete. Er starrte hinauf in das aufgedunsene Gesicht eines der Beckington’schen Vorväter. In Häusern wie diesem nahm er stets die Familienporträts genau in Augenschein und suchte nach Ähnlichkeiten mit sich selbst. Auf diese Weise erhoffte er sich Hinweise darauf, mit wem er verwandt sein könnte. Dieser Mann sah dem verstorbenen Gloucester so gar nicht ähnlich, wenn man von der leicht hakenförmigen Nase absah. George war so versunken in die Betrachtung seiner Gesichtszüge, dass er nicht bemerkte, wie Miss Cabot ins Zimmer kam, bis sie, in eine blassgelbe Wolke gehüllt, vollends hereinschwebte. Ihre Schleppe wirbelte um sie herum, als sie in den Korridor hinaussah und dann leise die Türen schloss.

Sie drehte sich schwungvoll zu ihm um und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Dabei hielt sie die Hände unter der Brust gefaltet, fast wie ein Chorknabe, der sich zu singen anschickt. Doch alles Engelhafte verlor sich in dem Augenblick, als er bemerkte, dass das Kleid, das sie trug, sie nicht wie das von gestern bis zum Kinn verhüllte. Dieses Kleid hier hatte einen modisch tiefen Ausschnitt, aus dem die weichen Hügel ihrer Brüste beinahe hervorzuquellen schienen … Dieses Missgeschick hätte George nur zu gern miterlebt.

Sie hatte seine Faszination für ihr Dekolleté offensichtlich nicht bemerkt. „Sie sind wirklich gekommen“, sagte sie atemlos.

Trottel, der er war, allerdings. George neigte zustimmend den Kopf.

„Ich kann es kaum glauben! Ich war mir ganz sicher, dass Sie nicht kommen würden, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, wenn nicht. Aber hier sind Sie nun!“, rief sie und breitete dabei die Arme aus. „Sie werden mir helfen!“

„Ehe Sie vor lauter Freude den Boden unter den Füßen verlieren, Miss Cabot, müssen Sie bitte einsehen, dass ich nicht hier bin, um bei Ihrem Wahnsinn mitzumachen, sondern um Sie davon abzuhalten.“

Sie blinzelte und ihre wunderschönen blauen Augen blickten ungläubig. „Mich abzuhalten“, wiederholte sie, als hätte sie das Wort noch nie gehört. George nahm an, dass das durchaus der Fall sein konnte. „Aber das ist nicht möglich, Mr Easton. Ich bin fest entschlossen. Wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, verwende ich meine ganze Energie darauf. Also – werden Sie mir helfen?“

George konnte nicht anders, er musste insgeheim lachen bei so viel hartnäckiger Entschlossenheit. „Nein.“

„Nein?“

„Das ist doch Wahnsinn, der reine, ultimative Wahnsinn“, sagte er. „Es ist fürchterlich, dem eigenen Bruder so etwas antun zu wollen oder einem Freund, und als Gentleman empfinde ich es als meine Pflicht, Sie davon abzuhalten und Sie nicht auch noch zu unterstützen.“

Plötzlich erstarb ihr strahlendes Lächeln. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Also gut, Mr Easton. Sie haben hiermit Ihre Pflicht als Gentleman getan“, sagte sie, ohne dass dabei die geringste Ehrfurcht mitschwang. „Werden Sie mir also jetzt helfen?“

George starrte sie fassungslos an. Doch dann konnte er nicht mehr an sich halten – er musste einfach lachen. „Sie sind wahrscheinlich die halsstarrigste Frau, die ich je getroffen habe.“

„Dann haben Sie vielleicht nicht so viele Frauen getroffen, wie die Gerüchteküche behauptet“, erwiderte sie keck. „Glauben Sie etwa, dass es mir leichtfällt, Sie um diesen Gefallen zu bitten? Dass das Ganze nichts weiter ist als eine kindische Laune? Ganz und gar nicht, Sir. Monica Hargrove hat vor, meine Familie aus dem Haus zu jagen, wenn sie meinen Bruder heiratet. Das hat sie mir selbst gesagt. Außerdem glaube ich Ihnen kein Wort, wenn Sie mir weismachen wollen, dass sie den ganzen Weg hierhergekommen sind, nur um mir zu sagen, dass Sie mir nicht helfen wollen. Dann hätten Sie mir eine kurze Nachricht schicken oder ganz einfach schweigen können, oder etwa nicht?“

Da hatte sie allerdings recht und George war nicht ganz wohl dabei zumute, dass sie es so direkt aussprach. Er zuckte mit den Schultern.

„Dass Sie das nicht getan haben, zeigt mir doch bereits, dass Sie über meine Bitte zumindest nachgedacht haben. Ist es nicht so?“

Er kam sich vor wie ein ungezogener kleiner Junge, den man bei einem Streich ertappt hatte. Sie hatte ihn, genau wie damals an diesem Abend in Southwark, diese clevere und gerissene junge Dame. Und sie wusste es, denn auf ihren vollen Lippen erschien jetzt ein Lächeln, das Grübchen in ihre Wangen zauberte. Dieses Lächeln war der kleine Windhauch, der ausreichte, um glimmende Asche wieder anzufachen, und George fühlte, wie eine kleine Flamme aufloderte.

„Mir scheint, wir sind uns einig“, sagte sie mit sanfter Stimme.

„Nicht so schnell.“ Er sah sie von oben bis unten an. Zu gern hätte er seine Finger und seine Zunge in dieses Fleisch vergraben und den Duft ihrer Haare gerochen. „Wenn ich Sie so gar nicht überzeugen kann …“

„Auf keinen Fall.“

„Dann ist es also meine Pflicht als Gentleman, dafür zu sorgen, dass Sie Miss Hargrove keinen Schaden zufügen.“

Miss Cabot strahlte vor Siegesgewissheit. „Wie überaus freundlich von Ihnen.“

„Ich bin nicht im Mindesten freundlich, Miss Cabot. Aber ich habe meine Prinzipien. Ich bin mir nicht sicher, dass man von Ihnen das Gleiche sagen könnte.“

„Ihre Sorge um Monica rührt mich sehr“, sagte sie in zuckersüßem Tonfall. „Mir geht es ausschließlich darum, dass sie erkennt, dass sich ihr andere, vielleicht sogar attraktivere Möglichkeiten bieten, sodass sie es vielleicht nicht ganz so eilig hat, vor dem Altar zu stehen, wie jetzt gerade. Ich kann darin keinen Schaden erkennen.“

„Das ist durchaus zweifelhaft“, sagte er, während er von ihren weiblichen Reizen angezogen wurde und näher auf sie zu trat. „Es bleibt noch zu klären, was für eine Gegenleistung ich für diesen … verabscheuungswürdigen Gefallen zu erwarten habe.“

„Natürlich“, sagte sie mit ernster Stimme und verschränkte die Arme dicht vor ihrem Körper.

„Lassen Sie uns mit der Vereinbarung anfangen, dass Sie mir die einhundert Pfund zurückgeben, die Sie in Southwark gewonnen haben.“

„Zweiundneunzig“, verbesserte sie ihn.

„Dann also zweiundneunzig Pfund“, gab er zurück, während er ihren Mund ansah, „für die Sie von mir eine Vorstellung als Herzensbrecher bekommen, die dafür sorgt, dass Miss Hargrove sich noch einmal in der Männerwelt umsieht. Das sollte wohl genügen.“

„Nun ja …“ Miss Cabot hob eine Augenbraue.

„Was ist?“, fragte er.

„Nur eine Kleinigkeit“, sagte sie leichthin und zuckte die Schultern. „Mir scheint, Sie sind sich Ihrer Sache sehr sicher.“

George starrte sie ungläubig an. Er wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dass diese verfluchte Unverfrorenheit dieser verwöhnten, überprivilegierten jungen Dame ihn weniger fesseln würde. „Selbstverständlich bin ich mir sicher, Miss Cabot.“

„Ach du liebe Zeit, ich wollte Sie doch nicht beleidigen“, sagte sie und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. „Ich habe keinerlei Zweifel, dass es Ihnen ein Leichtes wäre, den meisten Debütantinnen den Kopf zu verdrehen …“

„Sie reiten sich gerade immer tiefer in Ihre Misere hinein.“

Sie biss sich auf die Lippen.

Er hätte ihr auch gern ein wenig auf diese Lippen gebissen. George runzelte die Stirn – das alles gefiel ihm überhaupt nicht. Wenn er solche Fantasien hatte, nahm es für ihn gewöhnlich kein gutes Ende. Es gab einige Frauen in der Stadt, die das bestätigen konnten. „Also dann? Ich werde mich mit Miss Hargrove unterhalten und ihr ein paar schmalzige Komplimente machen“, sagte er mit einer nachlässigen Handbewegung, „dafür erhalte ich zweiundneunzig Pfund von Ihnen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, um das Geschäft zu besiegeln.

Aber Miss Cabot sah seine Hand zögernd an.

George seufzte. „Was ist denn nun schon wieder, um Himmels willen?“

„Ich bin unter einer Bedingung damit einverstanden“, sagte sie und streckte dabei den Zeigefinger aus.

„Sie sind überhaupt nicht in der Position, irgendwelche Bedingungen zu stellen …“

„Das ist richtig“, gab sie schnell zu. „Dennoch … Sie müssen mir erlauben, Ihnen den einen oder anderen Rat zu geben.“

Es dauerte einen Augenblick, ehe George den Sinn ihrer Worte erfasst hatte. „Bei allem, was recht ist, aber von Ihnen brauche ich nun wirklich keine Ratschläge“, sagte er wütend. „Sie haben mich doch wegen meiner Erfahrung angesprochen, oder nicht? Ich glaube, ich weiß selbst am besten, was man tun muss, um einer Debütantin zu gefallen.“

„Ja, sicher … aber ich kenne sie besser als sonst irgendjemand“, antwortete sie und legte den Kopf in den Nacken, um ihm direkt in die Augen zu sehen.

„Gott im Himmel, Sie reden ja, als wäre ich in kurzen Hosen zu unserem Treffen gekommen …“

„Das wollte ich damit ganz gewiss nicht sagen …“

Plötzlich umfasste George ihre Taille und zog sie an sich.

„Mr Easton!“, rief sie laut. „Was machen Sie denn?“

Ihm war selber nicht klar, was er tat. Wahrscheinlich brachen sich gerade irgendwelche Urinstinkte in ihm Bahn. „Ich brauche keinen Rat von Ihnen“, sagte er leise und strich mit seinen Fingerknöcheln über ihre Schläfe.

„Sie nehmen sich wirklich zu viel heraus“, sagte sie wütend, doch mit den Händen umklammerte sie seine Oberarme und machte keinerlei Anstalten, sich aus seiner Umarmung zu lösen.

„Das ist mir wohl bewusst.“ Er sah ihr mitten ins Gesicht. „Und doch gefällt es Ihnen. Das ist genau das, was ich meine.“

„Sind Sie immer so von sich selbst eingenommen, Sir?“

„Und Sie?“, gab er zurück.

„Sie glauben, dass ich Sie nicht verstanden habe“, sagte sie auf Höhe seines Mundes, woraufhin sein Puls dumpf in seinen Ohren zu dröhnen begann. „Aber bilden Sie sich bloß nichts ein – ich bin empört.“

„Wenn Sie wirklich empört wären“, sagte er und imitierte dabei ihren Tonfall, „dann würden sie treten und kratzen wie jedes anständige kleine Mädchen, damit ich Sie gehen lasse.“ Er zog eine Augenbraue hoch und war gespannt, ob sie es wagen würde, ihm zu widersprechen.

Sie runzelte die Stirn und sah ihn finster an.

„Na also“, sagte er und fuhr mit den Fingern über ihr Schlüsselbein. Es fühlte sich klein und zerbrechlich an. „Mir scheint, dass ich wesentlich mehr über Frauen weiß als Sie.“

Diese Bemerkung beantwortete Honor Cabot mit einem festen Tritt gegen das Schienbein.

George ließ sie sofort los und fasste sich ans Bein. „Autsch“, sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Miss Cabot stemmte die Hände in die Seiten und sah aus zornig funkelnden Augen zu, wie er sich das Schienbein rieb. „Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie bereits Bekanntschaft mit einigen Frauen gemacht haben, Mr Easton. Jeder in Mayfair weiß, wie gut diese Bekanntschaften sind. Aber ich bin mit Monica Hargrove gut bekannt. Ich weiß, was sie attraktiv findet und was sie abstoßen wird, und ich bestehe darauf, dass Sie mir zumindest gestatten, Sie auf diese Begegnung vorzubereiten.“

Er hatte wirklich einige Frauen in seinem Leben gekannt, aber so eine wie Honor Cabot war ihm noch nie begegnet. Es war außerdem gar nicht zu seinem Vorteil, wenn sie merkte, dass seine Fassade Risse bekommen hatte, denn jetzt breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Zum Teufel, dieses Lächeln wäre noch sein Untergang! Es ging ihm durch Mark und Bein, ließ sein Blut aufwallen und Spannung durchzog seinen ganzen Körper. Wie war es nur möglich, dass diese kleine Frau ihn so um den Finger wickeln konnte? Mit einem resignierten Seufzer richtete er sich wieder auf.

„Wie es der Zufall will, weiß ich, dass sie am Freitag bei den Garfields zu Gast sein wird“, sagte Miss Cabot.

Seine lustvollen Überlegungen wurden von nackter Angst verdrängt. George wusste von der Zusammenkunft bei den Garfields; jeder in London wusste davon. Der haut ton würde geschlossen dort sein. Sein ganzes Leben lang war ihm die vornehme Gesellschaft als beispielhaft vor Augen gehalten worden, als Ideal, das er nie erreichen konnte, als Welt, zu der er nie würde gehören können. Er war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass er in ihren Reihen nicht toleriert würde, wenn sein Wohlstand nicht wäre. Er fürchtete, dass sie ihn meiden würden wie einen Aussätzigen, wenn er eines Tages sein Vermögen verlor – und im Augenblick gab es durchaus Grund zu der Befürchtung, dass das passieren konnte. Es gab nichts Erbärmlicheres als jemanden, der versucht hatte dazuzugehören und dabei kläglich versagt hatte.

George war sein Leben lang behandelt worden, als wäre er irgendwie minderwertig, als könne er den anderen nicht das Wasser reichen, weil sein Vater ihn nie anerkannt hatte. Diese Weigerung seines Vaters war zu Georges Kreuz geworden, das er zu tragen hatte, ob er wollte oder nicht. Er hatte sich angewöhnt, sein Herz niemandem zu öffnen, emotional immer auf Distanz zu bleiben. Manchmal kam er sich dabei vor wie die Vollblutpferde der königlichen Kavallerie, die er als Kind hatte striegeln müssen. Wie sie war er stolz und unnahbar, seine Bewegungen präzise, sein Aussehen bewundernswert. Aber er schaute weder nach rechts noch nach links, hängte sein Herz nicht an Dinge, die außerhalb seiner Reichweite lagen. Er setzte stetig seinen Weg fort mit langen Schritten und hoch erhobenem Kopf.

George hatte schon schmerzhafte Enttäuschungen erfahren und dennoch hielt er sich nicht für verbittert – im Gegenteil, er war im Großen und Ganzen glücklich mit seinem Leben. Aber er gab sich auch redlich Mühe, Ereignisse wie bei den Garfields zu meiden.

„Nein“, sagte er sofort.

„Aber Mr Easton! Eine bessere Gelegenheit bietet sich so schnell nicht“, sagte Miss Cabot. Dabei leuchteten ihre Augen im Triumph darüber, dass er nachgegeben hatte. Schon wieder.

„Ich glaube, ich habe mich bei unserem ersten Treffen deutlich genug ausgedrückt: Ich werde keinen einzigen Salon betreten.“

„Aber ich kann dafür sorgen, dass man Sie einlädt …“

„Wie bitte? Sie können was? Ich habe es überhaupt nicht nötig, dass Sie zu meinen Gunsten für irgendetwas sorgen, Miss Cabot. Sie können sich das sicherlich nicht vorstellen, aber es gibt Menschen, so wie mich, denen überhaupt nichts daran liegt, den Abend unter lauter albernen Debütantinnen zu verbringen!“

Wenn seine Rede überhaupt irgendeinen Effekt hatte, dann den, dass Miss Cabots Lächeln noch mehr strahlte. Sie glaubte ihm demnach kein Wort. „Sie halten mich doch sicherlich nicht für derart naiv, Sir“, sagte sie kess. „Sie halten sich von solchen Gesellschaften fern, weil Sie ohne Einladung keinen Zutritt erhalten. Aber ich kann Ihnen genau so eine Einladung besorgen. Und Sie müssen zugegen, dass Sie so eine perfekte Gelegenheit so schnell nicht wieder bekommen werden. Augustus wird nicht dort sein und alles, was Sie tun müssen, ist, mit Miss Hargrove zu sprechen, sodass sie den Eindruck bekommt, dass Sie sie anziehend finden.“

„Dafür brauche ich auf keine solche Gesellschaft zu gehen“, sagte er kühl.

„Wie stellen Sie sich das denn vor? Wollen Sie sie einfach auf der Straße ansprechen?“, fragte Miss Cabot mit fröhlichem Spott.

Ohne groß nachzudenken, nahm sie seine Hand. „Kommen Sie“, sagte sie und zog ihn hinter sich her, bis sie in der Mitte des Raumes standen. „Stellen Sie sich genau hierhin, wenn Sie so freundlich sein wollen.“ Sie nahm einen der Stühle, die neben dem Kamin standen, baute ihn vor ihm auf und setzte sich. Dabei drapierte sie ihre Röcke um sich herum und legte anmutig die Hände in den Schoß. „Los geht’s. Wir befinden uns also in einem Salon.“

George starrte auf sie hinab.

„Fangen Sie an“, sagte sie mit einem süßen Lächeln. „Stellen Sie sich vor, ich sei Miss Hargrove, und Sie fangen ein Gespräch mit mir an.“ Sie rückte sich noch einmal auf dem Stuhl zurecht und sah dann in die andere Richtung.

George konnte es kaum glauben: Er stand mitten im Empfangssalon von Beckington House und sollte ein lächerliches Flirtspiel mitspielen. „Das ist doch albern“, seufzte er.

„Ach bitte“, sagte sie mit unschuldigem Augenaufschlag.

Bei allem, was mir heilig ist. Er fluchte leise vor sich hin, dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und verbeugte sich vor ihr. „Guten Abend, Miss Hargrove.“

Miss Cabot sah ihn von der Seite an. „Oh, Mr Easton“, sagte sie und nickte ihm höflich zu, ehe sie wieder in die andere Richtung sah.

George stand wie angewurzelt da. Auf diese Weise würde er niemals versuchen, Miss Hargrove den Kopf zu verdrehen, ganz im Gegenteil. Er hatte wirklich noch nie versucht, auf diese Weise eine Frau anzusprechen, und er fragte sich, was eigentlich in den Männern vorging, die das so versuchten. Für ihn fühlte sich der Versuch sehr verzweifelt an. Verhielten sich die jungen wilden Kerle in den Salons von Mayfair tatsächlich so?

Honor warf ihm wieder einen Seitenblick zu. „Setzen Sie sich neben mich“, flüsterte sie.

„Warum?“, wollte George wissen.

„Sie müssen mit mir auf Augenhöhe sein. Sie sehen so…“ Sie sah ihn von oben bis unten an, und wenn George sich nicht getäuscht hatte, war sie ein wenig rot geworden. „Groß“, sagte sie schließlich. „Sie sehen sehr groß aus, wenn Sie sich auf diese Weise vor mir aufbauen.“

George verstand nicht, worauf sie hinauswollte. „Aber ich bin groß.“

„Und gerade das wirkt auf eine sensible junge Frau ziemlich einschüchternd“, erklärte sie. „Bitte setzen Sie sich doch.“

„Einschüchternd!“ Er musste lachen. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass es irgendetwas gibt, das Sie wirklich einschüchtert, Miss Cabot.“

„Ganz gewiss nicht! Aber wir reden hier ja auch nicht von mir. Wir sprechen von Miss Hargrove.“

George konnte ein weiteres Lachen nicht unterdrücken. „Zum Teufel damit“, sagte er und zog einen weiteren Stuhl heran, den er direkt neben Miss Cabot abstellte, und setzte sich. Sie sah ihn nicht an. Sagte keinen Ton. Was sollte er jetzt tun? Er zerbrach sich den Kopf, was er wohl sagen könnte. „Das Wetter ist heute sehr angenehm“, bemerkte er schließlich.

„Das ist es, allerdings.“ Sie sah immer noch nicht in seine Richtung. „Entschuldigen Sie mich bitte, Mr Easton, aber mir scheint, ich werde dort drüben gebraucht.“ Plötzlich stand sie auf und entfernte sich. Da er ihr nicht folgte – sollte er etwa auch noch wie ein Hündchen hinter ihr herlaufen? –, wirbelte sie herum und sah ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Was soll denn das alles?“, wollte George wissen.

„Mr Easton, was ich Ihnen damit zeigen will, ist, dass Sie nicht einmal versucht haben, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Alles, was ich gesehen habe, war ein großer Kerl, der nicht wusste, was er sagen sollte.“

Diese Feststellung berührte etwas in George – genau davor fürchtete er sich insgeheim: dass er die Ansprüche des ton niemals würde erfüllen können. „Jetzt reicht es mir aber“, sagte er wütend. „Ich weigere mich, bei so einer komplizierten, festgelegten Flirtzeremonie mitzumachen.“

Jäh sprang er auf und kam direkt auf sie zu.

„Was soll das denn?“, rief Honor.

George antwortete nicht. Er umrundete einen Stuhl, der in seinem Weg stand, und näherte sich ihr weiter. Miss Cabot stolperte fast, als sie versuchte, sich in Sicherheit zu bringen, aber sie war zwischen einem Tisch und der Tür gefangen. Sie wirbelte herum, drückte sich mit dem Rücken an die Tür und riss die Augen weit auf, als er sich vor ihr aufbaute, mit einer Hand neben ihrem Kopf.

Miss Cabot blinzelte mit ihren blauen Augen. Alberne junge Gans. Ihr war nicht einmal bewusst, wenn sie das Tier im Mann zum Leben erweckte. „Ich kann Ihnen gern zeigen, wie man die Aufmerksamkeit einer sensiblen jungen Frau auf sich lenkt, Miss Cabot.“

„Ist das Ihr Plan? Sie sind schon wieder zu forsch. Sie müssen es mit etwas mehr Taktgefühl angehen.“

Plötzlich lächelte er und sah sie noch einmal von oben bis unten an. „Ich habe noch nicht einmal angefangen“, murmelte er, dabei war sein Kopf nah an ihrem, sie konnte seinen Atem in ihrem Haar spüren. „Ich weiß genau, was zu tun wäre“, fügte er leise hinzu und drehte den Kopf, sodass er mit den Lippen ihre Schläfe berührte. „Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen.“

„Dann reden Sie um Gottes willen nicht über das Wetter“, wisperte sie.

Er war drauf und dran, die Sache in die Hand zu nehmen und ihr zu zeigen, wie ein Mann eine Frau verführte. Aber er unterdrückte die aufkeimende Lust. Zwar war er ein Mann, der sich gern am Körper einer Frau erfreute und ihr Lust bereitete, das ja – aber er war keiner, der sich mit einem jungen Mädchen einließ, das nicht mehr Erfahrung hatte als ein Kälbchen. „Zur Hölle mit dem Wetter. Ich werde stattdessen ihre alabasterfarbene Haut erwähnen“, sagte er und berührte mit den Lippen ihre Wange. „Den Duft ihres Haars“, fügte er hinzu und berührte mit seiner Nase ihre Locken. „Und dann werde ich noch beiläufig erwähnen, wie unwiderstehlich ihr Lächeln ist.“

Miss Cabot rührte sich nicht. Sie hatte rote Flecken auf den Wangen, aber sie atmete noch einmal tief ein und aus, ehe sie sagte: „Das wäre doch schon mal ein Anfang, würde ich sagen.“

Er konnte hören, dass ihre Stimme ein wenig zitterte, und lächelte in sich hinein, dann näherte er sich ihr noch ein wenig und legte eine Hand an ihre Taille. „Sie wollen, dass ich Miss Hargrove den Kopf verdrehe, meine Liebe? Dabei wird es nicht bleiben“, sagte er mit sanfter Stimme, während er ihre Seite entlangstrich und mit der Hand ihre Hüfte drückte. „Ich werde dafür sorgen, dass sie es gar nicht erwarten kann, ihre Schenkel für mich zu öffnen.“

Miss Cabot holte einmal tief Luft, sodass ihre Brust sich hob. „Nein“, flüsterte sie.

„Nein? Ich werde sie nicht anfassen, falls es das ist, was Ihnen Sorge bereitet. Sie glauben vielleicht, mich zu kennen, aber ich bin ein Mann, der unterscheiden kann, mit wem er es zu tun hat.“ Er presste seinen Unterleib an ihren, sodass sie seine Erregung spüren konnte. „Ich gehe nur dorthin, wo man mich mit offenen Armen empfängt.“ Er küsste ihre Schläfe, dabei konnte er das Jagen ihres Pulses an seinen Lippen spüren. „Ich investiere nur dort, wo es sich lohnt“, flüsterte er und drückte den Mund auf ihren Hals, dabei berührte er mit der Zungenspitze ihre Haut, während er mit der Hand eine Brust umfasste und leicht knetete.

„Kein Gentleman mit Selbstachtung würde die Hand an eine Dame legen“, sagte Miss Cabot atemlos, während sie die Augen schloss und den Kopf in den Nacken legte, um ihn näher an sich heranzulassen.

Er hätte beinahe aufgelacht, als er sich ihrem Ohr näherte und an ihrem Ohrläppchen knabberte. „Das stimmt. Aber Sie haben sich doch nicht an mich gewandt, weil ich ein Gentleman mit Selbstachtung bin, Miss Cabot. Und jetzt seien Sie still“, sagte er. Dabei legte den anderen Arm um sie, sodass er nach ihren Händen greifen konnte, die sie hinter dem Rücken verschränkt hielt. Er umfasste eines ihrer Handgelenke und hob die Hand an seinen Mund. Miss Cabot öffnete leicht die Lippen; sie fixierte ihn mit ihrem Blick. George drehte ihre Hand herum und leckte über die Innenseite ihres Handgelenks, ehe er es küsste. Ihre Haut duftete, sie war warm und seidenweich. Er konnte fühlen, wie sein Herz vor Lust schneller schlug. Er schob ihr eine Hand unter das Kinn, sodass sie den Kopf heben musste. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, ihr Mund stand offen. George wusste, dass er jetzt nicht weiter gehen durfte, aber er küsste sie trotzdem. Dabei fuhr er spielerisch mit der Zunge über ihre Lippen und liebkoste erst ihre Brust, dann ihre Hüfte. Er fühlte, wie sie ihm langsam nachgab und er immer härter wurde. Er hob den Kopf und sagte: „Würden Sie mir die Ehre erweisen, mir einen Tanz zu versprechen, Miss Hargrove?“

Miss Cabot nickte. „Also gut.“ Ihre Stimme zitterte kaum merklich, doch sie fing sich schnell wieder und räusperte sich. Dann sagte sie noch einmal, mit fester Stimme: „Natürlich. Vielen Dank.“

Er war sehr zufrieden mit sich. Er hatte ihr gezeigt, wozu er fähig war, wenn es um Verführung ging. Jetzt konnte er wieder angemessenen Abstand von ihr halten.

Miss Cabot rührte sich nicht. Sie starrte ihn eingeschüchtert an, ihr Blick fiel dabei auf das sichtbare Zeichen seiner Lust in seiner Hose.

George hob ohne das kleinste Unbehagen eine Augenbraue. Seine körperlichen Reaktionen waren schließlich so natürlich wie das Atmen, und wenn sie so etwas noch nie gesehen hatte, war das ihr Problem. „Also?“, fragte er.

„Ich glaube“, sagte sie, während sie nervös nach der Perlenkette tastete, die sie um den Hals trug, „Sie wissen schon, was zu tun ist.“ Noch immer starrte sie ihn ängstlich an. Dabei hielt sie den Blick auf seine Lippen gerichtet. Die Art, wie sie ihn ansah, berührte etwas Fürchterliches in seinem Inneren. Er musste jetzt gehen. Sofort. Ehe er etwas tat, das er später bereuen würde. „Dann sind wir uns ja einig, Miss Cabot. Sagen Sie mir noch das eine: Wann findet diese Gesellschaft statt?“

„Am Freitag“, sagte sie. „Um halb neun.“

Er nickte, nahm seinen Hut und setzte ihn sich auf den Kopf. „Ich werde dort sein.“

„Vielen Dank noch einmal, Mr Easton. Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir helfen.“ Ihr Lächeln war etwas unsicher, aber gleichzeitig überzog eine verräterische Röte ihre Wangen.

Das war es also. George hatte seinen Teufelspakt geschlossen und das alles nur für ein verdammtes Lächeln von ihr. Er war drauf und dran gewesen, ihr das Kleid vom Leib zu reißen, doch er würde Beckington House verlassen, ehe er noch weitere derartige Ideen entwickeln konnte. Bei allem, was ihm heilig war: Diese verantwortungslose und listige Person hatte ihn auf eine Weise für sich eingenommen, die ihm ganz und gar nicht gefiel. „Guten Tag, Miss Cabot.“

„Guten Tag, Mr Easton“, sagte sie, während sie noch immer gedankenverloren mit der Perlenkette spielte, und blickte ihm hinterher, wie er zur Tür hinausging.

7. KAPITEL

Honor und Grace Cabot betraten die Gesellschaft der Garfields mit der Anmut von Prinzessinnen, aber heute Abend stach Honor ihre jüngere Schwester mit ihrem Kleid aus, das aus blassblauer, mit Perlen besetzter Seide war. Sie sah atemberaubend aus. Monica wendete den Blick ab und ging auf einen Lakaien zu, der ihre Tasse wieder mit Punsch füllte.

Monica war immer wieder aufs Neue überrascht, wie viele Kleider und Accessoires Honor und Grace besaßen. Sie hatte Augustus einmal im Spaß gefragt, wie viel von seinem Familienvermögen schon in die Ausstattung seiner Stiefschwestern geflossen war, aber er hatte ihr glaubhaft versichert, dass alles Geld, das sie dafür ausgaben, von ihrem verstorbenen Vater kam.

Natürlich dachte Augustus das, der arme Mensch hatte überhaupt keine Vorstellung davon, was eine Garderobe wie die von Honor kostete. Monica ließ sich nicht so einfach weismachen, dass der verstorbene Richard Cabot, der es in der anglikanischen Kirche immerhin bis zum Bischof gebracht hatte, seiner Familie dermaßen viel Geld hinterlassen hatte, dass seine Töchter sich einen extravaganten Lebensstil leisten konnten. Monica war der festen Überzeugung, dass Honor es sehr geschickt verstand, ihren kranken Stiefvater auszunutzen. Sie hatte dafür natürlich keinerlei Beweise, aber es war schließlich kaum möglich, dass eine unverheiratete Frau so modisch gekleidet war.

Monica ärgerte sich über Honor. Sie waren einmal die besten Freundinnen gewesen, aber es gefiel Monica überhaupt nicht, dass Honor alles bekam, was sie wollte. Einfach alles! Sie war sehr hübsch mit ihrem dunklen Haar, den erstaunlich blauen Augen und ihrem makellosen Teint. Monica selbst hatte kastanienbraunes Haar und braune Augen, und wenn sie neben Honor stand, konnte sie förmlich fühlen, wie sie mit dem Hintergrund verschmolz, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Honor war außerdem durch nichts aus der Ruhe zu bringen, wirkte immer fröhlich, während Monicas zuweilen finstere Stimmung sich nie ganz verbergen ließ.

Und Honor durfte im palastähnlichen Beckington House wohnen, wenn sie in London war, oder auf dem majestätischen Landsitz des Earls in Longmeadow. Es war fast, als wäre Honor nach dem Tod ihres Vaters im Schoß des Luxus wieder aufgewacht. Jetzt, wo sie in die Gesellschaft eingeführt war, himmelten die Männer Honor förmlich an – man brauchte sich nur hier im Salon umzusehen und zu schauen, wie viele bewundernde Blicke ihr zugeworfen wurden. Honor wusste die Aufmerksamkeit, die sie genoss, überhaupt nicht zu schätzen. Andere junge Frauen hätten sich gefreut, unter so vielen Verehrern wählen zu dürfen, aber Honor ging nie über einen flüchtigen Flirt hinaus.

Und was hatte Monica? Zwei ältere Brüder, das war es, was sie hatte. Keiner der beiden verschwendete auch nur einen Gedanken an gesellschaftliche oder modische Fragen. Ihre Familie bewohnte ein anständiges Haus am Rande von Mayfair und ihr Vater war ein hoch angesehener Rechtsgelehrter. Kein Earl. Nicht einmal ein Baron. Ein Gelehrter.

Monica konnte schon froh darüber sein, dass man sie heute Abend in so erlesener Gesellschaft überhaupt duldete. Sie hatte sich nie über einen Mangel an Verehrern beklagen können, aber sie war nicht der Typ, der flirtete und sich mit mehreren jungen Männern gleichzeitig eingelassen hätte. Wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich ein wenig vor den meisten Männern und schätzte sich glücklich, Augustus, Viscount Sommerfield, für sich gewonnen zu haben.

Augustus schüchterte sie nicht ein; er betete sie förmlich an. Ihre Eltern waren überglücklich über ihre Verlobung, und je eher Monica ihn heiratete, desto lieber war es ihnen. Wer hätte gedacht, dass ihre Tochter in eine Adelsfamilie einheiraten und einmal Countess werden würde?

Es war Monica wohl bewusst, dass Honor glaubte, die Verlobung mit Augustus sei nur durch cleveres Taktieren zustande gekommen. Dabei war alles ganz ehrenvoll verlaufen. Zuerst hatten Augustus’ Avancen Monica eher belustigt. Er war für ihren Geschmack ein wenig zu wohlgenährt und er konnte manchmal wirklich ungeschickt sein. Aber als aus Wochen Monate wurden, hatte sie ihn wirklich lieb gewonnen. Er war sehr aufmerksam und aufrichtig in seinen Gefühlen für sie. Sicherlich war es kein Nachteil, dass er eines Tages den Titel erben würde oder dass Monica dann die Herrin über Beckington House und weitere Güter sein würde. Monica hatte sich an diese Vorstellung gewöhnt und sie war der Überzeugung, dass Augustus und sie eine große, glückliche Familie haben würden.

Sie hatte überhaupt nicht über seine Stiefschwestern nachgedacht, bis ihre Mutter eines Tages angemerkt hatte, dass sechs Personen zu viel für eine Ehe waren, die doch vor allem zwei Menschen betreffen sollte. „Ich hoffe, dass du nicht ständig mit all diesen Mädchen um seine Aufmerksamkeit konkurrieren musst“, hatte sie lachend gesagt. Oder: „Also, Honors Kleid ist wirklich wunderschön. Hoffentlich ist für deine Garderobe auch so viel Geld da, wenn du erst Countess bist.“

Jetzt konnte Monica sich nicht mehr vorstellen, ihre rosige Zukunft mit einer Bande von Stiefschwestern zu teilen.

Wenn man vom Teufel sprach … Monica warf einen Blick über ihre Schulter. Zwei Gentlemen hatten Honor abgefangen und lachten, als hätte sie soeben etwas schrecklich Witziges gesagt. Selbst aus dieser Entfernung konnte Monica noch das Funkeln in Honors Augen erkennen.

Monica wandte sich von der Szene ab und wurde von Lady Chatham aus ihren Gedanken gerissen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und nun plötzlich direkt neben ihr stand.

„Lady Chatham“, sagte Monica und machte einen Knicks.

„Guten Abend, Miss Hargrove“, erwiderte diese fröhlich. „Sind Sie ganz alleine hier? Wo ist denn Ihr gut aussehender Verlobter?“

„Er kann heute Abend leider nicht kommen, er hatte bereits anderweitige Verpflichtungen.“

„Ich verstehe“, sagte Lady Chatham.

Monica konnte förmlich sehen, wie die Zahnräder in ihrem Kopf ratterten, um jedes bisschen Klatsch, dessen sie habhaft werden konnte, für morgen aufzusaugen, damit sie es dann brühwarm ihren Freundinnen erzählen konnte. „Mein Cousin Mr Hatcher begleitet mich heute Abend“, fügte Monica hinzu.

„Der gute Mr Hatcher“, sagte Lady Chatham, als würde sie ihn tatsächlich kennen. „Wie ich sehe, sind die Cabots auch hier. Zumindest trägt Miss Cabot heute Abend Perlen im Haar und nicht die Haube von irgendjemand anderem.“

Die ganze Angelegenheit war wirklich komplett aus dem Ruder gelaufen. Monica hatte die Haube tatsächlich für sich bestellt, aber als sie sie abholen wollte, war sie viel teurer als veranschlagt gewesen. Sie wollte sie wirklich nicht mehr haben – aber warum musste ausgerechnet Honor sie dann kaufen?

„Das war doch eine Nichtigkeit. Die Haube interessierte mich überhaupt nicht.“ Sie lächelte und hoffte, dass man ihr die Lüge nicht zu deutlich ansah.

„Also mir gefiel sie auch nicht“, stimmte Lady Chatham ihr zu. „Mir scheint, sie ist doch um einiges zu auffällig und das, Miss Hargrove, ist einer jungen Dame ganz sicher nicht würdig.“

Monica fand die Haube nicht ganz so auffällig und sie war sich ganz sicher, dass Honor sich nicht im Mindesten darum kümmerte, was alte Schachteln wie Lady Chatham von ihr dachten. Im Gegenteil – Honor war dafür bekannt, gern Risiken einzugehen und die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen in Frage zu stellen. Das war der große Unterschied zwischen ihnen: Honor beugte die Regeln zu ihren Gunsten, während Monica sie befolgte.

„Miss Hargrove.“

Monica drehte sich zur Seite und sah, dass Thomas Rivers neben sie getreten war.

„Lady Chatham“, fügte er hinzu und neigte den Kopf vor der älteren Dame, ehe er sich mit einem Lächeln wieder an Monica wandte. „Miss Hargrove, würden Sie mir die Ehre erweisen?“

Lady Chatham wedelte mit der Hand und zwitscherte: „Natürlich, natürlich, Sie müssen tanzen und sich amüsieren, Miss Hargrove; ehe Sie sichs versehen, sind Sie eine verheiratete Frau.“

„Wie bitte?“, fragte Monica und wunderte sich, was Lady Chatham wohl gemeint haben konnte, doch die war schon davongesegelt.

Mr Rivers führte sie auf die Tanzfläche. Der Tanz begann mit zwei Drehungen, erst in die eine Richtung, dann in die andere. Während der zweiten Drehung fingt Monica den Blick von George Easton auf, der sie zu beobachten schien. Das war ja merkwürdig. Monica drehte sich in die andere Richtung.

Was machte George Easton denn hier? Sie hatte ihn natürlich sofort erkannt – alle kannten ihn. Man behauptete nicht einfach so, der Neffe des Königs zu sein, ohne dass jemand davon Notiz nahm. Es wurde gemunkelt, dass er vor Kurzem sein ganzes Vermögen aufs Spiel gesetzt hatte.

Wie war er bloß an die Einladung gekommen? Lady Feathers, die erste Gastgeberin dieser Gesellschaft, war sehr streng, wenn es darum ging, wer Zutritt zu der Veranstaltung erhielt und wer nicht, und Monica konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie den Bastard des Duke of Gloucester einladen würde, schon gar nicht, wenn der Duke selbst ihn voller Verachtung als Betrüger bezeichnete.

Als der Tanz endete, führte Mr Rivers Monica an den Rand der Tanzfläche. Sie lehnte seine Einladung zu einer Erfrischung ab und sah ihm nach, während er sich entfernte – auf der Suche nach der nächsten Tanzpartnerin.

Monica sah sich in der Menge um – dort drüben tanzte Honor, mit leichtem und unbeschwertem Schritt hüpfte sie um Charles Braxton herum, während dieser sie aus großen Augen bewunderte wie ein Kind. Auch Grace war auf der Tanzfläche, ihr Lächeln strahlte mit den Kronleuchtern um die Wette und sie tanzte noch anmutiger als ihre Schwester.

Monica musste sich abwenden, das konnte sie einfach nicht mit ansehen. Sie suchte mit den Augen die Menge nach bekannten Gesichtern ab, nach Gesprächspartnern, da fühlte sie plötzlich einen Schauer ihren Rücken hinablaufen – sie konnte fühlen, dass jemand sie anstarrte, und als sie sich umdrehte, sah sie zu ihrer großen Überraschung, dass George Easton sie direkt anschaute.

Und er sah sie nicht nur an, sondern kam auch noch in ihre Richtung. Monica meinte, dass sie sich irren müsse, aber Easton kam geradewegs auf sie zu. Er lächelte freundlich und verbeugte sich tief. „Miss Hargrove, darf ich wohl so verwegen sein, mich Ihnen als Tanzpartner anzubieten? Ich hoffe, Sie halten mich nicht für unverschämt, aber ich habe gesehen, wie Sie mit Rivers getanzt haben, und konnte die Augen nicht von Ihnen abwenden. Ich bin George Easton, zu Ihren Diensten.“

Wusste er denn nicht, dass ein Gentleman keine Dame einfach so ansprechen durfte, ohne dazu eingeladen worden zu sein? Monica sah sich unauffällig im Saal um, ob jemand diese Verletzung der Etikette bemerkt hatte. „Wie geht es Ihnen, Mr Easton?“, sagte sie lächelnd. Sie fand seine Avancen sehr merkwürdig und doch konnte sie nicht anders, als sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen.

Er schenkte ihr ein einnehmendes Lächeln. „Ich muss gestehen, ich bin ganz bezaubert.“

Es war schon von Zeit zu Zeit vorgekommen, dass Gentlemen sie bezaubernd gefunden hatten, aber keiner von ihnen hatte es je so unverhohlen ausgesprochen. „Ist das wahr?“, fragte sie und lächelte dabei schüchtern. „Es ist wirklich ungewöhnlich, dass ein Gentleman einfach uneingeladen auf eine Lady zukommt und dann so eine Erklärung abgibt.“

„Ich bin ein ungewöhnlicher Mann“, sagte er fröhlich. „Aber ich verstehe schon, ich bin zu forsch gewesen. Das hat man mir schon häufiger vorgeworfen, aber wenn es um eine schöne Frau geht, kann ich offensichtlich nicht anders. Darf ich Ihnen ein Glas Punsch holen, Miss Hargrove?“

Was war denn hier los? Warum redete er so mit ihr? Sie glaubte bei allem, was sie von ihm gehört hatte, keine Sekunde, dass ein Mann wie er, charmant und gut aussehend, von ihr auch nur im Mindesten eingenommen sein konnte. Plötzlich überkam sie große Neugier, was der Grund für sein Verhalten sein könnte. „Sie dürfen.“

Er führte sie auf die andere Seite des Saals auf das Buffet zu, gab dem Lakaien ein Zeichen und nahm ein Glas Punsch entgegen, das er an Monica weiterreichte.

„Vielen Dank.“

Easton lächelte erneut, dabei wurde sein Blick ganz sanft. Er war wirklich ziemlich gut aussehend, mit seinem energischen Kinn, den blauen Augen und den hellen Strähnen in seinem braunen Haar. Manchmal wünschte sich Monica, dass Augustus vollere Haare hätte, er wurde jetzt schon kahl oben auf dem Kopf.

Easton fasste sie sanft am Arm und führte sie vom Buffet weg. „Sie werden mich sicherlich schon wieder für dreist halten, wenn ich Ihnen sage, dass Sie die schönste Frau des heutigen Abends sind, aber so ist es.“

Vielleicht konnte er nicht besonders gut sehen? „Aber es sind doch so viele Frauen hier heute Abend“, erwiderte Monica.

„Keine von denen kann Ihnen auch nur annähernd das Wasser reichen.“ Er liebkoste mit seinen Fingern gedankenverloren ihr Handgelenk. In seinen Augen flackerte es beinahe und Monica begann zu verstehen, woher er seinen Ruf hatte, jede Frau verführen zu können.

„Ich habe zugesehen, wie Sie mit Rivers getanzt haben“, sagte er und ließ seinen Blick herunter auf ihr Dekolleté wandern. „Dabei habe ich Ihre Schönheit bewundert.“

„Das ist mir aufgefallen“, gab Monica zurück.

Er beugte sich zu ihr hinüber. Den Kopf ganz nah an ihrem, flüsterte er: „Ich habe angefangen, Sommerfield sehr zu beneiden.“

„Vielleicht sollten Sie das lieber Lord Sommerfield erzählen.“

„Damit er mich herausfordert?“

Monica gestattete sich angesichts dieser Unverschämtheit ein Lächeln. Ein Mann wie Easton brauchte sich vor Augustus nicht zu fürchten, wenn es um Duelle oder Handgreiflichkeiten ging, oder wie auch immer Männer solche Sachen zu regeln pflegten. Eastons plötzliches Interesse an ihr machte Monica jedoch neugierig. Sie fragte sich, was er sich wohl erhoffte. Wollte er jemandem vorgestellt werden? Vielleicht sogar Augustus? Sie sah ihm direkt in die Augen und sagte: „Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, weshalb Sie so plötzlich an mir interessiert sind.“

Ihre Direktheit schien ihn zu überraschen. „Ich will doch meinen, dass eine schöne Frau wie Sie wo sie geht und steht von den Gentlemen bewundert wird, Miss Hargrove.“

Er glaubte doch wohl nicht im Ernst, dass sie ihm das abnehmen würde? Das war nun wirklich ungeheuerlich, wenn man die Standesunterschiede zwischen ihnen betrachtete.

„Ich hatte gehofft, Sie hätten nichts dagegen, wenn ich Sie auffordere, sodass ich Sie noch ein wenig bewundern kann, ohne gegen die guten Sitten zu verstoßen“, sagte er und streckte ihr seinen Arm entgegen.

Monica lachte. Sie hatte ganz gewiss nicht die Absicht, sich von ihm auffordern zu lassen und damit der Gerüchteküche Nahrung zu geben. Sie umklammerte ihre Tasse mit den Fingern. „Vielen Dank, aber ich lege keinen Wert darauf, Anlass für irgendwelche Spekulationen zu werden. Guten Abend, Mr Easton“, sagte sie beiläufig und ließ ihn einfach stehen.

Er sah ihr nach, dabei hielt er den Kopf gesenkt und lächelte ein wenig selbstzufrieden.

Also wirklich, was zum Geier hatte er nur vor?

8. KAPITEL

George Easton verließ die Gesellschaft zusammen mit einem Gentleman, den Honor nicht kannte. Er hatte sie in der kurzen Zeit, die er dort gewesen war, nicht ein Mal angesehen, aber sie nahm dennoch an, dass er seinen Teil der Abmachung erfüllt hatte.

Sie nahm weiterhin an, dass Monica mittlerweile wie Wachs in seinen Händen sein musste, wenn er ihr gegenüber nur halb so herausfordernd agiert hatte wie bei seinem Besuch in Beckington House. Der Himmel wusste, dass es Honor so gegangen war. Auch nachdem er weg war, raste ihr Herz, und sie hatte noch für Stunden seine Lippen auf den ihren gespürt. Sie musste unbedingt mit eigenen Augen sehen, ob Monica genauso litt wie sie.

Honor suchte in der Menge nach Monica, schließlich sah sie sie an einem Tisch in Gesellschaft von Agatha Williamson und Reginald Becker.

Sie sah überhaupt nicht verunsichert aus.

Sie wirkte eher ein wenig mürrisch.

Oh nein. Nein, das durfte doch nicht wahr sein. Ohne wirklich zu merken, was sie tat, war Honor schon auf dem Weg zu ihr.

Monica lauschte so konzentriert auf das, was Mr Becker sagte, dass sie Honor zunächst nicht einmal bemerkte. „Oh“, sagte sie schließlich, offensichtlich überrascht, dass sie Honor vor sich stehen sah. „Guten Abend.“

„Guten Abend“, sagte Honor fröhlich. „Miss Williamson, schön Sie zu sehen. Mr Becker, wie geht es Ihnen?“, fragte sie höflich, während der Gentleman sich alle Mühe gab, schnell aufzustehen.

„Gleichfalls“, sagte Miss Williamson.

Niemand bot ihr einen Platz an, aber das hielt Honor nicht zurück. „Darf ich?“, fragte sie gut gelaunt.

Mr Becker zog sofort einen Stuhl für sie heran. Honor setzte sich und lächelte Monica zu.

„Soll ich uns etwas zu trinken holen?“, fragte Mr Becker.

„Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen“, antwortete Honor, ehe Monica den Mund aufmachen konnte.

„Sie werden Hilfe benötigen“, sagte Miss Williamson.

„Vielen Dank“, antwortete Mr Becker und warf Honor noch ein Lächeln zu, ehe er sich mit seiner treuen Gefährtin auf die Suche nach vier Erfrischungen machte.

„Also? Was verschafft mir das Vergnügen deiner Gesellschaft?“, fragte Monica trocken.

Honor lachte. „Nur das Bedürfnis, mit einer alten Freundin zu reden.“

„Hmmm“, sagte Monica und sah Honor von oben bis unten an. „Dein Kleid ist wunderschön.“

Wenn man Monica eines zugestehen musste, dann, dass sie ein schönes Kleid zu würdigen wusste, wenn sie eines sah. „Vielen Dank“, sagte Honor. „Genau wie deins.“ Das dunkle Grün stand Monica ausgezeichnet. „Hat Mrs Dracott es gemacht?“

„Nein“, antwortete Monica kurz angebunden. „Es ist von Mrs Wilbert. Mrs Dracott hat gerade so viele Aufträge, wo die Saison wieder begonnen hat. Aber sie hat deins sehr schön gemacht, oder nicht? Ich nehme an, es gibt sogar eine Haube, die dazu passt.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie Honor ansah.

„Du lieber Himmel! Du bist doch wohl nicht noch immer wütend wegen der Haube?“ Honor machte eine wegwerfende Geste mit der Hand.

„Nicht mehr als damals, als du mir Mr Gregory ausgespannt hast“, gab Monica schnippisch zurück.

Honor musste vor lauter Überraschung lachen. „Da waren wir gerade einmal sechzehn, Monica. Musst du wirklich immer auf den alten Geschichten herumreiten?“

„Ich reite nicht auf alten Geschichten herum, sondern auf alten Intrigen“, erwiderte Monica. „Du machst das einfach gerne, oder etwa nicht? Eine kleine Intrige oder zwei?“

„Intrige?“, wehrte sich Honor. „Willst du wirklich von Intrigen reden? Erinnerst du dich noch an den Ball der Binghams und wie du und Agnes Mulberry die beiden letzten Plätze in ihrer Kutsche ergattert habt, obwohl sie eigentlich mich eigeladen hatten, und wie ihr zwei dann eingeladen wurdet? Ich konnte sehen, wo ich bleibe, und das wusstet ihr ganz genau.“

„Genauso wie du wusstest, dass du mich nicht zur Abendgesellschaft in Longmeadow eingeladen hast.“ Monica schnalzte mit der Zunge. „Eine verlorene Einladung, dass ich nicht lache!“

Honor machte ein entschlossenes Gesicht, sie wollte überhaupt gar nicht mehr an jenen Sommer denken. „Jetzt lass doch die alten Geschichten, Monica. Ich wollte dich eigentlich beglückwünschen und nicht wieder aufwärmen, was wir mit sechzehn getan haben.“

„Beglückwünschen? Wozu?“, fragte Monica.

„Habe ich da irgendetwas falsch verstanden?“, fragte Honor. „Augustus hat gesagt, dass du dich sehr auf die Hochzeit freust und dass sie wahrscheinlich früher stattfinden kann als gedacht.“

Monica brach plötzlich in Gelächter aus; ihre hellbraunen Augen funkelten. „Mein liebster Sommerfield!“, sagte sie fröhlich. „Das hast du falsch verstanden, Honor. Er ist so sehr entschlossen, mich zu heiraten, dass er ständig davon redet, nach Gretna Green in Schottland zu fahren, damit wir nicht warten müssen, bis ich volljährig bin. Es ist beinahe erschreckend.“

„Dann solltest du ihn lieber gleich heiraten“, sagte Honor. „Wer weiß, ob du so schnell wieder einen Mann findest, der so erpicht darauf ist, dich zu heiraten, oder nicht?“

„Wie bitte?“, sagte Monica lachend. „Also wirklich, Honor, wir kennen uns zu lange, als dass ich dir abnehmen würde, dass du extra zu mir gekommen bist, um über meine Hochzeitspläne zu reden. Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Und mir genauso wenig, nebenbei bemerkt.“

Honor konnte nicht anders, sie musste einfach lachen. „Das ist richtig. Aber wo wir doch so etwas wie Schwestern werden, dachte ich, es wäre Zeit für einen Neuanfang. Lass uns nicht mehr über solchen Kleinkram wie Hauben streiten.“

Monika zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. „Wirklich? Wenn du allen Ernstes einen Neuanfang versuchen willst, sollten wir auch unangenehmen Themen nicht länger ausweichen … zum Beispiel einer Teegesellschaft exakt zum gleichen Zeitpunkt wie eine andere Teegesellschaft. Meinst du das, wenn du von einem Neuanfang sprichst?“

Damit hatte Monica sie kalt erwischt – in der letzten Saison hatte Honor tatsächlich eine Teeparty im Garten veranstaltet, am selben Tag und um dieselbe Uhrzeit wie Monica – zu der weder Grace noch sie eingeladen worden waren. Allerdings musste man zu Honors Verteidigung sagen, dass sie allen Ernstes nicht angenommen hatte, dass sie dieselben Leute einladen würden. Sie war davon ausgegangen, dass Monica all die langweiligen, leblosen Bekanntschaften anschreiben, während sie sich mit lebhafter und unterhaltsamer Gesellschaft umgeben würde.

„Und wir sollten genauso wenig in der Öffentlichkeit Vermutungen darüber anstellen, wo die andere sich wohl gerade aufhält“, sagte Honor und spielte damit auf den Ball zum letzten Thronjubiläum an, nachdem Monica vor aller Ohren hatte verlauten lassen, dass Honor zusammen mit Lord Cargill verschwunden war, obwohl Honor mit Grace im Ruheraum gewesen war. Das hatte in nicht unerheblichem Maße Spekulationen ausgelöst.

„Das sollten wir wirklich lieber nicht tun“, sagte Monica und neigte graziös den Kopf zur Seite.

Honor lächelte. „Also gut, hast du einen schönen Abend gehabt?“

„Ganz ordentlich.“

„Hast du neue Bekanntschaften gemacht?“

Monica legte den Kopf auf die andere Seite. „Worauf willst du hinaus?“, fragte sie misstrauisch. „Woher kommt nur dieses plötzliche Interesse daran, ob ich mich amüsiere?“

„Du lieber Himmel, du bist aber misstrauisch!“, rief Honor. „Ich wollte damit nur sagen, dass diese Gesellschaft so gleichförmig ist, dass einem wirklich langweilig werden kann, findest du nicht? Ich wünschte, es gäbe mal jemanden, der uns alle ein wenig aufmischt. Da haben wir es nebenbei wieder einmal, die Wurzel allen Ärgers zwischen uns – du verstehst mich immer falsch.“

„Oder ich verstehe dich besser, als dir lieb ist“, gab Monica zurück. „Wenn dir nach Abwechslung ist, warum gehst du dann nicht einfach auf Reisen? Das habe ich letzte Woche auch schon zu Augustus gesagt“, fuhr sie fort und fing an, ihre Handschuhe glatt zu streichen, als würden sie sich nur beiläufig über das Wetter unterhalten. „Ich habe gesagt, vielleicht gefällt es dir in Amerika, dort gibt es so viele Dinge zu entdecken.“

In Honors Kopf schrillte eine Alarmglocke. Sie rang sich ein Lachen ab. „Das soll wohl ein Scherz sein.“

Monica hob den Blick von ihren Handschuhen. „Augustus schien mir durchaus interessiert. Er hat gesagt, dass er sich freuen würde, wenn Grace und du eure Bildung in der Welt fortsetzen würdet. Und ich möchte meinen, dass dir eine neue Umgebung sicher guttun wird, wenn dich unsere Gesellschaft hier so langweilt.“

„Monica, ich habe keineswegs gesagt, dass mich unsere Gesellschaft langweilt. Ich habe nur von heute Abend gesprochen. Ich bitte dich inständig, Augustus keine solchen Ideen mehr zu unterbreiten.“

„Weil wir doch jetzt einen Neuanfang machen.“

„Ganz genau“, antwortete Honor entschieden.

„Da sind wir wieder!“, ließ sich Mr Beckers Stimme vernehmen. Er und Miss Williamson waren plötzlich wieder da, jeder von ihnen hielt zwei Gläser Wein in den Händen.

„Oje, so spät ist es schon. Ich habe überhaupt nicht auf die Uhr gesehen“, sagte Honor und erhob sich. „Ich sollte wirklich schleunigst nach Hause fahren, um dem Earl Gute Nacht zu sagen.“ Sie bedachte Monica mit einem vielsagenden Blick. Diese Frau konnte sie nach seinem Tod vielleicht in hohem Bogen auf die Straße setzen, aber heute Abend hatte sie zumindest die Oberhand behalten. „Guten Abend allerseits“, wünschte sie lächelnd.

„Guten Abend, Honor“, gab Monica ebenso freundlich zurück.

Honor machte sich mit geradem Rücken und erhobenem Kopf auf den Weg, so als könne sie überhaupt nichts bekümmern.

Doch tatsächlich gab es da plötzlich einiges.

Amerika! Der Teufel sollte Monica Hargrove holen.

9. KAPITEL

Wie war es nur möglich, dass ihr schöner Plan so gar nicht funktioniert hatte?

Diese Frage beschäftigte Honor darartig, dass sie sich die ganze Nacht unruhig in ihrem Bett umherwälzte. Sie war von Eastons vorgetäuschtem Verführungsversuch in ihrem eigenen Empfangszimmer fast um den Verstand gebracht worden. Wie hatte Monica ihm widerstehen können?

Es gab nur eine Erklärung: George Easton hatte sein Versprechen gebrochen. Oder, noch schlimmer: Er hatte sein Versprechen gehalten und war gescheitert.

Am nächsten Morgen war Honor müde und fürchterlich gelaunt. Sie zog ihren Morgenmantel über, setzte sich an ihren Schreibtisch und verfasste eine Nachricht an Easton: Sie haben mir Ihr Wort gegeben.

Sie war noch immer im Morgenmantel, als sie in die Eingangshalle hinunterging. Foster, der alte Lakai, stand neben der Tür; sie drückte ihm die Nachricht in die Hand. „Bitte sorgen Sie dafür, dass dies hier in die Audley Street gebracht wird.“

Foster sah den Brief an. „Easton“, las er laut vor.

„Leise!“, zischte Honor und sah sich schnell nach links und rechts um, ob jemand in die Halle gekommen war und Foster gehört hatte. „Bitte seien Sie diskret, Foster.“

„Natürlich, Miss Cabot“, versprach er mit einem Augenzwinkern. „Bin ich das nicht immer?“

„Das sind Sie“, sagte sie und legte ihm liebevoll die Hand auf den Arm. „Ich verlasse mich doch immer auf Sie …“

Honor? Was um Himmels willen tust du da?“

Honor wirbelte herum. „Augustus! Guten Morgen!“

Augustus musste gerade beim Frühstück gewesen sein, denn er stand mit einer Stoffserviette im Kragen in der Tür. „Ich habe schon nach dir gesucht.“ Er sah über sie hinweg zu Foster. „Was machst du im Morgenmantel an der Tür?“

„Sie haben recht, Miss, es sieht so aus, als würde es heute Regen geben“, sagte Foster schnell, „sieht fast nach einem richtigen Unwetter aus.“

Honor verehrte den würdigen alten Diener. „Vielen Dank, dann ziehe ich mich entsprechend an.“ Sie drehte sich zu Augustus um und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Dann beeil dich und zieh dich an!“, sagte Augustus. „Mercy besteht darauf, uns eine grausame Geschichte mit wandelnden Leichen vorzutragen. Mir hat sie bereits den Appetit verdorben. Dieses Mädchen braucht eine feste Hand, wenn du mich fragst.“

Autor

Julia London
Julia London hat sich schon als kleines Mädchen gern Geschichten ausgedacht. Später arbeitete sie zunächst für die US-Bundesregierung, sogar im Weißen Haus, kehrte aber dann zu ihren Wurzeln zurück und schrieb sich mit mehr als zwei Dutzend historischen und zeitgenössischen Romanzen auf die Bestsellerlisten von New York Times und USA...
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