Träum schön, Kitty-Darling

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Abby ist die Frau seines Lebens! Seit sich die junge Lehrerin um seine Tochter Kitty kümmert, die schrecklich unter dem Tod ihrer Mutter leidet, spürt der Staatsanwalt Jake Granger: Abby verkörpert seine Zukunft, ein Leben voller Glück! Doch dem verweigert sie sich...


  • Erscheinungstag 28.12.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787226
  • Seitenanzahl 149
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Warum ausgerechnet ich? Und warum ausgerechnet heute?“, murmelte der stellvertretende Staatsanwalt Jake Granger grimmig, als er seinen Wagen auf dem Besucherparkplatz der Mountain-View-Grundschule abstellte. Er blieb noch einen Augenblick im Wagen sitzen und massierte sich die verspannte Nackenmuskulatur. Krampfhaft dachte er nach. Vielleicht fand sich doch noch ein schlüssiger Grund, der es ihm erlauben würde, den Besuch bei der Lehrerin seiner Tochter Kitty in letzter Minute ausfallen zu lassen. Leider wollte ihm absolut nichts einfallen.

Es war Mittwochabend und bereits zehn nach sechs, aber das spielte keine Rolle. Niemanden schien es zu interessieren, dass ein anstrengender Arbeitstag hinter ihm lag. Oder dass er bis zum nächsten Morgen einen dicken Ordner mit Gerichtsakten durchzuarbeiten hatte. Schließlich trug er die volle Verantwortung für Kitty. Und wenn Miss Walsh ihn zu sprechen wünschte, musste er ihrer Einladung Folge leisten.

Immer wieder und wieder und wieder.

Jeder andere Lehrer hätte seinen Fall schon längst aufgegeben, aber Miss Walsh war eben nicht wie die anderen. Noch nie im Leben war er einer Frau begegnet, die seine Nerven so sehr strapazierte wie diese Miss Walsh. Und er wusste genau, wovon er sprach, denn immerhin war er Staatsanwalt.

Miss Walsh sprach stets über Gefühle, niemals über Fakten. Manchmal bezweifelte er sogar, dass der allmächtige Gott im Himmel wusste, was dieser gefühlsbetonten Frau als Nächstes in den Kopf schießen würde.

Aber Jake wollte nicht ungerecht sein. Er bewunderte ihr Engagement für die Schüler. Und sie war absolut zuverlässig. Wenn sie sagte, dass sie so lange warten würde, bis er in der Schule auftauchte, dann würde sie auch warten – sogar an einem sonnigen Nachmittag im Mai. Zweifellos würde sie sogar bis Mitternacht auf ihn warten.

Besser, er fand sich mit seinem Schicksal ab. Im Rückspiegel überprüfte er den Knoten seiner Krawatte und langte auf den Rücksitz nach seinem Jackett. Er zögerte kurz. Ein Jackett wirkte vielleicht zu formal. Andererseits bot ihm die formale Kleidung genau die Sicherheit, die er für ein Gespräch mit Miss Walsh dringend benötigte.

Beim letzten Treffen hatte sie ihn schier verrückt gemacht. Sie hatte ihn mit einer wahren Flut von Papieren bombardiert, die er auszufüllen hatte. Erlaubnisformulare für Ausflüge, Mitteilungen, Überweisungen für das Schulfrühstück und Mittagessen, Geld für Fotos, die von den Kindern in der Schule gemacht wurden. Mit dem Papierkram, der anfällt, wenn man sein Kind in eine öffentliche Schule gibt, kann man glatt eine Vollzeitsekretärin beschäftigen, dachte er.

Du liebe Güte. Er war einfach nicht in der Stimmung, Miss Walsh jetzt zu begegnen. Nein, heute würde er sie kaum ertragen können.

Er schlüpfte in sein Jackett, während er das Gebäude betrat und den Flur zum Klassenzimmer von Miss Walsh entlangeilte. Vor der Tür hielt er kurz inne und lugte in den Raum. Sie saß hinter ihrem Pult und fuhr mit einem Radiergummi über einen dicken Stapel Papiere.

Wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte er ganz sicher lachen müssen. Sie war kaum eins siebzig groß, blond und wirklich süß. Ihr langes, lockiges Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Manchmal wirkte sie auf ihn wie ein kleines Schulmädchen, das vorgab, erwachsen zu sein. Aber das änderte sich sofort, wenn sie zu sprechen begann. Miss Walsh wirkte vielleicht wie ein kleines Frauchen, aber sie besaß eine starke Persönlichkeit.

Sie schaute auf, erhob sich und lächelte ihm freundlich zu. Er vermutete, dass ihre Freundlichkeit nur gespielt war. Trotzdem verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Er fühlte sich spontan zu ihr hingezogen. Das beunruhigte ihn ein wenig. Du lieber Himmel, verlier jetzt bloß nicht den Kopf, beschwichtigte er sich. Denn um die Wahrheit zu sagen, die Gespräche mit ihr raubten ihm zwar den letzten Nerv, aber seltsamerweise meldete sich immer wieder eine mächtige Stimme in ihm, die ihm eindringlich zuflüsterte, dass er diese Frau mochte.

„Hallo, Mr Granger. Kommen Sie doch herein.“ Sie winkte ihm zu. „Tut mir leid, dass ich den Termin so kurzfristig angesetzt habe.“

Jake war entschlossen, ausschließlich dienstlich mit ihr zu verkehren. Gezwungen lächelte er zurück. Wenn er ihr die Gelegenheit bot, würde sie ihn sicher umarmen und seinen Rücken streicheln, wie sie es mit ihren Schülern machte. Wenn sie nur nicht so verdammt hübsch wäre, dachte er, während er sich zwischen den schmalen Bänken hindurchzwängte.

Mit eins fünfundachtzig war er zwar größer als viele andere Menschen. Aber im Klassenzimmer für Sechsjährige fühlte er sich jedes Mal wie ein ungeschickter Riese.

Miss Walsh deutete auf den Stuhl neben ihrem Schreibtisch. „Bitte nehmen Sie Platz.“

Misstrauisch beäugte er den zerkratzten roten Plastikstuhl, bevor er sich vorsichtig niederließ. Miss Walsh blieb stehen. Einen Moment lang konnte er ihr in die Augen schauen. Noch nie hatte er so tiefgrüne Augen gesehen. Sie schimmerten wie Jade und schauten ihn unverwandt an. Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass seine Seele wie ein offenes Buch vor ihr lag. Auffordernd zog er die Augenbrauen in die Höhe. Miss Walsh sollte endlich beginnen.

Sie setzte sich und legte die gefalteten Hände auf den Papierstapel, der vor ihr lag. Mit ernstem Blick schaute sie ihn an und schwieg so lange, dass Jake langsam angst und bange wurde. „Heute ist etwas mit Kitty geschehen“, begann sie schließlich.

Sein Magen krampfte sich zusammen. Als er diesen Satz das letzte Mal hörte, hatte er Gina verloren. Kitty war sein Ein und Alles. Sie war das Beste in seinem Leben, und ihr war etwas geschehen? Nein. Oh, nein, bitte nicht.

Unwillkürlich wollte er aufspringen und lautstark nach einer Erklärung verlangen. Aber in seinem Beruf hatte er mühsam gelernt, dass er sich nur Schwierigkeiten einhandelte, wenn er seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Mit aller Macht zwang er sich, auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Er ignorierte den Aufschrei in seinem Kopf und zwang sich zur Ruhe. „Ist sie in Ordnung? Was ist geschehen? Warum haben Sie mich nicht früher informiert?“, fragte er beherrscht.

Miss Walsh musste seine Angst erkannt haben. Sie hob die Hände und machte eine beruhigende Geste. „Nein, Mr Granger. Körperlich geht es Kitty gut. Aber ihr psychischer Zustand ist ganz einfach desolat.“

Wie bitte? Diese Miss Walsh wagte es, seine Welt im Innersten zu erschüttern, und dann drehte sich alles wieder nur um die alte Sache? Warum hatte er nicht einfach behauptet, dass er ihre Nachricht nicht erhalten hatte. Dann hätte er in Ruhe in seinem Büro bleiben können. Aber jetzt saß er ihr gegenüber. Und aus Erfahrung wusste er, dass Miss Walsh die Sache nicht würde ruhen lassen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Also tat er besser daran, sie anzuhören.

Er lehnte sich entspannt zurück, streckte die Beine aus und legte sie bequem übereinander. „Was stimmt nicht mit Kittys Psyche?“

Miss Walsh hob entschlossen das Kinn. Sie ahnte, dass Mr Granger sie nicht ganz ernst nahm. „Sie hat immer noch Probleme in der Schule. Wir haben bereits darüber gesprochen.“

Erleichtert und verwirrt zugleich ließ Jake den üblichen Vortrag über die Schulprobleme seiner Tochter über sich ergehen. „Okay. Sie ist still und verschlossen, während des Unterrichts ist sie unaufmerksam, und ich sollte mehr Zeit mit ihr verbringen. All das haben Sie mir bei unserem letzten Treffen schon mitgeteilt, und ich habe Ihre Vorschläge genauestens befolgt. Was ist heute geschehen?“

„Wir haben Muttertagsgeschenke gebastelt.“

Er spürte, wie der Ärger in ihm hochkroch. Der Muskel über seinem Unterkiefer schmerzte. Verdammt, er hätte daran denken müssen, dass es nur noch kurze Zeit bis Muttertag war. „Und Sie wundern sich, dass es dann Probleme gibt? Um Himmels willen, was haben Sie denn sonst erwartet!“, rief er aus. „Schließlich ist ihre Mutter tot.“

Miss Walsh schoss das Blut in die Wangen. Ihre Augen glitzerten temperamentvoll, aber ihre Stimme blieb bemerkenswert ruhig. „Das ist mir durchaus bewusst. Sie ist nicht die einzige Schülerin, die nur ein Elternteil hat. Für diese Kinder halte ich immer eine andere Bastelarbeit bereit, aber Kitty wollte unbedingt ein Muttertagsgeschenk basteln.“

„Wirklich?“

Miss Walsh nickte. „Sie hat darauf bestanden. Und dann …“ Miss Walsh wirkte plötzlich sehr traurig. „… und dann wollte sie es mir schenken.“

Jake war schockiert. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass Kitty ihre Lehrerin als Ersatzmutter betrachten könnte. Entsetzt starrte er Miss Walsh an. „Und? Haben Sie das Geschenk angenommen?“

„Ich hielt das für keine gute Idee“, erwiderte Miss Walsh. „Stattdessen schlug ich ihr vor, es ihrer Großmutter zu schenken. Oder Ihnen.“

„Und das hat sie aufgeregt?“

Miss Walsh schüttelte den Kopf. „Nein. Sie hat sich nicht aufgeregt.“

Jake runzelte die Stirn. „Sie bestellen mich hierher, um mir zu sagen, dass Sie sich Sorgen machen, weil Kitty sich nicht aufgeregt hat?“

Miss Walsh nickte.

„Aber warum?“, fragte er, obwohl er sich nicht sicher war, dass er die Antwort hören wollte. Manchmal folgten Frauen einer merkwürdigen Logik, besonders, wenn es um Gefühle ging. Miss Walsh verdrehte die Augen, als ob er schwer von Begriff wäre. Sie streckte die Hände aus, als ob sie ihn um etwas bitten wollte, aber der Sinn dieser Geste entging ihm völlig.

Großartig. Jetzt gestikulierte sie so wild wie ein Schauspieler aus dem Zeitalter William Shakespeares. Hilfe, flehte er innerlich, wer rettet mich vor dem übersteigerten Gefühlsleben dieser Frau?

„Wenn Kitty geweint oder sonst irgendwelche Gefühlsregungen gezeigt hätte, dann hätte ich sie trösten können“, erklärte sie. „Oder wir hätten über ihre Emotionen sprechen können.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Das macht keinen Sinn.“

„Schon, wenn Sie ein Herz besäßen“, murmelte Miss Walsh atemlos.

„Wie bitte?“ Natürlich hatte er sie verstanden, aber er wollte wissen, ob sie den Mut besaß, ihre Bemerkung zu wiederholen.

„Nicht so wichtig.“ Eine Spur von Verzweiflung machte sich in ihrer Stimme bemerkbar.

Ganz offensichtlich war ihr die Sache sehr wichtig. Aber er wollte das unangenehme Gespräch nicht eine Minute länger ausdehnen als unbedingt nötig. „Ich verstehe das Problem immer noch nicht. Was genau hat Kitty gesagt?“

„Gar nichts. Sie hat sich umgedreht, ihr Muttertagsgeschenk genommen und es in den Mülleimer geworfen.“ Miss Walsh seufzte. „Offen gesagt, mir ist noch nie ein Kind begegnet, das so verzweifelt und so niedergeschlagen wirkte. Mr Granger, glauben Sie mir bitte, wenn ich Ihnen sage, dass Kitty professionelle Hilfe braucht.“

Am liebsten hätte Jake laut aufgeschrien, aber er zwang sich zur Ruhe. „Fangen Sie nicht wieder mit diesem Therapie-Unsinn an.“ Energisch presste er seinen Zeigefinger auf den Schreibtisch. „Ich sagte Ihnen schon, wir haben es versucht, nachdem ihre Mutter gestorben war. Es hat die Sache für Kitty nur noch schlimmer gemacht.“

„In welcher Hinsicht?“

„In jeder Hinsicht.“ Seine Gedanken schweiften zurück in die Monate nach Ginas Beerdigung. Nacht für Nacht hatte seine Tochter sich in den Schlaf geweint. In den frühen Morgenstunden war sie laut schreiend aus ihren Albträumen erwacht. Er hatte alles versucht. Nichts konnte sie beruhigen. Noch nie im Leben hatte er sich so hilflos, so nutzlos gefühlt. „Es hat nicht funktioniert.“

„Das heißt nicht, dass eine Therapie jetzt immer noch versagen würde“, sagte Miss Walsh. „Vielleicht war Kitty einfach noch zu jung. Oder sie verstand sich nicht mit dem Therapeuten. Wenn sie Hilfe braucht …“

„Nein, braucht sie nicht.“ Jake unterbrach sie rüde. „Sie braucht keine Therapie. Sie braucht einfach nur mehr Zeit.“

„Ihre Mutter ist vor zwei Jahren verstorben. Wenn Kitty das Trauma von selbst überwindet, meinen Sie nicht, sie hätte dann schon mehr Fortschritte machen müssen?“

„Es dauert so lange, wie es eben dauert. Für Trauer gibt es keinen Terminplan.“ Der Himmel wusste, wie viel Zeit es ihn selbst gekostet hatte, Ginas plötzlichen Tod einigermaßen zu verarbeiten. Es wunderte ihn gar nicht, dass Kitty erheblich länger brauchte als er.

Miss Walsh atmete tief durch. Vermutlich zählt sie jetzt bis zehn, um ihre aufschießenden Emotionen zu zügeln, dachte Jake insgeheim. Sie hat wohl an einem Seminar zur Konfliktbewältigung teilgenommen.

„Nein, natürlich nicht.“ Sie sprach ruhig. „Aber manchmal braucht man eine kleine Hilfe, um mit traumatischen Erlebnissen zurechtzukommen. Unser Sozialarbeiter vollbringt wahre Wunder mit trauernden Kindern. Ich könnte für Kitty einen Termin vereinbaren. Für nächste Woche schon.“

„Nein.“

Erschrocken blickte sie ihn an, als ob sie nicht glauben wollte, dass er es offenbar nicht für nötig hielt, seine Antwort zu erklären.

„Das wird nicht reichen, Mr Granger.“ Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter und nachdrücklicher. „Auf keinen Fall wird das reichen. Was immer in Kitty vor sich geht, es erstickt jeden Funken Lebensfreude in ihrer kleinen Seele. Und es beeinträchtigt ihre schulischen Leistungen ganz erheblich.“

Jake lächelte. Wer sich zuerst aufregt, hat verloren, dachte er bei sich. „Manchmal glaube ich fast, dass Sie gar nicht so viel von Kindern verstehen, wie Sie immer behaupten, Miss Walsh. Ich habe Ihre Ratschläge genauestens befolgt …“

Sie unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. „Ich weiß, dass Sie es versucht haben. Aber es reicht eben nicht. Nach dem jetzigen Stand der Dinge kann ich Kitty nicht in die zweite Klasse versetzen, es sei denn, sie lernt, sich zu konzentrieren, und holt den versäumten Stoff auf. Ihre Leistungen liegen weit hinter denen der anderen Kinder zurück.“

„Was?“ Er stieß den Stuhl zurück, sprang auf und richtete sich zu voller Größe auf. „Das erzählen Sie mir heute zum ersten Mal. Das Schuljahr ist fast vorüber! Warum haben Sie so lange damit gewartet?“

Miss Walsh erhob sich ebenfalls. Sie legte den Kopf ein wenig zurück, um seinem Blick zu begegnen. Sie ging ihm noch nicht einmal bis zu seiner Schulter.

„Ich habe geglaubt, dass Kitty sich schon wieder fangen wird“, meinte Miss Walsh. „Sie ist ein sehr intelligentes kleines Mädchen. Aber die meiste Zeit sitzt sie apathisch herum und starrt Löcher in die Luft. Sie weigert sich, an den Aktivitäten der anderen Kinder teilzunehmen. Und wenn sie etwas lernt, behält sie es kaum bis zum nächsten Tag. Und sie muss ständig ermahnt werden, ihre Aufgaben gewissenhaft zu erledigen.“

„Sie können Kittys Versetzung nicht verweigern“, beharrte Jake. „Ich werde den Schulleiter aufsuchen oder die Schulbehörde, und wenn es sein muss, sogar den zuständigen Minister. Aber Sie werden ihre Versetzung nicht verhindern.“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, gab sie zurück. Sie imitierte seine Körperhaltung und seinen kalten Tonfall. „Man wird Ihnen erklären, dass die erste Klasse von überragender Bedeutung für den weiteren Verlauf der zukünftigen Schulbildung Ihrer Tochter ist.“

„Ich bitte um eine Erklärung. Schließlich ist sie erst sechs Jahre alt.“ Er stützte die Hände auf seine Hüften. „Was ist so wichtig an der ersten Klasse, dass es ihre gesamte Schullaufbahn beeinträchtigen kann?“

„Ach, nichts weiter. In der ersten Klasse lernt man nur Lesen. Und ein bisschen Rechnen. Und noch ein paar Dinge, die Kitty bislang nicht begriffen hat.“

Miss Walsh umfasste den gesamten Raum mit einer Handbewegung. „Sie mögen das unterschätzen, aber was auch immer die Kinder in den nächsten elf Jahren lernen, es beruht auf den Grundlagen, die sie von hier aus mitnehmen sollen. Wenn sie diese Grundlagen hier nicht lernt, wird sie in den nachfolgenden Klassen große Schwierigkeiten haben. Das wollen Sie doch nicht, oder?“

Er schwieg lange, weil er sich schämte, dass er diese Frau mit einem billigen Trick aus der Fassung bringen wollte. Miss Walsh gab sich offensichtlich große Mühe mit seiner Tochter. „Natürlich möchte ich das nicht.“ Er trat einen Schritt zurück und sammelte sich, bevor ihm wieder eine Bemerkung entfuhr, die er später bereuen würde. „Ich muss gründlich über Ihren Vorschlag nachdenken.“ Er schob den Ärmel zurück und schaute auf die Uhr. „In einer Viertelstunde muss ich zu Hause sein. Ich lasse Sie wissen, wie ich mich entschieden habe.“

„Halt! Warten Sie einen Augenblick!“ Sie stolperte hinter ihrem Schreibtisch hervor, als wollte sie ihm den Weg versperren. „Ich bin noch nicht fertig. Ihre Antwort reicht mir keineswegs aus.“

„Ich sagte es Ihnen bereits“, stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Ich werde mich bei Ihnen melden.“

Sie zog die Augenbrauen zusammen und hob entschlossen das Kinn. „Wann?“

„Ist Ihnen nächste Woche früh genug?“, fragte er zurück und ging zur Tür.

„Nein“, widersprach sie und eilte ihm hastig nach. „Es geht hier nicht um mich, Mr Granger. Es geht allein um Kitty. Sehen Sie denn nicht, dass Ihr Kind leidet? Und Sie sorgen dafür, dass es immer weitergeht. Sie verdient etwas Besseres, als Sie ihr zu geben imstande sind.“

Ihre Anschuldigung ging einen Schritt zu weit. Beinahe platzte ihm der Kragen. Abrupt stoppte er und drehte sich herum. „Haben Sie Kinder, Miss Walsh?“

Das Blut wich ihr aus den Wangen. Zum ersten Mal in ihrem Gespräch gelang es ihr nicht, seinem Blick standzuhalten. „Nein, hab ich nicht.“

Er lachte laut auf, aber selbst in seinen Ohren klang es bitter. „Komisch, das überrascht mich jetzt gar nicht. Es ist immer leicht, andere zu kritisieren, wenn man von der Sache nichts versteht, nicht wahr?“

„Ich wollte Sie nicht beleidigen.“ Sie machte eine Handbewegung, als ob sie ihn berühren wollte. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Sofort ließ sie den Arm sinken.

„Das haben Sie aber. Es sieht leicht aus, ein Kind zu erziehen, besonders für die, die es nie versucht haben. Bevor Sie mit solchen Bemerkungen um sich werfen, sollten Sie lieber heiraten und selbst ein Kind bekommen.“

Er kümmerte sich nicht um ihren entsetzten Gesichtsausdruck, eilte aus dem Schulgebäude und knallte die Eingangstür hinter sich zu. Verzweifelt sehnte er sich danach, sich in seinen Wagen zu setzen und so schnell wie möglich Miss Walsh und das Städtchen Spokane im Bundesstaat Washington hinter sich zu lassen. Aber er durfte nicht aufgeben und davonlaufen.

Selbst wenn er ein hundsmiserabler Vater war, er war der Einzige, der sich nach dem Tod ihrer Mutter noch um Kitty kümmern konnte. Und er wollte ihr ein guter Vater sein – was immer das auch bedeuten mochte.

Abby Walsh schützte ihre Augen mit der Handfläche vor der blendenden Sonne, als sie Kitty Granger am nächsten Vormittag während der Pause beobachtete. Sie verspürte ein wohlbekanntes Ziehen in der Herzgegend. Traurig saß das kleine Mädchen auf den Stufen der Betontreppe und lehnte den Rücken gegen das Schulgebäude. Ihre dünnen Beinchen hielt sie eng an ihre Brust gedrückt. Das Kinn ruhte auf den Knien, und ihr Blick verlor sich in einer Welt, die offenbar nur ihr zugänglich war.

Abby wandte sich an Erin Johnson. „Bilde ich es mir nur ein, oder ist dieses Kind tatsächlich in ernsten Schwierigkeiten?“, fragte sie ihre beste Freundin.

Erin schaute Abby ungläubig an. „Tja. Also, sie benimmt sich nicht unbedingt wie eine Sechsjährige.“

Abby lächelte kurz. Erin war Kinderpsychologin und besaß eine erfolgreiche Praxis. Sie beobachtete scharf und sprach immer genau aus, was sie sah. Wenn Erin ein Problem entdeckte, dann gab es auch eines. Trotzdem wollte Abby es ganz genau wissen. „Bist du auch wirklich sicher, dass ich es mir nicht einbilde?“

„Normalerweise hast du einen sicheren Instinkt, wenn es um Kinder geht. Warum zweifelst du plötzlich an dir?“

„Du bist Kittys Vater noch nie begegnet. Dem grimmigen Granger.“ Abby ließ ihren Blick über den Spielplatz schweifen und zählte automatisch die Köpfe. Die Erstklässler waren manchmal unberechenbar, wenn sie in die Pause stürmten. Als Lehrerin konnte man gar nicht umsichtig genug sein, wenn es darum ging, ihre unbändige Energie im Zaum zu halten. „Als ich ihm vorschlug, sie in die Therapie zu geben, war er felsenfest überzeugt, dass ich übertreibe. Ich wollte dich als Expertin hören, um ganz sicherzugehen.“

Erin deutete mit dem Kopf auf Kitty. „Eigentlich sollte sie spielen, aber sie sitzt allein für sich herum. Sie schaut den anderen Kindern noch nicht einmal zu. Fast wundert es mich, dass sie nicht weint, so traurig schaut sie aus.“

„Meinst du, sie entwickelt eine klinische Depression?“

„Das kann ich nicht einschätzen, ohne mit ihr gesprochen zu haben. Und wir wissen, dass wir das ohne die Einwilligung ihres Vaters keinesfalls tun dürfen“, sagte Erin und verzog unwillig das Gesicht.

Abby drückte den Unterarm ihrer Freundin. „Sag mir einfach, was du siehst. Du mit deinem professionellen Blick.“

„Ich vermute, dass das arme Kind schwer depressiv ist. Bestimmt schon, seit die Mutter gestorben ist“, gab Erin zurück. „Sie zeigt die klassischen Symptome. Der Himmel weiß, dass sie einen guten Grund hat, depressiv zu sein. Sie braucht dringend professionelle Hilfe.“

„Danke.“ Abby seufzte erleichtert auf, als Erin ihre Vermutung bestätigte. „Und wie kann ich es schaffen, ihren sturen Vater von einer Therapie zu überzeugen?“

Erin lächelte trocken. „Denk dran, dass er Staatsanwalt ist. Er wird sich nur von den nackten Tatsachen überzeugen lassen. Bleib sachlich, wenn du mit ihm sprichst. Emotionen schrecken ihn nur ab.“

Abby verdrehte verzweifelt die Augen. „Dafür ist es bereits zu spät“, gab sie zu. „Wahrscheinlich würden seine versteinerten Gesichtszüge zerbrechen, sobald er sich zu einem Lächeln gezwungen sieht. Jedes Mal, wenn ich ihn um ein Gespräch bitte, tut er so, als würde ich nur seine kostbare Zeit rauben. Ich kann dir sagen, manchmal ist er ein richtiges …“

„Es geht hier nicht um dich oder um Mr Granger“, unterbrach Erin rechtzeitig. „Es geht um ein kleines Mädchen, das dringend Hilfe braucht.“

„Allerdings“, gestand Abby. „Du hast recht. Es geht um Kitty.“

„Was war denn gestern los?“

Abby zuckte mit den Schultern und schaute zur Seite. „Ich habe kurz die Beherrschung verloren. Konnte die Zunge nicht im Zaum halten.“

„Oh, Abby. Wie schlimm war es denn?“

Abby berichtete ihrer Freundin von der gestrigen Unterhaltung und verheimlichte auch die verletzende Bemerkung nicht, mit der Jake Granger sich verabschiedet hatte. Erin ließ sich Abbys Worte ruhig durch den Kopf gehen.

Abby seufzte auf, als sich das Schweigen in die Länge zog. „Ich hab’s verdorben, nicht wahr?“, fragte sie ängstlich.

„Was wirst du tun?“

„Was kann ich tun?“, wollte Abby wissen.

„Vielleicht möchte er eine Entschuldigung“, schlug Erin vor.

„Ja. Aber ich vielleicht auch.“ Abby schluckte eine bissige Bemerkung herunter. „Ich hätte mich sicher klüger verhalten können. Aber er war auch nicht gerade die Freundlichkeit in Person.“

„Abby“, beharrte Erin. „Was wirst du für Kitty unternehmen?“

„Also, ich könnte ihm heute noch einen Brief schreiben. Er würde ihn dann am Montag bekommen.“

„Warum bis Montag warten?“ Erin blieb so ruhig, dass es Abby fast aufregte. „Dann hat er das ganze Wochenende über Zeit, seine Abwehrhaltung aufzubauen. Außerdem ist es genau das, was ein Mann wie dein Granger erwarten würde.“

„Er ist nicht mein Granger“, protestierte Abby. „Gott sei Dank nicht. Was willst du damit überhaupt sagen?“

Erin schwieg für einen Moment. „Unternimm etwas völlig Unerwartetes. Etwas, womit er nicht rechnet. Bring ihn für einen Augenblick vollkommen aus dem Gleichgewicht.“

„Am liebsten würde ich ihn von einem Felsen stürzen.“

Erin schwieg und starrte sie an. Abby gab auf. „Okay. Ich kann es mir zwar nicht vorstellen, dass er jemals die Fassung verliert, aber ich werde mir die größte Mühe geben. Womit würde er auf keinen Fall rechnen?“

„Du bist ihm bisher immer in der Schule begegnet“, schlug Erin vor. „Warum dringst du nicht einfach mal in sein Terrain ein?“

„Wie bitte?“ Abby jaulte entsetzt auf.

„Eine ausgezeichnete Idee“, fuhr Erin fort. „Heute Abend tauchst du bei ihm zu Hause auf und entschuldigst dich. Als Versöhnungsangebot backst du Kekse und bietest ihm ein Blech an.“

„Er wird mich von seinem Grundstück werfen.“

„Der ehrwürdige Mr Granger? Diener des öffentlichen Wohls?“ Erin lachte. „Das wird er nicht wagen. Er wird dich freundlich hereinbitten. Und dann hast du endlich Gelegenheit, dir anzuschauen, wie es bei ihm und Kitty zu Hause aussieht. Nichts ist aufschlussreicher als ein Hausbesuch.“

„Ich wäre glücklich, wenn du meine Beobachtungen anschließend deuten würdest.“

„Gern“, stimmte Erin zu. „Du willst es also versuchen?“

Abby überlegte kurz, ob sie es wohl ertragen konnte, Jake Granger zwei Mal pro Woche zu begegnen.

„Okay. Ich mache es. Aber dieses Mal werde ich mich absolut professionell verhalten, selbst wenn es mich umbringt.“

Abby ließ ihren Blick auf Kitty ruhen. Sie war ein hübsches Mädchen, mit schimmerndem schwarzem Haar, das keine Haarspange lange zusammenhalten konnte. Ihre braunen Augen wirkten immer traurig. Sie hatte ein niedliches kleines Näschen und einen süßen Mund, der niemals lächelte. „Sie ist das süßeste Kind auf der ganzen Welt. Ich kann es kaum ertragen, dass sie immer so traurig und verloren ausschaut.“

„Abby. Es ist seine Tochter.“

Abby riss sich zusammen. „Keine Angst. Ich werde es schon nicht vergessen. Aber was ist das nur für ein Vater, der unbeteiligt zuschaut, während sein Kind solche Qualen erleidet?“

Autor

Myrna Temte
Eigentlich führt Myrna ein ganz normales Leben. Sie ist mit ihrer Collegeliebe verheiratet, hat zwei bezaubernde Kinder, einen süßen kleinen Hund und lebt in einer angenehmen Nachbarschaft in einer netten kleinen Stadt im Staat Washington.
Viel zu durchschnittlich, findet sie. Um mehr über sie zu erfahren muss man ihrer Meinung...
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