Tiffany Exklusiv Band 61

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GEFÄHRLICHER EINSATZ von CASTILLO, LINDA
Um ihre Vergangenheit endlich zu vergessen, hat Erin sich von Chicago nach Logan Falls versetzen lassen - sehr zum Missfallen des zurückhaltenden Polizeichefs Nick Ryan. Denn bei jedem gemeinsamen Einsatz wird ihm klarer, wie heftig er seine schöne Kollegin begehrt …

TREFFPUNKT: MASADO TOWER von ROSNAU, WENDY
Wer will die schöne Sunni Blais töten? Steckt die Mafia dahinter? Als sie verfolgt und angegriffen wird, reicht es dem smarten Detective Jackson Ward. Samt seinem Hund zieht er bei Sunni ein, um sie Tag und Nacht zu bewachen, zu beschützen - zu lieben …

LAURAS HEIßESTER EINSATZ von COOPER, SHELLEY
Während Laura als sexy Kunstexpertin undercover ermittelt und ein Drogenkartell auskundschaftet, weckt Michael mit seinen feurigen Blicken ihr Begehren. Aber mit einem Kriminellen will sie sich nicht einlassen! Oder ist auch er ein anderer, als er vorgibt zu sein?


  • Erscheinungstag 27.03.2018
  • Bandnummer 0061
  • ISBN / Artikelnummer 9783733752941
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Castillo, Wendy Rosnau, Shelley Cooper

TIFFANY EXKLUSIV BAND 61

PROLOG

Erin McNeal hatte den Nervenkitzel schon immer geliebt. Doch als sie ihren Partner mit gefesselten Händen am Boden liegen sah, eine Waffe an seiner Schläfe, empfand sie blankes Grauen.

Mit pochendem Herzen löste sie ihren Revolver aus dem Halfter. Sie wollte keinen Schusswechsel mit zwei Männern riskieren, die offenbar keinerlei Skrupel hatten. Andererseits konnte sie nicht tatenlos zusehen, wie man ihren Partner abknallte.

„Sag uns, wer dein Informant ist, oder wir prügeln es aus dir raus“, drohte einer der beiden Männer.

„Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit“, sagte der Zweite. „Erledige ihn.“

Der erste Mann hob seine Waffe. „Letzte Chance, Bulle.“

Jetzt oder nie. Erin trat aus ihrem Versteck, hob ihren Revolver und richtete ihn auf den Mann mit der Pistole. „Polizei! Lassen Sie Ihre Waffen fallen!“

Der zweite Mann fuhr herum und griff in seine Jackentasche. „Was zum …“

Erin richtete ihre Waffe auf ihn. „Hände hoch.“

Die beiden Männer tauschten Blicke. Sie wusste, dass die beiden sich nicht kampflos ergeben würden. Schon gar nicht einer Frau.

Ihr Partner hob den Kopf, und sie sah die Angst in seinen Augen. Panik erfasste sie. Die Gangster waren in der Überzahl, und sie wussten es. Erin hatte keine Chance. „Lassen Sie die Waffen fallen!“, wiederholte sie. Ihre Stimme klang fremd und hohl.

Plötzlich sah sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Entsetzt bemerkte sie eine dritte Gestalt auf der Galerie. Dunkle Kleidung. Getönte Gläser. Eine bläulich schimmernde Waffe.

Panisch schwenkte sie ihre Waffe nach oben – und spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. Der Mann auf der Galerie war zu jung, um mit einer Waffe auf einen Polizisten zu zielen. Sie wusste, dass sie schießen sollte, doch ihr Finger am Abzug war wie gelähmt. Sekunden später krachte ein Schuss.

Die Kugel traf sie an der Schulter. Erin taumelte zurück. Der Schmerz zwang sie in die Knie. Automatisch hob sie ihre Waffe und feuerte zwei Schüsse ab. Die Gestalt auf der Galerie taumelte über das Geländer und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Asphalt.

Ein weiterer Schuss zerriss die Stille.

Erin schrie den Namen ihres Partners, doch sie wusste, dass es zu spät war. Die Kugel hatte ihm gegolten. Ein gurgelnder Laut kam über ihre Lippen, und sie sank in sich zusammen. Ihr Blick verschwamm, doch sie behielt das Bewusstsein. Sie hörte Polizeisirenen. Wütende Rufe. Schritte auf Asphalt.

Zehn Meter entfernt lag ihr Partner bewegungslos am Boden.

Wut und Entsetzen mischten sich mit Trauer. Sie spürte einen brennenden Schmerz, doch das alles war nichts gegen das Gefühl der Schuld, das in ihrem Inneren explodierte.

Als die Dunkelheit sie umfing, betete sie, dass ihr Partner überleben und ihr verzeihen würde. Und dass sie sich selbst eines Tages verzeihen könnte.

1. KAPITEL

Erin McNeal parkte ihren Wagen vor dem Polizeirevier von Logan Falls, Indiana, und starrte sekundenlang auf das zweistöckige Backsteingebäude. Eine unerklärliche Furcht überkam sie.

„Du schaffst das“, sagte sie laut zu sich selbst. Ihr Herzschlag raste, und ihre Finger umklammerten das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Der Gedanke, dass ausgerechnet sie, Erin, nervös war, ließ sie bitter auflachen. Während ihrer neun Jahre bei der Chicagoer Polizei hatte sie tagtäglich mit den gefährlichsten Kriminellen zu tun gehabt. Und jetzt spielten ihre Nerven wegen eines harmlosen Vorstellungsgesprächs mit dem Polizeichef einer Stadt verrückt, die gerade mal halb so groß war wie ihr früheres Revier!

Doch Chicago gehörte der Vergangenheit an. Erin war nicht mehr bei der Chicagoer Polizei, und ihre Blitzkarriere als einzige Frau, die es in neun Jahren von einer Streifenpolizistin zur Drogenfahnderin geschafft hatte, war beendet.

Jetzt brauchte Erin dringend eine neue Arbeit, und die Stelle als Hilfssheriff beim Polizeirevier von Logan Falls war bei weitem das Beste, was sie angesichts ihrer verletzten Schulter und ihres seelischen Ballasts in Aussicht hatte. Erin atmete tief durch, stieg aus dem Wagen und ging langsam auf das majestätisch wirkende Portal der Wache zu. Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Als sie sechs Monate zuvor in die verlassene Lagerhalle gestürmt war, war sie weniger aufgeregt gewesen. Ehrlich gesagt hatte das Adrenalin ihr sogar einen Kick gegeben. Jetzt hingegen war ihr Selbstbewusstsein am Boden und ihre Karriere zu Ende. Es kostete sie ihre ganze Kraft, das Gebäude zu betreten und ein zuversichtliches Gesicht aufzusetzen. Sie konnte nur hoffen, dass der Mann, der sie da drinnen erwartete, keine allzu gute Menschenkenntnis besaß.

Nick Ryan, der Polizeichef, studierte ihren Lebenslauf aufmerksam. Die Karriere der Ex-Drogenfahnderin Erin McNeal war beeindruckend. Und Commander Frank Rossi, mit dem er seit der Polizeischule befreundet war, hatte in den höchsten Tönen von Erin gesprochen. Erfahren und hart im Nehmen, hatte er gesagt, vielleicht eine Spur zu selbstbewusst und großspurig. Bis zu dem Tag, als sie eine Undercoveraktion verpatzte – ein Versagen, das ihr Partner teuer bezahlt hatte.

Nick war alles andere als glücklich darüber, dass Frank ihm diese Erin aufgehalst hatte. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein unzuverlässiger Cop. Die Tatsache, dass Erin einmal eine erstklassige Polizistin gewesen war, interessierte Nick nicht. Ein Polizist, der seinen Partner im Stich ließ, verdiente seiner Ansicht nach keine zweite Chance. Doch Erin war Franks Nichte, und Nick verdankte seinem Freund zu viel, um ihm einen Gefallen abzuschlagen. Frank war sein Trauzeuge gewesen, und auf Ritas Beerdigung hatte er den Sarg getragen. Nach dem Tod seiner Frau war Frank immer für ihn da gewesen.

„Ein toller Lebenslauf“, bemerkte Hector Price, Nicks einziger anderer fest angestellter Hilfssheriff, und pfiff anerkennend durch die Zähne. „Der beste, den wir bis jetzt hatten, Sheriff. Der Typ hat unschlagbare Referenzen. Sechs Jahre auf Streife. Zwei Jahre verdeckter Ermittler. Ein Jahr Drogenfahndung.“

„McNeal ist eine Frau“, unterbrach Nick ihn gereizt.

Hector wirkte verblüfft. „Oh, Mann, Sheriff, sie ist gut. Hat den schwarzen Gürtel in Karate. Heiliges Kanonenrohr, ihre Treffsicherheit ist besser als Ihre, Sheriff. Sie ist verdammt gut.“ Hector bemerkte Nicks finsteren Blick und fügte schnell hinzu: „Für eine Frau, meine ich.“

Nicht nur für eine Frau, dachte Nick säuerlich. Sie ist zu gut. Er fragte sich, wem sie etwas beweisen wollte. Hatte sie Schuldgefühle? Er kannte ihren Partner, Danny Perrine, aus seiner Zeit in Chicago. Und er wusste, was man sich über jene fatale Nacht erzählte, in der Erin alle Treffsicherheit, alle Karatekenntnisse und alles Wissen aus der Polizeischule verließen. Danny hatte für ihr Versagen einen hohen Preis bezahlt.

„Tja, aber was fängt sie hier mit all ihren Talenten an?“, fragte Nick spöttisch.

„Wir hatten noch nie einen weiblichen Polizisten in Logan Falls, Sheriff. Könnte interessant werden.“

Die Klingel an der Vordertür läutete. Nick blickte auf. Die Frau, die im Eingang stand, sah aus, als hätte sie gerade die Höhle des Löwen betreten und sei zu jedem Kampf bereit. Ihr Gesichtsausdruck war eine seltsame Mischung aus Nervosität und trotziger Provokation. Der Termin mit McNeal war erst in zwei Stunden. Außerdem erkannte Nick einen Cop auf den ersten Blick. Diese Frau sah nicht aus wie eine Polizistin, sondern wie eine schüchterne Vertreterin. Er fragte sich, was sie verkaufte und ob heute ihr erster Tag in diesem Job war.

Sie trug einen eleganten Hosenanzug, der ihre auffallende Größe betonte. Ihr Gang wirkte athletisch. Die Vorstellung, dass diese Frau ihm vermutlich gleich ihre Sonderangebote an Büroartikeln anbieten würde, löste in ihm ein sonderbares Gefühl des Bedauerns aus.

Er warf ihr einen fragenden Blick zu. „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich suche Nick Ryan.“

Ihre Augen, die von langen dunklen Wimpern umrahmt wurden, waren tiefgrün und glitzerten geheimnisvoll. Katzenaugen, dachte er unwillkürlich. Sie hatte hohe Wangenknochen, einen vollen Mund, und ihr ernstes Gesicht war eine Spur zu blass. Ihre Nase war von feinen Sommersprossen übersät. Ihr rotbraunes Haar trug sie zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden. Sie sah aus, als hätte sie eine lange, anstrengende Autofahrt hinter sich.

„Ich schätze, Sie haben das Hausieren verboten – Schild an der Tür übersehen“, sagte er, um das Gespräch abzukürzen.

„Ich will nichts verkaufen“, entgegnete sie. „Ich habe einen Termin.“

Nick starrte sie an, bemerkte die Aktentasche in ihrer Hand, die Entschlossenheit in ihren kühlen grünen Augen, und fühlte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Es brauchte einiges, um ihn derart aus der Fassung zu bringen. Auf einmal packte ihn das dringende Verlangen, Frank Rossi zu erwürgen.

„Sie sind Erin McNeal“, sagte er.

Sie nickte. „Ich bin ein bisschen früh dran.“

„Ein bisschen ist gut.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Exakt zwei Stunden.“

„Die Fahrt ging schneller als ich dachte.“ Erin trat näher und streckte ihm ihre Hand hin.

Nick kam ihr entgegen. „Nick Ryan.“

Er hatte sich die Ex-Drogenfahnderin anders vorgestellt. Diese Frau wirkte kein bisschen hart oder abgestumpft. Sie war jung und schmal und viel zu … zart für einen Cop.

„Frank lässt Sie grüßen.“

Ihr fester Händedruck überraschte ihn. Wie hatte er sie nur für eine Vertreterin halten können? Bei näherem Hinsehen sah er, dass sie durch und durch ein Cop war.

„Ich habe meinen Lebenslauf mitgebracht“, sagte sie.

„Frank hat ihn mir schon gefaxt.“

Plötzlich fiel ihm auf, dass er noch immer ihre Hand festhielt. Abrupt ließ er sie los. Sie stand einen guten halben Meter von ihm weg, aber er hatte trotzdem ihr exotisches weibliches Parfüm in der Nase. Wie konnte eine Frau, die einen so kräftigen Händedruck und die Augen eines Cops hatte, nur so gut duften?

Nick bemerkte, dass er sie anstarrte und gab sich einen Ruck. Er wandte sich zu Hector um, der noch immer mit offenem Mund dasaß und seinen Blick starr auf die schöne Besucherin geheftet hielt. „Das ist Hilfssheriff Price.“

Erin streckte ihre Hand aus. „Freut mich.“

„Ma’am.“ Hector sprang auf die Füße, wischte sich die Handfläche an seinem Hosenbein ab und schüttelte ihre Hand.

Nick kämpfte immer noch mit der Tatsache, dass die duftende zarte Erin aussah, als sei sie gerade einer Polizeiserie im Vorabendprogramm entsprungen. Sie war keine klassische Schönheit. Ihre Haare wirkten widerspenstig und ihr Mund war eine Spur zu groß für seinen Geschmack. Außerdem machte er sich nichts aus Sommersprossen. Doch sie war auf eine ungekünstelte natürliche Art attraktiv.

Sie musterte Nick. „Frank sagte, Sie beide sind alte Freunde.“

Die Art, wie sie das Wort alt benutzte, gefiel ihm nicht. Mit achtunddreißig gehörte er noch lange nicht zum alten Eisen, auch wenn er sich manchmal so fühlte. „Wir kennen uns seit ein paar Jahren.“ Er räusperte sich. „Wir waren Partner in Chicago.“

„Er spricht in den höchsten Tönen von Ihnen.“

„Nur wenn er einen Gefallen braucht.“

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, als fragte sie sich, ob er sie gerade beleidigt hatte. Scharfsinnig ist sie also auch, dachte er und fühlte einen Hoffnungsschimmer in sich aufblitzen. Vielleicht würde sie den Job doch noch ablehnen.

„Ich bin wirklich früh dran“, sagte sie. „Wenn ich störe, kann ich gerne warten.“

„Nein, nein. Kommen Sie, gehen wir in mein Büro.“

Erin ging mit langen selbstbewussten Schritten voran. Er folgte ihr und zwang sich, nicht auf ihren Po zu schauen. Er spürte, dass sie nach seinem Geschmack gebaut war, doch er ahnte auch, dass er sich von dieser Frau fern halten sollte.

Sie setzten sich, und Nick richtete seinen Blick entschlossen auf die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. „Ihre Referenzen sind ausgezeichnet“, bemerkte er. „Und Frank gibt Ihnen eine gute Beurteilung.“

„Frank war ein guter Chef.“

„Dass er Ihr Onkel ist, spricht wahrscheinlich auch nicht ganz gegen ihn.“ Nick fixierte die Akte und fragte sich, ob Erin wusste, dass Frank ihm von der Schießerei erzählt hatte. „Sie haben die Polizeiprüfung mit Auszeichnung abgelegt. Ihre Erfolgsrate ist hoch. Ihre Treffsicherheit ist überdurchschnittlich.“ Er hob seinen Blick. „Sie haben einiges erreicht in Ihrer bisherigen Laufbahn.“

Erin hielt der Musterung stand. „Ich bin gerne Polizistin.“

Die Antwort imponierte ihm. Er konnte sich vorstellen, dass sie es als Frau in diesem Beruf nicht leicht gehabt hatte. Trotzdem hatte sie durchgehalten. Und Nick bewunderte Hartnäckigkeit fast so sehr wie Schneid. Er fragte sich, ob sie Schneid genug hatte, das Thema anzusprechen, das sie beide lieber vermieden hätten.

„Es ist nicht gerade viel los in Logan Falls“, erklärte er. „Ein paar jugendliche Straftäter. Familienstreitigkeiten. Der Brass Rail Saloon wurde letzten Freitag ausgeraubt, aber so etwas ist hier die Ausnahme. Glauben Sie, dass Sie dieser Aufregung gewachsen sind?“

„Wenn ich der South Side von Chicago gewachsen war, wüsste ich nicht, was mich in Logan Falls überfordern könnte.“

Er hatte die Frage halb scherzhaft gestellt, doch sie nahm sie als persönliche Herausforderung. Nick starrte wieder auf ihre Akte. Es ärgerte ihn, dass sie so gar nicht seiner Vorstellung entsprach, und er war wütend, dass Frank ihn nicht vorgewarnt hatte, wie attraktiv sie war. Und am wütendsten machte es ihn, dass er es überhaupt bemerkte.

„Wie geht es Ihrer Schulter?“, fragte er abrupt.

Ihre Augen weiteten sich überrascht. Sie schluckte.

„Frank hat mir von der Schießerei erzählt“, erklärte er.

„Nur eine leichte Arthritis“, erwiderte sie. „Kein Problem.“

Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Ich bin Linkshänderin, so dass die Verletzung meine Treffsicherheit nicht beeinflusst. Meine rechte Hand ist etwas geschwächt.“

Oberflächlich betrachtet war diese Antwort durchaus zufriedenstellend. Sie hatte sich auf das Gespräch vorbereitet. Doch Nick war aufmerksam genug, die versteckten Anzeichen von Nervosität zu bemerken. Das Zittern ihres Kinns verriet ihm, dass die Erinnerung an die Schießerei sie stärker belastete, als sie zeigen wollte. Seelischer Ballast war ein Thema, mit dem er sich nur zu gut auskannte. Er war sozusagen Experte auf diesem Gebiet.

„Frank sagte, Sie hatten Glück, lebend aus dieser Lagerhalle rauszukommen.“

Sie zögerte einen Moment. „Ja, ich hatte großes Glück.“

Ihr Partner, Danny Perrine, war nicht so ein Glückspilz.

„Waren Sie danach in Therapie?“, fragte er wie beiläufig.

Ihr Blick schien ihn zu durchbohren. Sie wusste, dass es keine beiläufige Frage war.

„Ich war einige Monate regelmäßig bei Dr. Ferguson, so wie es für jeden Cop Vorschrift ist, der eine Schießerei miterlebt. Sie sagt, ich bin okay.“

„Wenn das so ist, warum hat Frank Sie trotzdem gefeuert?“

„Frank hat mich nicht gefeuert. Ich habe gekündigt.“

„Auf dem Papier vielleicht. Ich nehme an, Sie wussten, dass eine Kündigung sich in Ihrem Lebenslauf besser machen würde als ein Rausschmiss, stimmt’s?“

Nick blickte nicht auf, doch er fühlte die Spannung, die sich im Zimmer aufbaute. Er schwieg einen Moment, dann begegnete er ihrem Blick. „Sie dachten doch nicht etwa, dass ich Sie nicht auf die Schießerei ansprechen würde?“

Erins Blick war wachsam. „Natürlich nicht.“

„Ich habe hier Ihre vollständige Akte“, erklärte er. „Ich hatte eigentlich gehofft, Sie würden mir den Vorfall aus Ihrer Sicht schildern.“

„Frank sagte …“

„Warum erzählen Sie nicht einfach alles von vorn.“

Zum ersten Mal schien sie kurz davor zu sein ihre Fassung zu verlieren. Sie blinzelte und betrachtete ihre Hände, die verkrampft in ihrem Schoß lagen. „Er hatte kein Recht, Ihnen meine ganze Akte zu geben. Manches davon ist vertraulich.“

„Sollte er mir etwa die Probleme verschweigen, die Sie in den letzten sechs Monaten hatten, und mich ins offene Messer laufen lassen?“

„Frank weiß, dass ich eine gute Polizistin bin.“

„Er weiß aber auch, dass Sie in eine folgenschwere Schießerei verwickelt waren, bei der Ihr Partner fast ums Leben gekommen wäre.“

Sie zuckte zusammen. „Ich habe einen Fehler gemacht und ….“

„Einen folgenschweren Fehler.“

„Mir ist vollkommen bewusst …“

Nick schnaubte verächtlich. „Das bedeutet noch lange nicht, dass Ihr Fehler damit aus der Welt ist oder dass er sich nicht wiederholen kann.“

„Ich habe Mist gebaut“, sagte sie. „Es war zu früh, wieder zu arbeiten nach … der Sache mit Danny. Aber es geht mir jetzt besser …“

„Oh, dann kann ich also beruhigt mit Ihnen durch eine Tür gehen, ohne um mein Leben zu fürchten?“

Ihre Augen blitzten. „Auf Ihren Sarkasmus kann ich gut verzichten.“

„Das hier ist nicht persönlich, McNeal. Ich versuche nur herauszufinden, ob Sie noch immer für die Polizeiarbeit geeignet sind.“

„Warum geben Sie mir nicht einfach die Gelegenheit, es Ihnen zu beweisen?“

„Weil ich Angst habe, dass Sie mich im entscheidenden Moment im Stich lassen. Ich lege keinen großen Wert auf eine Kugel in meinem Rücken.“

Sie starrte ihn an. Ihre Nasenflügel bebten unmerklich. „Ich bin zuverlässig.“

„Wenn dem so wäre, dann wären Sie jetzt in Chicago.“

„Franks Beurteilung von mir war falsch.“

Nick beugte sich vor. „Wollen Sie sagen, er lügt? Warum sollte er das tun?“

„Immerhin bin ich seine Nichte. Er ist überbesorgt. Er denkt, ich sollte zu Hause am Herd stehen und Plätzchen backen, was weiß ich.“

„Vielleicht hätten Sie die Verwaltungstätigkeit annehmen sollen, die er Ihnen angeboten hat.“

„Ich bin Polizeibeamtin. Ich will keinen Schreibtischjob.“

„Nein, Sie spielen lieber Rambo und lassen Ihren Partner hängen.“

„So war das nicht.“

Nick wusste, dass er Erin quälte, doch er musste wissen, woran er mit ihr war.

„Ich weiß, was in der Lagerhalle passiert ist“, sagte er. „Ich weiß Bescheid über Danny Perrine. Sie hatten einen Blackout, McNeal. Wollten Sie mir dieses Detail verschweigen?“

Sie rührte sich nicht.

„Also, nennen Sie mir einen guten Grund, warum ich ausgerechnet Sie einstellen sollte.“

Noch vor sechs Monaten hätte Erin diesem Mann ins Gesicht gelacht und ihn zum Teufel gejagt. Doch jetzt fühlte sie sich unsicher und regelrecht verzweifelt. Er weiß es, dachte sie. Er weiß, dass ich nicht mehr kann. Zweifel und Schuldgefühle plagten sie, und sie spürte, wie ihr Blut schneller pulsierte. Ihre Fingernägel gruben sich in das Fleisch ihrer Handflächen, so dass es schmerzte. Entschlossen sah sie ihm in die Augen.

„Ich glaube, wir wissen beide, dass dieses Gespräch zu nichts führt“, sagte sie ruhig.

„Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts“, knurrte Nick unversöhnlich.

Erin verbarg ihre Enttäuschung und erhob sich. „Ich werde Ihre kostbare Zeit nicht länger verschwenden, Polizeichef Ryan.“

„Das Gespräch ist noch nicht beendet.“

„Oh doch, das ist es.“ Erin ergriff ihre Aktentasche.

Er stand auf. „Hören Sie, ich habe Frank versprochen …“

„Tun Sie mir keinen Gefallen, Sheriff. Dass mein Onkel Ihr Freund ist, verpflichtet Sie zu gar nichts. Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“ Und diesen Job brauche ich auch nicht, versuchte Erin sich einzureden. Sie würde schon noch das Richtige finden. Und ganz sicher hatte sie keine Lust, sich von einem Fiesling wie Nick Ryan erniedrigen zu lassen.

Zum ersten Mal wirkte Nick betroffen. „Ich bitte Sie, jetzt machen Sie doch keine persönliche Sache daraus …“, begann er.

„Geben Sie sich keine Mühe, Sheriff“, unterbrach sie ihn. „Ich bin daran gewöhnt unterschätzt zu werden. Und glauben Sie mir, mein Fell ist dicker als Sie denken.“ Sie schenkte ihm ein knappes Lächeln, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihre Unterlippe dabei zitterte. „Ich habe ohnehin noch andere Angebote.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Im Bereich Personenschutz.“

„Interessant.“

„Mir ist die Arbeit in einer Großstadt sowieso lieber.“

„Kann ich mir vorstellen.“

Erin dachte daran, dass sie ihre Autorate im letzten Monat nicht hatte bezahlen können. Sie würde sich schnell etwas einfallen lassen müssen, egal was. Vielleicht war Personenschutz wirklich keine schlechte Idee.

„Nochmals danke für das Gespräch.“ Ohne ihn anzusehen, wandte Erin sich zur Tür. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal als eine solche Versagerin gefühlt hatte. Vermutlich an dem Tag, als sie ihren Partner hatte auflaufen lassen und feststellen musste, dass sie doch nicht so stark war wie sie immer geglaubt hatte.

„McNeal.“

Erin blieb stehen, doch sie drehte sich nicht um. Sie hatte Angst, seinem Blick zu begegnen. Eigentlich war sie nie nah am Wasser gebaut gewesen, doch jetzt fürchtete sie, jeden Moment in Tränen auszubrechen.

„Frank Rossi empfiehlt niemanden ohne Grund“, sagte Nick.

Erins Hand lag bereits auf der Türklinke. Sie fühlte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten, und blinzelte verzweifelt.

„Ich vertraue seinem Urteil“, fuhr Nick fort. „Sie haben neun Jahre unter ihm gearbeitet. Vielleicht sollten Sie ihm auch vertrauen.“

Nur langsam begriff sie die Bedeutung seiner Worte. Hoffnungsvoll wandte sie sich um. Ihre Stimme zitterte. „Frank ist mein Onkel. Er ist vielleicht nicht objektiv, wenn es um mich geht.“

„Abgesehen davon, gäbe es irgendeinen anderen guten Grund, warum ich an Ihrer Fähigkeit als Polizistin zweifeln sollte?“

„Ich war eine gute Polizistin“, sagte sie atemlos. „Ich bin es immer noch.“

„Ich brauche einen Hilfssheriff. Sie erfüllen alle Voraussetzungen. Sind Sie interessiert an dem Job?“

Erin starrte ihn an und fragte sich unwillkürlich, ob er ihr den Job auch anbieten würde, wenn er von ihren Albträumen wüsste.

„Sie meinen, Sie wollen mich einstellen?“, platzte sie heraus.

Er sah sie durchdringend an. „Logan Falls ist eine Kleinstadt. Es ist vielleicht genau der richtige Ort für Sie, um wieder zur Besinnung zu kommen und herauszufinden, ob Sie in Ihren alten Job zurückkehren wollen oder nicht.“

Ihr Herz klopfte wie wild. „Ich will den Job.“

„Das freut mich. Setzen wir uns wieder.“

Vor sechs Monaten hätte sie nicht so leicht eingelenkt. Sie hätte die Tür hinter sich zugeknallt, allerdings nicht ohne diesem Mann vorher gehörig die Meinung zu sagen. Doch ihre jetzige Situation ließ keinen Stolz zu. Wahrscheinlich ging es ihm ähnlich. Entweder hatte Frank ihm die Pistole auf die Brust gesetzt, oder er war wirklich verzweifelt auf der Suche nach einem Hilfssheriff.

„Also gut.“ Erin ging mit zitternden Knien zurück und ließ sich auf ihren Stuhl sinken.

Auch Nick setzte sich. Erin betrachtete ihn. Den Krähenfüßen unter seinen Augen nach zu urteilen, musste er Ende dreißig sein. Sein dunkles, fast schwarzes Haar trug er sehr kurz. Er war nicht wirklich gut aussehend, aber Erin hatte sich noch nie für hübsche Jungs interessiert. Sie bevorzugte ausdrucksstarke Gesichtszüge und Männer mit Persönlichkeit. Dieser Mann hatte beides.

Die Narbe über seiner rechten Augenbraue, sein harter Blick und sein entschlossener Mund verliehen ihm eine markante Ausstrahlung. Er war mindestens ein Meter neunzig groß, so dass selbst sie mit ihren ein Meter achtzig zu ihm aufschauen musste. Sein Körper wirkte durchtrainiert und stählern, doch es waren seine Augen, von denen am meisten Kraft ausging. Sie schimmerten dunkel wie starker Kaffee, doch sie waren so klar und kalt wie der Lake Michigan an einem frostigen Wintertag. Sein Mund bildete eine schmale Linie, und sie fühlte, dass er selten lächelte.

„Wann können Sie anfangen?“, fragte er.

Erschrocken bemerkte Erin, dass sie ihn angestarrt hatte. Sie räusperte sich. „Montag“, sagte sie ohne Zögern. Wie sie innerhalb von zwei Tagen von Chicago nach Logan Falls umziehen sollte, war ihr allerdings ein Rätsel.

„Sie müssen diese Formulare ausfüllen.“ Er schob ihr einen kleinen Stapel Blätter zu. „Die Bezahlung ist nicht so gut wie in Chicago, aber dafür sind die Lebenshaltungskosten niedriger.“

„Ich habe noch keine Wohnung.“

„Mike Barton, ein Nachbar von mir, versucht seit Monaten verzweifelt eine Zweizimmerwohnung zu vermieten. Direkt über dem Blumenladen in der Commerce Street. Fahren Sie doch dort mal vorbei.“

„Das werde ich tun.“

„Bleiben Sie über Nacht hier oder fahren Sie zurück nach Chicago?“

„Ich werde mir heute eine Wohnung suchen und dann zurückfahren, um meine Sachen zu holen. Wenn alles gut geht, ziehe ich übermorgen schon ein.“ Erin erhob sich. Sie war noch immer unsicher auf den Beinen.

„Gut. Dann sehe ich Sie am Montag.“

Auf halbem Weg zur Tür drehte Erin sich noch einmal um. Sie atmete tief durch. „Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?“, fragte sie.

Nick stand auf und ging langsam auf Erin zu. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. „Sie hätten mich am liebsten zum Teufel gejagt. Aber Ihr Stolz ließ das nicht zu. Sie wollten mir nicht zeigen, dass ich Sie mit meiner Fragerei durcheinander gebracht habe. Das hat mich beeindruckt.“

„Ich war nicht durcheinander.“

Er lächelte amüsiert. „Ach nein?“

Ihre Wangen glühten. „Ich war wütend, von Ihnen in die Mangel genommen zu werden, obwohl ich die Anforderungen für diesen Job klar erfülle.“

„Das wird sich zeigen.“ Zu Erins Überraschung streckte er ihr seine Hand entgegen. „Sehen Sie zu, dass ich meine Entscheidung nicht bedauern muss.“

„Darauf können Sie sich verlassen.“ Sie nahm seine Hand.

Die Berührung elektrisierte sie. Das Knistern lag förmlich in der Luft. Unwillkürlich zuckte Erin zusammen und betete, dass er es nicht bemerkte. Sein Händedruck war fest, aber nicht schmerzhaft. Die ganze Zeit über bohrte sein Blick sich in ihren, und Erin fühlte sich, als steckten Hunderte winziger Stecknadeln in ihrer Haut.

Er war ihr so nah, dass sie den herben Duft seines After Shaves einatmen konnte, und sie ärgerte sich, dass ihr so ein belangloses Detail überhaupt auffiel. Sie musste völlig verrückt geworden sein. Erin wusste seit langem, dass Polizeiarbeit und Beziehungen so gut zusammenpassten wie Benzin und Feuer. Die Mischung war hochexplosiv.

Erschrocken über ihre Reaktion entzog Erin ihm ihre Hand und wich einen Schritt zurück. Nick sah sie an, aber er lächelte nicht. Er wirkte genauso überrumpelt und verärgert wie sie. Endlich räusperte er sich und öffnete ihr die Tür. Sie verließ den Raum fluchtartig und bemerkte Hilfssheriff Price kaum, als sie mit schnellen Schritten an ihm vorbei zum rettenden Ausgang eilte. Sie war sich nicht sicher, was gerade zwischen ihr und Nick Ryan geschehen war, doch sie wusste, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte. Es durfte nie mehr vorkommen. Dieser Job war ihre letzte Chance.

Sie hatte gerade ihre Hand auf die Klinke gelegt, als Nicks Baritonstimme sie zurückhielt. „McNeal.“

Sie erstarrte. Hatte er seine Meinung geändert? Sie atmete tief durch und drehte sich langsam zu ihm um.

Nick lehnte im Türrahmen seines Büros. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. „Sagen Sie Frank, ich schulde ihm was.“

2. KAPITEL

Nick starrte gedankenverloren in seine Kaffeetasse. Er hätte sich gerne eingeredet, dass er Erin McNeal einzig und allein seinem Freund Frank zuliebe eingestellt hatte. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Schuld war die Verzweiflung, die er in ihren Augen gesehen hatte – und die Tatsache, dass sie trotz allem bereit gewesen war, sein Büro zu verlassen, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Zum vierten Mal in zwanzig Minuten sah er auf seine Uhr. Heute war Erins erster Arbeitstag, und sie würden zusammen Streife fahren. Es hatte keinen Sinn, sich vorzumachen, dass sein Interesse an Erin rein beruflicher Natur war. In den letzten drei Tagen, die seit ihrem Gespräch vergangen waren, hatte er immer wieder an sie denken müssen. Ihre Augen, ihre sanften Rundungen, ihr Duft waren ständig in seinem Kopf und brachten sein Blut in Wallung. Er fragte sich, was Frank dazu sagen würde, dass sein Freund die Augen nicht von seiner Nichte lassen konnte, die zu allem Überfluss gut zehn Jahre jünger war als er.

Nick schnitt eine Grimasse und nippte an seinem schwarzen Kaffee. Er hatte sich oft gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis er wieder Gefallen an anderen Frauen finden würde. Nach Ritas Tod hatte er geglaubt, nie wieder eine Frau begehren zu können. Es hatte ihn nicht gestört. Auf diese Art konnte er all seine Aufmerksamkeit und Fürsorge seiner kleinen Tochter zukommen lassen. Und dann war Erin McNeal durch seine Tür getreten und hatte ihn eines Besseren belehrt.

Doch was bedeutete das schon? Nick hatte mehr Selbstdisziplin als gut für ihn war, und er wusste, dass er seine Hormone im Griff hatte. Er dachte überhaupt nicht daran, sich auf eine Affäre einzulassen, die nichts als Ärger versprach. Und Erin McNeal bedeutete Ärger. Zugegeben, die Frau faszinierte ihn, doch er versicherte sich selbst, dass er die Situation unter Kontrolle hatte. Nach drei Jahren war es ohnehin noch zu früh, eine neue Bindung einzugehen. Und außerdem konnte er Erin McNeal nicht ausstehen.

Es klingelte. Nick zuckte zusammen und verschüttete beinah seinen Kaffee. Ohne aufzublicken wusste er, dass Erin den Vorraum betreten hatte. Er atmete tief durch und riskierte einen Blick durch seine offene Bürotür. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, als er sie geradewegs auf sich zukommen sah.

Er konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Diese Frau hypnotisierte ihn. Das marineblaue Kostüm, das sie trug, hätte eigentlich konservativ wirken sollen, doch ihr Hüftschwung und ihre weiblichen Formen, die sich deutlich abzeichneten, wirkten eher aufreizend. Sie erinnerte ihn an eine Raubkatze. Geschmeidig. Grazil. Vorsichtig. Und vor allem gefährlich.

„Guten Morgen“, sagte er.

„Guten Morgen.“ Sie betrat sein Büro.

„Sie sind früh dran. Es ist gerade mal acht.“

„Ich stehe immer früh auf.“

Nicks Blick glitt über die transparente Seidenbluse, die unter dem Kostüm hervorschaute. Er verfluchte sich selbst dafür, aber er konnte nicht anders. Die Erinnerung an die von Spitze umschmeichelten Wölbungen, die er sah, würde ihn den ganzen Tag hindurch verfolgen.

Er deutete auf einen Stuhl. „Nehmen Sie Platz.“

„Danke.“

Ihre Augen kamen ihm heute dunkler vor. Sie hatten die Farbe eines Regenwaldes, voller Schatten und Geheimnisse. Sie setzte sich und schlug die Beine übereinander. Nick zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden.

„War die Wohnungssuche erfolgreich?“

„Ja. Ich habe die Wohnung bekommen, die Sie mir empfohlen hatten.“

„Gut. Mr. Barton ist sicher ein fairer Vermieter.“

Nick verstand sich selbst nicht. In den zehn Jahren, in denen er Polizeichef war, war er noch nie so gehemmt gewesen. In Erin McNeals Gegenwart fühlte er sich unsicher wie ein Schuljunge. Ärgerlich stand er auf und ging zu dem Schrank, in dem die Uniformen und Revolver aufbewahrt wurden. Er nahm Erins Uniform heraus und reichte sie ihr.

„Wir beide fahren heute zusammen auf Streife“, erklärte er. „In Ihren dreißig Tagen Probezeit werde ich Sie unter meine Fittiche nehmen und Ihnen alles zeigen. Clyde Blankenships Pferde sind heute Morgen ausgerissen. Wir fahren bei ihm vorbei und vergewissern uns, dass er den Zaun repariert hat. Er ist über neunzig und braucht manchmal Hilfe bei solchen Dingen.“

„Pferde?“

Nick warf ihr einen scharfen Blick zu. Er fragte sich, ob die Großstadtpolizistin einen solchen Job als unter ihrer Würde empfand. „Die Schule hat letzte Woche angefangen. Hector ist heute Schullotse. Wir fahren bei ihm vorbei und sehen nach, ob alles glatt geht.“

Erin nickte.

„Nebenan können Sie sich umziehen.“

„Ich bin in einer Minute fertig.“

Unwillkürlich stellte Nick sich vor, wie sie aus ihrem Rock schlüpfte und die Bluse auszog. Er versuchte krampfhaft, an etwas anderes zu denken. Erin verschwand hinter der Tür, auf die er gedeutet hatte. Sie ließ einen Hauch ihres exotischen Dufts hinter sich zurück, und Nick atmete tief ein.

Erins Hände zitterten, als sie sich umzog. Der Anblick ihrer Dienstwaffe auf dem Stuhl neben ihr erinnerte sie daran, dass sie nach sechs Monaten und vier Bewerbungsgesprächen wieder als Polizistin arbeitete. Eigentlich hätte sie in Hochstimmung sein sollen. Aber in Wirklichkeit hatte sie Angst vor dem, was sie erwartete. Ihr graute vor dem Moment, in dem sie gezwungen sein würde, diese Waffe zu benutzen.

Als sie zur Tür ging, klopfte ihr Herz wie wild. „Du schaffst das“, murmelte sie. Sie durfte sich einfach nicht unterkriegen lassen.

Die Stimme eines Kindes, die aus dem Vorzimmer zu ihr herüberdrang, unterbrach ihre Gedanken. Neugierig trat sie auf den Flur hinaus. Ein kleines strohblondes Mädchen saß an Hectors Schreibtisch und holte gerade ein Malbuch aus ihrer Tasche. Erin schätzte die Kleine auf höchstens acht oder neun, doch ihre Augen wirkten erstaunlich erwachsen.

Nick hatte sein Büro verlassen und ging auf das Mädchen zu. „Warum bist du nicht in der Schule, Süße?“

Das Kind zuckte die Achseln. „Ich wollte heute Streife mit dir fahren.“

„Heute ist ein Schultag.“

„Ich will aber heute nicht in die Schule.“

Nick drückte einen Kuss auf die Stirn des Mädchens. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sie liebevoll. „Ich dachte, die Schule macht dir in diesem Jahr Spaß?“

„Mrs. McClellan kann mich nicht leiden.“

„Dich nicht leiden? Das geht doch gar nicht.“ Er fuhr ihr zärtlich mit seiner Hand durchs Haar. „Ich verrate dir jetzt mal ein Geheimnis. Mrs. McClellen hat mir erzählt, dass du ihre Lieblingsschülerin bist.“

Die Kleine blickte düster auf ihr Malbuch, das sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte. „Kann ich nicht ein bisschen hier bleiben? Schau, ich habe mein Malbuch dabei. Ich bin auch ganz leise.“

„Süße, ich würde so gern den Tag mit dir verbringen, aber du kannst nicht schon wieder in der Schule fehlen, und ich muss arbeiten.“ Die Kleine kramte in ihrem Rucksack und zog ein Päckchen Malstifte heraus. „Wer hat dich überhaupt hergebracht?“

Das Mädchen beugte sich vor und warf Erin einen grimmigen Blick zu. „Wer ist die Frau?“

Nick warf einen Blick auf Erin, die in der Tür stand, und wandte sich dann wieder dem Kind zu. „Ihr Name ist Erin. Sie ist mein neuer Hilfssheriff …“

„Das ist ein Jungenname.“

„Steph, ich will wissen, wer dich mitgenommen hat.“

„Niemand.“ Sie suchte sich einen Stift aus und begann zu malen. „Ich bin einfach weg. Mr. Finn hat mich rausgeschickt, weil ich während des Unterrichts mit Kimmy Bunger geredet habe. Also habe ich mich verdrückt.“

Erin beobachtete, wie Nicks Schultern sich anspannten. „Bedeutet das, dich hat kein Erwachsener begleitet? Du bist allein hergekommen?“

„Das ist doch keine große Sache, Daddy. Die Schule ist nur zwei Blocks von hier entfernt.“

„Ich fürchte, die Schule ohne Erlaubnis zu verlassen, ist eine große Sache, Steph. Ist dir klar, dass die Direktorin mich schon wieder zu einem Gespräch bestellen wird?“ Er nahm ihr sanft den Stift aus der Hand und schob den Stuhl zurück, auf dem sie saß.

In diesem Moment bemerkte Erin den Rollstuhl. Sie unterdrückte mühsam einen erschrockenen Aufschrei.

„Du weißt doch, dass du die Schule nicht allein verlassen darfst“, schalt Nick sanft, während er eine Nummer in das Telefon tippte. „Warum hast du deiner Lehrerin nicht gesagt, dass du nach Hause willst? Warum hast du mich nicht angerufen?“

Erin hörte kaum, wie er am Telefon die Schulleiterin verlangte. Sie stand wie angewurzelt da und sagte sich immer wieder, dass der Anblick des Rollstuhls ihr nichts ausmachte, dass er keine schrecklichen Erinnerungen wachrief.

Bilder aus der Nacht der Schießerei tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Sie kämpfte gegen die Erinnerung an, doch sie konnte nichts gegen die Panik tun, die ihre Kehle zuschnürte. Danny, der in seinem eigenen Blut auf dem Boden lag. Der Schwindel, der sie erfasste. Der Geruch von Schießpulver.

Das zusammengefaltete Kostüm, das sie in einer Hand hielt, glitt zu Boden. Nick blickte auf und musterte sie misstrauisch. Voller Angst, er könnte ihre Reaktion falsch verstehen, bückte sich Erin, sammelte hastig ihre Kleider auf und verließ den Raum. In der Sicherheit des Flures versuchte sie sich zu beruhigen. Das war ihre erste Panikattacke seit langem. Ein Geruch, ein Geräusch oder ein Bild konnten die Erinnerung in einem Sekundenbruchteil zurückbringen und diese Angstzustände auslösen.

Erin zwang sich gleichmäßig zu atmen. Sie glättete ihre Uniform und beobachtete, wie Nick sich vor seine Tochter kniete, um ihr den Schuh zu binden. Das kleine Mädchen trug einen rosa Pullover, eine Hose in derselben Farbe und gepunktete Turnschuhe. Es war ein fröhliches Outfit, genau richtig, um auf Bäume zu klettern und Seil zu springen. Doch Erin sah dem Mädchen an, dass es nicht glücklich war. In diesem Rollstuhl saß sie mit Sicherheit nicht vorübergehend.

„Pack deine Bücher und Stifte zusammen, Kleines“, forderte Nick sie auf. „Ich werde dich nach Hause bringen.“

„Ich will aber nicht nach Hause.“

„Entweder in die Schule oder nach Hause“, sagte Nick streng. „Du hast die Wahl.“

„Bitte, Daddy, ich will bei dir bleiben.“

Erin sah, wie schmerzlich es für Nick war hart zu bleiben. „Pack deine Sachen in den Rucksack, Liebes. Ich bring dich nach Hause.“

Beleidigt feuerte das Mädchen ihre Stifte einen nach dem anderen in die Schulmappe.

Erin hatte nicht einmal gewusst, dass Nick Ryan eine Familie hatte. Er trug keinen Ring, und deshalb hatte sie angenommen, dass er unverheiratet war. Dass sein Kind behindert war, berührte sie zutiefst. Ein dumpfer Schmerz erfüllte sie bei dem Gedanken an einen anderen Rollstuhl und an den Mann, der ihretwegen daran gefesselt war.

„McNeal.“

Der Klang von Nicks Stimme ließ Erin zusammenfahren. Sie begegnete seinem eisigen Blick.

„In meinem Büro“, sagte er kalt.

Wie benommen ging Erin an ihm vorbei und betrat sein Büro. Oh Gott, hätte ich beim Anblick des Rollstuhls nur nicht so reagiert, dachte sie verzweifelt. Was wird er jetzt von mir denken?

Nick folgte ihr und schloss die Tür. Seine Augen funkelten böse, als er sich ihr zuwandte. „Wenn der Rollstuhl Ihnen Probleme macht, dann sollten Sie auf dem schnellsten Weg zurück nach Chicago fahren und vergessen, dass Sie je einen Fuß nach Logan Falls gesetzt haben“, fuhr er sie an.

„Aber …“

„Sie sehen aus, als hätten Sie gerade einen Geist gesehen. Wollen Sie jedes Mal hysterisch werden, wenn Sie meiner Tochter begegnen?“

Erin räusperte sich. Ihr Herz pochte wie wild, und sie fühlte sich schwindlig. „Es tut mir leid. Ich war … verwirrt …“

„Sie waren kurz vor einem Zusammenbruch“, unterbrach er sie.

„Ich … ich dachte nur …“

„Woran?“

„Ich dachte an … Danny“, sagte sie. Sie wusste, dass sie ihm nichts von den Panikattacken erzählen durfte, wenn sie ihren Job behalten wollte.

„Was hat er damit zu tun?“

„Er … er sitzt im Rollstuhl. Und ich bin schuld daran. Ich habe das zu verantworten.“

Mit Rücksicht auf seine Tochter fluchte Nick für gewöhnlich nicht, aber heute machte er eine Ausnahme. Erins Erklärung machte ihn sprachlos. Er war daran gewöhnt, dass viele Leute negativ auf Stephanies Rollstuhl reagierten oder nicht wussten, wie sie sich einem gehbehinderten Kind gegenüber verhalten sollten. Oft war es nur Hilflosigkeit, doch Nick konnte sehen, wie sehr seine Tochter darunter litt. Oft genug war sie in Tränen ausgebrochen, wenn sie von den anderen Kindern gehänselt wurde, und Nick hatte sich unzählige Male gewünscht, er könnte an ihrer Stelle im Rollstuhl sitzen.

Irgendwie hatte er erwartet, dass Erin sich anders verhalten würde. Immerhin war sie Polizistin und hatte während ihrer Laufbahn eine Menge erlebt. Er hatte gehofft, sie würde lockerer mit der Behinderung seiner Tochter umgehen. Und jetzt begriff er, dass ihre Reaktion nichts mit Charakterschwäche zu tun hatte, sondern mit ihrem eigenen traumatischen Erlebnis.

Verdammt, dachte er, ich habe aber keine Lust, mich mit ihren Problemen zu beschäftigen.

„Es war ein Fehler von mir, Ihnen nicht zu sagen, dass die Sache mit Danny mich immer noch belastet“, gab Erin zu.

„Frank hielt das nicht für erwähnenswert“, sagte er trocken. „Also, warum hätten Sie es mir erzählen sollen?“

„Frank gibt mir nicht die Schuld. Für ihn ist das Thema durch.“

„Er hat doch nicht etwa Ihre Akte manipuliert, oder?“

„So etwas würde er nie tun.“

„Sie wurden offiziell rehabilitiert?“

„Ja.“

Nick gefiel die Sache nicht. Offensichtlich war diese Frau von ihrer Abteilung freigesprochen worden, doch sie wurde immer noch von Schuldgefühlen gequält.

„Die Polizei ist nicht der geeignete Platz, um persönliche Probleme auszutragen“, bemerkte er. „Nicht einmal in Logan Falls.“

„Ich bin dabei, meine Probleme zu verarbeiten.“

Sogar von seiner sicheren Entfernung aus konnte er sehen, wie sie zitterte. Was um alles in der Welt war mit dieser Frau los? Was hatte Frank ihm da eingebrockt?

„Ich hoffe, Sie bereuen es jetzt nicht, mich eingestellt zu haben“, sagte Erin.

„Wie sollen wir zusammenarbeiten, wenn Sie den Anblick eines Rollstuhls nicht ertragen?“

„Ich komme klar damit.“

„Sicher?“

„Ich … ich war nur nicht darauf vorbereitet. Ich wollte ihre Tochter nicht verletzen.“

„Ich glaube nicht, dass sie es bemerkt hat. Aber sie ist sensibel in Bezug auf ihre Behinderung. Ich möchte nicht, dass so etwas noch mal passiert.“

„Das wird es nicht.“ In Erins Augen lag tiefes Schuldbewusstsein. „Ich habe überreagiert. Es tut mir leid.“

„Wir haben jetzt keine Zeit, das auszudiskutieren“, sagte Nick. „Aber Sie schulden mir eine ausführlichere Erklärung.“

Sie seufzte kaum hörbar. „Ich weiß.“

Er warf einen schnellen Blick zur Tür, hinter der Stephanie wartete. Er war seiner Tochter gegenüber schon immer sehr fürsorglich gewesen, besonders seit dem Autounfall vor drei Jahren, bei dem Stephanies Mutter ums Leben gekommen war und sie eine Rückenverletzung davongetragen hatte. In letzter Zeit hatte seine Sorge um sie fast krankhafte Züge angenommen. Nick wusste das, doch er konnte nichts dagegen tun.

„Ich muss sie jetzt heimbringen“, sagte er. „Sie können mitfahren. Dann beginnen wir unsere Schicht und haben Zeit zum Reden.“

„Hören Sie, Nick, ich bin eine gute Polizistin …“

„Das steht hier gar nicht zur Debatte. Die Frage ist, ob Sie schon so weit sind, wieder in diesem Job zu arbeiten.“

„Das bin ich“, sagte sie heftig.

Er betrachtete sie nachdenklich und versuchte nicht zu bemerken, wie ihr rotes Haar in der Sonne glänzte. Die Tatsache, dass sie eine Frau war, machte alles so verdammt kompliziert.

„Ich hoffe, Sie haben recht“, sagte er nur und ging an ihr vorbei zur Tür.

Erin beobachtete, wie Nick seine Tochter aus dem Rollstuhl hob und auf den Rücksitz seines Wagens setzte. Er schwieg hartnäckig, während er den Rollstuhl zusammenklappte und im Kofferraum verstaute. Dann stieg er ein und startete den Motor.

Erin lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und richtete den Blick aus dem Fenster. Sie hatte sich idiotisch benommen, aber es war nicht mehr zu ändern. Wenn sie in den letzten Monaten eines gelernt hatte, dann dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann. Auf einen Fehler mehr oder weniger kam es ohnehin nicht mehr an.

Sie atmete tief durch und versuchte sich auf die Landschaft zu konzentrieren, Erin hatte nie zuvor in einer Kleinstadt gelebt, doch Logan Falls hatte ihr auf den ersten Blick gefallen. Das Städtchen, eine typische Kleinstadt des Mittleren Westens, war von endlosen Maisfeldern und grünen Weiden mit malerischen Bauernhöfen umgeben. Kopfsteinpflaster und Backsteinfassaden dominierten das Erscheinungsbild der Innenstadt. Ein silbriger Glockenturm zierte die Spitze des Rathauses. In der Mitte des Marktplatzes plätscherte ein Brunnen. Eine Schule aus rotem Backstein, umrahmt von Ahornbäumen und stämmigen Eichen, trennte den Innenstadtbereich von einem gepflegten Wohngebiet.

Schweigend lenkte Nick den Wagen in eine ländlichere Gegend. Das einzige Geräusch, das gelegentlich die Stille durchbrach, war das Knacken des Polizeifunks. Auf dem Rücksitz kauerte Stephanie und blickte missmutig aus dem Fenster.

„Mrs. Thornsberry scheint zu Hause zu sein“, sagte Nick plötzlich.

Sie bogen in eine mit Kies bedeckte Auffahrt ein. Vor ihnen lag ein weißes Holzhaus mit schwarzen Fensterläden und einer großen Veranda. Erin war überrascht zu sehen, wie Nick Ryan lebte. Dieses Haus schien ein glücklicher Ort zu sein, an dem Kinder spielten und Grillpartys gefeiert wurden. Bei näherem Hinsehen bemerkte Erin jedoch Anzeichen, dass hier seit längerem keine Kinder mehr gespielt hatten. Eine Kinderschaukel stand verlassen im wild wuchernden Gras. Ein Basketballkorb, der über der Garage hing, zeigte Spuren von Rost, und das gerissene Netz flatterte traurig im Wind.

Erin lächelte, als sie das Pferd bemerkte, das hinterm Zaun graste. „Wem gehört das?“, fragte sie, in der Hoffnung, Stephanie zum Sprechen zu bewegen.

„Das ist Bandito“, erwiderte das kleine Mädchen. „Er ist ein Apaloosa.“

„Er ist sehr schön“, sagte Erin bewundernd. „Reitest du?“

„Früher schon.“ Stephanie seufzte. „Aber jetzt nicht mehr.“

„Warum nicht?“

Ein verächtliches Schnauben war die Antwort. „Als ob Sie nicht gesehen hätten, was mit meinen Beinen los ist.“

Erin drehte sich zu ihr um und lächelte. „Hast du schon mal von einer Reittherapie gehört?“

Das Mädchen musterte sie mit großen intelligenten Augen, die weit mehr Interesse verrieten als ihre Antworten. „Nein.“

„Bei so einer Therapie werden die Muskeln gehbehinderter Kinder durchs Reiten aufgebaut. Und sie haben eine Menge Spaß dabei.“

„Mein Vater sagt, wir werden Bandito in den Ruhestand schicken.“

Erin warf Nick einen vorsichtigen Blick zu. „Haben Sie mit Ihrem Arzt darüber …“

„Steph konzentriert sich den größten Teil ihrer Zeit auf die Physiotherapie, nicht wahr, Zuckermaus?“ Er lächelte ihr im Rückspiegel zu.

„Ja, aber trotzdem vermisse ich Bandito“, sagte sie.

Erin entschied, dass es Zeit für einen Themenwechsel war. „Nun ja, Steph, da du nicht mehr reitest, vielleicht könntest du ihn mir in den nächsten Tagen mal vorstellen?“

„Bandito mag keine Fremden“, entgegnete das Kind abweisend.

„Das reicht, Steph“, sagte Nick und parkte den Wagen. „Hilfssheriff McNeal wollte nur freundlich sein.“

„Sie stellt lauter dumme Fragen.“

Indem er den Motor abstellte und ausstieg, beendete Nick das Gespräch. Erin wünschte, sie hätte es nie begonnen. Sie stieg aus und sah zu, wie Nick seine Tochter in den Rollstuhl hob.

„Ich werde draußen warten“, sagte Erin schnell, als er in Richtung Haus ging.

Nick hielt inne und runzelte die Stirn. „Sie können ebenso gut mit reinkommen. Mrs. Thornsberry wird sich freuen.“

„Mrs. Thornsberry?“

„Stephanies Kindermädchen.“

„Oh.“ Verlegen folgte Erin ihm und Stephanie zum Haus. Zwischen Chicago und Logan Falls lagen offensichtlich Welten.

Die Vordertür wurde geöffnet, und eine kleine mollige Frau mit grauen Haaren und Brille erschien im Türrahmen. „Nick? Stephanie? Was tut Ihr denn hier um diese Zeit?“ Ihr Blick fiel auf Erin. „Haben wir einen Gast?“

„Das ist Hilfssheriff McNeal.“ Nick sah Erin an. „Das ist Mrs. Thornsberry.“

Erin war erleichtert darüber, dass es offenbar eine starke Frau in Stephanies und Nicks Leben gab. Mrs. Thornsberry war mindestens siebzig, doch Erin sah sofort, dass sie mehr als rüstig für ihr Alter war. Die kleine Frau wirkte wie eine Mischung aus liebevoller Großmutter und strengem Feldwebel.

„Ich freue mich, Sie kennen zu lernen“, sagte Erin aufrichtig.

„Willkommen in Logan Falls.“ Die alte Dame musterte sie eingehend. Dann richtete sie ihren Blick auf Stephanie und legte die Stirn in Falten. „Warum bist du nicht in der Schule, junge Dame?“

Das Mädchen hielt den Blick gesenkt.

Nick legte seine Hand auf ihre Schulter. „Sie hat mich auf dem Revier besucht und wollte mit mir Streife fahren.“

„Wohl eher die Schule schwänzen.“ Obwohl Mrs. Thornsberrys Stimme streng klang, entging Erin nicht das tiefe Verständnis, das darin mitschwang. Die alte Dame öffnete die Tür weit und ging zurück ins Haus. „Würden Sie Stephs Schultasche mit hereinbringen?“, rief sie Erin über ihre Schulter zu.

Erin griff nach der Tasche, die auf Stephs Schoß lag.

Nick schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. „Ich glaube, Sie haben die Prüfung bestanden.“

„Ist das schwer?“

„Nun, bei Hector hat es länger gedauert.“

Als sie das Haus betraten, empfingen sie der würzige Geruch von frisch zubereitetem Essen und der Klang von Frank Sinatras sanfter Stimme.

„Stephanie, ich nehme an, du hast Hausaufgaben zu machen“, sagte Mrs. Thornsberry und wandte sich zu Nick. „Soll ich diesmal die Direktorin anrufen oder wollen Sie das tun?“

Nick verzog das Gesicht. „Das habe ich schon erledigt.“

„Bringen Sie sie in die Schule zurück?“, fragte die Kinderfrau.

„Sie möchte heute zu Hause bleiben“, sagte er.

„Sie hat schon ziemlich viel versäumt in diesem Schuljahr.“

„Ich werde dafür sorgen, dass sie den Stoff aufholt, Em.“

Mrs. Thornsberry nickte und wandte sich zu Erin. „Möchten Sie einen Kaffee?“

„Wir können nicht bleiben“, wandte Nick ein.

„Papperlapapp, ich habe gerade eine schöne frische Kanne gekocht.“

„Ich habe keine Hausaufgaben“, beschwerte sich Stephanie.

Mrs. Thornsberry schnalzte mit der Zunge. „Warum gehst du dann nicht auf dein Zimmer und schreibst mir einen Brief, in dem du erklärst, warum du schon wieder einfach so die Schule verlassen hast?“

Stephanie verdrehte die Augen.

„Ich bringe dir gleich ein paar Kekse und Milch“, versprach Mrs. Thornsberry. „Nehmen Sie Milch in Ihren Kaffee, Hilfssheriff McNeal?“

„Nennen Sie mich Erin. Ja, bitte. Vielen Dank.“

Stephanie drehte ihren Rollstuhl und bewegte sich in den Flur. Gerührt beobachtete Erin, wie Nick ihr folgte, sich zu ihr herunterbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. „Hör auf Mrs. Thornsberry, ja?“, flüsterte er. „Ich werde zum Abendessen da sein.“

Das Mädchen schaute ihn aus traurigen Augen an. „Bringst du mir heute Abend Schachspielen bei?“

„Das kannst du doch schon.“ Er berührte zärtlich ihre Wange. „Du hast mich letztes Mal vom Brett gefegt.“

Sie grinste. „Ich lasse dich auch gewinnen.“

„Abgemacht.“ Nick streckte ihr seine Hand entgegen, und Stephanie schlug ein.

Erin fühlte sich wie ein Eindringling, der einen äußerst privaten Moment zwischen zwei Menschen störte, doch sie konnte ihren Blick nicht von den beiden abwenden. Es gelang ihr nicht, den grimmigen Polizisten, der sie vor gerade mal einer halben Stunde noch ausgescholten hatte, mit diesem zärtlichen Vater in Einklang zu bringen.

Sie war in Gedanken versunken, als Stephanie schließlich den Rollstuhl in ihr Zimmer lenkte und Nick sich zu ihr umdrehte. Wärme erfüllte sie, als sie seinen Blick bemerkte. Für einen Moment glaubte sie, noch nie so viel Traurigkeit in den Augen eines Mannes gesehen zu haben.

„Tut mir leid wegen Ihres verpatzten Dienstbeginns“, sagte er.

„Das macht doch nichts“, entgegnete sie beschwichtigend.

„Ich sollte Sie gleich vorwarnen, dass die meisten meiner Hilfssheriffs Stephanie schon mal irgendwo aufgelesen haben.“ Er seufzte. „Sie schwänzt leider öfter die Schule. Meistens bin ich in der Nähe. Aber wenn nicht, erwarte ich von dem jeweiligen Diensthabenden, dass er sie nach Hause fährt.“

„Das mache ich gern.“

„Steph ist ein gutes Kind. Sie macht nur gerade eine schwierige Phase durch.“

„Wie alt ist sie?“

„Sie wird am Sonntag neun.“

Erin hatte keine Ahnung, was ein neunjähriges Mädchen sich zum Geburtstag wünschte, aber sie nahm sich vor, auf jeden Fall etwas für sie zu besorgen.

„Wie lange schwänzt sie schon die Schule?“

„Seit ungefähr einem Jahr.“

Erin fiel ein, dass sie keinen Ring an Nicks Finger gesehen hatte. „Eine Scheidung ist immer schlimm für Kinder, aber sie sind stärker als man glaubt“, bemerkte sie.

Ein Muskel in Nicks Gesicht zuckte. „Ich bin Witwer.“

Erin erschrak über ihren Fehler. „Es tut mir leid … Ich wusste nicht …“, stammelte sie.

„Sie sind nicht die Erste, der das passiert. Ich bin das gewöhnt.“

Eine Welle des Mitleids für Stephanie erfüllte Erin. Wie schrecklich musste es sein, ohne Mutter aufzuwachsen.

„Hier ist Ihr Kaffee.“

Erin war erleichtert, als sie Mrs. Thornsberry mit einem Tablett aus der Küche kommen sah. Der Kaffee duftete himmlisch.

„Danke“, sagte Erin und nahm ihre Tasse entgegen.

„Haben Sie Erin schon zu Stephanies Geburtstagsparty am Sonntag eingeladen?“, fragte die alte Dame.

Nick warf ihr einen warnenden Blick zu. „Nein.“

Erin schluckte, aber nach ihrer albernen Reaktion auf den Rollstuhl konnte sie seine Ablehnung nur zu gut verstehen. Sie beschloss, die Sache nicht persönlich zu nehmen.

„Ich werde wahrscheinlich sowieso mit Auspacken beschäftigt sein …“, begann sie.

„Unsinn“, widersprach Mrs. Thornsberry. „Es wird eine gute Gelegenheit für Sie sein, Stephanie und Nick kennen zu lernen. Hector wird auch kommen. Wir würden uns freuen, wenn Sie die Einladung annehmen.“

„Sie hat am Wochenende Dienst, Em“, unterbrach sie Nick.

Mrs. Thornsberry würdigte ihn keines Blickes. „Nun ja, dann können Sie vielleicht nach Ihrer Schicht auf ein Stück Kuchen vorbeischauen.“

In diesem Moment klingelte Nicks Handy. Er murmelte eine knappe Entschuldigung und meldete sich.

„Wann?“, fragte er kurz darauf.

Sein Ton erweckte Erins Aufmerksamkeit, und sie setzte ihre Tasse ab.

„Ich bin sofort da.“ Nick ließ das Handy in seiner Tasche verschwinden und wandte sich zu Erin. „Ein Notruf.“

3. KAPITEL

Nick sprintete zum Wagen und riss die Fahrertür auf. Kaum war er eingestiegen, schaltete er das Funkmikrofon ein. „Wie ist die Lage?“

Sein Blick fiel auf Erin, die neben ihn auf den Beifahrersitz geschlüpft war, und er bemerkte, dass sich einige Haarsträhnen aus ihrem festen Knoten gelöst hatten. Verdammt, wieso ließ er sich von so etwas ablenken, wenn er sich auf die Stimme konzentrieren musste, die übers Mikrofon kam?

„Ein Raubüberfall im Brass Rail Saloon. Jetzt gerade im Gange.“

„Das zweite Mal in zwei Wochen. Wer hat den Vorfall gemeldet?“

„Ein Passant hat beobachtet, wie ein weißer Mann in einem blauen Hemd die Vordertür eingetreten hat.“

„Wie raffiniert“, bemerkte Nick ironisch. Er startete den Wagen und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. „Informieren Sie sofort die Hauptdienststelle“, bellte er ins Mikro. „Hector soll auch hinkommen. Keiner betritt das Gebäude. Ich bin unterwegs.“

Als sie auf den Highway fuhren, schaltete er die Blinkanlage an, aber keine Sirene. Dann ging er aufs Gas.

„Jugenddelikte?“, fragte Erin. „Familienstreitigkeiten?“

Er beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sie ihren Sicherheitsgurt anlegte. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen hellwach. Sie sah erregt aus. Er war sich nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war.

„Das Gleiche ist letzte Woche passiert. Derselbe Ort“, informierte er sie. „Patrick bringt seine Einnahmen nicht so oft wie er sollte zur Bank. Er hat über zweitausend Dollar verloren. Der Täter war bewaffnet.“

„Werden wir reingehen?“, fragte Erin.

„Ich werde die Situation abwägen.“

„Sie könnten über alle Berge sein, bis …“

„Ich werde reingehen, wenn ich es für geboten halte.“

„Ich werde Ihnen Deckung geben.“

„Ich will, dass Sie im Wagen bleiben.“ Er lenkte den Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in eine Kurve. „Ich will kein Risiko eingehen. Keine Verletzten.“

„Sie brauchen vielleicht Rückendeckung …“

„Sie sind hier nicht in Chicago, McNeal.“

„Gerade sagten Sie noch was von einem bewaffneten Raubüberfall in Logan Falls.“

Er warf ihr einen wütenden Blick zu. „Wenn Sie sich etwas beweisen wollen, McNeal, dann tun Sie das gefälligst woanders.“

„Es wird Sie vielleicht überraschen, aber ich weiß, was ich tue.“

„Warum beweisen Sie mir das nicht, indem Sie sich an meine Befehle halten?“

Nick fuhr bei Rot über die Ampel. Der Brass Rail Saloon befand sich am Ende des Blocks. Er parkte den Wagen in einiger Entfernung in einer Nebenstraße. Staub wirbelte auf, als das Auto zum Stehen kam.

„Sie verhalten sich ruhig, McNeal“, befahl er. Dann zog er den Revolver aus seinem Halfter, öffnete die Tür und verließ den Wagen ohne ein weiteres Wort.

Erin beobachtete, wie Nick über den Parkplatz auf den Hintereingang der Bar zu rannte. Ihr Pulsschlag war noch immer beschleunigt, und sie kämpfte gegen die Welle der Enttäuschung an, die sie überrollte.

Wenn Sie sich etwas beweisen wollen, dann tun Sie das gefälligst woanders.

Dass er ihr befohlen hatte im Wagen zu bleiben, traf sie tief. Er hatte vorschnell über sie geurteilt. Schließlich kannte er sie kaum, und dass sie keine Angst vor einer Konfrontation hatte, bedeutete noch lange nicht, dass sie übereifrig war. Zugegeben, sie liebte den Nervenkitzel und das Adrenalin, aber letztendlich ging es ihr nur darum, ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen. Sie brauchte sich nichts zu beweisen – und Nick Ryan schon gar nicht.

Als Nick außer Sichtweite war, lehnte sie sich frustriert in ihrem Sitz zurück. „Einfach toll“, murmelte sie wütend.

Plötzlich sah sie im Rückspiegel, wie ein Wagen direkt vor dem Vordereingang der Bar anhielt. Es war kein Polizeiauto, sondern ein alter klappriger Ford. Atemlos beobachtete Erin, wie der Fahrer ausstieg und sich umschaute. Er war groß wie ein Schrank, und sein Äußeres wirkte schäbig und ungepflegt. Erin war sofort in Alarmbereitschaft, als sie bemerkte, dass aus seinem Gürtel der Griff einer Pistole hervorschaute.

Erin kannte alle Facetten der Furcht, und sie wusste, weshalb ihre Hände zitterten und ihr Blut pulsierte. Sekundenschnell entschied sie, dass sie definitiv nicht im Auto sitzen bleiben würde, während ein bewaffneter Verdächtiger sich ihr auf dem Silbertablett präsentierte. Sie zog ihren Revolver aus dem Halfter, öffnete die Tür und glitt lautlos hinaus.

Adrenalin durchströmte sie, als sie auf das Gebäude zu rannte und sich flach gegen die Backsteinmauer drückte. Abgesehen von dem alten Ford und seinem Fahrer war der Parkplatz vor dem Gebäude leer. Nick war nirgends zu sehen.

Sie bewegte sich langsam vorwärts, den Rücken gegen die Wand, und spürte wie ihr der Schweiß ausbrach. Die Waffe in ihrer Hand fühlte sich schwer an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie kämpfte gegen die unerwünschten Erinnerungen an, doch das Bild von Danny, hilflos am Boden liegend, ließ sie nicht los. Erin atmete tief durch und unterdrückte diese Erinnerung energisch. Nur nicht die Nerven verlieren. Nicht jetzt! Sie konnte Nick nicht im Stich lassen, so wie Danny.

Erin konnte sehen, wie jemand die Vordertür öffnete und heraustrat. Es war ein zweiter Mann, der eine braune Papiertüte in der Hand trug. Erin fragte sich, ob Nicks Befehl wohl einschloss, zwei Verdächtige entkommen zu lassen. Sie fühlte sich selbst nicht gerade behaglich bei dem Gedanken, es allein und ohne Rückendeckung mit zwei bewaffneten Verbrechern aufzunehmen. Dazu kam, dass sie noch nicht einmal Handschellen hatte. Trotzdem! Sie konnte nicht einfach mit ansehen, wie diese Männer sich mit einer Tüte voller Bargeld aus dem Staub machten. Sie musste sie irgendwie aufhalten.

Ohne weiter nachzudenken trat Erin aus ihrem Versteck. „Polizei!“, rief sie. „Lassen Sie Ihre Waffen fallen.“

Die Männer, die gerade ins Auto steigen wollten, fuhren herum. Der Fahrer fluchte nur und machte keine Anstalten, sich seiner Waffe zu entledigen.

„Fallen lassen!“, befahl Erin scharf. „Sofort!“

„Sie machen einen Fehler“, bemerkte der Fahrer schnodderig und warf seine Waffe auf den Kiesweg.

„Hände nach oben“, fuhr Erin ihn an. „Und jetzt flach auf den Boden legen. Mit dem Gesicht nach unten. Wird’s bald!“

Der Mann fluchte, doch er tat, was Erin ihm befohlen hatte.

Sie wandte sich zu seinem Komplizen. „Sie auch. Auf den Boden.“

Der Mann grinste spöttisch. „Und wenn nicht? Was werden Sie dann tun, kleine Polizistin?“

„Lassen Sie es besser nicht darauf ankommen“, entgegnete sie drohend.

Er wandte den Blick nicht von ihr ab und legte sich betont langsam auf den Boden.

Erleichtert senkte Erin ihre Waffe und trat einen Schritt zurück. Wo zum Teufel steckte Nick? Wo waren die Hilfssheriffs? Wo blieb Hector? Ohne Verstärkung war sie aufgeschmissen. Sie konnte nur beten, dass die Männer sich ruhig verhielten und keine Dummheiten machten. Erin unterdrückte einen Kraftausdruck und warf einen schnellen Blick über ihre Schulter.

Fast im selben Moment fühlte sie, wie ein harter Körper gegen sie prallte. Sie verlor das Gleichgewicht. Kaltes Entsetzen erfasste sie, als sie begriff, was geschehen war. Der zweite Mann! Sein Gewicht riss sie zu Boden, und ihr Kopf schlug so fest auf dem Kiesweg auf, dass Sternchen vor ihren Augen tanzten. Tausend Gedanken schossen durch ihren Kopf. Was, wenn er ihre Waffe zu fassen bekam? Was, wenn Nick gleich um die Ecke bog und … Nein, das durfte nicht geschehen. Der Gedanke, dass ein weiterer Polizist durch ihre Schuld zu Schaden kommen könnte, spornte Erin zum Kampf an.

Sie wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Angreifer, der immer wieder versuchte, an ihre Waffe zu gelangen. Sie hielt die Pistole fest umklammert, während sie versuchte ihn abzuwehren. Schließlich gelang es ihr sich freizukämpfen. Mit einem Satz stand sie auf ihren Füßen, und ehe der Mann sich aufrichten konnte, zielte sie bereits mit ihrer Pistole auf ihn. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Fahrer des Fords sich aufrichtete.

In diesem Moment ertönte Nicks Stimme. „Polizei. Keine Bewegung, oder ich schieße.“

Beide Männer erstarrten. Erins Angreifer hob die Hände. Sekundenlang funkelte er Erin an.

„Auf den Boden!“ Nicks eisige Stimme durchschnitt die Stille wie ein Messer.

Erins Knie zitterten, doch ein wohliges Gefühl der Erleichterung durchströmte sie. Sie wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und warf einen Blick über ihre Schulter. Nick stand kaum zehn Fuß von ihr entfernt und richtete seine Waffe auf ihren Angreifer. Er wurde von Hector und zwei seiner Hilfssheriffs flankiert.

„Wir übernehmen jetzt, McNeal“, knurrte Nick.

Erin, die noch immer zitterte, wandte sich ab und steckte ihre Waffe zurück ins Halfter. Sie hörte das Klicken von Handschellen. Jemand las den Verdächtigen ihre Rechte vor. Erin fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Vielleicht war es albern, aber sie wollte auf keinen Fall, dass Nick sah, wie sie sich übergeben musste. Also machte sie sich schnell auf den Weg zurück zum Auto.

„McNeal.“

Seine Stimme klang so ärgerlich, dass sie zusammenzuckte. Doch welchen Grund sollte er haben, wütend auf sie zu sein? Sie hatte nicht nur zwei Verdächtige dingfest gemacht, sondern ihm vielleicht sogar ganz nebenbei den Hals gerettet.

„Gleich, Sheriff.“ Ihre Stimme klang unsicher.

„Jetzt, McNeal.“

Seufzend blieb Erin stehen, doch sie drehte sich nicht um. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie hörte, wie Nick sich ihr von hinten näherte. Warum konnte er ihr nicht einen Moment Zeit geben, um sich zu sammeln?

Wie in Zeitlupe drehte sie sich um. „Sie sehen nicht so aus, als wollten Sie mir danken“, sagte sie.

„Sind Sie verletzt?“

„Ich bin okay.“

Er blieb einen knappen Meter vor ihr stehen. Sein Blick sagte ihr, dass er vorhatte, ihr gehörig die Leviten zu lesen.

„Gut“, bellte er. „Denn Sie haben genau zwei Minuten, um mir zu erklären, was zum Teufel Sie sich dabei gedacht haben.“

Nick war sich nicht sicher, ob er sie auf der Stelle erwürgen oder ob er sie umarmen sollte dafür, dass sie zwei bewaffnete Verdächtige auf eigene Faust zur Strecke gebracht hatte. Er sah, dass sie erschöpft, verletzlich und zugleich zäh aussah. Und zu allem Überfluss sah sie auch noch verdammt gut aus in ihrer blauen Uniform, mit ihren geröteten Wangen und dem zerzausten rotbraunen Haar, dessen seidige Strähnen sich aus der Frisur gelöst hatten.

„Sie sollten im Wagen bleiben und nicht Rambo spielen“, sagte er.

„Hätte ich die beiden etwa nur wegen eines Befehls entkommen lassen sollen? Tut mir leid, wenn Sie das anders sehen, Sheriff, aber so funktioniere ich nun mal nicht.“

„Sie sind noch in Ihrer Probezeit, McNeal. Bis jetzt haben Sie nicht mal Ihre Formulare ausgefüllt. Ist es da nicht etwas verfrüht, sich auf Verdächtige zu stürzen?“

„Ich habe Ihnen geholfen.“

„Sie haben meine Anordnungen missachtet.“

„Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, konterte sie. „Wo zum Teufel waren Sie überhaupt?“

„Ich war beschäftigt mit dem Kerl auf der Rückseite des Gebäudes und hatte leider keine Zeit, Babysitter zu spielen.“

Zorn flackerte in ihren Augen auf. „Ich bin eine erfahrene Polizistin.“

„Sie sind eine tickende Zeitbombe.“

Sie zuckte fast unmerklich zusammen. Nick wusste, dass er einen Nerv getroffen hatte. „Ich werde nicht zulassen, dass Sie sich selbst und andere in Lebensgefahr bringen, nur weil Sie sich unbedingt etwas beweisen wollen.“

„Vielleicht wäre es Ihnen lieber gewesen, Steph hätte da drinnen auch noch den zweiten Elternteil verloren!“

Die Worte trafen ihn wie ein Messerstich. Unwillkürlich wich Nick zurück. Er versuchte, sich vor ihr nichts anmerken zu lassen. Sie sollte nicht wissen, wie die Schuldgefühle ihn übermannten, wann immer er seine Tochter im Rollstuhl sah.

„Fordern Sie mich nicht heraus, McNeal“, warnte er sie. „Sie werden verlieren.“

Sie blinzelte. „Es tut mir leid. Das war unpassend …“

„Frank hat mich vor Ihrem berüchtigten Killerinstinkt gewarnt.“

„Ich wollte wirklich nicht …“

„Oh doch, das wollten Sie. Verderben Sie jetzt nicht die Wirkung, indem Sie Ihre Worte zurücknehmen. Treten Sie lieber noch mal zu, McNeal. Das ist doch Ihr Stil, oder?“

„Sie haben nicht die geringste Ahnung von meinem Stil.“

Er spürte, dass er seinen Zorn nicht unter Kontrolle hatte. Diese Frau trieb ihn zum Wahnsinn mit ihrer provozierenden Art.

„Sie bewegen sich doch gern nah am Abgrund, nicht wahr, McNeal?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

„Haben Sie vielleicht eine unbewusste Todessehnsucht oder so etwas in der Art?“

„Das ist doch lächerlich.“

„Hängt es vielleicht mit dem zusammen, was auch immer Sie in der Lage hätten tun sollen und nicht getan haben?“

Sie erstarrte. „Gehen Sie zur Hölle.“

Bevor sie begriff, was er tat, nahm er ihren Arm und führte sie zum Truck, weg von den neugierigen Blicken der Hilfssheriffs und der Gruppe Schaulustiger, die sich vor der Bar versammelt hatte.

„Sie waren nicht ehrlich zu mir“, sagte er.

„Ich habe Sie nie belogen.“

„Lassen Sie die Haarspalterei. Schlimm genug, dass Sie die Schießerei noch nicht verarbeitet haben. Aber Ihre Risikobereitschaft stellt eine echte Gefahr da.“

„Sie reagieren übertrieben …“

„Ich reagiere immer übertrieben, wenn mich jemand anlügt. Es bringt mich auf die Palme.“

„Ich habe gehandelt wie eine Polizistin, Nick.“

„Ach ja? Haben Sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass wir keine Verstärkung hatten? Oder Handschellen? Dass der Verdächtige noch eine zweite Waffe unter seinem Hosenbein hätte versteckt haben können? Dass ein Zivilist hätte verletzt werden können?“

„Natürlich habe ich darüber nachgedacht. Ich habe das alles erwogen.“

Nick hielt an, als sie den Truck erreichten. „Wenn ich Ihnen eine Anweisung gebe, dann erwarte ich, dass sie befolgt wird. Ist das klar?“

„Ich habe zwei gefährliche Verdächtige entwaffnet. Ich habe Ihnen Verstärkung gegeben.“

„Dazu waren Sie aber nicht befugt. Wenn wir zusammen arbeiten sollen, dann muss ich Ihnen vertrauen können, McNeal.“

Sie wollte protestieren, doch sein Blick ließ sie verstummen. Er wusste, dass seine Wut unangemessen war, doch er konnte es nicht ändern. Erin liebte das Risiko, das Adrenalin – das sah er jetzt ganz deutlich. Nach dem, was heute geschehen war, hielt er sie sogar für schlichtweg leichtsinnig. Und seit Ritas Tod hatte er seine Probleme mit Leichtsinnigkeit.

Abrupt ließ er Erins Arm los und trat einen Schritt zurück. Das Ausmaß seiner eigenen Wut erschreckte ihn. „Ich will einen ausführlichen Bericht auf meinem Schreibtisch, und dann will ich, dass Sie Ihre Sachen packen.“

„Was soll das heißen?“

„Sie sind eine kluge Frau. Sie werden schon noch dahinter kommen.“

Sie starrte ihn ungläubig an. „Sie können mich nicht feuern.“

„Das habe ich gerade getan.“

Sie schnappte nach Luft.

„Wenn Sie sich unbedingt selbst umbringen wollen, tun Sie das, ohne mir dabei die Zeit zu stehlen. Ich will damit nichts zu tun haben. Egal wessen Nichte Sie sind.“ Ohne Ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich auf dem Absatz um und ließ sie stehen.

Erin zitterte noch immer, als sie den Schlüssel zu ihrem Apartment im Schloss umdrehte und eintrat. Sie versuchte sich einzureden, dass Nicks Worte sie kalt ließen. Dass sie diesen Job nicht brauchte. Mit Sicherheit konnte sie gut auf Nick Ryan verzichten.

Sie konnte nicht glauben, dass er sie gefeuert hatte!

Er hatte eindeutig überreagiert. Wahrscheinlich kam er nicht damit zurecht, eine Frau in so einem gefährlichen Job zu sehen. Trotzdem fragte Erin sich, ob nicht doch ein winziges Körnchen Wahrheit in seinen Vorwürfen steckte. Vielleicht hatte sie wirklich leichtsinnig gehandelt. Vielleicht waren es wirklich ihre Schuldgefühle, die sie in Gefahr brachten.

Ich werde nicht zulassen, dass Sie sich selbst und andere in Lebensgefahr bringen, nur weil Sie sich unbedingt etwas beweisen wollen.

Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider, als sie ihre Wohnung betrat und die Tür hinter sich zumachte. Erin schloss die Augen und lehnte sich gegen den Türrahmen. Sie brauchte sich nichts zu beweisen. Es gab nichts, wofür sie sich schuldig fühlen musste. Zum Teufel mit Nick Ryan und seiner verdammten Amateurpsychologie.

Sie ignorierte die halb vollen Umzugskartons, die überall herumstanden, und den Schmerz, den Nicks Worte in ihr verursacht hatten.

Was sie jetzt brauchte, war ein Aspirin und ein heißes Bad. Und morgen würde sie packen und alle ihre Habseligkeiten wieder zurück nach Chicago transportieren.

Vorsichtig zog sie sich aus. Ihr ganzer Körper schmerzte, und sie hatte überall Schürfwunden und blaue Flecken von ihrem Sturz auf dem Kiesweg und dem anschließenden Kampf mit dem Gangster. Vom rechten Ellbogen bis zur Schulter zog sich ein langer blutiger Kratzer, der nicht so leicht verheilen würde.

„Geschieht dir ganz recht, McNeal“, murmelte sie. „Noch eine Narbe.“

Vielleicht würde Nick ihren Einsatz doch mehr zu schätzen wissen, wenn er jetzt ihren geschundenen Körper hätte sehen können. Erin lächelte spöttisch und ging ins Badezimmer. Sie drehte den Wasserhahn auf und gab etwas Lavendelessenz ins Wasser. Sie atmete die ätherischen Öle tief ein und begann sich zu entspannen. Dann stieg sie in die Badewanne. Ihre Wunden brannten höllisch, doch Erin biss die Zähne zusammen. Wie sonst hätte ein derart grauenvoller Tag ausklingen sollen?

Sie fing gerade an, in der Wanne vor sich hin zu dösen, als es an der Tür klingelte. Erin öffnete die Augen und seufzte. Sie konnte sich denken, wer das war.

Es klingelte erneut.

„Eine Sekunde!“, rief Erin. Sie kletterte aus der Wanne, trocknete sich hastig ab und schlüpfte in ihren Bademantel. An der Tür warf sie zunächst einen Blick durch den Spion. Ihr Herz sank. Nick stand auf der anderen Seite, noch immer in Uniform, und er sah genauso grimmig aus, wie sie ihn verlassen hatte.

Erin wich zurück und sah an sich herunter. Ihr Aufzug war nicht unzüchtig, doch ihrem Boss wäre sie so eigentlich lieber nicht begegnet. Ihrem Exboss!

„McNeal, ich weiß, dass Sie da sind“, rief er. „Wir müssen reden.“

Erin beschloss, dieses Gespräch so würdevoll wie möglich über sich ergehen zu lassen. Auch wenn der allmächtige Nick Ryan sie im Bademantel sehen würde. Wenn er ein Problem damit hatte – zur Hölle mit ihm.

Sie atmete tief durch und öffnete die Tür.

Das Letzte, was Nick erwartet hatte, war Erin McNeal in einen Frotteebademantel gehüllt und nach blumigem Badeöl duftend. Er stand wie versteinert da und versuchte, ihre Verwandlung von einer Polizistin in eine Frau zu verarbeiten. Er suchte nach Worten, doch der Duft ihrer noch nassen Haut blockierte jeden vernünftigen Gedanken.

Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, und dunkle nasse Strähnen klebten an der zarten Haut ihres Nackens. Er zwang sich, seinen Blick nicht weiter hinabgleiten zu lassen. Ein flüchtiger Blick auf ihr Dekolleté hatte ausgereicht, ihn aus der Fassung zu bringen. Entschlossen hielt er ihrem Blick stand, doch er konnte nichts dagegen tun, dass die Farbe ihm ins Gesicht stieg. Sein ganzer Körper reagierte auf diese Frau, so sehr er auch dagegen ankämpfte. Warum musste ausgerechnet sie die erste Frau sein, die ihn nach drei Jahren daran erinnerte, dass er immer noch ein Mann war?

„Ich wollte Sie nicht aus der Wanne holen“, sagte er schließlich.

Erin schluckte mühsam. „Ich wollte erst nicht aufmachen, aber wir sollten das so schnell wie möglich hinter uns bringen.“

„Ich kann auch später wiederkommen.“

Sie neigte ihren Kopf zur Seite. „Wenn mein Bademantel Sie stört, kann ich mir gern eine Jeans überziehen. Es wird so oder so kein angenehmes Gespräch werden.“

„Ich werde mich kurz fassen“, entgegnete Nick nur.

„Umso besser. Wollen Sie reinkommen?“

„Lieber nicht.“

„Hören Sie, wenn Sie mich schon feuern wollen, dann sollten Sie das wenigstens nicht im Hausflur tun.“

„Deshalb bin ich nicht hier.“

Sie sah ihn misstrauisch an. „Ich dachte Sie halten mich für eine tickende Zeitbombe und eine potenzielle Gefährdung für die Einwohner von Logan Falls im Besonderen und die Menschheit im Allgemeinen.“

Nick musste unwillkürlich lächeln. Er senkte den Blick und starrte nun auf ihre nackten Füße. Leider waren ihre Zehen genauso sexy wie der Rest ihres Körpers.

Verlegen sah er auf und blickte ihr in die Augen. „Sie waren wohl nicht die Einzige, die heute übertrieben reagiert hat.“

„Soll ich das als Entschuldigung verstehen?“

„Langsam, McNeal. Schon möglich, dass ich überreagiert habe, aber Sie haben sich nicht an die Regeln gehalten. Das kann ich nicht tolerieren.“ Nick hörte ein Geräusch, und als er sich umdrehte, bemerkte er Mrs. Newman, die Klatschbase von Logan Falls, die gerade ihre Einkaufstüten vorm Nachbarapartment abstellte und nach ihrem Schlüssel kramte. Sie starrte ihn einen Moment lang an und versuchte dann mit unverhohlener Neugierde in Erins Apartment zu spähen. Wunderbar, dachte er. Jetzt werden wir morgen das Tagesgespräch sein.

Erin bemerkte sein Unbehagen und trat einen Schritt zur Seite. „Wollen Sie nicht doch reinkommen?“

„Ich kann nicht lange bleiben.“ Zögerlich trat er ein. Warum um alles in der Welt hatte er nicht einfach das Telefon benutzt?

Erin ging voran ins Wohnzimmer. Nick folgte ihr und versuchte ihre verführerischen Rundungen nicht wahrzunehmen, die sich unter ihrem Bademantel deutlich abzeichneten. Er fühlte sich elend.

Die Wohnung war klein, mit hohen Fenstern und durchsichtigen Gardinen, die das Sonnenlicht hereinließen. Die Möbel waren altmodisch, aber funktionell. Es gab keine Fotos oder sonstige sentimentale Erinnerungsstücke. Das Chaos, das in der Wohnung herrschte, schien zu Erin zu passen. Sie hatte noch nicht einmal alles ausgepackt, und schon wirkte die Wohnung bewohnt. Ein Handtuch hing nachlässig über einem noch verschlossenen Karton. Ihre Stiefel lagen neben dem Sofa, wo sie sie ausgezogen hatte. Ihr Halfter hatte sie auf dem Küchentisch abgelegt. Und dann fiel sein Blick auf ihren spitzenbesetzten BH, den sie vorhin beim Ausziehen achtlos über die Sofalehne geworfen hatte. Es war derselbe BH, der bei ihrem Vorstellungsgespräch unter ihrer Bluse durchgeschimmert hatte. Nein, dachte er. Es war wirklich keine gute Idee herzukommen.

„Möchten Sie etwas trinken?“

Er löste seinen Blick von dem Büstenhalter. Was war nur los mit ihm? Er fühlte sich wie ein Teenager, den der Anblick eines harmlosen BHs aus der Bahn wirft. Zumal die Frau, der dieser BH gehörte, ohnehin tabu für ihn war. Nicht zuletzt, weil sie für ihn arbeitete.

„Nein.“ Er räusperte sich. „Hören Sie, Erin, nach dem was Sie erlebt haben, ist es ganz normal, wenn Ihr Selbstvertrauen im Keller ist.“

„Es ist nicht im Keller.“

„Sie brauchen mehr Zeit, um die Vergangenheit zu bewältigen. Wenn Sie den Heilungsprozess überstürzen, machen Sie alles nur noch schlimmer. Sie könnten verletzt werden. Und das will ich nicht.“

Erin errötete.

„Ich brauche noch immer einen Hilfssheriff“, fuhr er fort. „Und Sie brauchen keine weitere Kündigung in Ihrem Lebenslauf. Wollen wir es noch mal zusammen versuchen?“

„Wenn Sie damit meinen, ob ich bleiben will, dann ist die Antwort Ja.“

Nick war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte. „Gut“, sagte er. „Aber Sie werden in Zukunft meine Anweisungen befolgen müssen. Und keine Alleingänge mehr.“

„Auch wenn Sie das vielleicht nicht hören wollen“, entgegnete Erin langsam, „aber wenn ich noch einmal in derselben Situation wie heute Morgen wäre, würde ich wieder so handeln.“

„Gut zu wissen. Ich werde Sie entsprechend einteilen.“

Sie blickte ihn misstrauisch an. „Was soll das jetzt wieder heißen?“

„Das soll heißen, Sie werden in der nächsten Zeit als Schülerlotsin eingeteilt, bis ich den Eindruck habe, dass Sie für eine verantwortungsvollere Position bereit sind.“

Diese Antwort traf sie wie ein Schlag. Nick konnte sehen, wie ihr ganzer Körper zusammenzuckte. Warum begriff sie nicht, dass seine Entscheidung zu ihrem eigenen Besten war?

„Das ist nicht fair“, sagte sie schließlich

„Das Leben ist nicht fair, McNeal. Gerade Sie sollten das doch wissen.“

„Sie können das nicht tun.“

„Das habe ich gerade. Finden Sie sich damit ab, McNeal. Wenn ich meine Meinung ändere, werde ich es Sie wissen lassen.“

„Sie haben kein, mich derartig abzustrafen …“

„Das hat mit Ihnen persönlich nichts zu tun“, entgegnete Nick ruhig. „Mich interessiert nur Ihre Sicherheit sowie die Sicherheit meiner Hilfssheriffs und der Zivilbevölkerung. Wenn Sie meine Entscheidung nicht akzeptieren können, dann müssen Sie Ihre Konsequenzen daraus ziehen. Sie haben die Wahl.“

Autor

Linda Castillo
<p>Linda Castillo wurde in Dayton/Ohio geboren und arbeitete lange Jahre als Finanzmanagerin, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Sie lebt mit ihrem Ehemann, vier Hunden und einem Pferd auf einer Ranch in Texas.</p>
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