Tiffany Exklusiv Band 86

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AUS HEITEREM HIMMEL von JILL SHALVIS

Noch nie hat Nicole einen Mann getroffen, der sie so stark anzieht, wie der gutaussehende Architekt Ty O'Grady. Doch sie ist Ärztin aus Leidenschaft. Der Beruf steht für sie an erster Stelle. Als sie eines Abends seine stürmischen Zärtlichkeiten erwidert, sind Probleme vorprogrammiert!

EIN HIMMLISCHES VERGNÜGEN von TRACY KELLEHER

Sebastian Alberti ist verrückt vor Verlangen! Noch nie hat er eine so aufregende Nacht wie mit Lauren verbracht. Doch dieser Engel im Bett scheint in den Kunstraub verwickelt zu sein, den er aufzuklären versucht ...

BLEIB, FREMDER! von BARBARA ANKRUM

Diesen Mann hat Maggie der Himmel geschickt! Der Einzelgänger Cain möchte eigentlich nur bei der hübschen Rancherin arbeiten. Doch sie braucht einen Ehemann, um einen Kredit zu bekommen. Cain willigt ein. Bleibt Maggie bei ihrem Schwur: Auf keinen Fall Sex?


  • Erscheinungstag 05.01.2021
  • Bandnummer 86
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500104
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jill Shalvis, Tracy Kelleher, Barbara Ankrum

TIFFANY EXKLUSIV BAND 86

1. KAPITEL

Durch einen nackten Mann geweckt zu werden, das wäre natürlich etwas anderes. Aber weit und breit war kein nackter Mann in Sicht, und so wurde Nicole Mann wie üblich durch den Wecker geweckt. Und wie jeden Tag schaffte sie es auch heute, innerhalb von nicht einmal zehn Minuten zu duschen, sich anzuziehen und als Frühstück einen Burrito zu verschlingen.

Wie jeden Tag stürmte sie aus ihrem Apartment, um zum Krankenhaus zu kommen, wo ihr diesmal wegen der Grippewelle wahrscheinlich eine Doppelschicht bevorstand.

Ihr gesamtes Leben wurde von der Arbeit bestimmt, doch was war schon dabei? Ärztin war ihr Traumberuf, auch wenn ihr deswegen kaum Zeit für irgendetwas anderes blieb. Nicht einmal Zeit für nackte Männer, aber auch damit konnte sie leben. Als Hochbegabte hatte sie schon mit zwölf Jahren die Highschool abgeschlossen, und seit diesem Tag, der fünfzehn Jahre zurücklag, hatte sie davon geträumt, einmal Ärztin zu sein.

„Pst.“

Nicole dachte immer, sie hätte Nerven wie Drahtseile, doch jetzt zuckte sie zusammen, als sie im dunklen Hausflur ein Flüstern hörte.

Das Flüstern stammte jedoch nicht vom Schwarzen Mann oder einem anderen Ungeheuer. Es war nur die Hausbesitzerin, ihre Freundin Taylor Wellington, die den Kopf aus der Tür ihres Apartments streckte. Taylor war schön und freundlich, was allein schon Grund genug wäre, um sie zu hassen. Außerdem konnte Taylor reden, bis man sich völlig erschlagen fühlte von ihrer Redeflut. Doch Nicole wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, sich gegen sie zu wehren.

Nicole konnte es immer noch nicht recht begreifen, dass diese Frau ihre Freundin geworden war, obwohl sie so grundverschieden waren.

„Pst.“

„Ich sehe dich ja“, sagte Nicole. „Habe ich dich geweckt?“ Taylor sah allerdings nicht so aus, als sei sie gerade aus dem Bett gefallen. Allerdings sah sie immer perfekt aus, auch wenn es noch früh am Morgen war.

„Nein, wenn ich schlafe, dann kann mich nichts und niemand wecken“, versicherte Taylor. „Aber ich habe mir den Wecker gestellt, um dich abzupassen.“

Sie musterte Nicole von Kopf bis Fuß, und Nicole sah, dass Taylor wie üblich perfekt geschminkt war.

„Liebes, ich dachte, wir wären uns einig, was deine Tarnanzüge angeht.“

Nicole blickte an sich hinunter. Sie trug ein ärmelloses, olivgrünes T-Shirt und eine eng anliegende Armyhose mit tausend Taschen. Was gab es daran auszusetzen? So hatte sie sich schon während ihrer Studienzeit angezogen. Damals hatte sie sich solche Sachen in Secondhandläden gekauft, weil es günstig war, doch mittlerweile hatte sie sich an diesen bequemen Look so sehr gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr aufgeben wollte. Aber es überraschte sie, dass es Taylor etwas ausmachte, wie ihre Mitbewohnerin auf andere wirkte.

Nicole lebte erst ein paar Wochen hier in South Village, einem trendigen Stadtviertel am Rand von Los Angeles. Ihre vorherige Wohnung war größer gewesen, und in dem weitläufigen Apartmenthaus hatte sich niemand darum gekümmert, wer sein Nachbar war. Ihr hatte diese Anonymität eigentlich gut gefallen. Sie war lediglich deshalb umgezogen, weil das Haus verkauft wurde und die neuen Besitzer alles umgestalten wollten. Ihr neues Apartment lag nahe beim Krankenhaus, und es war klein, was den Vorteil hatte, dass sie weniger putzen musste. Dass dieses Haus baufällig war, sah sie zwar als Nachteil, doch solange sie ein Bett zum Schlafen hatte, war sie zufrieden.

„Weshalb wolltest du mich abfangen?“, fragte sie Taylor.

„Ich dachte mir schon, dass du es vergessen hast. Heute Abend wollen wir doch Suzannes Verlobungsparty planen.“

Suzanne Carter lebte im dritten Apartment des Hauses. Die drei Frauen waren die einzigen Bewohner und hatten schon oft miteinander gelacht und Eis gegessen. Doch es widerstrebte Nicole, eine Party vorzubereiten, auf der sie geschminkt herumlaufen, lächeln und Konversation betreiben musste. Sie hasste das alles.

„Du hast es vergessen“, stellte Taylor nüchtern fest.

„Nein, ich …“ Also schön, dachte Nicole, ich hab’s vergessen.

Nicole konnte es nicht ändern, dass sie, was Feiern und dergleichen Termine betraf, sehr vergesslich war. Ihre Familie, die sie nur selten zu Gesicht bekam, konnte ein Lied davon singen. In diesem Jahr hatte sie schon die Familienfeier zur Rückkehr ihrer Schwester vom College vergessen, genauso wie die alljährliche Feier am ersten April und sogar ihren eigenen Geburtstag. Allerdings wusste ihre Familie etwas, das Taylor noch nicht begriffen hatte: Nicole war gern allein. Partys fand sie schrecklich, und das Vorbereiten von Verlobungspartys gehörte dazu.

„Tut mir leid, ich komme erst sehr spät zurück“, sagte sie.

Taylor warf ihr einen eindringlichen Blick zu. „Sag bloß. Willst du dir ein neues Piercing machen lassen?“

Nicole verdrehte die Augen. Ständig zog Taylor sie wegen ihrer vielen Ohrringe im rechten Ohr auf. Doch es war ein sehr freundschaftlicher Spott. Außerdem wusste Taylor ja nicht, dass diese Ohrringe etwas mit ihrer Ehre zu tun hatten. „Nein, kein neues Piercing.“

Geduldig auf eine Antwort wartend, hob Taylor eine Augenbraue.

Hastig versuchte Nicole, eine höfliche Ausrede zu finden. „Wir sind im Krankenhaus unterbesetzt, und …“

„Lass gut sein, Super-Girl.“ Taylor hob abwehrend eine Hand, um sich weitere Entschuldigungen zu ersparen. „Kommen wir doch gleich zum Punkt. Von Hochzeiten und dem ganzen Drum und Dran bekommen wir beide Pickel, stimmt’s?“ Sie blickte Nicole wie eine strenge Mutter fest in die Augen. „Aber hier geht es um Suzanne.“

Suzanne war neben Taylor der einzige Mensch, der Nicole vom ersten Treffen an so akzeptierte hatte, wie sie war. Dabei wusste Nicole genau, dass sie oft schroff, verschlossen und abweisend wirkte.

Die drei Frauen hatten sich kennengelernt, kurz nachdem Taylor dieses Haus geerbt hatte. Leider besaß Taylor abgesehen davon keinen Cent, und so hatte sie erst Suzanne und kurze Zeit später Nicole als Mieterinnen aufgenommen. Im Grunde hatten sie alle wenig gemeinsam. Suzanne betrieb einen Party-Service und bewirtete sie ständig mit himmlischen Gerichten. Außerdem schien ihr Vorrat an Eiscreme niemals zu Ende zu gehen. Taylor hielt sich selbst und die anderen mit ihrem trockenen Humor bei guter Laune und bemutterte sie, was Nicole ihr aber nie verraten würde. Und Nicole … Sie hätte selbst nicht sagen können, was sie zu der Gemeinschaft beitrug. Es war ihr ein Rätsel, warum Taylor und Suzanne so viel an ihr lag.

Eines jedoch hatte sie von Anfang an verbunden: Sie hatten sich geschworen, Singles zu bleiben. Oft hatten sie darüber gesprochen, sich gegenseitig zugeprostet und dabei ihren Schwur erneuert. Allerdings hatte Suzanne den Schwur mittlerweile gebrochen und sich unsterblich verliebt und wollte nun heiraten.

Nicole seufzte. „Ich werde es irgendwie einrichten, hier zu sein.“

„Keine Bange, Heiraten ist ja nicht ansteckend.“

„Da mache ich mir auch keine Sorgen. Meine Arbeit ist mein Leben, und ich bin viel zu selbstsüchtig, um mich an einen Mann zu binden.“

„Genau. Wir sind glücklich mit unserem Leben als Single, und so soll es bleiben.“

„Auf jeden Fall.“

Aber ein bisschen nervös machte es sie schon, dass Suzanne, die ein ebenso überzeugter Single wie sie gewesen war, den Schwur gebrochen hatte und heiratete. So etwas durfte ihnen nicht passieren. Sie würden aufpassen und ihre Gefühlswelt unter Kontrolle halten müssen.

Genau, dachte Nicole. Bloß keine ernsthaften Gefühle entwickeln, dann sind wir beide vor Ärger sicher.

Vierundzwanzig Stunden lang hatte Nicole schwer gearbeitet, als sie sich nun im Morgengrauen die drei Treppen zu ihrer kleinen Dachwohnung hinaufschleppte.

Es war schon dunkel oder immer noch. Nicole war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Die Arbeit war fast unmenschlich gewesen. Starker Nebel hatte einen Massenunfall auf dem Highway 5 in Richtung Süden verursacht. Zweiundvierzig Autos waren darin verwickelt gewesen, und sie hatte den ganzen Tag im OP verbracht. Ihr war kaum Zeit geblieben, um sich die Nase zu putzen. Auf Schnittverletzungen, gebrochene Beine und Rippenbrüche war dann noch eine Entbindung von Zwillingen per Kaiserschnitt gefolgt.

Man hatte sie gebeten, noch eine Schicht dranzuhängen, und nach einem kurzen Schlaf im Ärztezimmer, um wieder zu Kräften zu kommen, hatte Nicole noch die zweite Schicht gearbeitet. Während der knappen Ruhepause hatte sie geträumt, sie werde von Hochzeitskleidern und Torten verfolgt. Wie war sie bloß darauf gekommen?

Jetzt sehnte sie sich nur noch nach etwas zu essen, einer heißen Dusche und ihrem Bett. Die Reihenfolge war ihr ziemlich egal. Sie hatte sich Tacos gekauft, und bei dem Gedanken an die warmen Tacos in der Tüte, die sie sich gerade an die Brust drückte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Das war zwar kein gesundes Frühstück, aber Hauptsache, es machte satt. Schon seit der zweiten Operation gestern sehnte sie sich nach etwas scharf Gewürztem.

Nach dem Essen hatte sie vor, in Tiefschlaf zu fallen. Jedenfalls bis zu ihrer nächsten Schicht. Heute Nachmittag war ein Belegschaftstreffen angesetzt, und anschließend würde sie für einen ausgefallenen Kollegen die Nachtschicht übernehmen. Schon jetzt standen vier Operationen fest auf dem Plan.

Hoffentlich habe ich auch scharfe Soße bestellt, dachte sie, denn an Fertigsoßen gab es in ihrer winzigen Küche nichts außer etwas Undefinierbarem, das sich schon vor Wochen grün verfärbt hatte.

„Du kleines widerliches Ding. So ein Mist.“ Ein metallisches Kratzen begleitete den Fluch, der in irischem Akzent erklang. „Ich werde dich … Verdammt, beim letzten Mal hast du doch auch noch funktioniert, wieso denn jetzt nicht mehr?“

Der Mann klang so ungezwungen, als würde er sich hier wie zu Hause fühlen, dass Nicole einen Moment brauchte, um sich bewusst zu machen, dass er keineswegs hierher gehörte.

Na, wunderbar, dachte sie. Sie war ohnehin in der richtigen Stimmung, sich mit jemandem anzulegen. Vorausgesetzt, ihre Tacos erlitten dabei keinen Schaden. Manchmal war es als körperliches Leichtgewicht durchaus von Vorteil, mit einem hohen IQ gesegnet zu sein. Während ihres Medizinstudiums hatte sie als Ausgleich Karate gelernt, und sie war sehr gut darin. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, dann hatte sie auch Erfolg.

Auf geht’s, sagte sie sich und stellte ihre Tacotüte auf der obersten Treppenstufe ab, bevor sie ihre Kampfhaltung einnahm. Ihr Frühstück durfte nicht in Gefahr geraten. Sie ging die letzten Stufen hinauf. Hier oben war außer ihrem Apartment nur noch der Dachboden. Ein Mann lag flach in dem schmalen Flur. Die Arme hatte er seitlich ausgestreckt. Er maß gerade die alten Holzbohlen des Fußbodens aus, während er die fantasievollsten irischen Flüche ausstieß.

Nicole musste lachen und konnte den Blick nicht lösen von dem schlanken Mann, der dort bäuchlings ausgestreckt vor ihr auf dem Boden lag. Die langen Beine steckten in Jeans, und die enge Hose betonte die Waden und Schenkel. Und den festen runden Po.

Das T-Shirt war dem Mann nach oben gerutscht, und Nicole sah eine Menge gebräunten muskulösen Rücken. „Beiß mich“, stand auf dem hellblauen T-Shirt.

Nicole vergaß ihre Kampfeslust und lächelte. Beiß mich. Dazu hätte sie wirklich Lust. Der Mann sah einfach zum Anbeißen aus. „Entschuldigen Sie“, machte sie sich bemerkbar.

Er hielt die Arme weiterhin lang ausgestreckt, und das kleine Gerät, das er in Händen hielt, piepste und leuchtete rot auf. „Seien Sie ein Engel“, sagte er mit einer tiefen Stimme, die Nicoles Herzschlag beschleunigte. Sein irischer Akzent war allerdings schlagartig verschwunden. „Reichen Sie mir den Notizblock.“

Nicole stand immer noch in Verteidigungshaltung da und musste den Hals recken, bis sie das kleine Notizbuch entdeckte, das aus seiner Gesäßtasche ragte. Es sah aus, als würde es dort ständig herausgezogen und wieder hineingesteckt werden.

Offenbar zögerte sie etwas zu lange, denn der Mann stützte sich auf die Ellbogen und drehte den Kopf. Das tiefschwarze Haar war zerzaust, und Nicole sah nun, dass er kristallklare blaue Augen hatte.

Der Mann musterte sie von oben bis unten, wie sie, die Knie leicht gebeugt und die Fäuste geballt, dastand. Er ließ das Messgerät los und rieb sich das Kinn. „Wollen Sie mit mir um mein Notizbuch kämpfen?“

Nicole ließ die Fäuste sinken und betrachtete diesen unglaublich gut aussehenden Fremden noch einmal ausführlich. Dann bückte sie sich nach ihrer Tüte mit den Tacos. „Wer sind Sie, und warum liegen Sie fluchend auf meinem Flur?“

„Haben Sie’s gehört?“ Er lächelte. „Sagen Sie’s bitte nicht der Hausbesitzerin weiter. Sie hat extra angeordnet, dass ich im Flur nicht fluchen darf.“

Nicole wunderte sich, dass Taylor diesen Mann nicht gleich in ihr Schlafzimmer verfrachtet hatte. Taylor hatte nichts gegen Sex, und dieser Mann strahlte Erotik pur aus.

In einer fließenden Bewegung stand er auf, und sie bemerkte jetzt, wie groß er war. Zugegeben, sie selbst gehörte eher zu den kleinen Menschen dieser Welt, aber dieser Mann maß sicher ein Meter neunzig.

Wenn ich meine Nase ganz nach oben recke, komme ich damit vielleicht gerade bis an seine Schulter, dachte Nicole. Seine Körpergröße und die seltsame Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, verunsicherten sie. Und Unsicherheit war ein Gefühl, das sie nicht ausstehen konnte. Sie trat einen Schritt zurück und brachte sich wieder in Angriffsposition, um auf alles vorbereitet zu sein.

„Wenn ich gewusst hätte, dass Sie sie hören, hätte ich mir die Flüche verkniffen.“ Er wirkte jetzt leicht verlegen, als er über sein Kinn strich. Dem dunklen Bartschatten nach zu urteilen, war es schon ein paar Tage her, seit er sich rasiert hatte. „Wie ich sehe, habe ich Sie erschreckt.“

Nicole runzelte die Stirn. Der irische Akzent war jetzt tatsächlich vollkommen verschwunden, dafür klang es nun ein bisschen gekünstelt.

Wahrscheinlich unterdrückte er seinen Akzent. Wollte er seine Abstammung verheimlichen? Sie selbst lief zwar auch nicht wie ein offenes Buch herum, aber bei anderen mochte sie Geheimniskrämerei überhaupt nicht.

„Beantworten Sie bitte meine Fragen.“

Der Mann hob friedfertig die Hände, als habe sie ihm mit dem Finger gegen die Brust gestoßen. „Kein Grund, mich gleich so anzufahren. Ich bin nur der Architekt. Ty Patrick O’Grady. Stets zu Ihren Diensten.“

„Sie sind der Architekt?“, fragte Nicole verwirrt nach.

„Das Haus hier soll renoviert werden.“ Als wolle er ihr zeigen, wie harmlos er war, lehnte er sich mit der Schulter an die Wand und lächelte so umwerfend, dass Nicole ein Schauer über den Rücken lief. „Hier muss erst mal ein Architekt ans Werk, bevor man mit den Bauarbeiten beginnen kann. Dieses Haus fällt nämlich fast schon unter Denkmalschutz. Es muss dringend renoviert werden, aber bestimmte Teile der Bausubstanz dürfen nicht verändert werden.“

Das Haus lag mitten im eleganten South Village, und Nicole konnte sich gut vorstellen, dass es einiges wert war, obwohl es heruntergekommen und verwahrlost aussah. Schon seit Wochen schleuste Taylor Bauexperten durchs Haus, weil eine grundlegende Renovierung unumgänglich war.

„Dann erstellen Sie also ein Angebot für die Eigentümerin? Für Suzanne?“ Aufmerksam beobachtete Nicole ihn.

Er lächelte. „Nein, nicht für Suzanne, sondern für Taylor. Aber das war ein guter Versuch, das gebe ich zu. Allerdings gehört etwas mehr dazu, um mich reinzulegen, Süße.“

Er nannte sie Süße? Der kann was erleben, dachte Nicole.

Er hob die pechschwarzen Augenbrauen und meinte lässig: „Soll ich Ihnen meinen Ausweis zeigen, oder erschlagen Sie mich jetzt mit Ihren Tacos, die so lecker duften?“

„Was ist denn mit Ihrem Akzent passiert?“

Jetzt wirkte er ratlos. „Was für einem Akzent?“

„Vorhin hatten Sie noch einen irischen Akzent. Sind Sie Einwanderer?“

„Ja, direkt vom Schiff aus Australien, Kleine.“ Er grinste. „Oder war das …“ Er wechselte den Akzent von einem Satz zum nächsten. „Europa? Ich bringe die Kontinente immer durcheinander.“

Ein Witzbold also. „Es ist schon ziemlich spät, um ein Angebot auszuarbeiten.“

„Sehr früh, meinen Sie wohl.“

Schon möglich. Sie konnte nicht mehr genau sagen, welche Tageszeit es war. „Wie auch immer. Weshalb sind Sie hier?“

„Ich bin ein viel beschäftigter Mann, Darling. Aber Sie haben mich so durcheinandergebracht, dass ich glatt Ihren Namen vergessen habe.“

Nicole verschränkte die Arme vor der Brust. „Mit Darling liegen Sie jedenfalls daneben.“

Wieder lächelte er, und sie musste sich eingestehen, dass dieses Lächeln umwerfend war.

„Soll ich jetzt raten?“, sagte er.

„Dr. Mann“, stellte sie sich widerwillig vor. „Und wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gern meine Tacos essen.“ Und dann ins Bett gehen. Allein.

Wieso kommt mir dieser Gedanke gerade jetzt?, fragte sich Nicole. Ich gehe immer allein ins Bett. Immer.

Der Mann lächelte immer noch. Es wirkte, als wüsste er etwas, das sie nicht wusste. Fast hätte sie mit den Zähnen geknirscht. „Was ist? Kommt jetzt, dass ich viel zu jung sei, um Ärztin zu sein, und wie ein kleines Mädchen aussehe? Dann mal los. Ich kenne diese geistreichen Bemerkungen allerdings alle schon. Sie werden sich also Mühe geben müssen.“

Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß, und sie ärgerte sich, wie warm ihr unter seinem Blick wurde.

„Für mich sehen Sie nicht wie ein kleines Mädchen aus.“

Oh nein, dachte Nicole. Für diese Schiene bin ich jetzt wirklich zu müde. Sie ging an dem Mann vorbei zur Tür von ihrem Apartment und fing an, ihre zahllosen Hosentaschen der Reihe nach abzuklopfen. Wo steckte nur der blöde Schlüssel?

„Probleme?“

Ohne ihn zu beachten, nahm sie die Tüte mit den Tacos in die andere Hand und überprüfte die hinteren Hosentaschen. Kein Glück. Das war wirklich ein Nachteil dieser Hosen. Sie waren zwar bequem und praktisch, aber man konnte endlos suchen, bis man in den vielen Taschen etwas fand.

„Dr. Mann?“

„Bitte.“ Sie schloss die Augen, als seine tiefe sexy Stimme ganz dicht hinter ihr erklang. „Bitte gehen Sie einfach.“ Wenn sie nicht sofort etwas aß und dann ins Bett kam, würde sie hier direkt vor seinen Füßen in Tiefschlaf fallen.

Es wäre nicht das erste Mal. Sie hatte bereits im Stehen geschlafen – während der langen Bereitschaftsdienste in der Ausbildung.

Sie hörte ein Klicken und riss die Augen auf. Die Tür stand offen. Ty Patrick O’Grady hielt eine Kreditkarte in die Höhe. Dieser Mann war also nicht nur Architekt mit sexy irischem Akzent und umwerfendem Lächeln. Anscheinend steckte noch eine Menge mehr in ihm.

„Die sind doch zu vielem zu gebrauchen“, meinte er mit Blick auf die Kreditkarte.

„Sie haben mein Türschloss geknackt?“

„Genau.“

„Sind Sie ein Einbrecher?“

Sein tiefes Lachen wirkte noch erotischer als seine Stimme. „Drücken wir es so aus, ich habe schon einiges gemacht. Sie brauchen ein besseres Türschloss.“

„Aber Sie können doch nicht einfach …“

„Haben Sie den Schlüssel gefunden?“

„Nein, aber …“

„Gehen Sie doch rein, Darling.“ Sanft schob er sie in ihr Apartment und nahm ihr die Tüte mit den Tacos ab, die sie vor Müdigkeit fast fallen gelassen hätte. „Bevor Sie hier im Flur Wurzeln schlagen.“

Sie ging hinein und wollte die Tür hinter sich zuschlagen. Leider stand der Mann bereits auf der falschen Seite der Tür. Ihr kleines Apartment wirkte plötzlich noch winziger. „Und ich bin nicht Ihr Darling.“

„Nein, Sie sind Dr. Mann.“

„Also schön, ich bin nicht der umgänglichste Mensch auf Erden, wenn ich müde bin. Wollen Sie mich jetzt verklagen?“

„Ich würde Sie lieber mit Vornamen ansprechen.“

„Nicole“, sagte sie knapp und schnappte sich die Tüte Tacos aus seiner Hand. Dann ging sie in die Küche. Das waren nur vier Schritte. „Von mir aus dürfen Sie jederzeit gehen. Die Tür finden Sie ja allein.“

Natürlich ging er nicht. Dieser Mann sah zwar fantastisch aus, aber offenbar war er auch unbeirrbar und stur.

„Was haben Sie vor?“, verlangte sie zu wissen.

„Ich will dafür sorgen, dass Sie nicht im Stehen einschlafen.“

„Waren wir uns nicht einig, dass ich eine erwachsene Frau bin?“

„Stimmt.“

Sie schob einen Stapel von medizinischen Fachzeitschriften beiseite und riss die Tüte Tacos auf.

„Wie wär’s denn mit einem richtigen Frühstück?“

„Das hier ist genau richtig. Leben Sie wohl, Mr. Architekt.“

„Es war mir ein Vergnügen.“

Nicole lehnte sich an die Anrichte und biss in den ersten Taco.

„Freut mich wirklich, dass ich Ihnen behilflich sein konnte.“

„Ja, vielen Dank – fürs Knacken vom Türschloss und fürs Eindringen in mein Apartment.“ Sie stöhnte vor Gier fast auf, als sie den ersten Bissen kaute. Schnell trank sie von dem Mineralwasser, das sie sich zusammen mit den Tacos gekauft hatte. Der erste Taco verschwand in Sekundenschnelle.

Als sie den zweiten aus der Tüte holte, seufzte der Mann.

Sie blickte ihn an. „Haben Sie vergessen, wo die Tür ist? Einfach umdrehen und dann der Nase nach.“

„Sie sollten wirklich etwas auf Ihre Ernährung achten.“

„Hier habe ich Fleisch, Käse, Salat und Teigwaren. Alles, was der Mensch braucht.“

„Ja, aber …“ Er beobachtete, wie sie sich etwas Soße vom Daumen leckte. „Ich schätze, Sie haben gerade eine anstrengende Schicht im Krankenhaus hinter sich.“

„Stimmt.“ Sie trank noch mehr Mineralwasser. „Nehmen Sie’s nicht persönlich, ja? Verschwinden Sie. Ich habe eine Verabredung mit meinem Bett, und dieses Date betrifft ausschließlich mein Kopfkissen und mich.“

„Wie schade“, sagte er lächelnd.

Sein Lächeln ließ ihren Puls schneller schlagen.

„Bloß keine falschen Hoffnungen. Doktorspiele mit Fremden sind bei mir nicht drin.“

„Sie machen auch nicht den Eindruck, als seien Sie sehr verspielt.“

Sie bedachte ihn mit einem wütenden Blick.

„Auch das sollte kein Annäherungsversuch sein, Dr. Mann. Mir geht es nur um Ihre Ernährung. Die Papiertüte hat sicher einen ähnlichen Nährwert wie der Inhalt. Soll ich Ihnen vielleicht etwas kochen?“

Als sie zu lachen anfing, verstummte er. Nachdem Nicole etwas gegessen hatte, fühlte sie sich schon besser. Sie stellte die Tüte weg und ging zur Tür. Dieser Mann konnte bestimmt einiges zum Kochen bringen. Aber auch wenn sie sich ein so wunderbares Exemplar von Mann gern ansah, hatte sie nicht vor, mehr mit ihm anzufangen.

„Gute Nacht.“ Sie öffnete die Tür.

„Lassen Sie mich raten. Sie haben etwas gegen richtiges Essen, stimmt’s?“

Er kam mit lässigen Schritten auf sie zu, und sie war gegen ihren Willen fasziniert von seinen Bewegungen. Gleichzeitig blickte er sie so durchdringend an, dass es ihr vorkam, als würde er ihr bis auf den Grund der Seele schauen.

„Nein, ich habe nur etwas gegen Fremde, die für mich kochen wollen. Sehen wir den Tatsachen doch mal ins Gesicht, Mr. Architekt.“ Sie bedachte ihn mit einem Lächeln, das sie sonst nur für die fürchterlichsten Lebewesen dieses Planeten vorgesehen hatte: für balzende Männer. „Es ist nicht mein Magen, der Sie an meinem Körper interessiert.“

„Nein?“ Fragend hob er die schwarzen Augenbrauen. „Was glauben Sie denn, was ich will, wenn ich Ihnen anbiete, für Sie zu kochen?“

„Was auch immer es ist, ich bin nicht daran interessiert.“

Langsam schüttelte er den Kopf und lächelte leicht. Er wirkte nicht gekränkt oder verärgert, aber er schien sich auf ihre Kosten zu amüsieren.

„Was auch immer es ist“, sagte er und ahmte ihren Tonfall nach.

„Gute Nacht“, wiederholte sie nachdrücklich. Wie kam es nur, dass er sie wütend machte und gleichzeitig so anregte?

„Gute Nacht, obwohl es schon Morgen ist.“ Bevor er sich umdrehte und das Apartment verließ, strich er ihr mit dem Finger über die Wange.

Als er fort war, legte Nicole die Hand auf ihre Wange. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass er am Schluss wieder mit dem irischen Akzent gesprochen hatte. Wieso leugnete er seine Herkunft?

An diesem Tag hatte auch Ty viel zu tun. Er hatte drei laufende Projekte in der Innenstadt von Los Angeles, zwei in Burbank, vier in Glendale und, so hoffte er jedenfalls, jetzt auch eines hier in South Village.

Seltsam, wie sehr ihm South Village gefiel. Vielleicht lag es daran, dass dieses Viertel von Los Angeles noch aus den historischen Häusern bestand. Hier fühlte man sich fast in die Zeit des alten Westens zurückversetzt. Zum Glück besaß die Stadtverwaltung genug Geld, sodass die Bausubstanz erhalten worden war. Jetzt waren die Straßen voller Leben. Es gab Restaurants, Theater, ausgefallene Boutiquen, und viele Berühmtheiten wohnten hier.

Mit den vielen jungen Singles, die sich hier abends und an den Wochenenden vergnügten, konnte Ty nichts anfangen, dennoch gefiel ihm die Atmosphäre hier.

Ganz besonders gefiel ihm natürlich, dass es hier genug für ihn zu tun gab. In South Village gab es immer etwas zu renovieren, und die Leute waren wohlhabend genug, um sich diese Renovierungen leisten zu können. Ein guter Architekt fand hier immer Aufträge.

Da er noch nicht lange hier wohnte, hatte er noch keinen Geschäftspartner und auch keine Angestellten. Das bedeutete für ihn einen Haufen Arbeit. Er war oft unterwegs und saß außerdem viel an seinem Zeichentisch.

Doch die viele Arbeit machte ihm nichts aus, ganz im Gegenteil. Wenn etwas zu einfach war, dann wurde Ty immer misstrauisch. Diese Haltung stammte noch aus seiner Kindheit. Damals war ihm nichts in den Schoß gefallen, und auch nachdem er es aus der Gosse herausgeschafft hatte, hatte er sich alles erkämpfen müssen.

Bei der Erinnerung an seine Vergangenheit warf er entnervt den Bleistift auf den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er legte die Füße auf den Tisch und sah aus dem Fenster zu den San Gabriel Mountains. Kalifornien war schön, ganz ohne Zweifel. Wenn auch vielleicht nicht so schön wie Rio oder Tokio. Ty hatte auf der Flucht vor seiner Vergangenheit schon viel von der Welt gesehen, aber hier fühlte er sich entspannter als vorher.

Dieses Gefühl verging allerdings immer wieder, egal an welchem Ort er lebte. Früher oder später würde er weiterziehen, das stand für ihn fest. Vielleicht nach New York. Das könnte interessant sein. Aber im Moment gefiel es ihm in Kalifornien mit den vielen blonden Schönheiten, dem gesunden Essen und den Sandstränden.

Außerdem fragte hier so gut wie keiner nach seiner Lebensgeschichte, und das gefiel ihm noch besser. Er war einer von vielen. Er konnte der sein, der er wollte. Hier war er ein erfolgreicher Architekt mit ausreichend Geld auf dem Konto. Die Ausstattung seines Büros ließ seinen Erfolg erkennen, und Ty konnte sich jeden Luxus leisten, der ihm in den Sinn kam.

Nie wieder würde ihm der Magen knurren, weil er seit Tagen nichts gegessen hatte. Nie wieder würde er diese nagende Angst vor der Zukunft haben. Das lag lange hinter ihm. Damals, in seiner Kindheit, in einem der ärmsten Viertel von Dublin in Irland waren Angst und Hunger ein fester Bestandteil seines Lebens gewesen.

Das alles hatte er vor Jahren hinter sich gelassen, als er fortgegangen war. Mittlerweile dachte er nur noch selten an jene Zeit zurück.

Heute konnte ihn nichts und niemand mehr verletzen. Er sorgte dafür, dass beständig mehr Geld auf sein Konto kam, und das schaffte er mit Arbeit, die ihm gefiel. Und wenn er hin und wieder eine der Schönheiten Kaliforniens in sein Bett bekam, dann hatte er nichts dagegen.

Ty musste an heute Morgen denken – an Dr. Nicole Mann. Sie gehörte nicht zu den typischen Schönheiten, die hier in Kalifornien herumliefen. Doch dass sie trotz ihrer offensichtlichen Erschöpfung voller Kampfgeist gewesen war, das machte sie in seinen Augen zur aufreizendsten kleinen Frau, die ihm je begegnet war. Klein war sie in der Tat. Sie reichte ihm ja kaum bis zur Schulter. Dennoch war ihr Körper perfekt geformt, und ihre Kurven waren aufregend. Diesen Körper verdankte sie bestimmt nicht ihrer unausgewogenen Ernährung. Viel eher hatte sie ihn sich mit eisernem Willen erkämpft. Denn einen eisernen Willen hatte Frau Doktor. Wenn Blicke töten könnten, würde er nicht mehr auf den Beinen stehen.

Er dachte an ihre langen dunklen Wimpern und die großen grauen Augen. Das kurze schwarze Haar, das ihr bis an Kinn reichte, schimmerte seidig.

Ty wollte darüber lachen, was für eine eindringliche Wirkung sie auf ihn gehabt hatte, doch daran war überhaupt nichts Lustiges. Nicole unterschied sich von allen anderen Menschen, und genau deswegen beeindruckte sie ihn auf eine Art, die ihm gar nicht gefiel. Am besten, er dachte nicht mehr an sie und ihren perfekt geformten Mund, der wie geschaffen war für heißen Sex.

Ty richtete sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Genau, dachte er. Immer auf dem Boden bleiben. Halt dich von anderen Menschen fern, besonders von der sexy Ärztin. Er drehte sich mit seinem Stuhl herum und rollte zu seinem Computer. Um sich von diesen grauen Augen und den sinnlichen Lippen abzulenken, würde er weiterarbeiten.

Er startete den Computer und fragte seine E-Mails ab. Achtundzwanzig waren eingetroffen, und er öffnete eine nach der anderen. Manche druckte er aus, manche beantwortete er, und danach würde er sie alle löschen.

Bei allen Nachrichten ging es um laufende Aufträge. Nur der Absender der letzten Nachricht war ihm fremd. Dennoch dachte Ty sich nichts dabei, als er die E-Mail öffnete.

„Bist Du Ty Patrick O’Grady aus Dublin?“

Ty wäre fast vom Stuhl gesprungen. Er starrte auf den Bildschirm. Er fuhr sich durchs Haar und drehte sich mit dem Stuhl langsam im Kreis. Niemand wusste, woher er stammte. Niemand.

Doch als er wieder zum Monitor sah, stand die Nachricht immer noch unverändert dort?

Ja, er war Ty Patrick O’Grady aus Dublin. Aber wer wollte das wissen? Und wieso? Es gab nichts Gutes an seiner Vergangenheit. Im Grunde verband er so viel Schlechtes damit, dass er schon bei der Erinnerung daran Magenkrämpfe bekam.

Er wollte die Nachricht gerade löschen, doch dann zögerte er.

Wer war der Absender?

Nein, das spielte keine Rolle.

Ty stand auf und ging in seinem Büro hin und her. Schließlich stieß er einen Fluch aus und kehrte zum Computer zurück. Reglos betrachtete er einen Moment die Nachricht, dann streckte er die Hand aus und löschte sie.

2. KAPITEL

Nach zwei höllisch anstrengenden Arbeitstagen fuhr Nicole nach Hause. Dass sie ausnahmsweise weder in tiefster Nacht noch ganz früh am Morgen zu Hause ankam, merkte sie daran, dass sie weit und breit keinen freien Parkplatz in South Village fand. Schon gar nicht in der belebten Straße, in der sie wohnte.

In den Geschäften, Galerien und Restaurants tobte das Leben, und Nicole fiel wieder einmal auf, dass offenbar alle Menschen außer ihr ein Privatleben hatten. Andererseits hatte sie schon vor langem entschieden, dass die Medizin ihr Leben war. Im Moment fehlte ihr nur noch ein Parkplatz zum Glück. Nachdem sie immer wieder fluchend um den gesamten Block gekurvt war, fand sie endlich eine Parklücke in ihrer Straße. Der Weg zum Haus tat ihr gut, und beim Gedanken an die frischen Croissants, die sie sich unterwegs gekauft hatte, wurde sie richtig glücklich. Die würde sie gleich essen und dazu die Hamburger, die sie in der zweiten Papiertüte bei sich trug.

Nicole erreichte das Haus mit den Erkern, Türmchen und winzigen Balkons. Die beiden Schaufenster im Erdgeschoss waren leer, doch Suzanne wollte dort ihren eigenen Party-Service aufmachen. Taylor beschäftigte sich Tag und Nacht mit der Renovierung des Hauses, ließ sich Angebote kommen und verkaufte einige ihrer Antiquitäten, um das Ganze zu finanzieren.

Vor den Fenstern im zweiten Stock waren Blumenkästen aufgehängt. Taylors Blumen blühten und grünten, während Suzannes ein bisschen müde wirkten. Suzanne verbrachte jetzt ja auch viel Zeit bei Ryan.

Von ihrer Mutter wurde Nicole oft gefragt, wieso sie sich keine Eigentumswohnung zulege. Als Ärztin müsse sie doch einen Haufen Geld verdienen.

Ein guter Witz, dachte Nicole. Sie war jetzt siebenundzwanzig, und mit vierzig würde sie vielleicht die Hälfte ihres Studiendarlehens abbezahlt haben. Möglicherweise konnte es auch noch etwas länger dauern, da sie oft ehrenamtlich in Krankenhäusern arbeitete, in denen Arme und Obdachlose versorgt wurden. Aber Geld spielte für sie ohnehin keine Rolle. Für sie zählte nur die Arbeit, und da blieb ihr keine Zeit zum Versorgen von Blumen, geschweige denn für ein eigenes Haus.

Genau so gefiel ihr das Leben.

Erschöpft stieg sie die Treppe zu ihrem Apartment im Dachgeschoss hinauf. Draußen war es noch hell, was für sie sehr ungewohnt war. Blinzelnd blickte sie durch ihr Wohnzimmer. Seltsam, wie anders es aussah, wenn die Sonne durch das große Fenster schien. Draußen eilten die Leute in Scharen zu den schicken Cafés und Restaurants, und nach einem Blick auf die Uhr wusste Nicole auch, warum. Es war fünf Uhr nachmittags, und die Leute trafen sich zu einem Drink nach der Arbeit oder einem frühen Dinner. Sie würde nicht auf den Gedanken kommen, sich mit anderen einfach so zu treffen. Wenn sie sich nicht gerade bei der Arbeit verausgabte, dann war sie lieber allein.

Während Nicole eine der drei Fachzeitschriften durchlas, schlang sie ihr Essen hinunter. Hamburger und Pommes frites, das passte zu dem Artikel über neue Arten von künstlichen Arterien.

Die Sonne schien immer noch, als Nicole ins Bad ging. Während sie sich langsam auszog, um eine heiße Dusche zu nehmen, las sie weiter und aß noch ein Croissant.

Mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, das war für sie keine Herausforderung.

Nach der Dusche ging sie nackt zurück in ihr Schlafzimmer und wollte sich gerade ins Bett legen, als ihr Blick auf den Anrufbeantworter fiel. Er blinkte.

Verdammt, im Grunde hasste sie diese Maschine. Leider hatte die Verwaltung des Krankenhauses darauf bestanden, weil man sie sonst in dringenden Fällen kaum erreichen konnte. Seufzend drückte sie auf den Knopf und spulte die Nachricht ab. Wenn es das Krankenhaus war, dann würde sie sich aufs Bett fallen lassen und tot stellen.

„Nicole, meine Kleine, ich bin’s. Deine Mom.“ Die Stimme ihrer Mutter klang fröhlich wie immer.

Glaubt sie, ich erkenne sie nicht an der Stimme?, fragte sich Nicole. Diese Stimme verfolgt mich doch schon mein ganzes Leben.

„Arbeitest du auch nicht zu viel? Kommst du zwischendurch auch mal zur Ruhe? Ernährst du dich vernünftig? Wirst du mich jemals anrufen, um mich zu beruhigen? Damit ich nicht ständig in Sorge bin, dass meine Kleine sich durch ihre viele Arbeit ihr eigenes Grab schaufelt.“

Nicole ließ sich aufs Bett fallen und rubbelte sich mit dem Handtuch das kurze Haar trocken. Wenn es strubbelig nach oben stand, reichte ihr das als Frisur. Hatte sie ihre Mutter nicht erst letzte Woche angerufen? Ein Anruf pro Woche musste reichen, um ihr schlechtes Gewissen zu besänftigen.

„Einmal in der Woche reicht mir einfach nicht, Nicole.“ Anscheinend konnte ihre Mutter auch noch Gedanken lesen. „Ich will deine Stimme hören.“

Nicole verdrehte die Augen, aber gleichzeitig musste sie lachen.

„Liebes, hör zu. Am Sonntag gibt es Gulasch. Dein Vater hat schon deine Schwestern angerufen, und sie kommen alle mit Mann und Kindern. Alle werden hier sein.“

Nicole hatte drei Schwestern, alle verheiratet und mit Reihenhaus, Kombi und mindestens zwei Kindern. Die Vorstellung, dass die ganze lautstarke Truppe glücklich vereint und lachend zusammensaß, weckte in ihr einen Heißhunger auf einen weiteren Hamburger.

„Also, Kleines, du kommst. Wir erwarten dich um vier Uhr, und ich warne dich: Wenn du nicht auftauchst, dann … dann werde ich dich eine Woche lang jeden Tag anrufen.“

Das glaubte Nicole ihr sofort. Ihre Mutter war warmherzig, aber eine Tyrannin, die einen mit ihrer Liebe erdrücken konnte.

Alle Mann unter einem Dach? Nicole dachte an ihre Schwestern, die miteinander lachten und zankten; an Kinder, die mit klebrigen Fingern herumrannten; an Babys in stinkenden Windeln. Allein bei dem Gedanken daran bekam sie Kopfschmerzen. Sie liebte ihre Familie, aber in ihrer Nähe fühlte sie sich immer wie eine Außerirdische. Das war schon immer so gewesen.

Trotz ihres beeindruckenden IQs konnte Nicole nicht gut mit Menschen umgehen, wenn es sich um private oder informelle Kontakte handelte. Ihr fiel es schwer, einfach zu plaudern, und es machte ihr große Schwierigkeiten, eine normale Unterhaltung in Gang zu halten. Dass ihre Familie sie trotzdem liebte, obwohl sie so in sich gekehrt und verschlossen war, konnte Nicole immer noch nicht begreifen. Sie versuchte, nicht zu häufig darüber nachzudenken.

„Dann sehen wir uns am Sonntag.“ Für ihre Mutter schien die Sache klar zu sein. „Es wird Spaß machen, wieder zusammen zu sein.“

Unter Spaß stellte Nicole sich etwas anderes vor. Vielleicht konnte sie eine Extraschicht im Krankenhaus einlegen.

„Ich liebe dich, mein Baby.“

Na gut, dann sollte es eben so sein.

Nicole blieb splitternackt auf dem Bett liegen und vergrub den Kopf unter zwei Kopfkissen. Zwanzig Sekunden später war sie fest eingeschlafen.

Sie träumte. Eigentlich hätte sie gedacht, sie würde heute von der zweiten Operation träumen. Bei dem Patienten war eine Arterie geplatzt, und als sie die Blutung endlich gestillt hatte, war sie von oben bis unten bespritzt gewesen.

Doch das hatte sie alles zurückgelassen, als sie das Krankenhaus verließ. Stattdessen war sie im Traum wieder zwei Jahre alt und lernte die Namen aller ehemaligen Präsidenten der USA auswendig. Ihre Eltern hatten ein Buch über diese Präsidenten, und aus Spaß hatte Nicole ihren altklugen Schwestern Annie und Emma die Liste der Namen dieser Männer von hinten nach vorn aufgesagt.

Damals war allen zum ersten Mal klar geworden, dass Nicole anders als die anderen war.

Mit sechs hatte sie ihrer Schwester Emma bei den Mathehausaufgaben der siebten Klasse geholfen.

Mit zwölf hatte sie Annie geholfen, sich auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten. Hinter vorgehaltener Hand war Nicole als Genie und Wunderkind bezeichnet worden, dessen IQ mit normalen Tests nicht mehr messbar war.

Während andere Mädchen sich mit Lipgloss, Popgruppen und Jungen beschäftigten, war Nicole von der Wissenschaft fasziniert gewesen. Sie hatte Frösche operiert und tote Käfer seziert. Doch ihre Altersgefährten blieben ihr ein Rätsel.

Jetzt war sie erwachsen, und immer noch war sie anders als die übrigen Menschen. Dabei hätte sie mittlerweile eigentlich lernen müssen, mit anderen umzugehen und geselliger zu werden.

Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Sie verabredete sich fast nie. Ihre Bestimmung und ihr ganzes Lebensziel war es, kranke Menschen zu heilen. Ihr Leben hatte sie der Medizin verschrieben.

Und wieso tauchte dann plötzlich in ihrem Traum ein großer dunkelhaariger Mann mit sexy Stimme und irischem Akzent auf? Mit umwerfendem Lächeln und einem Blick, der Sehnsüchte in ihr weckte, die ihr völlig neu waren?

Nicole wälzte sich auf die andere Seite und sank wieder in Tiefschlaf.

„Wach endlich auf, Nicole, du machst mir Angst.“

Nicole kuschelte sich tiefer in die Kissen. „Geh weg, Mom, ich muss heute nicht zur Schule.“

„Wenn ich aussehe, als könnte ich deine Mutter sein, dann habe ich etwas Grundlegendes falsch gemacht.“

Nicole riss die Augen auf, und ihr Herz raste. Gut, dachte sie, ich bin zu Hause. Die Sonne scheint – wie ärgerlich. Und Taylor saß auf ihrem Bett und sah so hinreißend schön und elegant wie immer aus.

Stöhnend machte Nicole die Augen wieder zu. „Ich habe dir nicht bei den Vorbereitungen zur Verlobungsfeier geholfen, stimmt’s?“

„Stimmt, aber ich verzeihe dir, weil du es wiedergutmachen wirst. Hier hast du erst mal Frühstück.“

Nicole roch etwas Himmlisches. Sie öffnete ein Auge und sah ein Tablett voller Speisen vor sich. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.

„Du kannst dir sicher denken, dass nicht ich das alles zubereitet habe. Suzanne richtet heute einen großen Brunch aus, und das hier ist für uns abgefallen. Du hast mir eine höllische Angst eingejagt, weil du auf mein Klopfen nicht reagiert hast. Mein Rufen hast du auch nicht gehört. Welcher Mensch hat einen so tiefen Schlaf?“

Nicole blinzelte. „Ich.“

„Du hast offenbar wieder zu viel gearbeitet. Nicole, das kann doch nicht gesund sein.“

Nicole schloss die Augen wieder. Mit Mitgefühl konnte sie nichts anfangen. Wenn ich mich nicht bewege, verschwindet Taylor vielleicht einfach wieder wie ein Trugbild, dachte sie.

„Sie sind ein Morgenmuffel, stimmt’s?“

Die Männerstimme kam aus der anderen Ecke des Zimmers. Nicole hatte eigentlich gedacht, ihr Herz hätte bei Taylors Anblick schon gerast, aber jetzt überschlug es sich förmlich. Sie hatte die Stimme sofort erkannt, auch wenn sie den Mann gestern nur ganz kurz gesprochen hatte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, dabei war ihr überhaupt nicht kalt.

Nicole verdrängte dieses unwillkommene Gefühl, indem sie sich auf ihre Wut konzentrierte. „Was zum Teufel …“

„Bevor du dich aufregst und sauer auf mich wirst, lass es mich dir erklären.“ Taylor drückte sie zurück aufs Bett.

Nicole wusste, dass sie körperlich jederzeit gegen Taylor ankam. Wann immer sie die Zeit dafür fand, trainierte sie. Taylor dagegen schien sich nur dadurch fit zu halten, dass sie die Haarbürste hob und senkte. Dennoch hielt etwas sie davon ab, Taylors zierlichen Hals zu würgen: Sie schlief nackt. Das hieß also, sie würde nackt aus dem Bett springen müssen, um sich gegen Taylor zu wehren.

„Wieso ist er hier?“ Sie presste die Zähne zusammen und hielt angespannt die Bettdecke vor ihre Brüste.

Tys durchdringender Blick ruhte auf ihr. Aus seinen hellblauen Augen sprach Belustigung, Neugier und noch eine Menge mehr.

Taylor drehte den Kopf nach hinten und blickte zu dem großen fabelhaft aussehenden Mann. „Ihr kennt euch bereits?“

„Das kann man wohl sagen“, stieß Nicole aus.

„Prima, denn ich werde ihm den Auftrag geben, das Haus zu renovieren, bevor es auseinanderfällt. Dazu wird es also auf keinen Fall kommen, mach dir bloß keine Sorgen“, fügte sie schnell hinzu.

„Taylor.“ Nicole rieb sich die Schläfen. „Komm zum Punkt. Wieso ist er hier? In meinem Schlafzimmer!“

„Nun, ich stand vor deiner Tür und habe mir die Lunge aus dem Hals geschrien. Allmählich geriet ich schon in Panik. Da hat er mir angeboten, die Tür aufzubrechen, weil ich meinen Schlüsselbund nicht bei mir hatte. Er ist nicht nur ein ausgezeichneter Architekt, sondern auch ein sehr geschickter Handwerker.“

„Lass mich raten.“ Nicole sah zu Ty, der hinter Taylor stand und lächelte. „Er hat es mit einer Kreditkarte gemacht, stimmt’s?“

„Ja, genau. Toller Trick, findest du nicht?“

„Hm.“ Nicole runzelte die Stirn. Es störte sie, dass Ty so gelassen wirkte, als gehöre er hierher in ihr Schlafzimmer. In mein Schlafzimmer gehört kein Mann, dachte sie, auch wenn er noch so gut aussieht. Ihr Blick glitt über sein hellblaues Baumwollhemd und die Jeans. Die Ärmel hatte er hochgeschoben, und die Jeans saßen so eng, dass ihr ganz heiß wurde. „Haben Sie diesen Trick mit der Kreditkarte in Irland gelernt?“

„Wie kommen Sie denn darauf?“ Er klang vollkommen unschuldig.

Offenbar konnte er auch noch gut schauspielern. „Weil ich Ihren Akzent erkenne.“

„Ich war lange in England“, erklärte Ty gelassen. „Dort habe ich gelebt.“

Er kam näher, um sich anzusehen, was Nicole auf ihrem Tablett hatte, nahm sich einen Toast und betrachtete Nicole. Sein Blick war so intensiv, dass sie am ganzen Körper erschauerte. Ty biss in den Toast und kaute etwas. Dann leckte er sich ein wenig Butter vom Finger. Es hatte etwas aufreizend Erotisches, und unwillkürlich richteten Nicoles Brustspitzen sich auf.

„Ich dachte, Sie hätten in Schottland gelebt.“

Ty beugte sich vor und hielt ihr den Toast so dicht vor die Lippen, dass Nicole nichts anderes übrig blieb, als abzubeißen.

„Da war ich auch“, antwortete er und ließ sie noch einmal abbeißen. Mit dem Daumen strich er ihr die Butter von der Unterlippe. „Und in Australien war ich auch, falls es Sie wirklich interessiert.“

Nicole spürte seine Berührung bis in die Zehenspitzen, und ihr wurde immer wärmer. Direkt in Augenhöhe vor ihr befand sich der Reißverschluss seiner Jeans. Sie konnte gar nicht übersehen, wie stark er sich nach vorn wölbte.

„Ich musste doch sichergehen, dass es dir gut geht.“ Taylor nahm sich ein Stück Pfirsich. „Tut mir leid, dass ich hier eingedrungen bin, aber wenn du gerade mal nicht wie eine Verrückte arbeitest, schläfst du wie eine Tote.“

„Und Sie reden im Schlaf“, sagte Ty lächelnd.

Nicole wollte protestieren, da schob Taylor ihr schnell ein Stück Pfirsich in den Mund. Als Nicole automatisch hineinbiss und sich der fruchtige, süße Geschmack in ihrem Gaumen ausbreitete, musste sie husten.

„Das nennt man Obst.“ Tadelnd schüttelte Taylor den Kopf. „Kennst du vielleicht nicht, aber es ist eine sehr wertvolle Nahrung, die man allerdings nicht zu Gesicht bekommt, wenn man sich immer nur was vom Imbiss holt.“

„Taylor!“

„Wenn du so weiterlebst, bringst du dich noch um.“ Taylor wirkte ernstlich besorgt. „Versprich mir, dass du das hier alles aufisst. Die Eier, die Würstchen, den Toast, das Obst. Alles.“

Nicole seufzte. „Es hat sich noch kein Vermieter darum geschert, wie ich mich ernähre.“

Taylor richtete sich auf und strich sich die Krümel von den Händen. „Mehr bin ich nicht für dich als deine Vermieterin?“

Als Nicole sah, dass Taylor jetzt nicht nur besorgt, sondern auch verletzt war, wich sie ihrem Blick aus und starrte an die Decke. „Das ist genau der Grund, wieso ich mich von meinen Mitmenschen fernhalte.“

Taylor wirkte nun leicht verunsichert, was bei ihr so gut wie nie vorkam. „Tut mir leid. Ich gehe jetzt. Gib Suzanne bitte ihr Tablett zurück, dann …“

Nicole hielt sie am Handgelenk fest. „Hör bitte auf. Es tut mir leid.“

„Dazu besteht kein Grund.“

Seufzend zog Nicole an Taylors Arm, bis sie sich wieder aufs Bett setzte. „Ich bin eine Idiotin, okay? Aber ich weiß einfach nicht, wie man sich … anfreundet.“

„Dann sind wir Freundinnen?“

„Das weißt du doch genau. Es sei denn, du versuchst weiterhin, mich mit Obst zu ersticken.“

„Na, dann.“ Taylor nahm sich einen Toast. „Hier ist ja genug, um eine ganze Armee zu versorgen. Ty, möchten Sie ein Würstchen? Seien Sie nicht so schüchtern. Suzanne ist wegen der anstehenden Hochzeit so nervös, dass sie viel zu viel gekocht hat.“

„Taylor …“ Nicole wollte sie bremsen, aber dann blieb ihr fast die Luft weg, als Ty sich nun zu ihnen setzte. Auf die andere Seite des Bettes. Mit seinen langen Beinen berührte er ihre Schenkel. Zwischen ihnen war zwar die Bettdecke, dennoch löste die Nähe seines warmen, festen Körpers ein Kribbeln in ihr aus, als stünde sie unter Strom.

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, als Ty sich zu ihr drehte und ihr in die Augen blickte. Brennendes Begehren regte sich in ihr. Sie hatte davon gehört, dass es so etwas gab, aber bislang hatte sie es noch nie erlebt. Auf jeden Fall nicht so plötzlich und so stark.

Sie presste die Bettdecke an ihren nackten Körper und sah hilflos zu, wie ihre beiden ungebetenen Gäste sich über das Frühstück hermachten, das sie auf den Knien balancierte. Die ganze Situation hatte etwas Unwirkliches.

Den Blick immer noch unverwandt auf ihre Augen gerichtet, steckte Ty ein Stück Apfel zwischen seine makellos weißen Zähne und biss ab.

Etwas Unwirkliches und viel zu Erregendes, dachte Nicole. „Ich muss aufstehen.“

Taylor nahm sich einen Keks, als hätte Nicole nichts gesagt. „Hm, die sind einfach himmlisch. Ty?“

Er beugte sich über das Bett und ließ sich von Taylor einen Keks in den Mund stecken.

„Sind die nicht köstlich?“, fragte Taylor nach.

Ty leckte sich die Lippen und schaute erneut Nicole an. „Allerdings.“

„Mehr?“, fragte Taylor. „Ein Mann Ihrer Größe, der so schwer arbeitet, muss doch bei Kräften bleiben.“

Nicole, die immer noch ihre Bettdecke umklammert hielt, hätte fast mit den Zähnen geknirscht. „Ich muss wirklich … He!“ Sie konnte nicht weitersprechen, denn Ty schob ihr einen Keks in den Mund. Er tat es nicht sehr sanft, und sie musste den Mund schnell schließen, um sich nicht vollzukrümeln.

Der Blick seiner hellblauen Augen hielt sie in seinem Bann, und sie konnte sich nicht einmal beschweren, weil sie den Mund voller Keks hatte. Kekse, die wirklich fantastisch schmeckten. Das wollte sie aber unter keinen Umständen zugeben.

„Ich frühstücke nie.“ Sie unterdrückte einen wohligen Seufzer, als sie den Keks herunterschluckte. „Ich trinke sonst nur …“

„Kaffee“, beendete Ty den Satz für sie und beugte sich so dicht zu ihr, dass seine Lippen sie fast berührten. „Das wissen wir bereits. Hier ist er doch. Sie bekommen noch Magengeschwüre, wenn Sie so weitermachen.“ Tadelnd schüttelte er den Kopf. „Dabei sind Sie Ärztin und sollten es besser wissen.“

„Sie gefallen mir“, sagte Taylor und lächelte Ty an. „Wir könnten bei Nicole gut zusammenarbeiten. Mir ist klar, dass Sie noch viele andere Aufträge haben, aber könnten Sie nach diesem Job nicht vielleicht noch eine Weile hier bleiben und meine Freundin zu einer besseren Ernährung erziehen?“

„Ich muss jetzt wirklich aufstehen“, sagte Nicole entschieden. „Könntet Ihr zwei vielleicht …“ Sie deutete zur Tür.

„Na los doch.“ Tys Blick bekam etwas Herausforderndes. „Stehen Sie auf.“

Nicole dachte daran, dass sie nackt war, zog die Bettdecke noch etwas höher zum Kinn. Sie war noch nie schüchtern gewesen und fühlte sich in ihrer Haut normalerweise sehr wohl. Schließlich war sie in einem winzigen Haus und mit einer großen Familie aufgewachsen, da hatte es für niemanden viel Privatsphäre gegeben. Im Studentenwohnheim war es nicht viel anders gewesen, und in den Umkleideräumen im Krankenhaus war sie meistens ebenso wenig allein wie im Moment in ihrem Schlafzimmer. Aber Tys Nähe beunruhigte sie. Er wirkte voller Leben und männlicher Kraft. Sie konnte sich genau vorstellen, welchen Typ Frau er bevorzugte: Frauen mit langen Haaren, großen Brüsten und runden Hüften.

Frauen, die das genaue Gegenteil von ihr waren. Sonst machte ihr Aussehen ihr nichts aus, aber im Moment fühlte sie sich mit ihren kleinen Brüsten und den schmalen Hüften nicht sehr weiblich.

Genau in diesem Augenblick meldete sich ihr Pieper. Offenbar lag er auf dem Stuhl unter dem Haufen Kleidung.

Taylor hob die Hand, damit Nicole liegen blieb. „Heute ist dein freier Tag.“

„Ich kann den Pieper nicht einfach missachten.“ Allerdings wünschte Nicole, dass sie gestern Nacht noch mehr Sachen auf den kleinen Apparat gehäuft hätte. Mit ein bisschen mehr zum Beispiel Schmutzwäsche darüber hätte man den Pieper nicht gehört. „Also schön, der Spaß ist vorbei. Ihr habt eure Pflicht getan und mich gefüttert. Jetzt verzieht euch.“

„Nicole.“ Taylor blieb sitzen. „Rühr diesen Pieper nicht an.“

Nicole wandte sich an Ty, der sie lächelnd ansah. „Ich muss aber.“

„Natürlich, Darling.“ Einladend wies er auf den Stuhl. „Gehen Sie nur, wenn es für Sie so wichtig ist.“

„Dafür müssen Sie sich erst mal vom Fleck bewegen.“

Hilfsbereit rutschte Ty zum Fußende. „Auf geht’s.“

So würdevoll wie möglich zog Nicole die Bettdecke um sich und hielt sie wie einen Rettungsring fest, während sie aufstand. Sicher hatte niemand etwas gesehen. Dennoch traute sie sich nicht, zu Ty zu blicken, bevor sie mit hoch erhobenem Kopf zum Stuhl ging.

Sie musste ein paar Zeitschriften und Kleider auf den Boden werfen, doch dann konnte sie die Nummer des Anrufers lesen. Ja, es war die Klinik.

„Verrat es mir nicht.“ Taylor stand auf. „Du fährst hin. Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, weißt du das?“ Nach einem entnervten Seufzer ging sie zur Tür. „Aber wir werden dir zur Seite stehen, wenn du zusammenbrichst.“

„Wir?“

„Suzanne und ich natürlich. Du bist doch auf uns angewiesen. Verschwinde schon. Verausgabe dich bei der Arbeit bis zur totalen Erschöpfung.“

„Das werde ich, vielen Dank.“ Es belustigte Nicole, dass Taylor offenbar wirklich erschüttert war. Sie drehte sich zu Ty um. „Sie sollten meine Wohnungstür mittlerweile ja im Schlaf finden. Ich gehe duschen.“

„Vielleicht sollten Sie den Kaffee mitnehmen.“ Er hielt ihr die Tasse hin.

„Danke.“ Sie versuchte, nicht verklemmt zu wirken, während sie, in ihre Bettdecke geschlungen, ins Bad schlurfte. Die Tür schloss sie etwas energischer als geplant. Es klang fast wie ein Gewehrschuss. Aber hier war für sie die Grenze erreicht. Wenn sie schon vor Publikum aufwachte und frühstückte, dann wollte sie wenigstens allein duschen. Mochte der Kerl, den sie in ihrem Schlafzimmer vorgefunden hatte, auch noch so gut aussehen.

Das heiße Wasser wirkte Wunder, und Nicole blieb so lange unter der Dusche, bis der Strahl langsam kühl wurde. Seufzend drehte sie den Wasserhahn zu und stieg aus der Kabine.

Mist, auf diesen freien Tag hatte sie sich wirklich gefreut!

Es war kein trockenes Handtuch mehr im Regal, also musste sie wohl auf den Stapel mit gebrauchten Handtüchern zurückgreifen, der sich neben der Duschkabine anhäufte. Im Schlafzimmer lag auch so ein Haufen. Mittlerweile betrachtete sie die beiden als natürliche Gebirgszüge in ihrer Wohnung und hatte sich richtig an sie gewöhnt.

Während sie sich abrieb, betrachtete Nicole sich im Spiegel. Nicht schlecht, dachte sie. Auch wenn sie gern etwas größer wäre. Aber der Knochenbau gefiel ihr. Dank ihres Kraft- und Fitnesstrainings fühlte sie sich wie ein schlankes Energiebündel.

Etwas mehr Oberweite wäre allerdings auch nicht übel.

Sie musste fast lachen. Was wollte sie denn mit einem aufregenden Dekolleté anfangen? Die Männer standen bei ihr ja nicht gerade Schlange.

Immer noch lächelnd öffnete Nicole die Tür und ging zurück ins Schlafzimmer. Auf dem Weg ließ sie das Handtuch fallen – und bemerkte Ty, der auf ihrem Bett saß und ein Glas Orangensaft hochhielt.

Er muss mich ja so deutlich sehen wie ich ihn, fuhr es ihr durch den Kopf.

Das Glas rutschte Ty aus den Fingern und zerschellte zeitgleich mit Nicoles Aufschrei auf dem Boden.

Hastig bückte sie sich nach ihrem Handtuch. „Was tun Sie da?“

„Ich …“

Sie richtete sich wieder auf und wich seinem Blick aus, während sie das Handtuch wieder um sich schlang und feststeckte. „Ich dachte, Sie seien schon weg!“

„Ich …“ Ty fluchte innerlich. Aber er konnte einfach keinen vernünftigen Satz herausbringen, weil er immer noch Nicoles leicht feuchten, schlanken, festen Körper vor Augen hatte. Er stand auf und bemerkte, dass seine Knie ein wenig zitterten.

Was war denn mit ihm los? Nicole war doch gar nicht sein Typ. Seine Idealfrau war blond und mit weichen Kurven. An Nicole war nichts weich. Weder ihr durchtrainierter Körper noch ihre Stimme, und schon gar nicht ihr Blick.

Wieso bekam er sie dann nicht aus dem Kopf und konnte den Blick nicht von ihr lösen? „Tut mir leid. Ich wollte nur dafür sorgen, dass Sie den Orangensaft trinken.“

„Das ist mir jetzt aber schlecht möglich, oder?“ Energisch zerrte sie das Handtuch über den Brüsten zurecht.

Kleine, perfekt gerundete feste Brüste, dachte Ty. Mit rosigen Spitzen. Irgendwie gelang es ihm, auf einigermaßen sicheren Beinen zu Nicole zu gehen, ihr Kinn anzuheben und ihr in die vor Wut und Verlegenheit blitzenden Augen zu blicken. „Es tut mir wirklich leid“, wiederholte er leise.

„Ja.“

Sein Blick glitt zu ihrem Mund, und sofort stellte er sich vor, sie zu küssen, bis sie seufzend vor Lust jeden Widerstand aufgäbe. Bis sie sich ihm leidenschaftlich hingäbe. Was bin ich doch für ein Mistkerl!, dachte er. „Sie sollten wissen, dass ich mich zu Ihnen hingezogen fühle. Ich kann es selbst nicht erklären.“

„Obwohl Sie mich nackt gesehen haben? Na, sieh mal einer an.“

Sie glaubt mir nicht, dachte er. Er atmete tief ihren Duft ein – womit er seine erotischen Fantasien nur noch mehr anregte. Aber das war doch alles völlig unsinnig, jedenfalls mit dieser Frau. Sie würde sich niemals mit einem so unsteten Mann wie ihm abgeben. Er wusste ja selbst nie, wann ihn das Reisefieber packte.

Damit kam keine Frau zurecht, egal von welchem Erdteil sie stammte.

Andererseits suchte er auch gar keine feste Bindung.

„Sie sind schön, Nicole.“ Er hörte seine Stimme wie von einem Fremden. „Verdammt schön.“ Zart strich er ihr über die Wange.

Erst als er schon aus dem Haus war und in seinem Auto saß, stieß Ty die Luft aus, die er die unbewusst angehalten hatte. Ratlos blickte er vor sich hin.

Er hatte ernst gemeint, was er ihr gesagt hatte. Er konnte sich diese Anziehungskraft nicht erklären. Und Nicole war wirklich schön. Allein bei dem Gedanken an ihren schlanken Körper überkam ihn sofort wieder brennende Begierde, und das gefiel ihm nicht.

Das gefiel ihm überhaupt nicht.

3. KAPITEL

In den nächsten zwei Tagen arbeitete Nicole so viel, dass es ihr gelang, zu vergessen, dass Ty sie nackt gesehen hatte. Erst am Ende ihrer aufreibenden Schichten, als sie vor ihrem Spind im Umkleideraum für Ärzte stand, wurde ihr bewusst, dass sie am nächsten Tag frei hatte.

Schlaf, ich komme!, dachte sie und seufzte wohlig.

„Das war aber ein interessanter Seufzer“, ertönte eine Männerstimme hinter ihr.

Sofort wünschte Nicole, sie wäre fünf Minuten früher fertig gewesen. Dr. Lincoln Watts war Leiter der Chirurgie und damit ihr Chef. Seine Fähigkeiten als Chirurg konnte sie nur neidlos anerkennen, doch außerhalb des OPs war er, kurz gesagt, ein mieser Typ. Die Krankenschwestern hassten ihn, und sämtliche Hilfskräfte fürchteten sich vor ihm. Von den anderen Ärzten wurde er nur toleriert, weil er ihr Vorgesetzter war und weil man sich nur Ärger einhandelte, wenn man sich mit ihm anlegte. Denn Dr. Lincoln Watts besaß das Gedächtnis eines Elefanten.

Als Jüngste im Team hatte Nicole gelernt, sich unauffällig zu verhalten. Sie machte ihre Arbeit gut, und mehr wollte sie nicht.

Im Moment betrachtete Dr. Watts ihren Po.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Nicole höflich und drehte sich zu ihm um, damit er ihr ins Gesicht sah.

Er ließ den Blick an ihr hinaufwandern, und jetzt war sie froh, dass ihre Brüste nicht so groß waren. Dieser Mann sollte bei ihrem Anblick so wenig Lust wie möglich verspüren.

„Und ob Sie mir helfen können.“ Er lächelte, als er ihr nun in die Augen sah. „Tja, ich glaube, das können Sie tatsächlich.“

Verdammt!

„Kommen Sie heute Abend mit mir zur Wohltätigkeitsveranstaltung.“

Diese Veranstaltung fand jedes Jahr statt, um reiche Gäste zum Spenden zu bewegen. Das Krankenhaus war auf diese Spenden angewiesen, und die Gäste konnten die Spenden von der Steuer abschreiben. Auf diese Weise waren alle glücklich.

Allerdings müsste Nicole einen ganzen Abend lang strahlend lächeln und sich herausputzen. Sie konnte es aber nicht ausstehen, stundenlang zu lächeln und zu plaudern, deshalb hatte sie es dieses Jahr so arrangiert, dass sie an dem Abend arbeiten musste, damit sie dem ganzen Trubel entgehen konnte.

„Tut mir leid, ich arbeite“, antwortete sie.

„Das kann ich für Sie regeln.“

Und als Dank soll ich mit ihm ins Bett, vermutete Nicole. „Nein, danke. Es macht mir nichts aus, wenn ich den Ball versäume.“

„Ich will, dass Sie mit mir kommen.“

Und was Dr. Watts wollte, das bekam er auch. „Entschuldigen Sie, Dr. Watts, aber das wäre den Kollegen gegenüber unfair.“

„Linc.“

„Wie bitte?“

Er fuhr ihr mit dem Finger über die Schulter, und fast wäre sie angewidert zusammengezuckt.

„Nennen Sie mich Linc“, sagte er sanft. „Ich würde es als persönlichen Gefallen ansehen, wenn Sie mich begleiten.“

Nicole hatte schon mit acht Jahren perfekt rechnen können, aber das Einmaleins im Umgang mit Menschen beherrschte sie nicht. „Ich sagte Nein.“

Dr. Watts Blick wurde kalt, und dann, ohne ein weiteres Wort, verschwand er.

Unbehaglich sah Nicole ihm nach. Hatte sie gerade ihre Karriere beendet, weil sie keine Lust hatte, mit ihrem Chef ins Bett zu steigen?

Nicole war nach Hause gefahren. Auf dem Weg ins Haus kam sie an einem großen bronzenen Löwen vorbei und an einem alten Grammophon, an einer mit Schnitzereien verzierten Kommode und an einer Standuhr aus Marmor.

Taylor, das arme reiche Mädchen!, dachte Nicole. Taylor war im Reichtum aufgewachsen, und jetzt besaß sie nur dieses Haus und die Antiquitäten, die sie ihr Leben lang gesammelt hatte. Nun verkaufte sie einzelne Stücke, um mit dem Erlös die Renovierung des Hauses zu finanzieren. Taylor war einfallsreich, das musste man ihr lassen.

Ein Bär aus Holz mit einem Fisch im Maul saß auf der Treppe. Auf der nächsten Treppe standen, ordentlich aufgereiht, gerahmte Kunstdrucke. Nicole betrachtete gerade eine gemalte Schale Obst und stellte fest, dass sie hungrig genug war, um sogar Früchte zu essen, als Taylor die Tür ihres Apartments aufriss.

Mist, dachte Nicole. Jetzt will sie bestimmt über ihre neuesten Pläne für die Party mit mir sprechen. „Ich bin wirklich müde.“ Sie seufzte dramatisch, um Taylors Mitleid zu wecken.

Doch Taylor streckte die Hand aus und zog Nicole mitleidlos zu sich in die Wohnung. „Wir müssen miteinander reden.“

„Aber …“

„Du bist müde, ja, schon gut, ich weiß. Das habe ich mir bereits gedacht und deshalb die Party auch alleine geplant.“

Nicole war ihr dafür sehr dankbar und bekam nun ein schlechtes Gewissen, weil sie zuerst so barsch gewesen war. „Vielen Dank, dass du …“

„Dank mir nicht, Supergirl. Du brauchst ein Kleid.“

„Oh nein!“

„Oh doch! Und mach dir erst gar keine falschen Hoffnungen, dieses Kleid wird kein Fummel sein, sondern schick.“

„Aber …“

„Dann wirst du es dir beim nächsten Mal überlegen, ob du mir die Planung noch einmal allein überlässt.“

„Stell die Pläne um.“

„Nein“, sagte Taylor unnachgiebig. „Suzanne verdient es.“

„Schon, aber …“

„Etwas Schickes.“ Taylor nickte entschieden. „Ein Kleid aus Seide und Spitze. Dazu hohe Pumps, Make-up und eine tolle Frisur. Kurzum: das ganze Drum und Dran.“

Nicole hatte heute zwei kritische Operationen hinter sich und Dr. Watts sexistischen Annäherungsversuch. Aber das war alles nichts gegen die Vorstellung, sich schick machen zu müssen. „Du machst Witze.“

„Kleines, über Mode mache ich nie Witze. Wir beide treffen uns an deinem nächsten freien Tag zum Einkaufsbummel.“

Nicole fluchte so heftig, dass Taylor lachen musste.

„Oh, Nicole, und weil ich die Party allein geplant habe, bist du mir einen Gefallen schuldig.“

Seufzend dachte Nicole an ihr Bett. „Taylor, bitte.“

„Keine Sorge, es ist nicht schwer. Das hier muss in Tys Büro.“ Sie drückte Nicole einen Stapel Pläne in die Hand. „Gefällt er dir?“

„Wer?“

„Ty!“ Taylor musste lachen. „Natürlich gefällt er dir. Warum auch nicht? Er ist unglaublich sexy und hat einen tollen Körper.“ Sie seufzte dramatisch. „Wirklich schade, dass er und ich uns zu ähnlich sind. Wir würden uns nur gegenseitig umbringen.“

Nicole schüttelte ahnungsvoll den Kopf. „Erzähl mir nicht, warum. Ich will es gar nicht wissen.“

„Ich erzähl’s dir trotzdem. Ty und ich, wir sind unstete Geister. Wir ziehen beide umher, von einem Ort zum anderen.“

„Du und unstet?“

„Unglaublich, aber wahr. Bevor ich hier eingezogen bin, habe ich kein Jahr am selben Ort verbracht. Ty hat so ein Zuhause wie ich noch nicht gefunden. Mit ihm wäre mein Leben eine ständige Auseinandersetzung. Gegen eine kleine heiße Affäre hätte ich nichts einzuwenden, und Ty ist ein wirklich sexy Typ, aber für mich ist er leider tabu.“

Nicole hielt sich die Ohren zu, so gut das mit den Plänen auf ihren Armen ging, aber Taylor lachte nur.

„Geh schon. Sag ihm, dass er den Auftrag hat. Die Adresse des Büros steht auf dem Aufkleber. Es ist keine drei Minuten von hier.“

Bevor Nicole etwas erwidern konnte, hatte Taylor sie umgedreht und aus der Tür geschoben. Entrüstet fuhr sie herum, aber Taylor verschloss schnell die Tür.

„Ich mache das nicht“, rief Nicole.

„Dann komm wieder rein und hilf mir bei der Auswahl der Servietten, der Platzdeckchen und der Speisefolge für die Party.“

Nicole blickte auf Tys Adresse und hatte plötzlich das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch. Wie kam es nur, dass ihr immer heiß wurde, wenn sie an Ty dachte? Und jedes Mal richteten ihre Brustknospen sich auf. „Das ist eine ganz blöde Idee, Taylor.“

„Seit wann hast du Angst vor einem Mann?“, rief Taylor durch die geschlossene Tür zurück.

Seit es einen Mann gab, der Gefühle in ihr weckte, die sie nicht verstand. „Ich kann das nicht.“

„Gib die Pläne einfach ab, Nicole. Du sollst ihn ja nicht gleich heiraten.“

Ja, danke. Durch diese Versicherung ging es ihr auch nicht besser. Seufzend ging Nicole die Treppe wieder hinunter und stieg wieder in ihr Auto.

Ty hatte Kopfschmerzen. Er hatte einen langen Arbeitstag hinter sich, und gerade eben war wieder eine E-Mail angekommen. Reglos stand er da und blickte auf die Zeilen. Dann schloss er fluchend die Augen, um in der nächsten Sekunde wieder auf den Bildschirm zu sehen.

Ich bin sicher, dass Sie Ty Patrick O’Grady aus Dublin sind. Anne Mary Mulligan aus Dublin war Ihre Mutter. Bitte bestätigen Sie das.

Margaret Mary

Wieso suchte eine Frau namens Margaret Mary nach ihm? Ty konnte es sich nicht erklären. Weshalb wollte sie unbedingt, dass er seine Herkunft bestätigte? Wusste sie etwas von seiner Kindheit?

Er war noch ein Kind gewesen, als er Dublin verlassen hatte, und seitdem hatte er nicht mehr zurückgeblickt. Warum auch? Mit Dublin verband ihn nichts mehr. Sein Vater war sturzbetrunken bei einer Schlägerei ums Leben gekommen, als er ein Jahr alt gewesen war. Seine Mutter hatte eine Bar gehabt und die Zimmer über der Bar vermietet, wenn sie gerade Geld gebraucht hatten. Das war eigentlich immer der Fall gewesen. Er war für seine Mutter nur ein Fehler gewesen, an den sie nur ungern erinnert wurde.

Er war ihr deswegen nicht böse gewesen, denn so war ihm genug Freiraum geblieben, um zu tun, was ihm gefiel. Seine Mutter hatte häufig vergessen, ihm etwas zu essen und zum Anziehen zu geben. Von ihr bekam er nur eine Matratze, auf der er schlafen konnte. Also hatte er sich sein Essen selbst besorgt. Kleidung hatte er sich gestohlen, und er hatte sich mit einer Gang herumgetrieben, die denen in Los Angeles in nichts nachstand.

Mit zehn Jahren hatte er den ersten Mord erlebt. Es war um ein Paar Stiefel gegangen.

Als er elf war, hatte seine Mutter die Bar verkauft und war weggezogen. Ohne ihn.

Mit siebzehn hatte er sich selbst als hoffnungslosen Fall betrachtet. Und dann hatte er einen Fehler gemacht, indem er versuchte, einem australischen Touristen das Portemonnaie zu stehlen. Der Mann, Seely McGraw, war Polizist gewesen. Anstatt ihn ins Gefängnis zu bringen, hatte er ihn mit sich nach Australien genommen. Irland hatte ihm keine Träne nachgeweint.

In Australien hatte Seely ihn durch die restliche Schulzeit gebracht und aus ihm einen einigermaßen anständigen Menschen gemacht. Das, was ihn umtrieb, immer weiterzuziehen, hatte er allerdings nicht zum Schweigen bringen können.

Nach Seelys Tod hatte er seine Reiselust ausgelebt und war in Europa, Asien, Afrika und Südamerika gewesen. Dann war er in die USA gekommen und schließlich in Kalifornien gelandet.

Jetzt, zum ersten Mal im Leben, gefiel es ihm wirklich an einem Ort, und er hatte sich ein Zuhause geschaffen.

Manchmal fragte er sich, wie lange es dauern mochte, bis es ihn wieder weitertrieb. Das konnte sicher nicht mehr lange dauern, aber bis dahin wollte er sein Hiersein genießen. Hin und wieder wunderte er sich regelrecht darüber, wie weit er es gebracht hatte.

Das Leben hier gefiel ihm. Er hatte einen Beruf, der ihm Spaß machte, und Geld besaß er mehr als ausreichend.

Doch jetzt wollte jemand ihn unbedingt an seine Vergangenheit erinnern, als er noch der kleine Herumtreiber in Irland gewesen war.

Wütend tippte er eine Antwort ein.

Wer will das wissen?

Nein, das klang ja wie eine Ermutigung zu weiteren E-Mails. Dabei wollte er seine Vergangenheit vergessen.

Doch bevor Ty dazu kam, seine Frage zu löschen, klopfte es an der Tür, und er rief: „Herein.“ Da er den Pizza-Service erwartete, hatte er die Tür offen gelassen.

„Hier hinten“, rief er und stand auf. Hoffentlich hatten sie nicht wieder das Bier vergessen.

„Ty?“

Das war nicht die Pizza, das war Nicole! Sie blickte ihn mit ihren großen grauen Augen an, und schlagartig war er heiß erregt. Diese Frau machte ihn schwach vor Begehren, und er hasste es, Schwächen zu haben. Dennoch sehnte er sich unbändig danach, ihre Lippen zu küssen und ihren Körper zu spüren. Offenbar sah man ihm seine Gedanken an, denn Nicole hob nun leicht irritiert die Brauen.

Rasch blickte Ty an sich hinunter. Nach dem Duschen hatte er sich kein Hemd mehr angezogen, und auch der Hosenknopf seiner Jeans stand offen. Als er den Knopf jetzt schloss, glitt Nicoles Blick von der Tätowierung an seinem Arm zu der Stelle seines Körpers, wo er am intensivsten auf ihre Nähe reagierte.

„Ich dachte, es sei der Pizza-Service“, erklärte er.

Abrupt blickte Nicole auf. Sie wirkte, als könne sie sich nicht mehr erinnern, weswegen sie hergekommen war.

„Das kommt von Taylor“, sagte sie plötzlich und drückte ihm den Stapel Pläne, den sie bei sich trug, in die Hand. „Sie haben den Job, Mr. Architekt.“ Damit drehte sie sich um.

„Nicole.“

Reglos verharrte sie, ohne sich umzudrehen. „Ja?“

Was hatte er gerade sagen wollen? Irgendetwas. „Ich habe den Job?“

„Habe ich das nicht gerade eben gesagt?“

„Ja, das haben Sie, Darling. Also, dann sollten wir feiern.“

Sie fuhr herum. „Feiern?“

„Genau.“ Dieser glutvolle Blick gefiel ihm. Er zeigte, dass sie genauso aufgewühlt war wie er.

„Das mit Ihrem irischen Akzent ist wirklich merkwürdig.“ Nicole stützte die Hände in die Hüften. „Sie sagen, Sie hätten keinen, aber als Sie eben ‚Herein!‘ gerufen haben, da war der Akzent wieder da. Sobald Sie mich dann erkannt haben, war er wieder weg. Und gerade eben haben Sie noch sehr wütend ausgesehen und überhaupt nicht in der Stimmung zum Feiern.“ Sie blickte zum Computer. „Macht der Computer Sie wütend?“

„Nein.“ Ty legte die Unterlagen beiseite und wollte seinen Monitor abschalten, aber aus Versehen drückte er die Enter-Taste und schickte damit seine Frage an den Absender der E-Mail – an Margaret Mary.

Wütend auf sich selbst blickte er auf den Bildschirm und fluchte laut.

„Was ist denn?“

„Ach, nichts.“ Ty wandte sich vom Computer ab und atmete tief durch, bevor er sich an die Wand lehnte und Nicoles Anblick genoss.

Sie trug enge schwarze Jeans und ein schlichtes, schwarzes, ärmelloses T-Shirt, das die Jeans nicht ganz erreichte. Er konnte ein bisschen nackte Haut von ihrem flachem Bauch sehen, und dass im Bauchnabel ein kleiner Diamant blitzte. Frisiert hatte sie sich offenbar nur, indem sie sich mit den Fingern durchs Haar gefahren war, und ihr Make-up bestand nur aus Lipgloss. Sie strahlte Willensstärke und Selbstbewusstsein aus. Er konnte es selbst kaum glauben, aber das und ihre Aufmachung, Nicole insgesamt, wirkte so anziehend auf ihn, dass er sich am liebsten auf sie gestürzt hätte.

„Wieso spielt es eine Rolle, in welcher Stimmung ich eben noch war? Jetzt ist mir nach Feiern zumute.“

„Nun, mir nicht“, entgegnete sie.

Sie klang aufgebracht und wütend. Von der ruhigen, beherrschten Ärztin war nichts mehr zu spüren. Wahrscheinlich hätte er das schon eher bemerken sollen, es in seiner Erregung aber nicht getan, doch jetzt fiel ihm auf, wie erschöpft und unglücklich sie offenbar war. „Stimmt etwas nicht?“

Sie hob nur eine Schulter und sah weg.

„Nicole?“ Gern hätte er sie an sich gezogen und getröstet. Dabei war er in seinem Leben noch nie der Kuscheltyp gewesen. „Hatten Sie einen schweren Tag im Krankenhaus?“

Wieder zuckte sie nur mit den Schultern.

Wollte sie, dass er es aus ihr herauslockte? Na schön. Jedenfalls wollte er jetzt unbedingt wissen, was sie bedrückte. „Haben Sie einen Patienten verloren?“

Nicole seufzte, und für eine so zierliche Person klang dieser Seufzer viel zu schwer. „Heute nicht, zum Glück.“

„Hat jemand damit gedroht, Sie zu verklagen?“

Sie musste lächeln. „Heute nicht, zum Glück.“

Wenigstens hatte sie ihren Humor nicht verloren. „Haben Sie eine E-Mail bekommen, durch die Sie an Ihre unerfreuliche Vergangenheit erinnert wurden?“

Lange blickte sie ihn forschend an, während er sich am liebsten die Zunge abgebissen hätte, weil er geredet hatte, ohne nachzudenken.

„Ist Ihnen das passiert?“, fragte sie schließlich.

„Wir reden über Sie.“

„Ich will aber nicht über mich reden.“ Nicole verschränkte die Arme.

„Aha, Sie verstecken Ihre Gefühle. Das weiß ich bei einer Frau zu schätzen, weil ich das nämlich genauso tue.“

„Kein Grund zum Stolz.“

„Weiß ich. Wenn ich einen Cent bekäme für jedes Mal, wenn eine Frau mich dazu bringen wollte, mich zu öffnen und mich bei ihr auszuheulen, dann wäre ich ein reicher Mann.“ Ty lächelte und neigte den Kopf. „Wir sind beide launisch, gereizt und voller Energie. Vielleicht sollten wir unsere Energien bündeln, Darling.“

Nicole runzelte die Stirn, und ihre kleinen Ohrringe blitzten, als auch sie nun den Kopf zur Seite neigte. „Lassen Sie mich raten. Energien bündeln, das heißt bei Ihnen wilder tierischer Sex. An der Wand vielleicht? Im Stehen?“

Diese Frau war wirklich unglaublich. Und sehr wütend. Er stellte sich das vor, was sie gerade beschrieben hatte. „Also …“

„Sie denken dran, stimmt’s?“

„Ja, das tue ich.“

Sie lächelte spöttisch, und er hielt sie schnell am Handgelenk fest, als sie sich abwenden wollte. „Ich denke daran, Nicole, weil Sie es gesagt haben. Außerdem bin ich ein fantasievoller Mensch, und Sie haben mir gerade eben ein sehr anregendes Bild in den Kopf gesetzt.“

„Da ist er wieder“, sagte sie anklagend, „Ihr Akzent. Der kommt immer dann durch, wenn Sie wütend sind oder …“

„Oder erregt?“

Nicole entzog ihm ihre Hand. „Sie sollten wissen, dass ich nur deshalb bereit war, Ihnen die Pläne zu bringen, damit ich Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen kann, dass ich der Anziehungskraft nicht nachgeben werde.“

„Dann geben Sie also zu, dass Sie sich zu mir hingezogen fühlen?“

Sie schien ihn mit ihrem Blick zu durchbohren. „Vergessen Sie’s einfach.“

Um das zu bestärken, legte Nicole die Hände auf Tys Brust. Sie blickte auf ihre Finger und spreizte sie, als wolle sie so viel wie möglich von Ty berühren.

„Was tun Sie da?“, fragte Ty und klang etwas gepresst.

„Ich stoße Sie weg.“

Aber das tat sie nicht.

Langsam legte Ty seine Hände auf ihre und verschränkte seine Finger mit ihren.

Nicole atmete tief aus und hörte, dass auch Ty die Luft ausstieß. Dann blickten sie sich an.

„Wir hätten doch lieber nur darüber reden sollen, wie unser Tag war“, sagte Nicole leise.

„Meiner war schrecklich.“

„Meiner auch.“

„Meine Vergangenheit hat mich eingeholt, und das gefällt mir nicht.“

„Ich bin von meinem Chef angemacht worden.“

„Was soll das heißen?“, fragte Ty „Was hat er getan?“

„Was für eine Vergangenheit?“, fragte Nicole.

„Ach, egal“, sagten sie beide gleichzeitig und verstummten dann.

Wortlos blickten sie sich an.

Nicoles Lippen zuckten, und ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ty erwiderte das Lächeln und merkte, dass ihm bei Nicoles Lächeln auf eine Weise warm wurde, wie er es noch nie erlebt hatte.

„Und wenn wir vielleicht überhaupt nicht sprechen?“, flüsterte sie und beugte sich etwas vor, sodass ihre Lippen nur noch ein winziges Stück von seinem Mund entfernt waren.

Ty sehnte sich nach dem Kuss, aber ihn beschäftigte, was ihr bei der Arbeit passiert war. Er wollte diesen Vorfall nicht kommentarlos hinnehmen. „Nicole, was Ihren Chef betrifft …“

„Nicht mehr sprechen.“

„Aber …“

Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, und Ty atmete schneller.

Leise seufzend lehnte sie sich an ihn. „Du riechst wirklich gut. Wer hätte das gedacht, dass du so gut riechst.“

Auch sie roch gut, und er musste sich sehr zusammennehmen, um sie nicht zu küssen. „Wieso hättest du nicht gedacht, dass ich gut rieche?“

Autor

Barbara Ankrum
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