Traumhochzeit am Mittelmeer

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"Heiraten Sie mich!" Spontan spricht Jessica die Worte aus - und bereut sie sofort! Denn Jessica will mehr als nur eine Vernunftehe von dem überaus attraktiven Raoul, Fürst von Azuri. Aber zu spät - Raoul nimmt ihr Angebot an. Während sich der Mittelmeerstaat schon auf eine Traumhochzeit vorbereitet, plant die Braut allerdings bereits ihre "Flucht" …


  • Erscheinungstag 03.07.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773533
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Sie fuhr doch auf der richtigen Straßenseite … oder? Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, als sie ihren Wagen über die legendäre Gebirgsstraße von Azuri lenkte.

In Serpentinen wand sich diese Straße um schneebedeckte Berge, an deren Klippen Hunderte Meter weiter unten das tosende Meer brandete. Nach jeder Biegung bot sich ihr ein Postkartenpanorama, eines zauberhafter als das andere: mittelalterliche Burgen, malerische Fischerdörfer, saftige Weiden, auf denen Steinböcke und Alpakas grasten.

Nach einer weiteren Kurve konnte sie flüchtig einen Blick auf den Palast der Fürstenfamilie von Azuri werfen. Das Schloss aus weiß glänzendem Marmor war mit prachtvollen Türmen, Kanzeln und Zinnen versehen und thronte hoch oben auf einem Felsen über dem Meer. Es sah aus wie ein Schloss aus einem Märchenbuch.

Vor zwei Jahren wäre Jessica Devlin bei diesem Anblick in helle Verzückung geraten. Doch jetzt konzentrierte sie sich ganz auf das Treffen mit ihrem nächsten Lieferanten – und zwang sich, nicht über den leeren Beifahrersitz neben ihr nachzudenken. Außerdem musste sie sich auch auf die Fahrbahn konzentrieren, um nicht auf die Gegenspur zu geraten.

Die Straße schlängelte sich um die Felsen herum bergauf, die Kurven waren schlecht einsehbar. Die Serpentinen machten sie nervös. Vorsichtig fuhr sie um die nächste Felsnase und bemerkte flüchtig einen blauen Sportwagen, der ihr zwei Biegungen weiter mit offenem Verdeck entgegenkam. Er fuhr schnell. Und er schien auf der falschen Seite zu fahren. Auf ihrer Seite.

Sie trat auf die Bremse und steuerte ihren Wagen haarscharf am Rande der Klippen entlang. Auch die nächste Kurve konnte sie nicht einsehen. Was, wenn das entgegenkommende Fahrzeug tatsächlich auf der falschen Seite fuhr? Ach, das hatte sie sich bestimmt nur eingebildet. Warum sollte sie Angst haben vor dem blauen Wagen, der nun wieder außer Sichtweite war. Wahrscheinlich fuhr der Fahrer so schnell, weil er die Straße aus der Gegenrichtung besser überblicken konnte als sie. Ich bin einfach viel zu vorsichtig, schalt sie sich. Dennoch konnte sie sich ihre Angst nicht ganz ausreden. Zu viel hatte sie in ihrem Leben durchgemacht, um darauf vertrauen zu können, dass ihr das Schlimmste erspart bliebe. Abrupt hielt sie ihren Wagen an, als das Cabrio um die nächste Kurve schoss. Es fuhr schnell, viel zu schnell. Und es fuhr tatsächlich auf ihrer Seite.

Sie stand mit ihrem Fahrzeug so nah am Abgrund, es gab kein Entrinnen. „Nein!“ Hilflos schlug sie die Hände vors Gesicht. „Nein!“

Keiner hörte ihren Schrei.

Eigentlich hätte heute sein Hochzeitstag sein sollen. Doch stattdessen begingen sie an diesem Tag ein Begräbnis.

„Glaubst du, sie hat es mit Absicht getan?“ Lionel, Herzog von Azuri, blickte voller Widerwillen auf den fahnengeschmückten Sarg. Eigentlich sollte er seinen Großneffen in seinem Kummer trösten, doch keinem der beiden Männer war nach aufrichtiger Anteilnahme zumute. Die vergangenen Wochen waren bereits so von Schmerz geprägt gewesen, dass sie dieses Ereignis nicht mehr aus der Fassung brachte.

„Sich absichtlich umgebracht?“ Raoul, Lionels Großneffe, versuchte erst gar nicht, seine Worte zu beschönigen. Er war wütend. „Sarah? Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ Diesen Gedanken hielt er für ebenso absurd wie die Tatsache, dass er hier, beim Begräbnis seiner Verlobten, den trauernden Liebenden gab. Diese Rolle spielte er nur, weil die Etikette es verlangte.

Als seine Verlobte bestattet wurde, waren aller Augen auf Raoul gerichtet, der noch sechs Tage lang Prinzregent von Azuri sein würde. Auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, so empfand Raoul nur Abscheu.

„Es geschah ihr recht“, zischte er seinem Großonkel aufgebracht ins Ohr. „Sie war betrunken, Lionel, und nur, weil die Frau, in deren Wagen sie gerast ist, wohl eine äußerst vorsichtige Fahrerin war, ist sie nicht auch noch mit in den Tod gerissen worden.“

„Aber warum fuhr sie in angetrunkenem Zustand?“ Lionel war sichtlich verwirrt.

„Sie hatte ihre Freundinnen zum Lunch ins Schloss geladen und mit ihnen die bevorstehende Hochzeit gefeiert. Danach beschloss sie, nach Vesey hinunterzufahren, um ihren heimlichen Geliebten zu treffen. Ihren heimlichen Geliebten! Sechs Tage vor der Hochzeit, und das im Rampenlicht der Öffentlichkeit! Weißt du eigentlich, wie hoch ihr Alkoholspiegel war?“

„Raoul, bitte mach ein verzweifeltes Gesicht!“, ermahnte ihn sein Großonkel. „Alle Kameras sind auf dich gerichtet.“

„Ich leide stoisch“, rechtfertigte sich Raoul zynisch. „So zumindest steht es in sämtlichen Zeitungen. Und auch, dass der Unfall passierte, als sie auf dem Weg zu ihrem heimlichen Geliebten war.“

„Meine Güte, Raoul …“

„Verlangst du im Ernst, dass ich Mitleid mit ihr habe?“, fragte Raoul. „Du weißt, dass ich ihr den Tod nicht gewünscht habe, aber heiraten wollte ich sie niemals. Auch wenn sie eine entfernte Cousine von mir war, so kannte ich sie kaum. Das mit der Heirat war deine Idee. Eine von vielen anderen dummen Ideen …“

„Ich dachte, sie wäre eine gute Partie“, verteidigte sich Lionel, und da die Kameras jetzt ihn ins Visier nahmen, setzte er schnell eine kummervolle Miene auf. „Sarah wurde für das Herrscherhaus erzogen. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Und sie verstand es, mit den Medien umzugehen.“

„Ja, und zwar so gut, dass sie ihren Liebhaber geheim halten konnte. Wie lange hätte unsere Ehe wohl gedauert, bis es die Medien herausgefunden hätten?“

Lionel zögerte. „Ich glaube, Sarah dachte, ihre Affäre sei dir egal.“

„Ja, mir schon. Aber die Öffentlichkeit sieht das anders.“

„Die hat damit kein Problem. Vernunftehen gab es in Königshäusern immer, und jeder in diesem Land möchte, dass du heiratest.“ Lionel schnitt eine Grimasse. „Jeder, außer deinem Cousin Marcel. Warum hast du die Hochzeit nur so lange hinausgeschoben? Raoul, das versetzt uns jetzt in eine schreckliche Lage.“

„Mich nicht!“, widersprach Raoul grimmig. „Ich habe genug getan. Ich verschwinde!“

„Was soll das heißen? Willst du deinen Neffen – und dein Land – verlassen?“ Lionel warf einen nervösen Blick auf Sarahs Familie, die gerade darüber zu streiten schien, wessen Grabschmuck der vorbildlichere war. „Willst du sie deinem Bruder überlassen, einer weiteren Marionette der Regierung! Einzig und allein diese Heirat hätte uns retten können.“ Angewidert verzog er das Gesicht. „Sieh nur, Sarahs Verwandte benehmen sich wie die Geier.“

„Sie sind Geier. Sie wollten diese Heirat nur aus finanziellen Gründen.“ Raoul blickte zu Sarahs Eltern, die beinahe seine Schwiegereltern geworden wären, und ihm war anzusehen, wie froh er war, seinem Schicksal entronnen zu sein. „Alles, was Sarah wollte, war Geld, Macht und Ansehen. Dafür hätte sie dieses Fürstentum skrupellos betrogen.“

„Aber nicht so sehr wie unser Premierminister und Marcel“, bemerkte Lionel sarkastisch. „Nun gut, es war ein Fehler. Doch jetzt …“

Finster starrte Raoul auf den Sarg. „Ich habe getan, was ich konnte. Jetzt bist du an der Reihe. Mach deinen Einfluss auf Marcel geltend.“

Für einen Augenblick vergaß Lionel, seine Leidensmiene beizubehalten, und antwortete entrüstet: „Ich? Du scherzt wohl! Ich bin siebenundsiebzig, Raoul, und Marcel hat vierzig Jahre lang nicht auf mich gehört. Du weißt, er und seine Frau wollen den Jungen nicht. Sicher, jeder, der die Thronfolge antritt, muss verheiratet sein. Aber verheiratet oder nicht, Marcel und Marguerite taugen als Eltern genauso wenig, wie dein Bruder und seine Frau es getan haben. Verzeih mir, Raoul.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast ja recht, Jean-Paul war ein korrupter Idiot, genauso wie mein Vater.“

„Moment mal, dein Vater war immerhin mein Neffe.“

„Du weißt, wie unmöglich er sich benommen hat“, brauste Raoul auf. „Genauso wie der Rest der Fürstenfamilie – mein Bruder Jean-Paul, seine Frau Cherie und meine Cousine Sarah. Nun sind sie alle tot, die einen sind an einer Überdosis Heroin gestorben, die andere, weil sie sturzbetrunken zu ihrem heimlichen Liebhaber gefahren ist. Und jetzt, nach Sarahs Tod, wird Marcel das Fürstentum regieren. Gott helfe diesem Land! Gott helfe dem Kronprinzen! Ich kann nichts mehr tun, Lionel, ich steige aus.“

„Deine Mutter …“

„Ihr zuliebe habe ich der Heirat mit Sarah zugestimmt. Sie wollte unbedingt das Kind in ihrer Obhut haben.“ Er hielt kurz inne. „Für sie kann ich jetzt nichts mehr tun. Sie wird Edouard nun nicht bekommen.“

„Nein.“ Nachdenklich drehte sich Lionel nach den Würdenträgern um, die mit Sarahs Familie tuschelten. „Es sieht so aus, als würde Marcel ihn zu sich nehmen, und du weißt, Marcel ist der Regierung hörig. Sie werden alles daransetzen, dass deine Mutter Edouard nicht mehr sehen darf.“

„Das kann ich nicht mehr verhindern“, bemerkte Raoul hart. „Ich habe mein Bestes getan.“

„Dich für Sarah zu entscheiden, war nicht das Beste.“

„Lionel …“

„Schon gut, ich habe dir bei dieser Wahl auf die Sprünge geholfen. Ich gebe zu, sie war nicht die Beste, aber du hast uns ja kaum Zeit gegeben. Jetzt bleiben uns nur noch sechs Tage …“

„Um eine neue Braut für mich zu finden? Du möchtest also noch immer, dass ich die Thronfolge antrete? Das glaubst du doch wohl selbst nicht, dass ich da wieder mitmache!“

„Hätte sie sich doch erst eine Woche nach der Hochzeit umgebracht anstatt eine zuvor …“ Lionel seufzte tief auf. „Wir sind wirklich in einer sehr prekären Lage, mein Junge.“

„Tja …“ Raoul legte seinem Großonkel eine Hand auf die Schulter und spielte nun wieder den Trauernden, der Kraft und Trost beim Älteren suchte. Dann gab er sich einen Ruck. „Genug! Ich werfe jetzt meine Blumen auf den Sarg hinunter.“

„Willst du das wirklich?“

„Nein, ich tue es, weil es von mir erwartet wird“, sagte er grimmig. „Ich muss jetzt meinen Mann stehen. Ich werde Blumen auf Sarahs Sarg werfen und mir den Kopf darüber zerbrechen, ob es nicht doch noch eine Möglichkeit gibt, dass Mutter Edouard bekommt. Und dann gehe ich als Arzt zurück nach Afrika. Dorthin gehöre ich nämlich. Diese Geschäfte hier sind nichts für mich. Darauf kann ich verzichten.“

An den beiden ersten Tagen nach dem Unfall war Jessica nicht ansprechbar. Aufgrund der schweren Gehirnerschütterung, des Schocks und der starken Schmerzmittel, die ihr wegen der ausgerenkten Schulter verabreicht wurden, lag sie in einem tiefen Schlaf.

Nachdem sie aufgewacht war, stellte man ihr behutsam Fragen. Zuerst auf Englisch, dann in der Landessprache, da sie die melodiöse Mischung aus Französisch und Italienisch, die man auf Azuri sprach, beherrschte.

Sie wurde nach ihrem Namen gefragt.

Die Antwort fiel ihr leicht. „Jessica Devlin.“

Dann wollten sie wissen, ob es stimme, dass sie Australierin sei – das jedenfalls stand in ihrem Reisepass. „Ja, ich bin Australierin.“

Wen sollte man über ihren Zustand informieren? „Niemanden. Sollte ich sterbenskrank sein, dann meine Cousine Cordelia – aber wirklich nur dann!“

Dann ließ man sie wieder in Ruhe.

Eine elegant gekleidete Dame mit silbergrauem Haar sah immer wieder, von Mal zu Mal mit sorgenvollerem Blick, nach ihr. Ebenso wie ein grauhaariger alter Mann, der ihr auf Anweisung der Dame Essen und Trinken auf einem Tablett ans Bett brachte. Auch er machte ein bekümmertes Gesicht. Und außerdem waren da noch zwei Krankenschwestern – die eine versorgte sie tagsüber, die andere nachts – und ein Arzt, der ihr die Hand tätschelte und sagte: „Es wird Ihnen bald besser gehen, meine Liebe. Sie sind jung und stark.“

Natürlich. Sie war jung und stark …

Der Arzt stellte ihr die schwierigste Frage. Als er allein mit ihr war, nahm er ihre Hand. „Meine Liebe, was ist mit Ihrem Kind, Ihrer Familie? In Ihrem Auto fanden sich zwar keinerlei Hinweise auf irgendwelche weiteren Personen. Sie tragen auch keinen Ehering, aber ich habe Sie untersucht und Zeichen dafür gesehen, dass Sie ein Kind geboren haben. War es auch im Wagen?“ Er hatte diese Frage mit regloser Miene gestellt, als wäre er auf das Schlimmste gefasst. „Könnte es sein, dass noch jemand die Klippen hinuntergestürzt ist?“

Sie kämpfte mit der Antwort. Ihr war klar, sie musste diesem freundlichen älteren Arzt die Wahrheit sagen. Er musste nicht mehr das Schlimmste befürchten, das war längst eingetreten.

„Ich habe nur …, ich hatte nur dieses eine Kind. Es ist in Australien gestorben, bevor ich hierhergekommen bin.“

Er schwieg, dann sagte er leise: „Wie schrecklich! Das tut mir aufrichtig leid für Sie.“

Sie hielt die Augen geschlossen, und er bedrängte sie nicht weiter mit Fragen. Auch alle anderen waren rücksichtsvoll und ließen sie ruhen in dem feudalen Bett mit einem Baldachin aus purpurrotem Samt und goldenen Quasten und einer Matratze, auf der sie wie auf einer Wolke schlief. Seit Dominics Tod habe ich nie mehr gut geschlafen, dachte sie traurig in den seltenen Momenten, in denen sie wach war. Es war, als holte ihr Körper sich jetzt, was ihm so lange geraubt worden war: Schlaf.

Sechs Tage und sechs Nächte musste sie geschlafen haben. Oder waren es sieben? Als Jessica die Augen wieder aufschlug, sah sie sich zum ersten Mal bewusst um. Bisher hatte sie nur das riesige Himmelbett wahrgenommen. Doch jetzt, als das Sonnenlicht durch die großen, mit edlen Vorhängen geschmückten Flügelfenster flutete, staunte sie: Sie lag nicht in einem Krankenhaus, sondern in einem prunkvollen Raum mit wunderbarem Ausblick. Die Pflegerinnen waren fort, nur die ältere Dame saß am Fenster und starrte in den Morgenhimmel. Weinte sie?

„Sind Sie traurig?“, fragte Jessica leise.

Die Dame drehte sich zu ihr um. „Oh, meine Liebe, Sie sollten das nicht fragen.“

Verwundert blickte Jessica sie an. Sie war zwar aufgewacht, konnte aber noch keinen klaren Gedanken fassen. Sie fühlte sich wie in einem Traum, in dem Zeit keine Rolle spielte. „Wo bin ich?“

„Im Fürstenpalast von Azuri.“

„Wie …?“ Sie grübelte. Azuri …, ja, richtig, sie war auf Azuri. Dieses kleine Land war weltweit berühmt wegen seiner Weber, und sie war hierher gereist, um auserlesene Stoffe und Garne zu kaufen. Sie dachte weiter nach und erinnerte sich an den Ratschlag, den ihr ihre Cousine Cordelia gegeben hatte. „Fahr nach Azuri, Jessica, und suche dir dort neue Lieferanten. Das bringt dich auf andere Gedanken und lässt dich deinen Schmerz vergessen.“

Als ob sie ihren Schmerz vergessen könnte! Dominic … Doch jetzt war nicht der richtige Augenblick, an ihn zu denken. „Und warum bin ich im Palast und nicht in einem Krankenhaus?

Wieder huschte ein Schatten von Traurigkeit über das Gesicht der Frau. „Können Sie sich an den Unfall erinnern?“

„Ja …“, begann Jessica stockend.

„Es war Sarahs Auto“, sagte die Dame. „Comtesse Sarah war die Verlobte meines Sohnes.“

Jessica schluckte. War die Verlobte, hatte die Dame gesagt. Sie fasste sich ein Herz und stellte die schreckliche Frage. „Kam sie bei dem Unfall ums Leben?“

Zu Jessicas Entsetzen nickte die Frau. „Ja, sie war auf der Stelle tot. Sie raste mit ihrem Auto in Ihres, und nur, weil Sie vor dem Zusammenprall Ihren Wagen zum Stehen gebracht haben, sind Sie noch am Leben. Sarah jedoch stürzte über die Klippen ins Meer.“

Verzweifelt schloss Jessica die Augen. Der Tod folgte ihr überall hin. Dominic, und nun Comtesse Sarah … Sie durfte sich jetzt nicht in ihrem Schmerz verlieren und über den Tod nachgrübeln. Es würde sie nur verrückt machen.

„Und warum bin ich im Fürstenpalast?“, hakte sie noch einmal nach.

Die Dame sah sie sorgenvoll an. „Dies ist mein Zuhause. Und auch das meines Sohnes und meines Enkels. Noch jedenfalls … Sie müssen wissen, die Medien interessieren sich sehr für unsere Belange. Nachdem Dr. Briet bei Ihnen keine schwerwiegenden Verletzungen diagnostiziert hatte, empfahl er, dass wir Sie bei uns aufnehmen, um Sie vor der Presse zu schützen.“

Jessica wurde blass. „Comtesse Sarah … Ihre Schwiegertochter … Dann ist Ihr Sohn …“

„… Raoul ist der Prinzregent von Azuri“, half ihr die Dame weiter. „Zumindest noch. Ich bin Louise d’Apergenet. Mein Sohn, Raoul Louis d’Apergenet, ist der zweite in der Thronfolge. Nach seiner Heirat sollte er die Regentschaft antreten. Die Hochzeit hätte gestern stattfinden sollen.“

„Und ich habe seine Braut getötet“, flüsterte Jessica.

„Nein! Sarah hat sich selbst getötet! Sie haben nicht die geringste Schuld an ihrem Tod.“ Eine energische Männerstimme schreckte die Frauen auf.

Jessica sah zur Tür. Dort stand ein Mann, den sie noch nicht gesehen hatte. War auch er ein Angehöriger der Fürstenfamilie? Er trug ein schwarzes Polohemd, eine helle Baumwollhose und verblichene Mokassins – gewöhnliche Freizeitkleidung. Ansonsten aber war an ihm nichts gewöhnlich. Er war groß, hatte dunkles Haar und einen muskulösen Körper. Sein schmales Gesicht prägten markante, fast wie in Stein gemeißelte Züge. Seine dunklen Adleraugen, umrahmt von dichten, langen Wimpern, verrieten nichts über ihn. War er der Prinz? Seine vom Wetter gegerbte dunkle Haut, die Fältchen um seine Augen und die lange Narbe auf seiner Wange … So sah doch kein Prinz aus! Und seinen Händen sah man harte Arbeit an. Nichts, aber auch gar nichts an diesem Mann wies auf ein unbeschwertes Leben hin.

Neugierig und fast ein wenig ängstlich musterte Jessica ihn. Doch dann lächelte er sie an, und im Nu war ihre Furcht verflogen. Vor einem Mann, der ihr ein so wunderbares Lächeln schenkte, brauchte sie keine Angst zu haben.

„Guten Morgen“, begrüßte er sie. „Sie müssen Jessica sein. Wie fühlen Sie sich?“

„Ich … Ja, ich bin Jessica, und mir geht es gut.“ Instinktiv zog sie sich die Bettdecke bis ans Kinn. Irgendetwas an ihm bewirkte, dass sie sich seltsam fühlte – klein … oder jung? In ihrem dünnen Baumwollnachthemd, mit den kurzen kastanienbraunen Locken, die sie tagelang nicht gebürstet hatte und die ihr nun wild vom Kopf abstanden, und den vielen Sommersprossen fühlte sie sich plötzlich wie zwölf.

„Ich bin Raoul“, stellte er sich vor.

Sie hatte es geahnt. „H… Hoheit …“

„Raoul!“, korrigierte er sie mit Nachdruck und einem Anflug von Wut in der Stimme, fast so, als fühlte er sich angegriffen.

„Jessica ist bestürzt über Sarahs Tod“, brachte sich nun seine Mutter wieder ins Gespräch. „Ich habe ihr gesagt, dass sie sich keine Vorwürfe machen muss.“

„Was sollten Sie sich auch vorwerfen?“ Raoul stellte ihr die Frage auf Englisch mit dem leichten Akzent seiner Muttersprache.

Wie passt er in diese Familie, und welchen Stand hat er wohl bei der Regierung dieses Landes? fragte sich Jessica und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie vor ihrer Abreise über Azuri in Erfahrung gebracht hatte. Es war nicht viel gewesen. Mit dieser Reise wollte sie eher vor ihren persönlichen Problemen fliehen als ein neues, exotisches Land kennenlernen. Und sie war kaum da gewesen, da passierte dieser schreckliche Unfall.

Doch ein wenig wusste sie schon über Azuri, das Fürstentum auf einer kleinen Insel im Meer. Vor knapp einem Monat hatte sie in der Zeitung gelesen, dass sich dort eine Tragödie abgespielt hatte. Es wurde über den Tod eines Prinzen und den seiner Gemahlin berichtet, die einen ausschweifenden Lebensstil gepflegt hatten. Und über einen kleinen verwaisten Kronprinzen … Welche Rolle spielte Raoul dabei?

„Sie müssen sich wirklich keine Vorwürfe wegen Sarahs Tod machen“, bekräftigte Raoul noch einmal und riss sie aus ihrer Grübelei. „Sie allein ist schuld an ihrem Tod.“ Die Härte in seiner Stimme machte deutlich, wie wichtig es ihm war, diese Wahrheit auszusprechen. „Sie hat sich nicht absichtlich umgebracht. Aber sie hatte getrunken und ist viel zu schnell auf der Gegenspur gefahren. Die Polizei sagte uns, der einzige Grund, warum nicht auch Sie getötet wurden, sei wohl Ihre Vorsicht gewesen. Wie durch ein Wunder haben Sie es geschafft, dass Sie noch am Leben sind.“

„Wäre ich nicht gewesen …“

„… Hätte es jemand anderen getroffen. Vielleicht sogar eine ganze Familie, schrecklich!“ Kopfschüttelnd schloss er die Augen, als wollte er sich nicht weiter ausmalen, welche Ausmaße dieser Unfall hätte annehmen können. „Wir alle sind dankbar, Jessica, dass Sie uns vor Schlimmerem bewahrt haben.“

„Aber Ihre Verlobte …“

Er öffnete die Augen wieder, und in seinem kühlen, beinahe verächtlichen Blick glaubte Jessica auch eine Spur von Kummer zu entdecken. Oder war es eher Verzweiflung, Resignation? „Das Leben geht weiter“, sagte er rau.

„Edouard bleibt bei mir“, lenkte seine Mutter das Gespräch abrupt in eine andere Richtung. „Wir werden um ihn kämpfen. Wir müssen!“

Jessica runzelte die Stirn. Sie verstand nicht. Edouard? Um ihn kämpfen? Bahnte sich etwa die nächste Tragödie an? In einer Geste der Hilflosigkeit schlang sie die Bettdecke noch enger um sich und wechselte schnell das Thema. „Ich liege schon viel zu lange hier herum.“

Louise lächelte. „Meine Liebe, es waren sechs Tage. Sie hatten immerhin einen schweren Schock und eine ausgerenkte Schulter. Aber Dr. Briet sagt – und Raoul pflichtet ihm bei –, dass Sie weitaus mehr unter etwas anderem leiden. Unser Arzt hält Sie für total erschöpft. Zuerst brachte man Sie ins Krankenhaus nach Vesey, doch nachdem schnell klar war, dass Sie einfach nur Schlaf brauchen, schien es uns das Beste, Sie hierher zu holen.“ Sie machte eine kleine Pause. „Sie müssen wissen, die Presse lauert uns überall auf; nur hier, im Palast, respektiert man unsere Privatsphäre. Und außerdem ist es von Vorteil, dass Raoul in Reichweite ist.“

Jessica verstand immer weniger. „Sie sind so gut zu mir“, sagte sie dankbar. „Und das, obwohl Sie selbst so viel durchmachen müssen.“

Dann verfiel sie wieder ins Grübeln und versuchte, sich den Zeitungsartikel noch einmal genauer ins Gedächtnis zu rufen. Edouard … Ja, jetzt fiel ihr wieder alles ein. „Sie trauern nicht nur um Comtesse Sarah, nicht wahr?“

„Das können Sie nicht wissen …“, begann Louise, doch Jessica unterbrach sie.

„Ich erinnere mich jetzt ganz deutlich. Aus der Zeitung habe ich erfahren, dass der Kronprinz und seine Frau ums Leben gekommen sind und einen verwaisten Jungen zurückgelassen haben. Ihren Enkel.“ Nachdem Jessicas Welt zusammengebrochen war, hatte sie das Schicksal anderer nur am Rande interessiert. Doch die Todesfälle auf Azuri machten Schlagzeilen zu einer Zeit, wo ihr Leben so leer und sinnlos geworden war, dass sie sich mit den Tragödien anderer zu trösten begann, um darüber ihr eigenes Elend zu vergessen.

Und wieder versuchte sie, sich Details ins Gedächtnis zu rufen. Waren der Prinz und die Prinzessin hoch oben in den Bergen bei einem Schneesturm ums Leben gekommen? Es gab Gerüchte, dass sie ihren Leibwächtern entflohen waren. Und dass es ihnen nicht gelang, aus dem Auto zu klettern, weil sie völlig unter Drogen standen. Jessica wusste es nicht mehr genau; nur, dass beide tot in ihrem verunglückten Wagen aufgefunden wurden, das Kind aber wie durch ein Wunder überlebt hatte.

Sie sah zu Raoul, und in seinem Blick lag etwas, das sie daran hinderte, ihn nach der wahren Todesursache zu fragen. Es ist mir auch egal, dachte sie verbittert. Sie war so müde. Erschöpft legte sie sich zurück in die Kissen und schloss die Augen.

Plötzlich trat Raoul an ihr Bett und nahm ihre Hand. Wie gut das tat! Sein fester Händedruck war beruhigend und erregend zugleich. „Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen um uns zu machen.“

Verwundert stellte sie fest, wie sehr seine Berührung sie aufwühlte. Sie kam so unerwartet. Sie selbst hätte sich niemals getraut, jemanden zu berühren, der noch trauriger war als sie …

„Jessica, Sie bleiben hier als unser Gast. Und das so lange, bis Sie sich wieder stark genug fühlen, um sich der Welt zu stellen.“ Wie sein Händedruck war auch seine Stimme: warm, kraftvoll, bestimmt.

„Es geht mir gut.“ Sie sah ihn an. Er ist mir nahe, dachte sie benommen. Zu nahe.

„Sie haben die Hölle durchgemacht“, fuhr er fort. „Aber nicht erst seit diesem Unfall, oder?“

Sie schluckte. „Wir haben dasselbe durchgemacht“, flüsterte sie und hoffte, er würde nicht weiter nachfragen.

„Ich …“, begann er nach einer kurzen Pause.

„Ich werde Sie sobald wie möglich verlassen“, unterbrach sie ihn erschöpft. „Es geht mir wieder gut. Vielen Dank, dass ich so lange hierbleiben durfte.“

„Jessica, sobald Sie von hier weggehen, wird sich die Presse auf Sie stürzen“, warnte er. „Auch diese Tragödie hat weltweit das Interesse der Medien auf sich gelenkt, und ich möchte Sie nicht allein lassen. Nach sechs Tagen im Krankenbett sind Sie so schwach wie ein neugeborenes Kätzchen. Bitte bleiben Sie noch. Innerhalb dieser Mauern kann ich Sie beschützen – zumindest ein paar Tage lang. Draußen sind Sie ganz allein.“

Wieder trat Stille ein.

Innerhalb des Schlosses könnte er sie beschützen? Das war verrückt. Sie brauchte keinen Schutz. Nein, sie konnte nicht bleiben. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wohin sollte sie gehen? Nach Hause? Zu Hause ist dort, wo das Herz ist. Sie hatte kein Zuhause mehr.

„Bleiben Sie doch noch für einige Tage!“, bat nun auch Louise inständig. „Wir fühlen uns verantwortlich für Sie. Sie können sich wirklich nicht vorstellen, welchen Druck die Presse ausüben kann. Sie sind viel zu erschöpft, um ihm standzuhalten. Gönnen Sie sich doch noch eine kleine Auszeit bei uns.“

Auszeit! Der Gedanke war verlockend. Und im Moment wäre es wohl auch das Vernünftigste. Sie war noch nicht in der Lage, den Faden – welchen eigentlich? – wieder aufzunehmen. Sie hatte die Wahl: Entweder verbrachte sie noch ein paar ruhige Tage im Schutz des Fürstenpalastes, oder sie lieferte sich den Fängen der Presse aus.

Schlagartig wusste sie, was sie zu tun hatte. Vor allem, weil Raoul sie anlächelte, wie …, wie …, Jessica fand keine Worte dafür. Sie spürte nur, dass sein Lächeln ihr das Herz erwärmte und etwas in ihr wieder zum Leben erweckte, das vor lauter Kummer abgestorben war.

Ja, sie würde bleiben. Sie musste bleiben.

„Danke“, flüsterte sie, und diesmal schenkte ihr Raoul ein noch gewinnenderes Lächeln.

„Gut!“ Er sah ihr tief in die Augen, und sein Blick strahlte so viel Wärme und Freude aus, dass sie sich jetzt ganz sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Kehren Sie langsam zurück ins Leben. Was halten Sie zum Beispiel von einem schönen Dinner mit uns?“, schlug er vor.

„Ich …“

„Keine Sorge, es ist ganz zwanglos“, beruhigte Louise sie, die ahnte, welche Verwirrung so eine Einladung stiften konnte. „Nur im kleinen Kreis, mit meinem Sohn und mir.“ Sie lächelte. „Und einigen unserer Bediensteten.“

„Lass nur Henri uns bedienen, Mutter“, bat Raoul. „Gib den anderen heute Abend frei.“

Zögernd nickte sie. „Ja …, gut. Auch wenn es vielleicht nicht standesgemäß ist.“

„Darüber sollten wir uns jetzt keine Sorgen machen“, beruhigte Raoul sie. „Wir alle nicht. Zumindest für eine Weile.

2. KAPITEL

Während Jessica sich in der riesigen Badewanne rekelte, kreisten ihre Gedanken um Raouls Vorschlag. Ein Dinner mit dem Prinzregenten von Azuri …

Sie musste schmunzeln. Als kleines Mädchen hatte auch sie – wie alle Kinder – das Märchen vom Aschenputtel gelesen und von Prinzen geträumt. Doch die Wirklichkeit ist völlig anders, dachte sie. Wirkliche Prinzen kamen nicht auf edlen Schimmeln angeritten, um die Liebste von ihren Sorgen und Nöten zu befreien und ihr den Himmel auf Erden zu bereiten. Wirkliche Prinzen hatten ihre eigenen Tragödien.

Die ganze Situation erschien ihr so unwirklich, dass sie sich, während sie sich wegen ihrer schmerzenden Muskeln und unzähligen Schrammen vorsichtig abtrocknete und anzog, nicht darüber aufregte, kein passendes Abendkleid oder eine helfende Fee zur Hand zu haben, die sie flugs in eine schöne Prinzessin verwandeln würde. Ich werde strenges Schwarz tragen, dachte sie, verdrängte diesen Gedanken jedoch gleich wieder. Wann hatte sie das letzte Mal Schwarz getragen?

Da sie ihre Reisegarderobe in erster Linie als Muster für die Lieferanten ausgesucht hatte, befanden sich fast nur extravagante Kleidungsstücke in ihrem Koffer. Für diesen Abend wählte sie einen knieumspielenden Volantrock in drei verschiedenen Blautönen, die in so feinen, fast unmerklichen Nuancen wellenförmig ineinander übergingen, dass sie dem Rock etwas Magisches verliehen. Dazu trug sie eine bestickte weiße Bluse mit Stehkragen und Flügelärmeln, die ihre blauen Flecken perfekt kaschierten. Das war alles. Kein Make-up – das mochte sie ebenso wie die Farbe Schwarz schon lange nicht mehr. Sie bürstete ihre kurzen Locken, bis sie glänzten, und musterte sich im Spiegel.

Mit ihrer Kleidung war sie zufrieden, doch an ihrem Gesicht hatte sie einiges auszusetzen: viel zu viele Sommersprossen und viel zu große, traurige Augen. Sie brauchte dringend ein gutes … Leben?

„Du hast dein Leben gehabt“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Und jetzt los, sie erwarten dich zum Dinner.“

Doch sie starrte weiter in den Spiegel, und plötzlich überfiel sie fast Panik. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, dass sie sich in einem Palast befand, in ihrer eigenen Suite.

„Dies ist eine unserer Gästesuiten“, hatte Louise ihr erklärt. Sie bestand aus einem riesigen Schlafzimmer, einem fantastischen Bad und einem kostbar möblierten Salon mit offenem Kamin, in dem seit Jessicas Ankunft ununterbrochen ein Feuer brannte, dessen Wärme der Frühlingssonne nachhalf, die spärlich durch die Südfenster schien. Diese gaben den Blick frei auf einen weitläufigen Rasen, der in einen Park und dahinter in Wald überging. Es war ein atemberaubend schöner Ort.

Sie hatte dem Dinner zugestimmt. Sie war fertig angezogen. Sie konnte jetzt nicht kneifen. Sie musste los. Wie hatte nur Aschenputtel sein flaues Gefühl überwunden?

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Henri kam herein. An den alten Butler konnte sie sich als Erstes erinnern, an seine verlässliche Gegenwart, sein freundliches Lächeln am Krankenbett. War er wie ein Großvater, den es sonst nur im Märchen gab?

„Ich dachte, ich begleite Sie hinunter, Mademoiselle“, sagte er, und sie sah ihm an, dass er ihre Nervosität verstand. „In diesen Korridoren kann man sich leicht verlaufen.“ Billigend musterte er sie. „Und wenn Sie mir diese Worte gestatten: Sie sehen bezaubernd aus. Es wäre zu schade, wenn Sie verloren gingen.“

Dankbar lächelte Jessica ihn an. Er bot ihr den Arm, und sie hakte sich zögernd ein. Ja, Henri war tatsächlich wie ein Großvater aus dem Märchenbuch.

„Keine Angst, es sind auch nur Menschen“, beruhigte er sie auf dem Weg zum Speisesaal. „Menschen, die Probleme haben, genau wie Sie.“

Als Jessica Raoul zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie ihn für einen gut aussehenden Mann gehalten. Jetzt, als Henri die Tür zum Speisesaal öffnete und sie Raoul in seiner Abendgarderobe sah, passte diese Beschreibung nicht mehr. Der Schnitt seines schwarzen Anzugs und die dunkelblaue Seidenkrawatte ließen erkennen, dass es sich um kostspielige italienische Designerstücke handelte. Das weiße Leinenhemd stand in perfektem Kontrast zu seinem dunklen Teint. Und sein Lächeln …

Gut aussehend? Nein. Er sieht einfach umwerfend aus, fand sie. Von Kopf bis Fuß total umwerfend!

Henri blieb mit ihr im Türrahmen stehen. Rasch erhob sich Raoul von seinem Stuhl, eilte auf sie zu und bot ihr den Arm, um sie an ihren Platz zu führen. Als wäre ich eine Prinzessin, dachte Jessica mit klopfendem Herzen. Ich bin viel zu schlicht gekleidet für dieses Ambiente. Doch Raoul lächelte sie an, als wäre sie tatsächlich eine Prinzessin, und auch Louise blickte bewundernd auf ihren Rock und sagte: „Waves.“

„Wie bitte?“ Irritiert setzte sich Jessica, sah auf Raouls Hände, die ihr den Stuhl zurechtrückten, und dann bewundernd auf die Tafel, die mit schwerem Silber und funkelnden Kristallgläsern gedeckt war.

„Ich meinte Ihren Rock“, erklärte Louise. „Wenn ich mich nicht irre, ist es ein original Waves – genau wie meiner.“

Jessica versuchte, sich zu konzentrieren – was ihr nicht leichtfiel, weil so viel Neues über sie hereinbrach. Und weil Raoul sie so seltsam, fast ein wenig traurig anlächelte, so, als wüsste er …

Ach was! Mach dich nicht lächerlich! schalt sie sich innerlich. Konzentriere dich jetzt auf Louises Rock! Ihre Gastgeberin trug tatsächlich einen Rock von Waves. Es war ein Stück aus einer von Jessicas früheren Kollektionen, ein wadenlanger Seidenrock in den Farben des Meeres – den Farben, die Jessica zu ihrer Marke gemacht hatte.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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