Traumhochzeit auf Umwegen

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DIE LIEBE IST EIN SINNLICHES SPIEL von MARGARET MOORE

Sir Develin Dundrake liebt das Glückspiel - bis er die Mitgift der jungen Theodora gewinnt. Denn die plötzlich verarmte Lady verlangt von ihm, dass er sie heiratet. Nur zum Schein, aber schon die betörenden Verlockungen der Hochzeitsnacht machen Develin klar, dass er sich diesmal verspielt hat: Sein Herz ist der Einsatz!

NEUES GLÜCK FÜR HEBAMME ELLIE? von FIONA MCARTHUR

Ein neuer Mann? Nichts für Hebamme Ellie! Nach ihrer schmerzlichen Scheidung hat sie der Liebe abgeschworen und widmet sich mit ganzem Herzen ihrem Job auf der Entbindungsstation. Bis der attraktive Vertretungsarzt Sam Southwell unwiderstehliches Verlangen in ihr weckt …

PERFEKTE BRAUT - VERZWEIFELT GESUCHT! von LOUISA HEATON

Lebt hier die Frau, die mich einfach weggab? Dr. Lula Chance vermutet ihre leibliche Mutter in dem Dorf Atlee Wold. Lula möchte sie finden und zur Rede stellen; dann will sie wieder weg. Doch bis dahin arbeitet sie in der Familienpraxis der Familie James. Und der attraktive Dr. Oliver James ändert mit einem heißen Kuss alles - vielleicht sogar ihr Leben?

SANTA NICOLA - INSEL DER VERSUCHUNG von KATE HEWITT

Mit dem Boss nach Santa Nicola! Zum ersten Mal begleitet Hannah den umwerfend attraktiven Luca Moretti auf eine Geschäftsreise. Aber im Luxus-Resort auf der Mittelmeerinsel stellt Luca sie plötzlich als seine Verlobte vor! Welches sinnliche Spiel plant er mit ihr?

WIE ZÄHMT MAN EINE WIDERSPENSTIGE? von BRONWYN SCOTT

Sie war einem gewissenlosen Verführer zu Willen - jetzt ist Beatrice eine gefallene Frau! Verzweifelt flieht sie nach Schottland, wo unerwartet ihr Jugendfreund Preston Worth auftaucht. Er macht ihr einen gewagten Vorschlag, der zwar ihre verlorene Ehre wieder herstellen, aber ihr Herz für immer brechen könnte …


  • Erscheinungstag 04.03.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506304
  • Seitenanzahl 720
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Margaret Moore, Fiona Mcarthur, Louisa Heaton, Kate Hewitt, Bronwyn Scott

Traumhochzeit auf Umwegen

IMPRESSUM

Santa Nicola – Insel der Versuchung erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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Fax: +49(0) 711/72 52-399
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© 2017 by Margaret Wilkins
Originaltitel: „A Marriage Of Rogues“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe Historical Saison
Band 58 - 2018 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Mira Bongard

Umschlagsmotive: GettyImages_ViDi Studio

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733719722

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Cumbria, Nordengland, 1814

Einen leisen Fluch auf den Lippen erhob sich Sir Develin Dundrake von dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer von Dundrake Hall. Während er durch den mit Eichenholz getäfelten Raum zu den französischen Türen ging, die auf die Terrasse führten, beobachtete er verwundert, wie eine Frau über den Kiesweg auf seinen Landsitz zumarschierte. Aus ihrer unansehnlichen Aufmachung und der entschlossenen Miene folgerte er, dass es sich um irgendeine Wichtigtuerin aus dem Dorf handelte, die Spenden für einen wohltätigen Zweck sammelte. Weshalb sollte sich auch sonst jemand an einem kalten, nebligen Herbstmorgen wie diesem hinauswagen? Aber fiel dieser Person wirklich nichts Besseres ein, als sich dem Herrenhaus von der Gartenseite zu nähern?

Doch wer sie auch war, und was auch immer sie wollte, es passte ihm gerade gar nicht, belästigt zu werden, ganz gleich, wie edel die Beweggründe auch sein mochten. Er gab bereits eine beträchtliche Summe für eine ganze Reihe von wohltätigen Unternehmungen aus. Überdies hatte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Er sah wieder hinaus und erschrak fast zu Tode. Die Fremde stand direkt vor der französischen Tür und starrte wie ein Geist durch die Scheiben in sein Arbeitszimmer.

Es handelte sich um einen erstaunlich jungen und keinesfalls hässlichen Geist, ungeachtet der scheußlichen dungfarbenen Pelisse und dem schlaff herabhängenden Strohhut.

Er öffnete die Terrassentür. „Wer sind Sie, und was wollen Sie?“, fragte er barsch.

Die junge Frau zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. Er glaubte schon, sie würde den Rückzug antreten, als sie stolz den Kopf hob. Er blickte in ihr ganz und gar nicht reizloses Gesicht und sah, wie sich ihre bogenförmigen Brauen über den sturmgrauen Augen senkten. Die Flügel ihrer schmalen Nase weiteten sich, und sie kniff die prallen Lippen zusammen. „Guten Morgen, Sir Develin. Sie sind doch Sir Develin Dundrake, nicht wahr?“, fragte sie mit überraschend heiserer Stimme.

„Besucher sollten sich am Hauseingang melden“, erwiderte er unfreundlich und vermied es, ihre Frage zu beantworten.

„Habe ich gerade die Ehre, mit Sir Develin Dundrake zu sprechen?“

Lag da etwa Sarkasmus in ihrer Stimme? „Ja, ich bin Sir Develin“, antwortete er ein wenig freundlicher. Falls sie tatsächlich in wohltätiger Mission unterwegs war, wollte er nicht unhöflich sein, auch wenn sie mit ihrer Vorgehensweise die Etikette missachtete.

„Bitte verzeihen Sie, dass ich nicht am Hauseingang um Einlass gebeten habe“, sagte die junge Frau, wobei ihre Stimme weder Reue noch Bedauern verriet. „Ich hatte vor, zur Vordertür zu laufen, bis ich Sie sah. Da ich in einer sehr persönlichen Angelegenheit zu Ihnen komme, beschloss ich, Sie lieber direkt und ganz privat anzusprechen.“

Das hatte sie also beschlossen. Sie schien nicht zu ahnen, wie wenig er ihre Entschlossenheit zu schätzen wusste. Sein Vater hatte auch eine solche Rigorosität verkörpert. Was die sehr persönliche Angelegenheit anbelangte, war er sich sicher, der jungen Frau nie zuvor begegnet zu sein. Nicht zuletzt hätte er sich an diese großen Augen und an die sinnlichen Lippen erinnert.

Dennoch kam ihm etwas an ihr bekannt vor.

„Dürfte ich vielleicht hineinkommen?“, fragte sie. „Wenn Sie es bevorzugen, können wir natürlich auch hier stehen bleiben. Auf jeden Fall muss und werde ich heute mit Ihnen sprechen, Sir Develin, ganz gleich ob im Garten oder in Ihrem Haus.“

Wie entschlossen diese Frau auch sein mochte, es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, sie von seinem Grundstück entfernen zu lassen. Er hätte sie sogar wegen widerrechtlichen Betretens anzeigen können.

Nichts dergleichen tat er. Was er stattdessen tat, wunderte ihn selbst auch noch im Nachhinein. Er machte die Tür weiter auf und trat zur Seite, um ihr Einlass zu gewähren.

Die junge Frau ging in sein Arbeitszimmer und blieb vor dem Kamin aus Marmor stehen. Darüber hing ein Porträtbild von seinem Vater, das sie fasziniert betrachtete. Auf dem Gemälde hatte Sir Randolf Dundrake eine Hand zur Faust geballt, während die andere auf einem Buch lag, obgleich der Porträtierte nach seiner Schulzeit nie wieder ein Buch gelesen hatte. Der Hintergrund bestand nur aus einem dunklen Vorhang, der das harte blasse Gesicht wie eine Maske wirken ließ. Sein schwarzes Haar war kräftig wie das seines Sohnes und an der hohen Stirn nach hinten gebürstet. Auch die braunen Augen und das Kinn hatte Dev vom Vater geerbt, aber glücklicherweise nicht dessen dünne Lippen und die breite Nase.

Die junge Frau drehte sich zu ihm um. „Das sind nicht Sie.“

„Nein, in der Tat nicht“, bestätigte er und fragte sich, ob er nach dem Butler läuten sollte.

Er ging auf die Klingelschnur zu.

„Ich bin Lady Theodora Markham.“

Du liebe Güte! Dev versuchte, sich zu beruhigen, holte tief Luft und wandte sich ganz langsam zu ihr um. „Wie bitte?“

Er hatte ihren Namen mehr als deutlich vernommen und wollte nur Zeit gewinnen.

„Ich bin Sir John Markhams Tochter. Gewiss erinnern Sie sich an den Namen. Mein Vater verlor vor zwei Wochen beim Spiel in London eine beträchtliche Summe an Sie.“

Ob er sich an den Namen erinnerte? Ganz sicher würde er weder den Namen noch Sir John Markham vergessen! Allerdings hatte Sir John darauf bestanden, das Spiel fortzusetzen, obwohl er zu verlieren begann. Als Dev das Spiel hatte beenden wollen, war der Mann so weit gegangen, ihn einen schlechten Verlierer und Feigling zu nennen. Daraufhin hatten sie weitergespielt, bis der Mann das gesamte Geld verloren hatte, das er bei sich trug, und überdies mehrere Wechsel unterschrieben hatte. Erst als Dev erkannt hatte, dass der Mann niemals aufgeben würde, hatte er nicht mehr auf Sir Johns verächtliche Kommentare geachtet und sich einfach vom Spieltisch entfernt.

Seit jenem Abend hatte er beinahe damit gerechnet, dass Sir John an seiner Türschwelle erscheinen würde, um sich mehr Zeit zur Tilgung der Schulden zu erbitten. Das wäre schon unerfreulich genug gewesen. Doch stattdessen die eigene Tochter als Bittstellerin vorzuschicken, kam Dev geradezu niederträchtig vor.

An seinem Dilemma änderte das nichts. Wie sollte er mit dieser Frau umgehen, die so selbstbewusst und unverblümt auftrat?

Bevor er einen Entschluss fassen konnte, ergriff sie erneut das Wort. „In der Tat verlor mein Vater alles an Sie, was noch von seinem Vermögen übrig war und auch die Summe, die als Mitgift für mich vorgesehen war.“

Obgleich dies eine unwillkommene und belastende Neuigkeit war, bemühte sich Dev um eine unschuldige Miene. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass der Mann nicht aufgehört hatte. „Er hatte die Wahl, zu spielen oder es zu lassen.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff ‚Wahl‘ zutreffend ist“, entgegnete Lady Theodora. „Vermutlich ist Ihnen zu Ohren gekommen, dass er vor einiger Zeit unseren Landsitz verkauft hat, ebenso wie alles Porzellan, die Pferde und die Kutschen, um seine Spielschulden zu bezahlen. Alles, was uns noch blieb, waren ein paar Kleidungsstücke und das Geld, das er in jener Nacht an Sie verlor.“

„Sind Sie gekommen, damit ich ihm die Schulden erlasse?“, fragte Dev, dem diese Lösung die einfachste erschien, um die Frau loszuwerden und sein Gewissen zu beruhigen. „Oder möchten Sie sich von mir Geld leihen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin keine Bettlerin, Sir Develin.“

Verwundert zog er die Brauen zusammen. „Weshalb sind Sie denn sonst gekommen? Wenn es Ihnen darum geht, mir Vorwürfe zu machen, können Sie sich die Mühe sparen. Ich habe Ihrem Vater jede erdenkliche Möglichkeit gegeben, das Spiel zu beenden.“

Sie errötete, wandte aber den festen Blick nicht von ihm ab. „Wie auch immer es dazu gekommen ist, Sie sind der Profiteur der letzten Spieleinsätze meines Vaters.“

Ihm kam ein schrecklicher Gedanke in den Sinn. Viele Männer hatten sich schon wegen geringerer Schulden das Leben genommen. „Warum ist Ihr Vater nicht selbst zu mir gekommen?“

„Er ist auf dem Weg nach Kanada.“

Er atmete erleichtert auf. „Ohne Sie?“

Die Röte ihrer Wangen vertiefte sich. „Er schämte sich zu sehr, um mir von seinen Plänen zu erzählen. Er hinterließ mir einen Brief, in dem er erklärt, weshalb er nach Halifax segelt.“

„Du meine Güte! Und er hat Sie mit Nichts zurückgelassen?“, rief Dev bestürzt.

Lady Theodora straffte die schmalen Schultern. „Er ließ mir meinen Namen und meinen Stolz, Sir Develin, und die Hoffnung auf seine mögliche Rückkehr. Wie dem auch sei, ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über die Handlungsweise meines Vaters zu reden. Ich habe einen geschäftlichen Vorschlag.“

Einen geschäftlichen Vorschlag? Das kam ebenso unerwartet wie ihr Erscheinen.

„Der Großteil der Summe, die Sie von meinem Vater gewonnen haben, war als meine Mitgift vorgesehen“, fuhr sie rasch fort, sodass er keine Gelegenheit hatte, sie mit einer Frage oder einer Bemerkung zu unterbrechen. „Da Sie bereits die Mitgift haben, schlage ich vor, dass Sie jetzt auch die Braut nehmen.“

Dev war ein Mal in seinem Leben bewusstlos geschlagen worden. Jetzt fühlte er sich ähnlich. „Was haben Sie gesagt?“

„Ich sagte, dass Sie bereits die Mitgift haben und daher auch die Braut nehmen sollten.“

Er konnte noch immer nicht glauben, dass er sie richtig verstand. „Was meinen Sie denn damit?“

Sie blickte ihn fest mit ihren ernsten grauen Augen an und antwortete: „Ich meine, dass Sie mich heiraten sollten, Sir Develin.“

„Heiraten?“

„Ja“, bestätigte sie. „Ich benötige ein Zuhause, und Sie benötigen eine Ehefrau. Sie sind beinahe dreißig Jahre alt, sind reich und attraktiv und tragen einen Titel. Da Sie noch keine Frau zur Braut genommen haben, gehe ich davon aus, dass Sie die Freiheit zu schätzen wissen, zu tun, was Sie wollen und mit wem immer Sie möchten. Da Sie jedoch gut aussehend und reich sind und einen Titel tragen, werden Sie sich derzeit vermutlich kaum vor heiratswilligen Debütantinnen und deren Müttern retten können. Wenn Sie mich heiraten, erhalten Sie als Gegenleistung für die Sicherheit, die für mich damit verbunden ist, eine Ehefrau, die Ihnen den Haushalt führt und sich um die gesellschaftlichen Verpflichtungen kümmert. Meine Familie ist zwar arm, aber das war nicht immer so. Ich bin gut erzogen, gebildet und weiß, was von der Gattin eines Baronets erwartet wird. Aber vor allem würde ich Ihnen Ihre Freiheit lassen. Ich werde nicht danach fragen, wohin Sie gehen und was Sie mit wem tun. Kurz und gut, ich will eine gesicherte Existenz, und Sie könnten das sorgenfreie Leben eines Junggesellen fortsetzen, ohne Schuldgefühle gegenüber Ihrer Ehefrau zu haben und ohne von heiratswilligen Damen belästigt zu werden.“

Dev starrte sie ungläubig an. Diese ernste, unverfrorene und schäbig gekleidete junge Frau, die da vor ihm stand, hatte ihm gerade den unerhörtesten Vorschlag unterbreitet, der ihm je zu Ohren gekommen war! Auch wenn ihre Argumente durchaus schlüssig klangen … Es blieb ein haarsträubender Vorschlag, der überhaupt nicht infrage kam. „Das soll wohl ein schlechter Scherz sein“, sagte er schließlich.

„Sie können sicher sein, dass ich es vollkommen ernst meine“, erwiderte sie ruhig. „Als mittellose Aristokratin bleiben mir nur wenige Möglichkeiten. Ich könnte eine Anstellung als Gouvernante, Lehrerin oder Gesellschafterin annehmen. Doch ich wollte zunächst wissen, ob Sie bereit sind, ein gewisses Maß an Verantwortung für Ihre Handlung zu übernehmen, wenn Sie sich dadurch zugleich einige Schwierigkeiten ersparen.“

Inzwischen hatte er die Fassung zurückgewonnen. „Ich habe Ihren Vater nicht in diese Spielhölle geschleppt oder ihn dazu gezwungen, Karten zu spielen. Ich bin auch nicht derjenige, der Sie völlig mittellos zurückgelassen hat. In dieser Hinsicht ist mein Gewissen rein“, erklärte er, auch wenn das nicht ganz stimmte.

Zwar bedauerte er die Geschehnisse jenes fraglichen Abends, aber deshalb hatte er noch lange nicht die Absicht, sich zeitlebens an diese seltsame Frau zu binden.

Zumindest redete er sich das ein, bis er sich an den letzten Ball erinnerte, den er besucht hatte. Die Frauen hatten sich an ihn herangepirscht wie hungrige Katzen an eine Maus. Seine Einwände schwanden weiter, als er an die Falle dachte, die ihm die Tochter des Duke of Scane oder vielleicht auch deren Mutter hatte stellen wollen.

Gewisse Dinge in seinem derzeitigen Leben schätzte Lady Theodora vollkommen richtig ein. Welche andere Dame würde ihm schon ohne zu murren nach der Heirat seine Freiheiten lassen?

Ihm fiel keine ein.

Doch unabhängig von den Vorzügen ihres Vorschlags hatte sie offenbar einen wichtigen Aspekt außer Acht gelassen. „Nehmen wir einmal an, ich würde auf Ihren abwegigen Vorschlag eingehen. Wie verhält es sich dann mit Kindern, Lady Theodora? Haben Sie das bei Ihrer Planung berücksichtigt? Ich würde einen Erben haben wollen und wenigstens ein weiteres Kind.“

Er hatte gedacht, damit den wunden Punkt getroffen zu haben, aber sie hob nur den Kopf und streckte das Kinn nach vorn. „Ich bin kein dummes kleines Schulmädchen, Sir Develin. Ich werde tun, was erforderlich ist.“

„Erforderlich? Das klingt nicht sehr verlockend“, bemerkte er trocken.

Sie hob eine Braue. „Nach dem, was man hört, benötigen Sie keine große Ermutigung.“

Er war nicht gewillt, sich für sein natürliches Verlangen zu schämen. „Ich genieße die Freuden des Schlafzimmers und werde mich gewiss nicht dafür entschuldigen.“

„Entschuldigungen werden auch nicht vonnöten sein“, erwiderte sie. „Wie bereits erwähnt, werde ich die Erwartungen an eine Ehefrau erfüllen und gehe davon aus, dass auch Sie Ihren ehelichen Pflichten nachkommen. Was Sie darüber hinaus tun, ist ganz allein Ihre Sache.“

Er schlenderte auf sie zu. „Vorausgesetzt, dass ich in dieses Geschäft einwillige.“

Sie nickte. „Ja, vorausgesetzt, dass Sie einwilligen.“

„Vielleicht könnte ich das ja“, murmelte er, bevor er sie an sich zog und sie auf den Mund küsste.

Thea war so überrascht, dass sie sich im ersten Moment am liebsten von ihm losgerissen und ihm eine Ohrfeige verpasst hätte. Nur dass es eben kein gewaltsamer und unangenehmer Kuss war, sondern ein ausgesprochen verführerischer – zärtlich und verlockend. Außerdem war sie hierhergekommen, damit dieser Mann sie heiratete.

Obendrein war der Mann, der sie küsste, Sir Develin Dundrake. Er war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte – mit diesen dunklen Augen, der feinen Nase und dem entschiedenen Kinn. Sie wusste auch, dass dieser Mann ein gutes Herz hatte, ganz gleich, wie er sich am Spieltisch verhalten hatte.

Sie löste sich nicht aus seiner Umarmung, sondern öffnete die Lippen und ließ zu, dass er ihr einen Zungenkuss gab. Sie wich nicht einmal zurück, als er die Hände unter ihre Pelisse gleiten ließ, um ihre Brüste zu berühren. Stattdessen zog sie ihn noch näher an sich, strich ihm mit einer Hand über den Rücken und spürte das Spiel seiner Muskeln durch den schwarzen Gehrock. Genau davon hatte sie geträumt, seit sie ihn vor Monaten zum ersten Mal erblickt hatte.

Die Realität war allerdings weit überwältigender, zumal er ganz aus der Nähe sogar noch besser aussah. Sie hatte ihn zuvor nur aus der Ferne erblickt. Hier, in seinem imposanten Landhaus, in eleganten Pantalons und maßgeschneidertem Hemd und Gehrock, mit einem kunstvoll gebundenen Krawattentuch, das dunkle lockige Haar leicht zerzaust, war er in der Tat der Inbegriff eines Traummanns.

Er brach den Kuss ab und trat einen Schritt zurück. Ein rätselhaftes Lächeln umspielte seine Lippen.

Was war es? Überraschung? Verwunderung?

Dann wurde aus dem zaghaften Lächeln ein vergnügtes Grinsen, das ebenso neckisch wie verführerisch war. „Allmählich lerne ich die Vorzüge Ihres Antrags zu schätzen, Mylady.“

Obgleich sie eine lebhafte Fantasie hatte, war sie auf die Wirkung seines Kusses nicht vorbereitet gewesen.

„Sollte ich also zustimmen“, fügte er hinzu, „wann und wo sollen wir heiraten? Ich nehme an, dass Sie sich auch darüber schon Gedanken gemacht haben.“

Im Grunde hatte sie kaum zu hoffen gewagt, dass er ihren Vorschlag in Erwägung zog. Jetzt holte sie tief Luft und antwortete: „Sie sollten mich morgen Früh im Dorfgasthof abholen. Von dort aus können wir nach Gretna Green reisen und sofort heiraten.“

„Verstehe. Und wie soll ich meine plötzliche Eheschließung mit einer Frau erklären, der ich nie zuvor begegnet bin?“

Auch darauf hatte sie eine Antwort parat. „Ich bin in Irland aufgewachsen, bevor mein Vater sein Geld verlor. Soweit ich weiß, sind Sie in den letzten Jahren öfter dorthin gereist. Sie könnten also behaupten, mich in Dublin kennengelernt zu haben. Und mein Familienname lässt sich problemlos im Adelsverzeichnis finden, sofern jemand das überprüfen möchte.“

Sir Develin begab sich sofort zu einem Regal, zog ein Buch heraus und blätterte darin. Dann ließ er die Finger eine bestimmte Seite hinuntergleiten. „Ah ja, da sind Sie, oder zumindest Ihre Familie.“

Er schloss das Buch und schob es zurück in das Regal. „Es überrascht mich, dass Sie bereit sind, einen Mann zu heiraten, den Sie gar nicht kennen.“

„Selbstverständlich habe ich mich erkundigt, bevor ich hierherkam“, erläuterte sie wahrheitsgemäß. „Wie verzweifelt meine Lage auch sein mag, habe ich nicht die Absicht, mich an einen notorischen Spieler, Säufer oder Wüstling zu binden. Sie spielen eher selten, trinken nur maßvoll, und obgleich Sie verschiedene Liebschaften unterhalten haben, sind Sie kein Verführer von Unschuldigen. Und ein Dandy sind Sie auch nicht.“

Und wenn Sie die Straße hinunterschreiten, bewegen Sie sich wie ein Prinz, der jede Schlacht gewinnt, dachte sie, ohne es auszusprechen.

„Sie haben also Erkundigungen über mich eingeholt. Aber vielleicht hege ich nicht den Wunsch, eine Frau zu heiraten, die für mich eine Fremde ist.“

„Was meinen Sie, wie gut die meisten Männer Ihres Standes die Frauen kennen – wirklich kennen, die sie heiraten?“, gab sie zu bedenken. „Geht es dabei nicht meistens nur um die Herkunft, und die Bekanntschaft beschränkt sich auf wenige Begegnungen bei Festivitäten?“

Er musterte sie einen Moment lang, warf einen Blick auf das Porträt und sah sie wieder an. „Sie scheinen alles genau durchdacht zu haben.“

Das hatte sie auch geglaubt, bevor sie Sir Develin leibhaftig gegenüberstand und von ihm geküsst worden war. Jetzt schlug ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals. Wenn sich diese Unterhaltung noch länger hinzog, würde sie die Fassung verlieren. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als direkt auf den Punkt zu kommen. „Heiraten wir nun oder nicht, Sir Develin?“

Er lächelte zögerlich, als ob er für seine Antwort alle Zeit der Welt hätte. „Darüber darf ich doch gewiss ein wenig nachdenken. Immerhin wird mir nicht jeden Tag ein Heiratsantrag gemacht. Genau genommen handelt es sich um den ersten.“

Seine ebenso belustigte wie herablassende Art reizte ihren Stolz und machte sie zornig.

„Die Angelegenheit mag in Ihren Augen schrecklich amüsant erscheinen, Sir Develin, aber mir ist es sehr ernst. Wenn Sie mir heute keine Antwort geben können, betrachte ich das als Absage.“

„Kein Grund, es so eilig zu haben oder wütend zu werden.“ Er runzelte die Stirn. „Mir steht doch wohl das Recht zu, über Ihren Vorschlag nachzudenken.“

Sie stellte sich darauf ein, dass er ihr eine Absage erteilte und überlegte, was sie darauf entgegnen sollte.

„Ich nehme Ihren Antrag an.“

Sie blickte ihn ungläubig an. „Wirklich?“

Er nickte, und seine braunen Augen funkelten. „Ja, wirklich“, bestätigte er nickend. „Wie Sie vorgeschlagen haben, werde ich Sie morgen Früh im Gasthof von Dundrake abholen. Und jetzt schlage ich vor, dass Sie zum Dinner bleiben.“

Sie war erstaunt, entzückt und erleichtert. In der Furcht, er könne es sich noch anders überlegen, wenn sie blieb, schüttelte sie den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich muss meine Sachen packen“, sagte sie und eilte zur Terrassentür.

„Warten Sie, ich rufe Ihnen eine Kutsche. Heute ist ein scheußliches Wetter, um sich draußen länger als nötig aufzuhalten.“

Eine Hand bereits auf dem Türgriff drehte sie sich halb zu ihm um. „Nein, vielen Dank. Das stört mich nicht. Ich gehe gern zu Fuß. Es ist nicht weit, und ich bin schon auf halbem Wege zum Gasthof, wenn die Kutsche bereitsteht.“

Bevor er noch etwas einwenden konnte, war Thea aus der Tür und überquerte die Terrasse so schnell, wie es ihre Würde erlaubte. Als sie die Treppenstufen erreichte, über die man in den Garten gelangte, begann sie undamenhaft zu rennen. Sie hielt erst an, um zu verschnaufen, als sie den Gartenbereich mit den gepflegten Hecken verlassen und den Wald erreicht hatte, der Sir Develins Anwesen umgab. Gegen eine uralte Eiche gelehnt, blickte sie auf das riesige Herrenhaus mit seinen imposanten Steinreliefs. Doch Thea dachte nicht an das Haus, den schönen Garten oder die edle Einrichtung, die sie im Arbeitszimmer gesehen hatte.

„Er hat zugestimmt!“, flüsterte sie und konnte kaum fassen, was eben geschehen war. „Er hat zugestimmt!“

Sie würde einen vermögenden Mann mit Titel heiraten. Nie wieder würde sie ein Leben in Armut mit Kälte und Hunger führen. Und was noch besser war: Sie hatte nicht auf den Plan zurückgreifen müssen, den sie im Falle einer Ablehnung in Erwägung gezogen hatte.

Und er hatte mehr getan, als nur zuzustimmen. Sie strich sich mit den Fingern über die Lippen, die er so leidenschaftlich geküsst hatte. Offenbar fand er sie begehrenswert, und wenn sie an ihre Hochzeitsnacht dachte …

Es ist vermutlich klüger, sich darüber nicht zu viele Gedanken zu machen, ermahnte sie sich und löste sich von dem Baumstamm, um forschen Schritts in das Dorf zurückzukehren.

Schließlich konnte er seine Meinung noch immer ändern.

Als Dev die Terrassentür erreichte, war Lady Theodora bereits im Nebel verschwunden wie ein Geist oder eine andere übernatürliche Erscheinung.

Möglicherweise ist sie das ja, dachte er sich abwendend. Eine Vision, die durch meine Schuldgefühle und meine Reue heraufbeschworen wurde. Oder war er nur deshalb so verwirrt und aufgeregt, weil er nie zuvor einer so kühnen und entschlossenen Frau begegnet war und auch keiner, die mit einer so zügellosen und ungekünstelten Leidenschaft küsste? Er ging zu dem Serviertisch und schenkte sich ein Glas Brandy ein. Jetzt, da Sir Johns Tochter mit ihren großen grauen Augen und ihren verlockenden Lippen nicht mehr im Zimmer war, würde er gewiss wieder klar denken können.

In einem Punkt hatte sie sicherlich recht. Manchmal fühlte er sich, als ob man ihn in einem Schaufenster zum Verkauf ausstellen würde. Inzwischen fürchtete er sich fast davor, Bälle und Feste zu besuchen. Auch die anderen Argumente, die sie vorgetragen hatte, erschienen ihm schlüssig. Und wie vielen Männern wurde schon die Möglichkeit angeboten, zu heiraten und weiter die Vorzüge des Junggesellenlebens zu genießen?

Ihre unerwartete Leidenschaftlichkeit sprach ebenfalls für sie. Sie hatte nicht mit der eingeübten Leichtigkeit seiner bisherigen Geliebten auf den Kuss reagiert, sondern mit einem unschuldigen Verlangen, das sein eigenes gesteigert hatte.

Doch was würden seine Freunde und der Rest der feinen Gesellschaft sagen, wenn er mit einer Braut auftauchte, die niemand kannte und die viele nicht für eine Schönheit erachten würden? Ihren klugen leuchtenden Augen würden die meisten keine Beachtung schenken, auch nicht dem geschmeidigen wohlgeformten Körper und ihren weichen sinnlichen Lippen.

Sein Anwalt würde zweifellos denken, dass er den Verstand verloren hatte.

Erneut blickte er auf das Porträt über dem Kamin. Dieser harte und selbstgerechte Gentleman hätte Lady Theodora sofort aus dem Haus geworfen und ihr die Hunde auf die Fersen gehetzt, nachdem sie offenbart hatte, wer sie war. Der verzweifelte Blick ihrer großen Augen hätte seinen Vater völlig unbeeindruckt gelassen. Doch bei Dev hatte sie damit nicht nur sein Ehrgefühl, sondern auch sein einsames Herz angesprochen.

Dev leerte ein weiteres Glas, bevor er sich wieder an die Terrassentür stellte und in den durchnässten Garten blickte. In dieser Jahreszeit blühten keine Blumen. Das einzige Grün boten die säuberlich gestutzten Hecken und der Wald, der sich dahinter erstreckte. Es schien, als ob sein Leben sich in einer Erstarrung befände, von der ihn nur die Wärme des Frühlings und des Sommers erlösen konnte.

Er schob den Gedanken beiseite und dachte über seine Entscheidung nach. Lady Theodora zu heiraten würde die Schuldgefühle mindern, die ihn plagten, seit er sich aus Stolz dazu hatte hinreißen lassen, das Spiel mit dem sichtlich verzweifelten Sir John fortzusetzen.

Aber zahlte er für diesen Fehler keinen zu hohen Preis, wenn er sich an eine Frau band, die er weder liebte noch kannte?

Schließlich hätte Lady Theodoras Vater den Spieltisch jederzeit verlassen können. So gesehen fiel Ihr Schicksal nicht in seinen Verantwortungsbereich, und daran würde sich auch nie etwas ändern.

Doch er hatte in ihren Vorschlag eingewilligt, und er schämte sich grenzenlos, weil er falsch gespielt hatte, um Sir John Markham zur Aufgabe zu zwingen.

2. KAPITEL

Darf ich Ihnen was bringen, Miss? Brot und Butter, oder vielleicht eine Tasse Tee?“, fragte das Dienstmädchen, als Thea am nächsten Morgen im Speisezimmer des Gasthofs saß und in den Hof blickte.

Es war ein großer und dennoch gemütlicher Raum mit breiten Sesseln und einem lodernden Kaminfeuer. Gewiss hätte sie sich darin behaglich gefühlt, wenn sie keine Zukunftsängste geplagt hätten. Außerdem war Thea das Getuschel unangenehm. Seit sie vor zwei Tagen mit der Postkutsche aus London angereist war – allein und nur mit einem kleinen Gepäckstück – lenkte sie neugierige Blicke auf sich. Zweifellos würde es noch mehr Gerede geben, wenn Sir Develin tatsächlich kam und sie mitnahm.

„Nein, danke“, antwortete Thea der molligen jungen Frau. Das Haar des Dienstmädchens war unordentlich zu einem losen Knoten zusammengebunden, doch immerhin trug sie eine saubere Schürze.

Das Mädchen nickte in Richtung des Kamins. „Möchten Sie nich’ lieber am Feuer warten?“

Thea schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank.“ Sie wollte den Hof im Blick behalten, um nach ankommenden Kutschen Ausschau zu halten.

„Sie warten auf eine Kutsche, nich’ wahr? Reisen Sie zurück nach Liverpool? Oder nach London?“

Thea hatte nicht die Absicht, dem Dienstmädchen ihr Ziel zu verraten. Zumal sie gar nicht wusste, was passieren würde. Ganz gleich, was Sir Develin am Vortag gesagt hatte, vielleicht hielt er nicht Wort.

Als Thea schwieg, runzelte die junge Frau die Stirn, zuckte mit den Schultern und entfernte sich. Jetzt konnte Thea wieder in Ruhe das Treiben im Hof beobachten. Trotz der Kälte und des Nebels herrschte an diesem Morgen bereits reger Betrieb. Burschen misteten die Ställe aus und füllten die Tröge auf, Bedienstete reinigten das Kopfsteinpflaster und brachten Brennholz in die Küche. Dampf drang aus der Tür eines Nebengebäudes, bei dem es sich zweifellos um die Wäscherei handelte. Dienstmädchen mit kräftigen Oberarmen trugen große Körbe mit Wäsche hinaus. Thea sah zu, wie ein Fischhändler vor der Küchentür seine Ware feilbot. Der Koch, der sich die Hände an der Schürze abwischte, kam heraus, um die Aale und Süßwasserfische zu begutachten.

Als sie bereits glaubte, dass Sir Develin es sich anders überlegt hatte, bog ein glänzender schwarzer Landauer, der von vier prachtvollen weißen Pferden gezogen wurde, in den Hof ein. Der Kutscher in dunkelgrüner Livree brachte das Gefährt zum Stehen und kletterte vom Bock. Als er die Tür öffnete, fiel Thea ein Stein vom Herzen. In eleganter Reisekleidung und mit schwarzem Hut sprang Sir Develin Dundrake aus der Kutsche.

Thea verlor keine Zeit. Sie umfasste den abgewetzten Griff ihres kleinen Koffers, eilte hinaus und blieb erst wenige Schritte vom Landauer und Sir Develin entfernt stehen. Dabei bemühte sie sich, nicht auf die erstaunten Blicke des Kutschers und der Leute im Hof zu achten.

„Guten Morgen, Sir Develin“, begrüßte sie ihn mit ruhiger Stimme, obgleich sie schrecklich aufgeregt war.

„Ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen, Lady Theodora“, entgegnete er und musterte sie vom Hut bis hinunter zum Saum ihrer Pelisse.

Ihr war bewusst, dass sie unschön gekleidet war, und sein prüfender Blick machte diese unangenehme Tatsache noch peinlicher. Unverzagt erwiderte sie den prüfenden Blick und stellte fest, dass er einen erschöpften Eindruck machte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, als ob er die ganze Nacht nicht geschlafen hätte.

Vielleicht hatte er seine Meinung geändert und war gekommen, um sie davon in Kenntnis zu setzen …

„Wir sollten uns besser auf den Weg machen, wenn wir bis zum Abend unser Ziel erreichen wollen“, sagte er lächelnd und bot ihr den Arm.

Er hält Wort! Er wird mich heiraten!

Sie legte eine Hand auf Sir Develins Unterarm und spürte sofort die festen Muskeln unter dem feinen Stoff.

„Gen Norden!“, befahl er dem Kutscher. „Nach Gretna Green.“

Thea straffte die Schultern, hob das Kinn und stieg in die Kutsche.

Während sie im Landauer holpernd nach Schottland reisten, betrachtete Dev verstohlen die Frau, die ihm schräg gegenübersaß. Sie hatte sich ganz in die Ecke gedrückt, so weit wie möglich von ihm entfernt in dem begrenzten Innenraum der Kutsche. Fürchtete sie etwa, dass er sie hier und jetzt in seinem Landauer verführen würde?

Selbst wenn er in Versuchung gewesen wäre – und ein wenig war das der Fall – seine Müdigkeit lähmte jeden Tatendrang. Er hatte schon in den letzten vierzehn Tagen schlecht geschlafen, aber in der vergangenen Nacht war es noch schlimmer gewesen. Stundenlang war er in seinem Schlafzimmer auf- und abgeschritten und hatte darüber nachgegrübelt, ob es die richtige Entscheidung war, sie zu heiraten. Zu guter Letzt hatten die Argumente seine Einwände überwogen, die sie zugunsten der Eheschließung vorgebracht hatte.

Zumindest fürs Erste.

Bis zum Abschluss der Zeremonie konnte er es sich noch immer anders überlegen – ebenso wie sie.

„Wie lange brauchen wir, um Gretna Green zu erreichen?“, fragte sie plötzlich und hob eine Braue.

„Wenn die Straßen trocken bleiben, sollten wir am Nachmittag dort sein“, antwortete er.

„Ihr Kutscher machte einen überraschten Eindruck, als Sie ihm Gretna Green als Ziel nannten. Haben Sie Ihren Haushalt nicht davon in Kenntnis gesetzt, wohin Sie aufbrechen?“

Wie auch? Er hatte ja nicht einmal gewusst, ob sie wirklich im Gasthof auf ihn wartete, ganz gleich, wie kühn sie am Vortag aufgetreten war. „Ich sagte, dass ich eine Dame treffe.“

„Das ist alles, was Sie Ihren Bediensteten erzählt haben?“

„Mehr mussten sie nicht wissen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Schließlich hätte es gut sein können, dass Sie Ihre Meinung ändern.“

„Ich nicht“, erwiderte sie mit Bestimmtheit, bevor sie wieder aus dem Fenster starrte.

Zweifellos war sie resolut. Das war bei Frauen eher ungewöhnlich, aber wünschte er sich diese Eigenschaft wirklich bei einer Ehefrau? Andererseits hatte sie ihn mit einer Unerschrockenheit geküsst, die er als ziemlich beglückend empfunden hatte. Zimperliches Jungferngetue schien ihr fernzuliegen!

Was die Hochzeitsnacht betrifft … Er wollte nicht darüber nachdenken. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, um die Frau, die er heiraten sollte, genauer in Augenschein zu nehmen.

Sie war nicht wunderschön, aber immerhin hübsch. Ihre Bewegungen waren anmutig, sie war schlank, und selbst die scheußliche Pelisse konnte ihre wohlgestalte Figur nicht verbergen. Ihr Strohhut wirkte ebenso schäbig und billig wie die übrige Kleidung. Er passte eher zu einer einfachen Pächterin.

Mit einem Mal drehte sie den Kopf und sah ihn herausfordernd an. „Hat Ihnen niemals jemand beigebracht, dass es unhöflich ist, andere anzustarren, Sir Develin?“

Wie ein Bursche, der noch grün hinter den Ohren war, errötete er und verfluchte sich dafür. „Sie tragen die hässlichste Kleidung, die ich je bei einer Dame gesehen habe“, sagte er, und seine Verlegenheit ließ ihn schroffer klingen, als er beabsichtigt hatte. „Das war doch bestimmt nicht der einzige Farbton, in dem der Stoff erhältlich war. Er erinnert an Kautabak – ausgespuckten Kautabak.“

Sie wurde nicht rot. Stattdessen blickte sie ihn finster an. „Es war der beste Stoff, den ich mir leisten konnte. Wegen der Farbe war er preiswerter. Ich nehme an, dass sich ein privilegierter Sprössling aus reichem aristokratischen Haus wie Sie nie Gedanken um die Kosten seiner Bekleidung machen muss.“

Er versuchte nicht, sich zu verteidigen, auch weil sie nicht ganz unrecht hatte. Wie viel seine Kleidung kostete, hatte für ihn nie eine Rolle gespielt. „Sobald wir verheiratet sind, brauchen Sie eine bessere Garderobe.“

„Darin stimme ich Ihnen gerne zu. Möchten Sie die Auswahl vielleicht persönlich überwachen?“

„Etwas Langweiligeres kann ich mir kaum vorstellen.“

Sie nickte und blickte wieder aus dem Fenster.

Er sank gegen das Polsterkissen und schloss die Augen. Wenn sie nicht mit mir reden will … Ich sollte die Zeit besser nutzen, um zu überlegen, ob ich das Richtige tue, dachte er schläfrig. Vielleicht wäre es besser, vielleicht …

Thea erwachte aus einem unruhigen Schlaf und versuchte, den steifen Nacken zu lockern. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie eingedöst war. Sie war irgendwann nach Sir Develin eingenickt. Ein kurzer Blick bestätigte, dass er noch immer auf dem Sitz gegenüber schlief.

Sie betrachtete das Gesicht des Mannes, den sie heiraten würde. Sir Develin war beinahe dreißig Jahre alt, sah aber viel jünger aus, wenn er schlief – und ihm wie jetzt eine dunkle Locke in die Stirn fiel.

Er war breitschultrig, schlank und groß, und ganz im Gegensatz zu ihr auf das Beste gekleidet. Kein Wunder, dass die Frauen so für ihn schwärmten.

Sie sah an sich herunter. Selbstverständlich hatte er recht. Ihre Kleidung war furchtbar hässlich, und sie hasste es, diese Pelisse zu tragen. Doch was blieb ihr anderes übrig? Wie oft war sie hungrig zu Bett gegangen? Eine neue und angemessene Garderobe wusste sie wahrhaftig mehr zu schätzen, als er ahnte!

Gerade dachte sie darüber nach, welche Summe sie dafür benötigen würde, als die Kutsche ruckelnd zum Stehen kam. Der Kutscher rief laut: „Gretna Green!“

Der Baronet schrak aus dem Schlaf hoch und benötigte einen Moment, um sich zu besinnen. Dann strich er sich die Locke aus der Stirn und fragte erstaunt: „Wir sind schon da?“

„Sie haben eine Weile geschlafen.“

„Oh“, entgegnete er gähnend, während der Kutscher die Tür öffnete, und ein mit Kopfsteinen gepflasterter Hof sichtbar wurde, auf dem munteres Treiben herrschte. Bei dem dahinter liegenden Gasthof handelte es sich um ein großes, mit Efeu bewachsenes Fachwerkgebäude.

Sir Develin stieg aus der Kutsche und streckte Thea eine Hand entgegen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Dabei blickte er sie so ernst an, dass sie fürchtete, er würde gleich seine Rückkehr nach Dundrake Hall verkünden und sie einfach hier zurücklassen.

Sie war nicht so weit gegangen, ihm diesen unerhörten Antrag zu stellen, um jetzt noch zu scheitern! Wild entschlossen presste sie die Lippen zusammen, ergriff seine Hand und achtete nicht auf die unerwartete Wärme, die ihren Körper aufgrund der Berührung erfasste. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schritt sie auf den nächstbesten Einheimischen zu – einen Stallburschen, der einen Korb mit Hafer in Händen hielt. „Wo ist die Schmiede?“

Sie hatte nicht nur alles Erdenkliche über Sir Develin in Erfahrung gebracht, bevor sie nach Dundrake Hall aufgebrochen war, sondern sich auch vergewissert, wie und wo man in Gretna Green heiratete.

Der Bursche grinste, und anstelle der Schneidezähne trat eine große Zahnlücke zum Vorschein. „Durch das Tor, dann rechts. Sie können’s nicht verfehlen.“

„Vielen Dank“, entgegnete sie. Sie blickte über die Schulter zurück zu Sir Develin, der neben der Kutsche stehen geblieben war. „Wollen wir?“

„Ja, wir wollen“, sagte er nach kurzem Zögern.

In späteren Jahren erinnerte sich Thea nur schwach an die eigentliche Hochzeitszeremonie, da es dabei wenig Erinnerungswürdiges gab: Ein kräftiger Mann mit Kugelbauch murmelte ein paar Worte über einem Amboss, der offenkundig schon lange nicht mehr zum Schmieden benutzt wurde. Neben dem ehemaligen Schmied stand ein angetrunkener Zeuge. Anschließend kehrte Thea mit Develin zu dem Gasthof zurück, wo man sie in das Zimmer führte, das ihr Brautgemach werden sollte.

Es handelte sich um ein unerwartet geräumiges Zimmer mit kalkgetünchten Wänden, einer Dachschräge und Flügelfenstern. Ein breites Himmelbett mit sauber wirkenden Decken und Bettvorhängen aus Wollstoff beherrschte den Raum, in dem sich außerdem noch ein Waschtisch mit hübschem Waschgeschirr aus Porzellan befand. Gegenüber der Tür standen ein Stuhl mit hoher Lehne und ein Wandschirm. In dem kleinen Kamin loderte ein Feuer, das angenehme Wärme verströmte. Ihr Blick fiel auf die beiden Koffer neben dem Bett – ein großer aus edlem Material und ihr eigener, der schäbig und klein war.

Die hagere grauhaarige Wirtin bot an, ihnen ein Bad bereiten zu lassen – ein Angebot, das Thea freudig annahm. Die alte Frau verließ das Zimmer, und Dev folgte ihr.

Kaum blieb Thea Zeit, um Luft zu holen, schon ertönte ein lautes Klopfen an der Tür, und zwei Bedienstete traten ein. Ein rothaariger Bursche in weißem Leinenhemd trug einen Zuber in das Zimmer, gefolgt von einer schlanken jungen Frau in einem einfachen Baumwollkleid und weißer Schürze, die zwei große Krüge mit dampfendem Wasser in den Händen hielt. Über ihrer rechten Armbeuge hingen frische Handtücher. Mit einem lauten Knall stellte der Bursche den Zuber vor dem Kamin ab und breitete den Wandschirm davor aus. Während er bereits das Zimmer verließ, füllte das Dienstmädchen den Zuber mit dem heißen Wasser aus den Krügen.

„Seife is’ da drüben“, sagte sie und nickte in Richtung Waschtisch. „Ich bring’ gleich noch ’nen Krug mit kaltem Wasser“, fügte sie hinzu und legte die Handtücher auf einen Schemel, den sie neben den Zuber schob.

„Vielen Dank“, murmelte Thea.

„Welcher is’ denn Ihr Liebster?“, fragte das Mädchen freundlich lächelnd. „Der dünne Kamerad oder der hübsche?“

„Wollen Sie wissen, wer mein Ehemann ist?“

„Ja, wenn Sie nix dagegen ha’m, dass ich frag’.“

„Der Gutaussehende“, entgegnete Thea stolz.

Das Mädchen runzelte die Stirn und warf Thea einen zweifelnden Blick zu. Dann zuckte sie mit den Schultern und verschwand durch die Tür.

Thea trat an den Spiegel, der über dem Waschtisch hing. War es wirklich so unvorstellbar, dass ein Mann wie Sir Develin …?

Sie hielt ihre Haare hoch und drehte den Kopf von links nach rechts. Nein, sie war keine aristokratische Schönheit und würde es auch nie sein. Ihre Augen waren zu groß, die Lippen zu prall und das Kinn zu spitz. Wenigstens war ihre Nase wohlgeformt, aber ein Mann wie Sir Develin hätte gewiss einer Frau den Vorzug gegeben, für die mehr sprach als eine hübsche Nase und eine ansehnliche Figur.

Seufzend begann sie, sich auszuziehen.

Als sie nur noch mit ihrem dünnen Unterkleid bekleidet war, warf sie erneut einen Blick in den Spiegel. Beim nächsten Mal wenn sie nichts als dies anhatte, würde sie sich in der Gegenwart eines Mannes befinden. Von Sir Develin, meinem Ehemann …

Rasch schlüpfte sie aus dem Unterkleid und stieg vorsichtig in den Zuber und setzte sich. Das Wasser war heiß, aber die Temperatur ließ sich gut aushalten. Sie benetzte sich das Gesicht. Wieder klopfte es an der Tür – das musste das Dienstmädchen mit dem kalten Wasser sein. Noch mit geschlossenen Augen rief sie „Herein!“

„Vielen Dank, aber ich brauche kein kaltes Wasser“, sagte sie, stand auf und griff nach einem kleinen Handtuch, um sich über die Augen zu wischen.

„Das ist gut, denn ich habe kein Wasser dabei“, erwiderte Sir Develin.

Aufkreischend ließ Thea das kleine Handtuch fallen und griff nach einem großen, um sich zu bedecken. In ihrer Hast hätte sie beinahe den Zuber umgestoßen. „Was tun Sie hier drin?“

„Die Frau des Gastwirts forderte mich auf, mit meiner Braut den Zuber zu teilen“, antwortete er gelassen. „Aber Sie müssen sich mit dem Baden nicht beeilen. Ich kann warten.“

„Ich bin fertig.“ Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sich ihre gesamte Kleidung auf der anderen Seite des Wandschirms befand, auf der er stand.

„Wahrscheinlich passen zwei auch gar nicht in den Zuber, selbst wenn ich willkommen wäre“, bemerkte er.

„Nein, und jetzt verlassen Sie bitte das Zimmer!“

„Meinen Sie nicht, das macht einen seltsamen Eindruck? Schließlich sind wir frisch vermählt.“

Leider hatte er recht. „Dann holen Sie mir bitte meine Kleidung. Hängen Sie die Sachen über den Wandschirm“, fügte sie hinzu, damit er nicht auf die Idee kam, den Sichtschutz zu umrunden.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schamhaft sind.“

Was hatte er denn erwartet? Dass sie sich ihm nackt in die Arme warf? „Würden Sie bitte tun, worum ich Sie gebeten habe?“

Zu ihrer Erleichterung kam er der Aufforderung nach.

„Das ist nicht gerade der Ort, den ich mir für meine Hochzeitsnacht vorgestellt hatte“, meinte er mit nachdenklicher Stimme, während sie hastig in ihre Kleidung schlüpfte.

Sie schluckte schwer, errötete, und große Hitze erfasste ihren Körper. Als sie am Vorabend in den Gasthof von Dundrake zurückgekehrt war, hatte ihr der Gedanke an die Hochzeitsnacht den Schlaf geraubt. Jetzt, unweigerlich kurz davor, war sie zwischen Neugier, Furcht und Sehnsucht hin- und hergerissen.

„Ich dachte dabei immer an Dundrake Hall oder an mein Londoner Stadthaus“, fuhr er mit tiefer Stimme fort.

Sie war ausgesprochen froh, dass sie sich weder auf dem Familienstammsitz noch in seinem Stadthaus befand, wo sie auch noch mit seinen Bediensteten konfrontiert gewesen wäre. Es war schon demütigend genug zu wissen, dass er über ganz andere Erfahrung verfügte.

Es klopfte erneut an der Tür. Das muss das Dienstmädchen mit dem kalten Wasser sein, dachte Thea, während sie um den Wandschirm linste. Sir Develins Gehrock, seine Weste und sein Krawattentuch lagen auf dem Bett. Sein Hemd steckte zwar noch in den Pantalons, war aber am Kragen schon so weit geöffnet, dass ein Teil seiner Brust zu sehen war.

Obwohl er schon so weit entkleidet war, öffnete er die Tür.

Das Dienstmädchen, das einen Krug in Händen hielt, blickte ihn überrascht an, bevor sie ihn bewundernd musterte und geradezu kokett ansah. Das ist sicherlich die übliche weibliche Reaktion auf Sir Develin Dundrake, sagte sich Thea und ermahnte sich, daran keinen Anstoß zu nehmen.

„Ich bring’ kaltes Wasser, Sir“, erklärte das Mädchen.

„Vielen Dank, aber das ist nicht nötig“, erwiderte er. „Wir möchten auch nicht mehr gestört werden. Wir kommen nach unten, sobald wir für das Dinner angekleidet sind.“

„Ja, Sir.“ Das Mädchen, knickste und strahlte von einem Ohr zum anderen, als Sir Develin ihr eine Münze gab.

Thea trat vor den Wandschirm, als ihr Mann gerade die Tür schloss und sich zu ihr umdrehte. Er sah sie fest an, während er begann, seine Pantalons aufzuknöpfen.

3. KAPITEL

Thea schluckte und schritt sofort auf die Tür zu. „Ich lasse Sie in Ruhe Ihr Bad verrichten.“

„Bleiben Sie.“

Zögerlich blickte sie über die Schulter zurück. Er hatte die Pantalons noch an, aber das Hemd ausgezogen. Sie sah rasch zur Seite. „Sie sind halbnackt!“

Die einzigen Männer, die sie je so unbekleidet erblickt hatte, waren Feld- oder Hafenarbeiter gewesen – bullige Gestalten, die sie an den schwerfälligen Tanzbären erinnerten, den sie einmal auf einem Jahrmarkt gesehen hatte. Im Vergleich zu ihnen wirkte Sir Develin wie ein eleganter muskulöser Hirschbock.

„Da wir verheiratet sind, werden wir uns wohl daran gewöhnen müssen, einander nicht immer vollständig angezogen zu begegnen.“ Er ließ seine Blicke in einer Weise über ihren Körper wandern, die ihr das Gefühl gab, bereits nackt vor ihm zu stehen. „Ich habe Sie bei der Hochzeit gar nicht geküsst.“

Sie wich einen Schritt zurück und stieß gegen die Tür. „Das war auch nicht nötig.“

„Ich denke, es hätte dazugehört.“

Dazugehört? Es war, als hätte ihr jemand einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf gegossen, aber immerhin half es ihr, sich wieder zu sammeln.

„Ja, ich glaube schon, dass es sich so verhält. Doch ganz gleich. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, steige ich in den Zuber und möchte dann nach unten gehen. Ich bin ziemlich hungrig. Darf ich Sie daran erinnern, dass wir als frisch verheiratet gelten? Wenn wir Gerede vermeiden wollen, sollten wir gemeinsam hinuntergehen“, fügte er hinzu.

Er hatte recht. Es würde auch so schon genug Geschwätz geben, sobald ihre Heirat bekannt wurde.

„Nun gut“, erwiderte sie mit fester Stimme, obgleich sie sich fühlte, als ob sie auf einem durchgehenden Pferd säße. Das Verlangen, sich mit ihm zu vereinen, wie es sich für eine Ehefrau gehörte, und die Angst, dass er sie unzulänglich finden würde, zehrten gleichermaßen an ihr.

„Gut, ich nehme jetzt ein Bad“, sagte er und umrundete den Paravent.

Thea setzte sich auf die Kante des Lehnstuhls und bemühte sich, so wenig wie möglich auf die Geräusche hinter dem Wandschirm zu achten: das dumpfe Aufschlagen seiner Stiefel auf dem Boden und die leiseren Geräusche, als er die übrige Bekleidung beiseite warf. Zweifellos war er es gewohnt, dass ein Diener die abgelegte Kleidung aufsammelte.

Sie war nicht sein Diener und würde für nichts in der Welt hinter den Paravent gehen.

Sie hörte ihn im Wasser plätschern und konnte der Versuchung nicht widerstehen, durch den schmalen Spalt zu spähen, der sich beim Auffalten des Sichtschutzes ergeben hatte. Sie erblickte seinen muskulösen Rücken und beobachtete, wie er seine breiten Schultern wusch und sich das feuchte dunkle Haar in seinem Nacken wellte.

Und dann stand er auf.

Errötend wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wird, wandte sie den Blick ab.

„Wären Sie so freundlich, mir meinen Koffer zu reichen?“, fragte er gelassen, als ob er sein Bad immer in der Gesellschaft einer Frau einnehmen würde.

Obgleich sie noch Jungfrau war, gefiel es ihm vielleicht nicht, wenn sie sich wie ein scheues Fohlen gebärdete. Sie wollte, dass er sie begehrte.

Sie näherte sich dem Bett und trug seinen Koffer hinter den Wandschirm.

Sir Develin stand neben dem Zuber und hatte ein Handtuch um die schlanke Taille gewickelt. Mit dem dunklen Brusthaar sah er wie ein wilder junger Gott aus oder wie ein zum Leben erweckter Alexander der Große.

Ihr Herz raste, und sie vergaß, dass sie abgeklärt wirken wollte, als sie ihm den Koffer reichte und zu ihrem Stuhl zurückeilte. Sie würde nicht noch einmal durch den Spalt linsen, wie groß die Versuchung auch war.

Endlich trat er vollständig angekleidet und in jeder Hinsicht geschniegelt und gestriegelt hinter dem Wandschirm hervor.

Sie fühlte sich plötzlich wie ein Bettler, der zufällig zu einem Fest eingeladen worden war.

Dennoch erhob sie sich und straffte die Schultern. „Von mir aus können wir jetzt unser Dinner einnehmen.“

Ihr Gatte nickte nur majestätisch, bot ihr einen Arm, und gemeinsam begaben sie sich in die Schankstube.

„Da sind Sie ja, werte Gäste!“, begrüßte sie der Wirt laut und eilte mit einem onkelhaften Grinsen auf Dev und seine Braut zu. Er führte sie an einigen anderen Paaren vorbei zu einem Tisch in der Nähe des flackernden Kaminfeuers. Die meisten Gäste waren jung oder sogar sehr jung, nur ganz wenige im mittleren Alter.

Offenkundig waren Dev und Thea nicht die einzigen Menschen, die an diesem Tag nach Gretna Green gereist waren, um zu heiraten. Dev nahm allerdings an, dass es sich um die einzige Heirat handelte, bei dem die Braut dem Bräutigam einen Antrag gemacht hatte.

Einige der Paare in der Schankstube schienen so verliebt zu sein, dass sie nur Augen füreinander hatten.

Auch Dev wandte den Blick kaum von seiner Frau ab, doch das hatte andere Gründe. Ihr Verhalten auf dem Zimmer entsprach ganz und gar nicht dem, was er erwartet hatte. Nachdem sie sich in seinem Arbeitszimmer leidenschaftlich geküsst hatten, war er davon ausgegangen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Doch als sie eben mit ihm allein gewesen war, hatte sie sich gebärdet, als ob er ein Barbar wäre, der einer tugendhaften Jungfrau die Unschuld rauben wollte.

„Meine Frau hat sich selbst übertroffen, um Ihnen ein köstliches Mahl zu bereiten!“, verkündete der kahlköpfige Gastwirt mit lauter Stimme. „Ein schmackhaftes Stew haben wir zu bieten und dazu das beste Brot, das man zwischen Liverpool und Glasgow auftreiben kann! Und natürlich gibt’s auch noch Kuchen. Ohne Kuchen wär’s ja auch gar kein echtes Hochzeitsessen!“

Dev nickte zustimmend, während er abwartete, bis Lady Theodora Platz genommen hatte. Ihre Miene wirkte ruhig und unergründlich.

Möglicherweise hatte Lady Theodora die Leidenschaft und das Verlangen, das er bei ihrem Kuss verspürt hatte, nur vorgetäuscht, damit er in die Ehefalle tappte. Nachdem die Taktik aufgegangen war, würde sie im Schlafzimmer wahrscheinlich nur das Nötigste tun – und mit so viel Hingabe und Freude, als ob sie einen Stall ausmisten müsste.

Eigentlich musste er dieser Scharade ein Ende bereiten, bevor sie sich auf das Zimmer zurückzogen. Wenn sie nicht miteinander das Bett teilten, konnte sein Anwalt eine Annullierung der Ehe beantragen und würde damit vermutlich Erfolg haben.

Dev würde ihrem Vater die Schulden erlassen, und sie könnte ihrer eigenen Wege gehen. Er wäre auch wieder so frei, wie es zuvor der Fall gewesen war. Allein und einsam, aber frei.

Der Wirt und seine Frau trugen zwei dampfende Schalen mit Stew, einen Korb mit warmem Brot, eine Flasche Wein und Gläser an ihren Tisch. Obgleich ihm der Appetit vergangen war, bemühte Dev sich, ein paar Happen zu essen und nicht auf die anderen Gäste im Schankraum zu achten. Lady Theodora hingegen aß wie jemand, der kurz vor dem Verhungern war, wenngleich sie es nicht an Manieren mangeln ließ.

Möglicherweise hatte sie in den letzten Tagen kein Geld mehr für Essen gehabt. Doch Mitleid war ebenso wenig eine gute Basis für eine Ehe wie Lust oder Schuldgefühle.

„Und hier kommt der Kuchen!“

Sie drehten sich beide zu dem breit grinsenden Gastwirt um, der einen Servierteller brachte.

„Ohne Kuchen wär’s ja auch gar kein echtes Hochzeitsessen!“, wiederholte der kahlköpfige Mann und stellte den Teller mit zwei Stücken Kuchen vor ihnen ab. Das Gebäck schien aus getrockneten Früchten zu bestehen und wirkte grau und wie versteinert.

Dev ließ sich seinen Widerwillen so wenig wie möglich anmerken. „Bedauerlicherweise bekomme ich nach Ihrem hervorragenden Stew keinen Bissen mehr herunter.“

„Ach, bestimmt schaffen Sie noch was!“, rief die Wirtin, die sich hinter ihren Mann gestellt hatte. „Nur ein winziges Stück.“

Dev fühlte sich fast wie ein Märtyrer, als er einen Brocken von einem der Kuchenstücke abbiss. Sägespäne schmeckten auf jeden Fall besser. Irgendwie gelang es ihm, den trockenen Klumpen hinunterzuschlucken, und sofort griff er nach seinem Weinglas.

„Gut, nicht wahr?“ Der Gastwirt sah ihn erwartungsvoll an.

„Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gegessen“, antwortete Dev wahrheitsgemäß.

„Und jetzt Sie, Mylady“, forderte die Wirtin Thea auf.

Offenbar hatte man ihm doch etwas angemerkt, denn seine Braut schüttelte mit Nachdruck den Kopf. „Es tut mir schrecklich leid, aber ich bin vollkommen gesättigt.“

Da Dev befürchtete, der Wirt und seine Frau würden darauf bestehen, stand er vom Tisch auf. „Es wird Zeit, dass meine Frau und ich uns zurückziehen. Bitte lassen Sie uns morgen Früh als Erste wecken. Wir möchten so zeitig wie möglich aufbrechen.“

Die Wirtsleute blickten sie enttäuscht an. Doch dann hatte die Frau einen Einfall, der ihre Stimmung hob. „Ich packe Ihnen den Kuchen ein. Der hält sich bis zur Taufe Ihres ersten Kindes!“

Bei der Erwähnung von Nachwuchs warf Dev seiner Braut einen verstohlenen Blick zu. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und sie bedankte sich mit überraschender Herzlichkeit bei dem älteren Ehepaar.

„Wir wecken Sie, sobald die Sonne aufgeht, Sir.“

„Gut“, sagte Dev und streckte eine Hand nach seiner Frau aus.

Theodora ignorierte seine Geste, ging stattdessen voraus und die Treppe hoch.

Auch gut. Sollte er Zeugen für eine Annullierung der Ehe brauchen, konnten die Anwesenden bestätigen, dass ein gewisser Mangel an Zuneigung zwischen Sir Develin Dundrake und seiner Angetrauten geherrscht hatte.

Als sie das Schlafzimmer erreichten, das jetzt von Kerzen auf dem Waschtisch und dem Nachttisch erhellt wurde, sah Dev ihr ins Gesicht. „Wenn Sie heute Nacht lieber nicht mit mir das Schlafzimmer teilen möchten, zwingt Sie niemand dazu. Ich finde auch woanders eine Unterkunft.“

Sie blickte ihn aus großen Augen an und hielt sich eine Hand an die linke Wange, als ob er sie geschlagen hätte. „Möchten Sie die Nacht nicht mit mir verbringen?“, fragte sie in traurigem Flüsterton.

Er hatte gedacht, sie wäre über sein Angebot erleichtert, doch es schien sie im Gegenteil tief zu kränken. Mit einem Mal wirkte sie erstaunlich verwundbar. Wo war die kühne und resolute Lady Theodora geblieben?

Doch ganz gleich, wie sie ihn auch ansah, wenn er Herr der Lage bleiben wollte, musste er ihrer Anziehungskraft widerstehen. Indes brachte er es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass er eine Annullierung der Ehe in Erwägung zog. „Ich dachte, dass Sie vielleicht zu müde sind. Es war ein langer Tag, und morgen haben wir wieder eine Reise vor uns“, meinte er stattdessen.

„Ich habe in der Kutsche geschlafen, ebenso wie Sie“, erwiderte sie, breitete die Hände auf seiner Brust aus und blickte ihn sehnsüchtig an.

Diese Reaktion hatte er eigentlich früher erwartet. Was hatte sich geändert? Weshalb verhielt sie sich auf einmal ganz anders?

Sie begehrt mich wirklich. Ihre Augen können nicht lügen. Und du weißt, was es heißt, wenn man sich nach Zuneigung sehnt – nach Liebe.

„Ich dachte, Sie wüssten die Freuden des Schlafzimmers zu schätzen“, flüsterte sie und legte ihm die Arme um den Nacken. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, sodass ihre Lippen nur noch wenige Zentimeter von seinen entfernt waren. „Oder zumindest habe ich das gehört.“

„Wo ist Ihnen so etwas zu Ohren gekommen?“

„In London. Sie sind ein bekannter Mann, wie Sie sicher wissen.“

„Geschwätz und Gerüchte“, entgegnete er, während sein Atem sich beschleunigte und sein Verlangen aller Bedenken zum Trotz immer übermächtiger wurde.

„Waren das Lügen? Wissen Sie die Freuden des Schlafzimmers nicht zu schätzen?“

Er gab den Widerstand auf. „Das war und ist der Fall und wird immer so sein“, murmelte er, bevor er sie in die Arme schloss und leidenschaftlich küsste.

Als Sir Develin sie an sich zog, schwanden Theas Ängste und Zweifel. Er begehrte sie ebenso wie sie ihn. Sie spürte es, fühlte es, war sich dessen gewiss. Sie hatte befürchtet, dass ihre Schamhaftigkeit ihn zum Umdenken verleitet hatte, und sie bedauerte, sich wie ein naives Mädchen verhalten zu haben. Sie war Sir Develin Dundrakes Frau, und dies war ihre Hochzeitsnacht.

Sie würde ihre Scham und Verlegenheit überwinden, denn sie wollte in jeder Hinsicht seine Frau sein, so wie er ihr Mann sein würde.

Während sie seinen Kuss mit Hingabe erwiderte, ließ sie die Hände unter seinen Gehrock gleiten, um seine muskulöse Brust zu spüren.

Dann trat sie einen Schritt zurück. Unter seinen fragenden Blicken löste sie die Schnüre ihres Kleides, das ebenso hässlich war wie die Pelisse. Sie ließ es zu Boden sinken. Nun stand sie nur noch im Unterkleid, in Strümpfen und Stiefeln vor ihm. Er nahm den Blick nicht von ihr, während sie die Haarnadeln löste, bis ihr das Haar lose über die Schultern fiel.

Noch immer rührte er sich nicht. Thea blies die Kerzen auf dem Waschtisch aus, legte die Haarnadeln neben der Porzellanschüssel ab und kehrte zu ihm zurück. Ohne ein Wort zu sagen, begann sie, ihn auszuziehen. Dabei machte er keine Anstalten, ihr zu helfen oder sie daran zu hindern. Nachdem es ihr mühelos gelungen war, ihm den Gehrock abzustreifen, hatte sie Schwierigkeiten, mit ihren zitternden Fingern die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. Schließlich gelang es ihr, ihm das Kleidungsstück über den Kopf zu ziehen.

Während er ihr weiter fest in die Augen sah, öffnete er die Pantalons.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie auf das, was kommen würde, nicht vorbereitet war.

Sie eilte zum Bett, entledigte sich der Stiefel und Strümpfe und schlüpfte unter die warme Decke, bevor sie die Kerzen auf dem Nachttisch auspustete. Jetzt war das Zimmer in vollständige Dunkelheit getaucht.

„Wollen Sie mich noch immer?“, fragte er mit tiefer, verführerischer Stimme.

„Ja“, antwortete sie, obschon sie die Decke bis zum Kinn hochzog.

Das Bett knarrte, und die Matratze senkte sich, als er sich neben sie legte.

Sie war so aufgeregt, dass sie kaum zu atmen wagte, bevor er ihre Lippen fand und sie so zärtlich küsste, wie man es sich von einem Bräutigam nur wünschen konnte.

Sie schlang die Arme um ihn und erwiderte den Kuss, während er ihre Brüste berührte. Sanft ließ er die Daumen über ihre Brustwarzen schnellen, die ganz hart wurden. Die Hitze in ihrem Körper wurde immer intensiver.

Sie ließ die Hände an seinen Armen hinuntergleiten. Überall spürte sie die Stärke seiner Muskeln, auch als sie zaghaft über seinen Rücken bis hinunter zu seinem Po strich.

Weiter wagte sie sich nicht vor, während er die Schnüre ihres Unterkleides löste und ihre nackten Brüste streichelte.

Sie stöhnte auf und schmiegte sich an ihn. Er unterbrach den Kuss, um ihre Brüste mit den Lippen und der Zunge zu liebkosen. Die Empfindungen, die er in ihr erweckte, waren mit nichts zu vergleichen, was sie je erlebt hatte.

Sie schloss die Augen, während er die Hände zwischen ihre Beine gleiten ließ, um sie an ihrer intimsten Stelle zu berühren.

„Was tun Sie?“, fragte sie keuchend.

„Ich versuche herauszufinden, ob Sie bereit sind“, antwortete er mit warmer, tiefer Stimme.

„Indem Sie mich dort berühren?“

„Ja“, raunte er.

Er stützte sich links und rechts von ihr mit den Händen ab und schob sich behutsam über sie. Erneut suchte er ihren Mund, doch diesmal küsste er sie mit einer hitzigen Leidenschaft, die ihr Verlangen bis zur Unerträglichkeit steigerte. Sie fuhr ihm mit den Fingern über die nackte Haut und wollte nur noch sein festes muskulöses Fleisch spüren.

Erneut liebkoste er ihre Brüste und leckte neckend an ihren Brustwarzen. Sie stöhnte auf, als er sie zwischen den Beinen streichelte und schließlich einen Finger in sie hineingleiten ließ.

Sie riss die Augen auf, und er hob den Kopf. „Ich denke, Sie sind bereit. Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?“, fragte er mit heiserer Stimme.

Sie war für alles bereit, was ihr Ehemann tun würde. „Ja!“

Er drang in sie ein.

Es tat nicht weh.

Sie lächelte vor Glück und Erleichterung, als er sich vorbeugte, um sie zu küssen. Sie schlang die Arme und Beine um ihn und schloss vor Erregung abermals die Augen.

Er bewegte sich schneller. Sie ließ sich ganz auf seinen Rhythmus ein und zog ihn immer fester an sich. Sie küssten sich nicht mehr, sondern rangen nur noch stöhnend um Atem, als sie auf den Höhepunkt zutrieben, und eine Welle der Ekstase nach der anderen ihre Körper durchzuckte.

Keuchend hielt er inne und legte sich neben sie.

„Ist das … alles?“, flüsterte sie gänzlich außer Atem.

Er stützte den Kopf auf. „Für heute Nacht reicht das. Und da wir jetzt so intime Bekanntschaft miteinander geschlossen haben, solltest du mich künftig Dev nennen.“

„Und du solltest mich Thea nennen.“

„Gute Nacht, Thea“, erwiderte er und drehte sich auf die andere Seite.

„Gute Nacht, Dev“, murmelte sie und wandte ihm ebenfalls den Rücken zu.

Allerdings konnte sie nicht einschlafen. Nach einer Weile stand sie auf, wusch sich und schlüpfte wieder unter die Decke. Dabei bemühte sie sich, ihn nicht zu wecken. Bestimmt war er erschöpft und brauchte Ruhe.

Dev fand ebenfalls keinen Schlaf – oder zumindest eine ganze Weile nicht.

Auch wenn er in erster Linie aus Schuldgefühlen und aus Abscheu vor dem Heiratsmarkt eingewilligt hatte, Thea Markham zu heiraten, faszinierte sie ihn auch. Ihre leidenschaftliche und zugleich unschuldige Hingabe überraschte und erregte ihn, vielleicht gerade deshalb, weil sie sich sonst so ernst und entschlossen gab.

Was sollte er jetzt tun? Verheiratet bleiben und darauf vertrauen, dass sie sich aufrichtig zu ihm hingezogen fühlte, oder eine Annullierung in die Wege leiten, weil eine Verbindung unter den gegebenen Voraussetzungen niemals glücklich enden konnte?

Solange er keine Entscheidung getroffen hatte, schien es ihm ratsam zu sein, seine Frau nicht mehr anzurühren. Auch wenn es ihm schwerfiel.

4. KAPITEL

Als sie am nächsten Morgen im Landauer saßen und nach Dundrake zurückreisten, blickte Thea aus dem Kutschenfenster auf die felsige Berglandschaft. Fasziniert beobachtete sie das Spiel von Licht und Schatten, wenn die Sonne hinter den Wolken verschwand. Die wilde Schönheit der Natur bot eine willkommene Abwechslung zu der verwahrlosten Gegend von London, in denen sie zuletzt gelebt hatte.

Dennoch konnte sie den Anblick nicht unbeschwert genießen. Die Gegenwart des Mannes, der ihr grimmig schweigend gegenübersaß, lenkte sie zu sehr ab.

In der Nacht war sie erst sehr spät eingeschlafen, und als sie aufgewacht war, hatte Develin bereits gewaschen und angezogen in seiner feinen maßgeschneiderten Reisekleidung vor ihr gestanden. Zwar hatte er ihr einen guten Morgen gewünscht, aber sonst kein Wort gesprochen. Verunsichert hatte sie sich gewaschen und in aller Eile angezogen. Zu ihrer Erleichterung hatte er den Blick abgewandt, denn es war etwas anderes, bei hellem Tageslicht mit ihm allein zu sein als im Schein weniger Kerzen.

Beim Frühstück hatte er sich höflich aber wortkarg gegeben.

Möglicherweise war er einfach erschöpft. Auch sie fühlte sich müde und abgespannt. Sie hatte stundenlang wach gelegen und sich gefragt, ob sie ihn ähnlich zufriedengestellt hatte wie er sie. Dabei hatte sie immer wieder den Gedanken an die anderen Frauen, mit denen er das Bett geteilt hatte, beiseitegeschoben.

„Wir sind fast in Dundrake Hall“, kündigte Develin plötzlich in sachlichem Tonfall an. „Hinter der nächsten Kurve sind wir am Tor.“

Theas Herz schlug schneller. Was würden seine Bediensteten und seine Freunde über sie denken? Obgleich sie gebildet war und wusste, wie man sich in der feinen Gesellschaft zu verhalten hatte, war sie eine Fremde und überdies keine gefeierte Schönheit. Sie hoffte, dass sich ihr Gatte nicht für sie schämen musste.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als der Pförtner das hohe Tor zu Sir Develin Dundrakes Anwesen öffnete. Develin wechselte ein paar Worte mit dem Mann, der sofort einen Jungen anwies, zum Haus zu eilen und die Herrschaften anzukündigen. Dev ließ sich eine Weile Zeit, bevor er sich wieder in den Landauer setzte, und die Kutsche sich dem imposanten Landsitz näherte.

Fast wünschte Thea sich, eines der Kutschpferde würde ein Hufeisen verlieren oder die Achse würde brechen, damit sich ihre Ankunft noch ein wenig verzögerte.

Bedauerlicherweise erschwerte kein Unglück das Vorankommen.

An der Frontseite wirkte das düstere gregorianische Gebäude aus grauem Stein noch beeindruckender, als es ihr von der Gartenseite her vorgekommen war. Den breiten steinernen Säulenvorbau zierte ein Fries, und eine gewaltige Treppe mit geschwungener Brüstung führte zur Eingangstür. Der Bau von Dundrake Hall musste Jahre gedauert und ein Vermögen gekostet haben.

„Mein Vater hatte ein paar wenige gute Eigenschaften“, erläuterte ihr Gatte ihr, während die Kutsche über den Kiesweg rollte. „Er hatte einen ausgezeichneten Geschmack und wusste, wie er mit den Baumeistern umzugehen hatte.“

„Dann hat dein Vater das Haus selbst entworfen?“

„Ja, nicht nur außen, sondern auch innen.“

„Hat deine Mutter nicht …?“ Sie verstummte sofort, als sie Develins warnenden Blick sah. Offenkundig war seine Mutter ein Thema, das es zu vermeiden galt – zumindest fürs Erste.

Sie schwieg also, bis die Kutsche vor der Treppe hielt, auf der sich die Bediensteten wie ein Erschießungskommando aufgereiht hatten.

Thea holte tief Luft, als sie die vielen weißen Schürzen und Hauben der Dienstmädchen und die samtenen grünen Livreen der Lakaien sah. „Wie viele Bedienstete arbeiten hier?“

„Fünfundzwanzig oder dreißig, je nach Jahreszeit. Mrs. Wessex, die Haushälterin, kann dir genau sagen, wie viele derzeit bei uns angestellt sind. Sie und Jackson, unser Butler, standen bereits vor meiner Geburt in den Diensten der Familie“, antwortete Dev.

„Wahrscheinlich sind sie überrascht, dass du mit einer Ehefrau zurückkehrst.“

Er zuckte mit den Schultern. „Sie haben sich an meine impulsiven Entscheidungen gewöhnt.“ Er runzelte die Stirn. „Du sagtest, dass du weißt, wie man einen Haushalt führt.“

Obgleich es Dinge gab, die ihr Gatte besser nie erfuhr, wollte sie in diesem Fall ganz ehrlich sein. „Ja, ich habe viel darüber gelesen, es mangelt mir lediglich an Erfahrung.“

Sie hat nie einen Haushalt geführt? Vermutlich sollte er sich nicht darüber wundern. Schließlich wusste er sehr wenig über sie. Da ihre Familie zunehmend verarmt war, hatte sie offenbar nicht gelernt, ein großes Herrenhaus zu führen. Welche Eingeständnisse würde er noch zu hören bekommen, die ihn bedauern ließen, ihrem Antrag zugestimmt und überdies mit ihr das Bett geteilt zu haben?

Er hätte dem sehnsüchtigen Blick ihrer leuchtenden Augen und der Sinnlichkeit ihrer Stimme widerstehen sollen. Er hätte bei Verstand bleiben sollen.

Einer der Lakaien öffnete die Kutschentür. Dev stieg aus und warf einen Blick auf das versammelte Personal. Zweifellos wollten alle die neue Lady Dundrake in Augenschein nehmen, die noch immer die scheußliche Pelisse und den hässlichen Hut trug. Du liebe Güte! Selbst das Küchenmädchen war angetreten!

Er hätte nicht in solcher Hast aus Gretna Green zurückkehren sollen. Zumindest hätte er darauf bestehen müssen, dass seine Frau neue Kleider erhielt, bevor er sie als Hausherrin präsentierte. Doch jetzt war es zu spät. Er konnte nur noch so tun, als ob er die verwunderten Blicke der Bediensteten nicht wahrnähme.

Er sah, wie Thea ihre Pelisse zurechtrückte. Auch wenn sie nicht zu den Frauen gehörte, die sich leicht einschüchtern ließen, schienen ihr die vielen Bediensteten, die ihr erwartungsvoll entgegenblickten, unangenehm zu sein.

Mit einem Mal erinnerte er sich an jenen Tag, an dem er vor dem Pfarrhaus gewartet hatte, während sein Vater im Inneren des Hauses die letzte Predigt bemängelte. Ein paar Jungen aus dem Dorf waren abwechselnd über eine große Pfütze gesprungen. Als er sich ihnen genähert hatte, hatten sie ihn einen Moment lang gemustert, mit den Schultern gezuckt und ihn bei dem Spiel mitmachen lassen.

Dev war an dem matschigen Rand ausgerutscht und kopfüber in den Schlamm gefallen. Als sein Vater ihn erblickt hatte – tropfnass, dreckverschmiert und mit an den Knien zerrissenen Beinkleidern – war er völlig außer sich geraten und hatte ihn beschimpft, sich wie ein Rüpel zu benehmen. Er hatte Dev gezwungen, die schmutzige und zerrissene Kleidung eine ganze Woche lang zu tragen.

Damals hatte er gedacht, dass er diese Demütigung niemals vergessen würde, doch erst heute war sie ihm wieder in den Sinn gekommen.

Er öffnete den Mund, um ein paar aufmunternde Worte an Thea zu richten. Doch bevor er dazu kam, änderte sich ihr Gesichtsausdruck vollkommen. Es war, als hätte sie sich von der verletzlichen jungen Braut in eine gefühlskalte Amazone verwandelt.

Thea stieg mit der Körperhaltung und dem Gesichtsausdruck einer Kaiserin aus der Kutsche, als trüge sie die feinste Pariser Mode und alle müssten ihr huldigen.

Stolz durfte sie ja ruhig sein, aber ihr überhebliches Auftreten war ebenso überraschend wie unangebracht und würde die Bediensteten bestimmt nicht beeindrucken.

Er führte sie zu dem großen älteren Mann am Kopf der Reihe. Jacksons Miene war stoisch wie eh und je und verriet weder Erstaunen noch Neugier. „Jackson, dies ist meine Braut. Mylady, der Butler.“

„Jackson“, wiederholte sie und senkte leicht – ganz leicht – den Kopf.

„Mylady“, sagte Jackson und verbeugte sich.

Dev presste die Lippen zusammen und ging weiter zu seiner Haushälterin. Wie immer war Mrs. Wessex untadelig gekleidet. Kein einziger Fussel hing an ihrem dunklen Kleid, und eine schlohweiße Haube krönte ihr ebenso schlohweißes Haar.

„Mrs. Wessex, meine Braut“, sagte er. „Mrs. Wessex ist unsere Haushälterin“, ergänzte er an Thea gewandt.

Mrs. Wessex knickste und Dev ergriff erneut das Wort. „Meine Frau hat keine Zofe. Wir sollten umgehend jemanden einstellen. Ich überlasse das Ihren fähigen Händen, Mrs. Wessex.“

Thea kniff ihm so fest in den Arm, dass es schmerzhaft war. „Ich gehe davon aus, in die Auswahl einbezogen zu werden“, verkündete sie in frostigem Befehlston.

Gewiss würde sie sich damit bei den Bediensteten nicht beliebter machen, aber hier war weder die Zeit noch der passende Ort, um sie zu kritisieren. Daher nickte er nur. „Wenn du das möchtest.“

„Ja, das möchte ich.“

Verärgert beschloss Dev, das weitere Vorstellen zu verschieben. „Es war eine anstrengende Reise. Die anderen Bediensteten wirst du später kennenlernen“, sagte er zu seiner Frau.

„Da gerade alle Bediensteten versammelt sind, sehe ich keinen Grund, weshalb wir die Angelegenheit vertagen sollten“, widersprach Thea. „Falls du dich ausruhen möchtest, sind Jackson oder Mrs. Wessex gewiss bereit, mir das übrige Personal vorzustellen.“

Es klang geradezu, als ob er alt und gebrechlich wäre. Himmel, was für eine Frau hatte er geheiratet! „Selbstverständlich wird Mrs. Wessex so liebenswürdig sein, dir die anderen Bediensteten vorzustellen. Bitte zeigen Sie meiner Frau anschließend ihre Zimmer. Ich muss mich um geschäftliche Dinge kümmern.“

Das war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Als Besitzer großer Ländereien und eines Stadthauses in London musste er immer die eine oder andere Entscheidung treffen.

Rasch betrat er das Haus und steuerte direkt sein Arbeitszimmer an, ohne zuvor Paletot und Hut abzulegen. Er warf die Kleidungsstücke auf den nächsten Stuhl, schenkte sich ein Glas Brandy ein und stellte sich vor das Porträt seines Vaters. „Ja, Vater, diesmal hast du recht“, murmelte er. „Ich handele zu unüberlegt.“

Mit einem Schluck leerte er das Glas und ließ sich in den Ohrensessel sinken.

Er hatte mit der Heirat Wiedergutmachung leisten wollen, doch ein Fehler ließ sich nicht durch den nächsten korrigieren.

Das Gesicht verziehend stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er war kein hilfloses Opfer. Er war Sir Develin Dundrake, Baronet und Erbe eines stattlichen Anwesens, und er genoss hohes Ansehen in den besten Kreisen. Er musste diese unglückliche Verbindung nicht fortsetzen. Überdies hatte er mit Roger den besten Anwalt Londons, und er würde ihm sofort schreiben.

Nachdem ihr alle Bediensteten vorgestellt worden waren, erhielt Thea eine kurze Führung durch das Erdgeschoss des Hauses. Vom Vestibül gingen zwei Flügel ab. In dem einen lag das Gesellschaftszimmer, das in Blau- und Weißtönen gehalten war, ein geräumiges Speisezimmer mit auf Hochglanz polierten Mahagonimöbeln, ein Wohnzimmer, das etwas weniger formell wirkte und das Morgenzimmer, ein sehr hübscher heller Raum, dessen Seidentapete mit Vogelmotiven bestickt war. In dem anderen Flügel befanden sich die Bibliothek, das Arbeitszimmer, ein großer Ballsaal mit verspiegelten Wänden und riesigen Kronleuchtern, ein Vorraum für Erfrischungen und das Billardzimmer.

Es wunderte sie nicht, dass Mrs. Wessex sie nicht in das Untergeschoss führte, in dem die Küche, die Vorratskammer, das Speisezimmer der Bediensteten, die Waschküche und der Weinkeller untergebracht waren. Ebenso wenig würde man ihr das Dachgeschoss zeigen, in dem sich die Zimmer des Personals befanden.

Nachdem sie wieder das Vestibül erreicht hatten, folgte Thea der Haushälterin die mit Schnitzwerk verzierte Treppe hinauf, über die man zu den Familienschlafzimmern und zu den Gäste- und Ankleideräumen gelangte.

Mrs. Wessex wies auf die erste Tür des rechten Gangs. „Dies ist das Schlafzimmer des Hausherrn und direkt daneben das dazugehörige Ankleidezimmer.“ Sie schritt auf die dritte Tür zu. „Und dies ist Ihr Schlafzimmer, Mylady. Ich wünschte, wir hätten früher von der Heirat erfahren. Bevor er aufbrach, sagte Sir Develin nur, dass wir das Zimmer seiner Mutter in Ordnung bringen sollten, weil es gebraucht würde. Daraus schlossen wir allerdings schon fast, dass er mit einer Braut heimkehren würde. Das Zimmer wurde jahrelang nicht benutzt.“

Thea schenkte der Frau ein warmes Lächeln. Ihr war bewusst, dass sie einen schrecklichen ersten Eindruck auf die Bediensteten gemacht hatte. Sie war zu angespannt, zu steif und zu unnachgiebig gewesen. Dem Personal in ihrer erbärmlichen Kleidung gegenüberzutreten, hatte ihr verdeutlicht, um was für eine seltsame Heirat es sich handelte. In ihrer Verunsicherung war sie nicht sie selbst gewesen.

Develin hatte sich dabei alles andere als hilfreich verhalten. Er hatte sich ihr gegenüber unterkühlt gegeben und sie rasch mit der Situation allein gelassen.

Dennoch konnte sie ihm nicht die Schuld dafür geben, dass sie sich von Anfang an unbeliebt gemacht hatte. Sie musste versuchen, den Schaden zu begrenzen.

„Sicherlich war es trotzdem ein Schreck für Sie, dass er tatsächlich mit einer Ehefrau zurückgekehrt ist“, sagte sie freundlich.

Die Haushälterin errötete. „Er war schon immer ein impulsiver Mensch. Sein Vater hat ihn stets wegen seiner unbedachten Art gescholten.“

Thea dachte an das Porträt des streng und hart wirkenden Mannes, das sie in Devs Arbeitszimmer gesehen hatte.

„Ich bin auch manchmal reichlich impulsiv“, gestand sie lächelnd, während Mrs. Wessex ihr die Tür aufhielt.

Thea betrat das Schlafzimmer ihrer Träume. Helles Sonnenlicht drang durch die hohen Fenster, und eine grüne Tagesdecke aus Seide zierte das Himmelbett, das vor einer wunderschönen Tapete mit duftigem Blumenmuster stand. Dem Bett gegenüber gab es einen Kamin aus Marmor, in den Weinreben und kleine dicke Putten gemeißelt waren. An der anderen Wand stand ein zierlicher Ankleidetisch mit prunkvollem Spiegel, und silberne Kerzenhalter schmückten die beiden Nachttische.

„Oh, das ist bezaubernd!“, rief sie erfreut aus und schlug die Hände zusammen, als ob sie ein Dankgebet sprechen wollte.

„Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich ausruhen können, Mylady“, sagte Mrs. Wessex. „Später schicke ich Ella zu Ihnen, damit sie Ihnen beim Umkleiden für das Dinner behilflich ist.“

„Ich komme allein zurecht“, entgegnete Thea, die froh war, eine Weile ungestört zu sein. In den letzten Tagen war so viel geschehen … Doch dann sah sie Mrs. Wessex’ gerunzelte Stirn. „Bis Ella hier ist“, fügte sie hastig hinzu.

Die Haushälterin lächelte zögerlich, nickte und verließ das Zimmer.

Endlich allein spazierte Thea durch das zauberhafte Zimmer. Auch davon hatte sie geträumt, als sie Sir Develin die Ehe angetragen hatte – von einem schönen Zuhause und einer sicheren Zukunft. Sie musste nicht länger fürchten, allein auf der Welt dazustehen – arm, frierend und hungernd, ohne Ehemann und ohne Kinder.

Aber wie verhält es sich mit Liebe, Thea? fragte eine leise innere Stimme sie. Möchtest du nicht geliebt werden?

Gewiss würde sie nicht ganz ohne Liebe leben müssen. Wenn die Zuneigung schon nicht von ihrem Gatten kam, würden zumindest ihre Kinder sie lieben.

Thea sah Develin erst am Abend wieder, als er sich vor dem Dinner zu ihr in das Gesellschaftszimmer begab.

Sie hatte nicht auf Ellas entsetzte Miene reagiert, als das Mädchen entdeckt hatte, dass Thea nur drei Kleider ihr Eigen nannte. Jetzt trug sie das schlichte blaue Kleid aus Taft, das von den dreien noch das Beste war. Das Dienstmädchen hatte ihr erzählt, dass es im Dorf eine ausgezeichnete Modistin und auch einen Hutmacher gebe. Thea hatte sich stillschweigend geschworen, beide so schnell wie möglich aufzusuchen.

Beim Betreten des Gesellschaftszimmers, in das sie zuvor nur einen kurzen Blick geworfen hatte, war sie von der Pracht überwältigt. Nie zuvor hatte sie so viele vergoldete Sitzmöbel erblickt, deren dicke Polster mit feinstem Satin bezogen waren, nie zuvor so kunstvoll gearbeitete Figurinen, wie sie hier auf dem Kaminsims standen, ganz zu schweigen von den silbernen Wandleuchtern und Kandelabern und dem wunderschönen Pianoforte, das in einem Erker stand.

Falls ihr Gatte erwartete, dass sie auf dem Instrument spielte, würde er eine herbe Enttäuschung erleben. Ihre musikalische Ausbildung hatte gerade erst begonnen, als die finanziellen Reserven der Familie schwanden. Der Musikunterricht war bereits den ersten Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen.

Obgleich sie immer ungeduldiger auf das Erscheinen ihres Ehemanns gewartet hatte, hatte sie ihn mit keinem Wort getadelt, als er schließlich aufgetaucht war, um sie in das Speisezimmer zu geleiten. Sie hatte ihn auch nicht mit Fragen belästigt oder ihn während des Essens zu einer Unterhaltung gezwungen. Sie hoffte, dass er nicht ärgerlich auf sie war. Vielleicht war er einfach ein schweigsamer Mann.

Das Essen stellte alles in den Schatten, was sie je gekostet hatte! Es gab eine köstliche Pilzcremesuppe, gefolgt von gedünstetem Goldbarsch, anschließend einen Rinderbraten und ein Huhn in einer kräftigen Sauce. Zum Nachtisch wurden drei verschiedene Sorten Obstkuchen und anderes Backwerk gereicht. Dazu wurde ausgezeichneter Wein kredenzt, von dem sie jedoch nicht viel trank. Sie war nicht an Wein gewöhnt und wollte einen klaren Kopf behalten.

Nachdem sie das Mahl beendet hatten, zog sich Thea wieder in das Gesellschaftszimmer zurück. Sie setzte sich in einen Sessel neben dem warmen Kaminfeuer. Kurze Zeit später erschien Mrs. Wessex in Begleitung von Ella, die ein Tablett mit einem silbernen Teeservice in Händen hielt.

„Soll ich Ihnen einschenken, Mylady?“, erkundigte sich die Haushälterin respektvoll.

„Nein, das ist nicht nötig“, erwiderte Thea.

Die alte Frau nickte nur, bevor sie mit Ella das Zimmer verließ.

Tief aufseufzend schenkte sich Thea Tee ein und nippte daran, während sie auf ihren Gatten wartete – und wartete und wartete …

Als sie schon glaubte, Develin würde sich nicht mehr zu ihr gesellen, spazierte er unbekümmert in das Zimmer, als ob seit dem Dinner keine Zeit verstrichen wäre.

„Ich dachte schon, du würdest nicht mehr kommen.“ Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Der Tee ist längst kalt. Soll ich läuten, damit neuer gebracht wird?“

„Nein, ich will keinen Tee“, antwortete er. Er ging an ihr vorbei, lehnte sich gegen den Kaminsims und betrachtete sie mit rätselhafter Miene.

„Das Dinner war köstlich“, sagte sie schließlich.

Er schwieg.

„Pflegst du immer so gut zu speisen?“

„Ich bin ziemlich reich.“

Diese Art der Unterhaltung wurde ihr zu mühsam. Natürlich hatte er Grund, verärgert zu sein – aber sie nicht minder. Sie stand auf und blickte ihm ins Gesicht. „Ich nehme an, dass ich mich bei unserer Ankunft nicht deinen Wünschen gemäß verhalten habe.“

Er senkte den linken Arm und hob eine Braue, sonst nichts.

Selbst wenn er bei seinem frostigen Schweigen blieb, würde sie ihm die Wahrheit gestehen – wenigstens in Bezug auf ihre heutigen Gefühle. „Ich war verängstigt.“

„Verängstigt? Du warst verängstigt?“, wiederholte er ungläubig. „Meine Bediensteten haben dir Angst eingejagt?“

„Nein, nicht direkt. Aber ich … ich meine, dieses Haus ist so riesig, und es gibt so viel Personal. Ich hatte Angst, einen Fehler zu machen oder etwas Falsches zu sagen. Um meine Verunsicherung zu verbergen, habe ich mich so stolz wie möglich gebärdet und dabei vermutlich überheblich gewirkt, obgleich das gar nicht in meiner Absicht lag.“

Er schüttelte nur leicht mit dem Kopf, als ob er es mit einem ungezogenen Kind zu tun hätte. „Ich habe mich gefragt, was in dich gefahren ist.“

Seine Reaktion verletzte sie und scharfzüngig erwiderte sie: „Wenn du in der Kutsche ein bisschen mehr mit mir geredet hättest, wäre ich weniger eingeschüchtert gewesen.“

Develin legte die Stirn in Falten. „Es ist dir wohl nicht in den Sinn gekommen, dass ich ebenfalls besorgt war, wie meine Angestellten auf unsere Ankunft reagieren würden?“

„Hast du denn daran keinen Gedanken verschwendet, als du meinen Vorschlag angenommen hast?“

„Auf jeden Fall habe ich nicht damit gerechnet, dass du wie eine arrogante …“

„Ich habe eben versucht, es dir zu erklären“, fiel sie ihm ins Wort. „Wahrscheinlich kann ich von einem Mann wie dir nicht erwarten, das zu verstehen. Und wenn wir schon von Überheblichkeit reden …“ Sie bedachte den Mann, der mit herablassender Haltung vor ihr stand, mit einem frostigen Blick. „In dieser Hinsicht bin ich wohl dem Richtigen begegnet.“

„Wenn ich mich so verhalte, habe ich wenigstens Grund dazu. Ich bin ein reicher Baronet, wohingegen du die Tochter eines verarmten Spielers bist, der dich im Stich gelassen hat. Du hast dich wie die Königin von Saba aufgeführt – wohl kaum die richtige Herangehensweise, um die Sympathie der Bediensteten zu gewinnen, auf deren Hilfe du angewiesen bist, wenn du diesen Haushalt reibungslos führen möchtest.“

„Gewiss bin ich nicht die Königin von Saba“, entgegnete sie ungehalten, „aber immerhin bin ich die Frau, die du geheiratet hast. Wie du auch darüber denken magst, das lässt sich nicht mehr ungeschehen machen.“

Er gab darauf keine Antwort und starrte sie fast feindselig an.

Grauen erfasste sie. Sie waren jetzt Mann und Frau, daran konnte er doch nichts mehr ändern. Oder etwa doch?

Schließlich war er ein vermögender Mann mit Titel. Bestimmt hatte er einflussreiche Freunde und konnte sich die besten Anwälte leisten – Männer, die Wege fanden, jeden Vertrag und jede Vereinbarung anzufechten.

„Wir hatten uns geeinigt“, erinnerte sie ihn. Sie trat ganz nah an ihn heran, bis sie nur noch eine Handbreit von ihm entfernt war. „Wenn du ein ehrenhafter Mann bist, hältst du dich daran, ebenso wie ich mein Wort halten werde. Ich werde deinen Haushalt ordnungsgemäß führen, und gleich morgen bestelle ich im Dorf neue Kleidung. Ella hat mir berichtet, dass die hiesige Modistin hervorragend arbeitet. Dem Hutmacher werde ich ebenfalls einen Besuch abstatten. Und solltest du heute Nacht mein Schlafzimmer aufsuchen, werde ich dich nicht fortschicken.“

Er holte tief Luft, und einen Moment lang sah sie Begehren in seinen Augen aufblitzen. Dann runzelte er wieder die Stirn.

Thea wartete seine Erwiderung nicht ab. Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Zimmer.

Dev war versucht, die Tür hinter ihr zuzuschlagen. Aber damit hätte er das Personal nur darauf aufmerksam gemach, dass zwischen dem Hausherrn und seiner Braut etwas im Argen lag. Den Bediensteten würde das schon früh genug auffallen. Den ganzen Abend über war seine Kehle wie zugeschnürt gewesen. Obwohl er sich fürchterlich über ihr hochnäsiges Auftreten ärgerte, hatte er ihr nicht gesagt, dass er die Heirat bereute.

Wahrscheinlich hinderte ihn sein Stolz daran, die Annullierung zur Sprache zu bringen, obgleich sein Entschluss sich gefestigt hatte. Er würde die Eheschließung für nichtig erklären und ihr eine Summe zur Verfügung stellen, mit der sie einige Jahre gut leben konnte. Zudem würde er ihrem Vater die Spielschulden erlassen. Falls sie sich widerspenstig gab, würde er ihr ein Haus in irgendeiner Stadt anbieten. Spätestens dann würde sie in die Beendigung dieser Mesalliance einwilligen, und er würde wieder frei sein, ohne dass ihn Schuldgefühle plagten.

Doch was auch immer in Zukunft geschah: Auf keinen Fall würde er heute Abend ihr Bett aufsuchen.

5. KAPITEL

Nach einer weiteren Nacht mit wenig Schlaf verlor Thea keine Zeit, die Kutsche zu rufen, um sich in das Dorf bringen zu lassen. Ganz gleich, ob ihr Gatte die Heirat bedauerte oder ihrer bereits überdrüssig war, sie war seine Ehefrau und wollte keine Zweifel daran aufkommen lassen – beginnend mit einer neuen Garderobe, die der Gattin eines Baronet angemessen war. Während der Fahrt blickte sie neugierig aus den Kutschenfenstern, um so viel wie möglich von der Umgebung zu sehen.

Es war eine schöne Landschaft, die zwar von nördlicher Rauheit geprägt war, aber fruchtbare Felder besaß. Im Zentrum des Dorfes, das nach den Dundrakes benannt worden war, stand eine mächtige Kirche aus verwittertem grauen Stein. Am Marktplatz gab es eine Reihe von Läden und ein paar Schänken.

Sie ließ sich direkt zu dem Geschäft der Modistin bringen, einer kleinen Frau aus Yorkshire namens Mrs. Lemmuel, die ein schlichtes dunkles Wollkleid trug, das ihre Wespentaille perfekt zur Geltung brachte. Sie begrüße Thea mit einem freundlichen Lächeln, obschon sie auf den ersten Blick bemerkt haben musste, wie schlecht die neue Kundin gekleidet war.

Rasch nannte Thea den Grund für ihr Erscheinen. „Ich möchte bei Ihnen eine Reihe neuer Kleider und zwei Ballkleider anfertigen lassen. Außerdem benötige ich entsprechende Unterbekleidung.“

Mrs. Lemmuel hob die Brauen. Zweifellos fragte sie sich, wie eine Frau, die in derartig billigen Stoffen steckte, sich einen so kostspieligen Einkauf leisten konnte.

„Ich bin frisch verheiratet und war viel auf Reisen, daher ist meine Garderobe in einem schlechten Zustand“, erläuterte Thea. „Mein Gatte sagt, ich soll alles erwerben, was ich brauche. Die Kosten spielen dabei keine Rolle.“

Mrs. Lemmuel lächelte erneut. „Das klingt nach einem großzügigen Ehemann! Leben Sie hier in der Umgebung?“

„Die Familie meines Mannes lebt hier schon seit langer Zeit.“

Die Modistin blickte sie erstaunt an.

Da die Bediensteten von Dundrake Hall von der Heirat wussten, würde sich die Neuigkeit auch bald im Dorf verbreiten. Es ergab also keinen Sinn, die Wahrheit zu verschweigen. „Ich habe kürzlich Sir Develin Dundrake geheiratet.“

„Sir Develin Dundrake!“, rief Mrs. Lemmuel mit piepsender Stimme.

Plötzlich war es, als hätte tatsächlich die Königin von Saba das Geschäft betreten. Das Verhalten der Modistin wurde zwar nicht kriecherisch, aber mehr als zuvorkommend. „Sie müssen sich diese Seide ansehen“, sagte sie und strich mit einer Hand über einen silbernen Stoffballen. „Sie wird Ihnen hervorragend stehen.“

Thea verbrachte den Großteil des Vormittags damit, ein Schnittmuster für ein Abendkleid aus der silbernen Seide sowie Stoffe und Schnittmuster für mehrere andere Kleider auszuwählen. Zu guter Letzt entschied sie sich für ein Ballkleid aus tiefem Saphirblau mit Spitzenbesatz.

Mrs. Lemmuel wirkte zufrieden wie eine Katze, die eine große Schüssel mit Sahne getrunken hatte. „Benötigen Sie noch weitere Kleider? Vielleicht etwas zum Ausreiten?“

„Heute nicht“, antwortete Thea. Sie würde niemals Reitkleidung benötigen, denn ihr Vater hatte alle Pferde verkauft, bevor sie das Reiten erlernt hatte.

Ganz anders als Dev, der ausgezeichnet reiten kann. Als sie unter dem Säulenvorbau darauf gewartet hatte, dass die Kutsche vorfuhr, hatte sie ihn auf einem lebhaft tänzelnden schwarzen Hengst gesehen, den er ohne Mühe auf der Auffahrt in Galopp versetzt hatte. Allem Anschein nach hatte er sie gar nicht bemerkt oder einfach beschlossen, sie zu ignorieren.

Ebenso wie es in der letzten Nacht der Fall gewesen war, in der sie allein in dem wunderschönen Zimmer geschlafen hatte.

Die Tür des Geschäfts sprang auf, was Thea aus ihren unglücklichen Gedanken riss. Eine hochgewachsene schlanke junge Frau mit Brille, die ein modisches butterblumengelbes Kleid und ein passendes Cape trug, stolperte hinein. Sie richtete sich rasch wieder auf, blinzelte wie eine Eule und lächelte entschuldigend. Sie war nicht gerade hübsch, aber trotz der Brille eine eindrucksvolle Erscheinung.

„Du liebe Zeit, ich bin schon wieder über meinen Saum gestolpert“, sagte sie mit wohlklingender Altstimme. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr erschreckt.“

„Guten Tag, Mylady“, begrüßte Mrs. Lemmuel die junge Frau mit gequältem Lächeln. „Leider ist Ihr Kleid noch nicht fertig. Die Spitze aus Brüssel wurde noch nicht geliefert.“

„Oh wirklich? Das ist bedauerlich. Ich wollte es schon am Sonntag in der Kirche tragen.“

„Die Spitze müsste morgen eintreffen. Dann mache ich mich sofort an die Arbeit und kann Ihnen das Kleid am Freitag bringen lassen.“

„Wunderbar! Vielen Dank. Ich bin Ihnen dafür sehr verbunden.“ Lächelnd wandte sich die junge Frau an Thea. „Bitte verzeihen Sie! Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Mutter wartet in der Kutsche auf mich, deshalb darf ich keine Zeit verlieren.“ Sie deutete einen Knicks an. „Ich bin Gladys, Lady Gladys Fitzwalter, genau genommen. Mein Vater ist der Earl of Byford.“

„Ich bin Lady Theodora Mark… – Dundrake“, entgegnete Thea ebenfalls leicht knicksend.

„Ich bin hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sind Sie hier in der Nähe zu Besuch?“

Thea lächelte freundlich. „Ich wohne in Dundrake Hall.“

„Sie ist Lady Dundrake“, half die Modistin der jungen Frau auf die Sprünge.

Lady Gladys’ haselnussfarbene Augen weiteten sich hinter den Brillengläsern. „Das ist doch nicht möglich!“

„Doch, es stimmt“, bestätigte Thea heiter. Nichts an Lady Gladys’ Reaktion deutete auf etwas anderes als argloses Erstaunen hin.

„Oje, Sie müssen mich für schrecklich einfältig halten“, sagte Lady Gladys errötend. „Ich hatte verstanden, dass Sie Markdundrake heißen und mit diesem Namen konnte ich erst einmal nichts anfangen.“

„Verzeihen Sie“, entgegnete Thea. „Ich bin ganz frisch verheiratet und hatte schon begonnen, meinen Mädchennamen auszusprechen, bevor ich mich eines Besseren besann.“

Lady Gladys lachte. Es war ein angenehmes und herzliches Lachen, das gute Laune verbreitete. „Dann haben Sie also den begehrtesten Mann auf dem Heiratsmarkt für sich gewonnen? Ich bin mir sicher, dass viele junge Damen in ihre Kissen weinen, sobald sich die Nachricht herumspricht. Und nicht nur die! Wobei ich die ganzen Geschichten über Develin nie recht glauben konnte. Er ist ein attraktiver Mann und sehr charmant, aber dass er so viele Geliebte gehabt haben soll …“ Lady Gladys machte plötzlich eine Miene, als ob sie beim Stehlen erwischt worden wäre. „Nun bin ich schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten! Darin bin ich eine echte Meisterin. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, Mylady. Das sind alles dumme Gerüchte, nichts weiter.“

Thea kannte den Ruf, der Sir Develin vorauseilte, und wusste, dass dieser Ruf nicht unverdient war. Allerdings hatte sie auch in Erfahrung gebracht, dass seine ehemaligen Geliebten – allesamt verheiratete Damen – noch immer mit Zuneigung über ihn sprachen. Das stellte eine Ausnahme dar.

Erneut wurde die Ladentür geöffnet, und eine weitere junge Frau trat ein. Sie war auffällig, ja geradezu überladen gekleidet, und die Krempe ihres mit Blumen und Bändern geschmückten Hutes passte kaum durch die Tür. Sie schritt eilig auf Mrs. Lemmuel zu, ohne Thea oder Lady Gladys eines Blickes zu würdigen und riss der Modistin die Rolle mit saphirblauem Stoff aus den Händen.

„Mama!“, rief die unhöfliche junge Frau, als eine ältere Dame das Geschäft betrat und sich an Thea vorbeidrängelte. „Das ist der Stoff, von dem ich dir erzählt habe. Ist er nicht bezaubernd und gerade das Richtige für mein neues Ballkleid?“

„Das würde schon gehen“, antwortete ihre Mutter, die ein leuchtend braunrotes Kleid trug, das viel zu jugendlich für ihr Alter wirkte. Sie sah die Modistin streng an. „Was kostet der Stoff?“

„Es tut mir leid, Euer Gnaden, aber diesen Stoff habe ich gerade verkauft“, antwortete Mrs. Lemmuel ernst und nahm der jungen Frau den Ballen aus der Hand, um ihn wieder auf die Theke zu legen.

Erst jetzt schien die Alte im braunroten Kleid zu bemerken, dass sich noch andere Kundinnen im Geschäft befanden. Sie schenkte Thea jedoch keine Beachtung und wandte sich nur an Lady Gladys. „Guten Tag, Lady Gladys.“

„Guten Tag, Euer Gnaden“, erwiderte Lady Gladys und bewegte sich auf einen Verkaufstisch zu, auf dem Bänder ausgelegt waren. Dabei stieß sie mit dem rechten Ellbogen mehrere Rollen zu Boden.

„Verzeihen Sie!“, rief sie aus und begann, die Bänder wieder einzusammeln. Thea eilte ihr sofort zu Hilfe, und Mrs. Lemmuel hob die letzte Rolle auf.

Die Mutter und ihre Tochter rührten sich nicht, bis alle Bänder wieder auf dem Ladentisch lagen.

Dann sagte die Alte unfreundlich: „Vielleicht sollten Sie besser zu Hause bleiben oder sich immer von einem gut geschulten Lakaien begleiten lassen, um Missgeschicken vorzubeugen.“

Thea musste gar nicht erst den Schmerz in Lady Gladys’ Augen sehen, um zornig zu werden. „Vielleicht sollten einige Leute sich bessere Manieren zulegen“, erwiderte sie scharfzüngig.

Lady Gladys blickte sie erstaunt an, und die Modistin zog sich wieder hinter den Ladentisch zurück, als ob sie eine Explosion befürchtete. Die Frau im rotbraunen Kleid starrte Thea wie ein empörter Vogel Strauß an. „Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden?“, fragte sie, wobei der Federschmuck ihres Hutes bebte.

„Ich wage es, weil ich recht habe.“

Die Alte richtete ihren vernichtenden Blick auf Lady Gladys. „Wer ist diese Person? Falls sie in Ihren Diensten steht …“

„Ich bin Lady Theodora Dundrake“, unterbrach Thea sie stolz erhobenen Hauptes.

„Wollen Sie etwa behaupten, dass Sie mit Sir Develin verwandt sind?“ Die Frau musterte Thea misstrauisch.

„Ich bin seine Frau.“

„Seine … was?“, schrie die Tochter. „Das ist unmöglich!“

„Was für eine dreiste Behauptung!“, empörte sich die Mutter. „Wer sind Sie wirklich? Und lügen Sie mich nicht an! Mein Gatte, der Duke of Scane, wird dafür sorgen, dass der Magistrat Sie wegen Hochstapelei verhaftet.“

„Sir Develin Dundrake ist mein Ehemann, und ich bin seine Ehefrau“, entgegnete Thea mit fester Stimme.

Lady Gladys fand die Sprache wieder. „Euer Gnaden, erlauben Sie mir, Ihnen Lady Theodora Dundrake vorzustellen? Lady Theodora, ich möchte Sie mit der Duchess of Scane und deren Tochter Lady Caroline bekannt machen.“

„Wenn dieser erstaunliche Sachverhalt der Wahrheit entspricht, weshalb habe ich dann nichts darüber gehört?“, fragte die Duchess skeptisch.

„Sie hören es jetzt“, antwortete Thea.

„Nun, damit habe ich gewiss nicht gerechnet!“

Thea warf einen Blick auf die schweigende Tochter der Duchess. Es wirkte, als ob Lady Caroline nicht recht wusste, ob sie vor Wut schreien oder vor Verzweiflung weinen sollte. Vielleicht hatte die junge Frau gehofft, Sir Develin zu heiraten, und diese Hoffnungen waren nun zerschlagen worden. Wenn dem so war, empfand Thea Mitleid mit ihr, insbesondere da sie mit einer solchen Mutter schon genug gestraft war.

Da Thea ihren Einkauf beendet hatte, beschloss sie, nicht länger zu bleiben. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich möchte noch den Hutmacher aufsuchen. Vielen Dank, Mrs. Lemmuel. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Euer Gnaden, Lady Caroline. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen, Lady Gladys.“

„Ich wollte auch gerade gehen“, erklärte Lady Gladys eilig und begab sich zur Tür.

Weder die Duchess noch ihre Tochter verabschiedeten sich, als Lady Gladys und Thea das Geschäft verließen.

„Du liebe Güte, das war wundervoll!“, begeisterte sich Theas Begleiterin. „Wie konnten Sie bloß so gelassen bleiben? Die Duchess schüchtert mich schrecklich ein. In ihrer Gegenwart fühle ich mich noch unbeholfener als sonst und würde mich am liebsten in einer dunklen Ecke verstecken.“ Sie runzelte die Stirn. „Doch so dankbar ich Ihnen für Ihre Hilfe bin, ich fürchte, Sie haben sich eine mächtige Feindin gemacht. Die Duchess hat großen Einfluss. Wenn Sie von ihr geschnitten werden, werden auch die meisten Aristokraten der Gegend Ihre Gesellschaft meiden.“

„Mit einer solchen Frau möchte ich nicht befreundet sein“, meinte Thea, auch wenn sie ein ungutes Gefühl beschlich. Was würde ihr Gatte dazu sagen? „Sir Develins Ansehen ist sicherlich so groß, dass man seinetwegen über meine Fehler hinwegsehen wird“, verlieh sie ihrer Hoffnung Ausdruck.

Lady Gladys schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Das stimmt. Jeder schätzt ihn, auch die Duchess.“

Und die Tochter der Duchess? Welche Gefühle hegt sie für Dev, und wie sieht es damit bei ihm aus? Spielt es eine Rolle? Sie hatte ihm versprochen, dass er alle Freiheiten des Junggesellenlebens behielt. Wenn er sich auf eine Liebschaft mit Lady Caroline einließ, durfte sie ihm keine Vorwürfe machen.

„Sie müssen unbedingt meine Mutter kennenlernen“, sagte Lady Gladys. „Sie wird sehr erfreut sein.“

„Lieber ein andermal, wenn Sie es mir nicht verdenken“, entgegnete Thea. „In dieser Reisekleidung lasse ich mich nicht gern blicken, und ich möchte vermeiden, gleich zu Beginn einen schlechten Eindruck zu hinterlassen.“

Lady Gladys schien Theas Kleidung erst jetzt in Augenschein zu nehmen. Sie wirkte überrascht, erklärte aber mit ernster Miene: „Meiner Mutter ist das gleichgültig. Sie achtet nur darauf, wie ich mich kleide.“

Als Thea zögerte, klopfte jemand von innen gegen das Fenster einer nahen Kutsche.

„Oje! Sie wird ungeduldig. Dann verschieben wir das Vorstellen besser auf das nächste Mal. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mylady!“ Gladys hastete zu der Kutsche und stieg ein.

Thea verlor keine Zeit. Jeden Augenblick konnten die Duchess und ihre Tochter das Geschäft verlassen. Für heute hatte sie genug von den beiden. Zügigen Schritts begab sie sich zu dem Hutmacher, dessen Laden nur wenige Häuser entfernt lag. Sie konnte nur hoffen, dass Develin Verständnis für ihr Verhalten gegenüber der schrecklichen Duchess of Scane haben würde.

Nichts versetzte Dev in bessere Stimmung als ein langer morgendlicher Ritt auf dem Land. Er liebte die Hügel und Seen von Cumbria, den Wind, den Regen und den Duft der Wälder. Wie anders war es hier als im nebligen London, wo es nach beißendem Kohlenrauch roch und die Straßen laut und überfüllt waren!

In seiner Kindheit und Jugend hatte er oft in der freien Natur Trost gesucht. Nur das Zwitschern der Vögel, das Blöken von Schafen und ab und an das Muhen einer Kuhherde unterbrachen die Stille. Niemand tadelte oder ermahnte ihn. Er konnte sich seinen Träumen überlassen und so schnell reiten, wie er nur wollte.

Der Vormittag war schon fast vorüber, als er zum Herrenhaus zurückkehrte und sah, dass der Butler im Hof auf ihn wartete. Dieser ungewöhnliche Anblick ließ ihn befürchten, dass etwas Furchtbares geschehen war.

„Was ist passiert?“, fragte er besorgt, während er sich aus dem Sattel schwang.

„Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, Sir Develin“, versicherte ihm Jackson mit seiner tiefen Bassstimme. „Bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Anlass zur Sorge gab. Der Duke of Scane wartet im Gesellschaftszimmer auf Sie und möchte Sie unbedingt sprechen.“

Dev atmete erleichtert auf. Doch obgleich er den gutherzigen, ein wenig beschränkten Duke immer gemocht hatte, kamen ihm Besucher ungelegen, solange die Angelegenheit mit seiner unüberlegten Heirat nicht geregelt war. Aber vielleicht gab es Neuigkeiten vom Sohn des Duke, Devs bestem Freund aus der Schulzeit.

Eilig reichte er dem Butler die Gerte, den Hut und die Handschuhe. Während ein Reitknecht den prachtvollen Hengst zu den Stallungen führte, begab sich Dev in das Gesellschaftszimmer.

Thea war glücklicherweise nicht zu Hause. Bevor er ausgeritten war, hatte der Stallmeister ihm berichtet, sie habe nach der Kutsche rufen lassen, um ins Dorf zu fahren. Sowohl von Thea als auch von der Kutsche fehlte bei seiner Rückkehr jede Spur. Daher hoffte er, es würde ihm erspart bleiben, ihre Gegenwart zu erklären. Wenn es ihm gelang, das Gespräch auf die exzentrischen Dinge zu lenken, denen das Interesse des Dukes galt, konnte er es sogar vermeiden, die Heirat zu erwähnen.

„Ah da sind Sie ja, mein guter Junge!“, rief der stämmige Duke freudig aus, als Dev das Zimmer betrat. „Ich habe zufällig erfahren, dass Sie aus London zurück sind. Bei Ihnen ist das ja ein Hin und Her wie bei einem Mast im Sturm! Wenn mich meine Gicht nicht so geplagt hätte, wäre ich schon eher gekommen. Aber jetzt habe ich es endlich geschafft und komme mit einer Einladung zu unserer Dinnerparty heute in acht Tagen. Sind Sie dann noch hier?“

Bei der wichtigen Angelegenheit handelte es sich also nur um eine Einladung zum Dinner …

Dev wollte den freundlichen alten Mann nicht enttäuschen, doch er wusste beileibe nicht, ob er sich in einer Woche noch in Cumbria aufhielt. Wenn Roger eine Lösung fand, um ihm aus der ehelichen Misere zu helfen, musste er wahrscheinlich nach London reisen. Und selbst wenn er sich dann noch immer hier aufhielt und mit Thea verheiratet war, gehörte die Frau des Dukes zu den letzten Personen, denen sie begegnen sollte. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich kommen kann, Euer Gnaden. Es ist gut möglich, dass ich zu meinem Anwalt nach London reisen muss.“

„Ah, der gescheite Mr. Bessborough! Sie stecken also in einem rechtlichen Dilemma, ja?“

„Vielleicht, obgleich ich hoffe, juristische Verstrickungen zu vermeiden.“

Einen Geruch von Pferden und Hunden verströmend beugte sich der Duke zu Dev vor. „Juristische Verstrickungen, ja? Ihr jungen Kerle seid schon ganz schöne Halunken! Nicht, dass ich euch Vorwürfe mache, überall eure Saat zu säen, solange ihr könnt. Ich bin mir sicher, dass eine ganze Schar junger Dinger hinter dem jungen Apollo her ist!“

Wie immer wenn der Duke von seinem Sohn sprach, hob er plötzlich die Stimme, als hätte er eine feierliche Proklamation zu machen. Da Dev sich daran gewöhnt hatte, zuckte er nicht zusammen. Paul, wie sein Sohn lieber genannt wurde, hasste die väterliche Angewohnheit, ihn Apollo zu rufen. Das hatte er bereits an jenem Tag deutlich gemacht, an dem Dev ihm erstmals in der Schule von Harrow begegnet war.

Als die anderen Jungen hörten, dass Paul als Apollo angesprochen wurde, hatten sie sich über den dünnen pickligen Kameraden lustig gemacht. Paul hatte daraufhin die Fäuste erhoben und ihnen allen Prügel angedroht. Fraglos hatte er Angst gehabt, doch seine Entschlossenheit verlieh ihm Mut – darin ähnelte er Thea. Dev hatte das so beeindruckt, dass er sich sofort auf seine Seite geschlagen hatte. Die Spötter hatten sich zurückgezogen, und seit diesem Tag waren Paul und Dev Freunde.

„Nicht dass der junge Apollo über die Stränge schlagen würde!“, verkündete der Duke stolz. „Wahrhaftig nicht! Er verhält sich wie der Inbegriff eines Gentlemans, soviel ist gewiss.“

„Da bin ich mir auch sicher“, stimmte Dev ihm zu. Wenn man jemanden im Umgang mit der Damenwelt als schüchtern bezeichnen konnte, dann war es Paul. Dev konnte sich nicht vorstellen, dass die Reise durch Europa den Freund in einen Casanova verwandelte.

„Die Duchess hält es für höchste Zeit, dass er heiratet. Ich weiß ohnehin nicht, wie es euch jungen Kerlen gelingt, euch so lange davor zu drücken. In eurem Alter war ich längst verheiratet“, sagte der Duke.

Die Ehe des Dukes ließ sich aus Devs Sicht nur mit einer Gefängnisstrafe vergleichen, doch seltsamerweise schien das den gutmütigen Mann nicht zu stören.

„Mir ist schon klar, dass es für den jungen Apollo schwierig ist, sich festzulegen“, fuhr der Duke fort und wippte auf den Fersen. „Und für Sie sicherlich auch, nicht wahr? Nicht dass ich Sie dafür tadele. Wenn man reich wie Krösus ist, muss man vorsichtig sein.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und wie bestellt und nicht gerufen kam Thea herein. Als sie sah, dass Dev nicht allein war, blieb sie verunsichert stehen. Mit ihrer scheußlichen Pelisse und dem hässlichen Hut bot sie alles andere als einen anmutigen Anblick.

„Verzeihen Sie, ich wollte nicht stören“, sagte sie und blickte von Dev zu dem Duke und wieder zurück.

„Nun, wen haben wir denn da?“, fragte der Duke. Dann blickte er Dev empört an. „Oh! Ich hätte nie gedacht … Ich meine, in Ihrem eigenen Haus …“

Dev blieb nichts anderes übrig, als dem Duke zu eröffnen, dass er verheiratet war. Andernfalls würde der gute Mann aller Welt erzählen, Sir Develin Dundrake habe eine Geliebte mit nach Dundrake Hall genommen. „Euer Gnaden, erlauben Sie mir, Ihnen meine Frau Theodora vorzustellen.“

Nun wirkte der Duke geradezu entsetzt. „Ihre Frau? Sie sind verheiratet?“

„Ja, Euer Gnaden.“

„Sie haben vor dem jungen Apollo geheiratet!“, rief der Duke, als wäre dieser Umstand das Bemerkenswerteste an der Angelegenheit. Schwerfällig ließ er sich in einen nahen Sessel sinken.

Bereits einen Moment später sprang er wieder auf, ergriff Devs Hände und schüttelte sie herzlich. „Verzeihen Sie mir, mein Junge! Meine allerherzlichsten Glückwünsche!“

Er lächelte Thea an, die das Lächeln erwiderte – ein aufrichtiges, sympathisches Lächeln, das die Aufmerksamkeit auf ihre großen leuchtenden Augen lenkte.

Sie ist noch hübscher, wenn sie lächelt, dachte Dev. Außerdem war er erfreut, dass sie dem Duke mit Freundlichkeit und Respekt begegnete. Die meisten Angehörigen der feinen Kreise behandelten Scane eher wie einen Hofnarren. Dev hingegen mochte den Duke wegen seiner gutherzigen und offenen Art und war aus diesem Grunde bereit, über dessen Marotten hinwegzusehen.

Der alte Mann beugte sich zu Thea und Dev vor und wackelte mit dem rechten Zeigefinger. „Schlau sind Sie, sehr schlau! Nicht dass ich es Ihnen verdenken könnte! Es wird immer ein solcher Wirbel um Hochzeiten gemacht. Allerdings muss ich das sofort dem jungen Apollo schreiben.“ Er rieb sich mit einer Hand über das breite Kinn. „Wo er wohl gerade ist?“, sann er laut nach. „Amsterdam, nehme ich an. Oder vielleicht doch Brügge?“

Thea runzelte die Stirn, und der Duke ergriff die Gelegenheit, um mit seinem Sohn zu prahlen. „Ich beziehe mich auf meinen Erben, Mylady. Er ist der prächtigste junge Mann, den man sich vorstellen kann! Gewiss werden Sie mir zustimmen, sobald Sie ihn kennenlernen.“

„Ich freue mich darauf“, beteuerte Thea. Sie schenkte dem Gast und Dev ein Lächeln. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen? Ich bin ziemlich müde und würde mich gern zurückziehen.“

„Aber natürlich, natürlich!“, rief der Duke laut.

Dev hätte sich nicht gewundert, wenn er ihr auf die Schulter geklopft hätte.

Thea nickte den beiden Männern zu und verließ anmutigen Schritts das Zimmer.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, schlug der Duke Dev anerkennend auf den Rücken. „Sie schlimmer Junge! So etwas einfach geheim zu halten! Wo haben Sie sie gefunden?“

„Sie ist die Tochter von Sir John Markham of Ireland.“

„Irin, sagen Sie? Kein Wunder, dass ich ihr noch nie begegnet bin. Die Duchess missbilligt …“ Er räusperte sich. „Ja, nun, Irland ist bezaubernd und hat außergewöhnliche Schönheiten zu bieten, nicht?“

„Vermutlich.“

Der Duke lachte herzlich. „Du liebe Güte, mein Junge! Sie hören sich ja fast an, als ob Sie eine Frau geheiratet hätten, die keine Schönheit ist! So eine Anmut, so eine Figur!“ Er stieß Dev fest gegen die Rippen. „Und dann diese Stimme – ein Mann könnte sich schon allein in diese Stimme verlieben, nicht wahr?“

Dev hatte den Duke nie für scharfsinnig gehalten. Offensichtlich hatte er sich geirrt. Der Duke hatte über Theas ärmliche Kleidung hinweggesehen und erkannt, wer sich dahinter verbarg. Darin ist er viel besser als ich, dachte Dev verschämt.

„Schau einer an, Sie werden ja rot wie ein Schuljunge!“, meinte der Duke grinsend. Doch dann wurde er ernst. „Die Neuigkeit wird meine Frau und Caroline in Erstaunen versetzen. Ich begebe mich besser gleich nach Hause, um ihnen davon zu berichten. Wahrscheinlich werden die beiden Ihnen und Ihrer Frau gleich morgen Früh einen Besuch abstatten, so wie ich die Duchess kenne.“

Dev hoffte von ganzem Herzen, dass die Duchess indisponiert war oder ihr überladenes Herrenhaus aus irgendeinem anderen Grund nicht verlassen konnte. Am besten für Wochen nicht …

Während Jackson dem Duke in den Paletot half und ihm den Hut reichte, legte der alte Mann die Stirn in Falten und offenbarte erstmals, dass er in Bezug auf seine Gattin doch nicht mit vollkommener Blindheit geschlagen war: „Es ist besser, wenn Sie Ihre Frau darauf vorbereiten, mein Freund.“

„Das werde ich“, versicherte Dev dem Duke, auch wenn es ihm unmöglich erschien, sich ausreichend auf eine Begegnung mit der Duchess of Scane vorzubereiten.

6. KAPITEL

Nachdem Dev dem Duke zum Abschied gewunken hatte, schlenderte er zu seinem Arbeitszimmer. Dabei musste er daran denken, was auf dem letzten Ball geschehen war, den er besucht hatte. Caroline war ihm hinaus in den mondbeschienenen Garten gefolgt und hatte ihn dazu bringen wollen, sie zu küssen. Er hatte alle Annäherungsversuche abgewehrt. Dann war plötzlich ihr Onkel aufgetaucht, vermutlich mit der Absicht, ihn zu einer Ehe mit Caroline zu zwingen. Dev glaubte nicht, dass der Duke von dieser Falle wusste, aber bei Caroline und ihrer Mutter war er sich ganz und gar nicht sicher.

Als er die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete, war er überrascht, Thea dort anzutreffen. Sie wirkte angespannt und besorgt. Wenigstens hatte sie endlich die scheußliche Pelisse und den Hut abgelegt.

„Ich war im Dorf und habe bei der Modistin neue Kleider bestellt, darunter auch zwei Ballkleider“, berichtete sie. „Außerdem habe ich beim Hutmacher drei Hüte gekauft und beim Schuhmacher ein paar neue Schuhe erworben.“ Sie nickte in Richtung Schreibtisch. „Die Rechnungen findest du dort.“

„Gut“, erwiderte er und meinte es auch so. Auch wenn die Ehe keinen Bestand hatte, sollte Thea wenigstens bessere Kleidung bekommen.

Er ging zum Schreibtisch und überflog die Kosten. Es war deutlich weniger, als er erwartet hatte. „Wie ich sehe, bist du nicht verschwenderisch.“

„Ein weiterer Grund, weshalb du froh sein solltest, mit mir verheiratet zu sein.“

Seine Miene war auf einmal wie versteinert.

Thea blickte ihm direkt in die Augen und sprach, als ob sie eine Kriegserklärung vortragen müsste: „Ich bin der Tochter des Earl of Byford begegnet.“

Das war keine gute Nachricht. „Hast du dich ihr selbst vorgestellt?“

„Nein, ich musste der Modistin sagen, wer die Kleidung bezahlt. Mrs. Lemmuel hat Lady Gladys erklärt, wer ich bin. Lady Gladys war sehr freundlich zu mir.“

„Sie ist zu allen Menschen freundlich“, meinte er. Im Grunde war Gladys’ ganze Familie nett, auch wenn der Earl ein Pferdenarr war, der jedem Rosstäuscher auf den Leim ging, und die Countess sich manchmal ähnlich überheblich gab wie die Duchess of Scane. Glücklicherweise hatte Gladys, das einzige Kind, die jeweils besten Qualitäten von beiden Elternteilen geerbt. Sie war zwar unbeholfen und nicht besonders hübsch, aber eine ausgezeichnete Reiterin, und sie spielte überraschend gut auf dem Piano. Bedauerlicherweise neigte Gladys zu Geschwätzigkeit, und ihre Mutter sorgte dafür, dass sich alles rasch herumsprach. Bald würden also alle von seiner Heirat erfahren haben, und wenn es zu einer Annullierung käme, würde ebenfalls jeder davon hören.

Thea holte tief Luft. „Lady Gladys ist nicht die einzige Person, die ich im Geschäft der Modistin kennengelernt habe. Ich bin dort auch der Duchess of Scane und ihrer Tochter begegnet. Lady Gladys hat mich ihnen vorgestellt.“

Er ahnte Böses.

„Möglicherweise habe ich mich der Duchess gegenüber ein wenig unfreundlich verhalten“, fügte Thea wie beiläufig hinzu.

„Du warst der Duchess of Scane gegenüber unfreundlich?“

„Sie war grausam zu Lady Gladys“, verteidigte sich Thea.

Das konnte er sich gut vorstellen. Sein Zorn verflog, und stattdessen erfasste ihn Besorgnis. „Ich nehme an, sie ist dir ebenfalls mit wenig schmeichelhaften Worten begegnet.“

„Mit Leuten wie ihr musste ich schon früher fertigwerden, daher sind ihre Kränkungen an mir abgeprallt.“

Die Standhaftigkeit seiner Frau gefiel ihm. Außerdem war er froh, dass sie Gladys zu Hilfe gekommen war.

Thea verschränkte die Arme. „Lady Caroline wirkte ziemlich bestürzt, als sie von unserer Heirat erfuhr.“

Obgleich es ihm unnötig erschien, Thea von der Falle zu berichten, die ihm gestellt worden war, wollte er nicht um den heißen Brei herumreden. „Ihre Mutter wollte, dass wir heiraten. Ich war nicht dazu geneigt, und ich glaube auch nicht, dass Caroline tiefere Empfindungen für mich hegt. Wenn sie diesen Eindruck vermittelt hat, dann wohl eher, weil sie jetzt mit der Enttäuschung und dem Zorn ihrer Mutter zurechtkommen muss.“ Dev kannte die Duchess. Bestimmt würde sie versuchen, ihn und seine Braut in Verruf zu bringen. „Leider beherrscht die Duchess die örtliche Adelsgesellschaft, daher wird es besser sein, ihr so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Sollte sie zu Besuch erscheinen, lass ihr durch Jackson mitteilen, dass du nicht zu Hause bist.“

Das feurige Funkeln, das jetzt in Theas grauen Augen aufloderte, hatte er nicht vorhergesehen, ebenso wenig wie ihre entschiedene Erwiderung. „Viele Leute sind meinem Vater und mir mit Verachtung begegnet. Daher bin ich gut auf boshaftes Gerede vorbereitet. Und wenn die Duchess eine so wichtige Rolle in der hiesigen Gesellschaft spielt, dürfen wir uns auf keinen Fall von ihr einschüchtern lassen.“ Das Funkeln ließ ein wenig nach. „Allerdings verspreche ich dir, künftig mein Temperament zu zügeln.“

Das muss sie vielleicht nicht sehr lange tun, dachte er mit gewissem Bedauern. Er erzählte Thea nicht von der Dinnerparty. Gewiss würde die kleinliche Duchess die Einladung zurücknehmen. Doch statt darüber erleichtert zu sein, stimmte ihn dieser Gedanke zornig.

„Mrs. Wessex hat mich eben davon in Kenntnis gesetzt, dass drei Kandidatinnen für die Stelle der Zofe auf mich im Morgenzimmer warten“, brach Thea nach einer Weile das Schweigen. „Wir sehen uns dann später.“

„Ja, bis später“, antwortete er.

Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, blickte Dev zu dem Porträt hoch und lächelte grimmig. „Es ist wirklich schade, dass du nicht hier bist, Vater“, sagte er laut. „Ich würde zu gern hören, mit welchen Worten sie dir begegnen würde.“

Mrs. Wessex saß auf einem Stuhl im Morgenzimmer, verschränkte die Hände auf dem breiten Schoß und sah Thea erwartungsvoll an. „Also, Mylady, welche hat Ihnen am besten gefallen?“

Soeben hatten die drei Frauen, die zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden waren, das Zimmer verlassen.

„Alle drei haben ihre Vorzüge“, antwortete Thea zögerlich. Es war ihr wichtig, eine vertrauenswürdige und zuverlässige Person einzustellen. Leider waren ihr nach der Unterredung mit Develin so viele andere Dinge durch den Kopf gegangen, dass sie den Bewerberinnen nicht ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Das Verhalten ihres Mannes verwirrte sie. Nach einer wundervollen Hochzeitsnacht schien er die Heirat zu bedauern, gönnte ihr aber dennoch ohne zu murren eine neue Garderobe. Auch ihr Umgang mit der Duchess schien ihn nicht zu verärgern. Sie hatte sogar zwischenzeitlich den Eindruck gewonnen, er wäre stolz, weil sie sich von der älteren Frau nicht hatte einschüchtern lassen.

„Daphne Morris hat fraglos die besten Referenzen“, bemerkte Mrs. Wessex, womit sie Thea aus ihren Gedanken riss.

Das muss diese schüchterne Dunkelhaarige gewesen sein, dachte Thea und krauste die Stirn. Im Blick der jungen Frau, in der Art und Weise, wie sie sich im Zimmer umgesehen hatte, hatte etwas Lauerndes gelegen, das ihr nicht geheuer war. „Sie hat nicht erzählt, weshalb sie ihre Anstellung bei Lady Chelmsford aufgegeben hat.“

„Nein, das stimmt“, pflichtete ihr Mrs. Wessex bei. „Was ist mit Marianne Abbots? Sie war die Zofe von Lady MacTundle.“ Sie lächelte. „Ich denke, in diesem Fall gibt es kein Geheimnis, weshalb sie den Haushalt verlassen hat. Das Anwesen liegt im äußersten Norden Schottlands, und Lady MacTundle pflegt ihren Aufenthaltsort nie zu wechseln. Miss Abbots möchte also vermutlich in einer etwas wärmeren Region arbeiten.“

Auch wenn Thea diese Sehnsucht nachvollziehen konnte, war ihr Miss Abbots zu verdrießlich vorgekommen. Sie zur Zofe zu haben würde dem Leben unter einer ewigen Regenwolke gleichen.

„Wie war doch gleich der Name der jungen Frau mit dem dunkelgrünen Kleid?“, fragte sie.

Diese Frau hatte Theas festem Blick standgehalten, und ihre unverhüllten Hände zeugten von harter Arbeit.

„Alice Cartwright“, antwortete Mrs. Wessex mit gerunzelter Stirn. „Ich denke nicht, dass sie sich für die Stelle eignet.“ Sie strich mit den Fingern über Alice Cartwrights Bewerbungsbrief, nahm ihn jedoch nicht in die Hand. „Sie war die Zofe einer Fabrikantengattin, die mit ihrem Mann nach Amerika gegangen ist. Sie wurde im Armenhaus geboren, wurde zur Waise und besuchte eine Armenschule. Nein, sie ist gänzlich ungeeignet“, beendete die Haushälterin ihre Einschätzung mit Entschiedenheit.

„Haben Sie etwas gegen Schulen für Arme?“, fragte Thea.

Mit sichtlichem Unbehagen veränderte Mrs. Wessex ihre Position auf dem Stuhl. „Einige sind besser als andere“, räumte sie ein. „Die Armenschulen, die Sir Develin unterstützt, sind ohne Frage vorbildlich, aber sie stellen eher die Ausnahme dar.“

Dass sich ihr Gatte für die Bildung von Armen einsetzte, war für Thea eine erfreuliche Neuigkeit. Bei den Erkundigungen, die sie über Sir Develin angestellt hatte, waren ihr keine Berichte über seine Wohltätigkeit zu Ohren gekommen. Umso sympathischer, wenn es ihm nicht darum ging, für seine Hilfe Aufmerksamkeit und Lob zu ernten.

„Aber von dieser Schule habe ich nie etwas gehört“, sagte Mrs. Wessex und klopfte mit den Fingern auf Alice Cartwrights Schreiben. „Wer kann schon sagen, was sie dort für eine Ausbildung genossen hat?“

„Ich denke, ihr Wunsch, etwas aus sich und ihrem Leben zu machen, spricht für sie. Ich werde ihr eine Chance geben. Falls sie sich als unzulänglich erweist, können wir erneut inserieren. Ich möchte, dass Sie ihr sofort schreiben und ihr die Stelle anbieten.“

„Ganz wie Sie wünschen, Mylady“, meinte Mrs. Wessex widerwillig.

„Ja, ganz wie ich es wünsche“, entgegnete Thea mit Nachdruck.

Als Dev am nächsten Morgen von seinem Ausritt zurückkehrte, wartete Jackson schon wieder auf ihn.

„Was gibt es, Jackson?“

„Mr. Bessborough ist hier und möchte Sie so schnell wie möglich sprechen, Sir.“

Er hatte damit gerechnet, dass Roger mit einem Brief auf sein Schreiben antworten würde – dass er deswegen persönlich anreiste, überraschte ihn. Er reichte dem Butler Hut und Handschuhe. „Wo ist er? Im Arbeitszimmer?“

„Ja, Sir Develin.“

„Hat er schon gegessen?“

„Ja, Sir.“

„Gut.“ Bevor er zum Arbeitszimmer ging, drehte er sich noch einmal um. „Wo ist Lady Dundrake?“

„Ich glaube, sie ist noch auf ihrem Zimmer, Sir.“

„Ah.“ Vielleicht war es besser, wenn Roger und Thea sich nicht begegneten – zumindest noch nicht. „Mr. Bessborough und ich möchten nicht gestört werden, Jackson, von niemandem“, sagte er mit Bestimmtheit.

Als Dev wenige Augenblicke später das Arbeitszimmer betrat, erhob sich der breitschultrige Anwalt von einem Sessel neben dem Kamin. Die dunklen Brauen zusammengekniffen blickte Roger ihn ebenso ernst und grimmig an wie der verstorbene Baronet. Auch sonst waren die Ähnlichkeiten unverkennbar. Es bestand nur ein deutlicher Unterschied – die Augen des Anwalts waren von einem strahlenden Hellblau.

Roger war tadellos gekleidet und trug das gelockte schwarze Haar sorgfältig nach hinten gebürstet. Er war nicht unbedingt gut aussehend, doch seine kantigen, wie aus Granit gemeißelten Züge verliehen ihm etwas Beeindruckendes.

„Hattest du eine gute Reise?“, erkundigte sich Dev, ohne sich seine Anspannung anmerken zu lassen.

„Ereignislos“, antwortete Roger und achtete nicht auf Devs gestische Aufforderung, sich wieder hinzusetzen. „Ich kam so rasch ich konnte, nachdem ich deinen Brief erhalten hatte.“ Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich. „Du hättest mir vorher ankündigen sollen, dass du über eine Heirat nachdenkst.“

„Dazu war keine Zeit.“

„Musstest du die Frau etwa heiraten?“

Dev wurde klar, worauf Roger hinauswollte. „Sie erwartet kein Kind.“

„Und warum war dann diese Eile nötig?“

Dev schwitzte wie ein Pferd nach einem langen Rennen. „Nötig?“ Er hatte es damit nicht so eilig gehabt wie Thea. „Ich war es leid, bei jedem Ball, jedem Fest oder jeder sonstigen Veranstaltung von einer Horde heiratswütiger junger Damen und deren Müttern verfolgt zu werden.“

„Ja, ich kann verstehen, dass so etwas zur Belastung werden kann“, erwiderte Roger trocken. „Außerdem benötigst du einen Erben.“

Dev nickte. „Genau.“

„Da du den Namen deiner Braut nie zuvor erwähnt hast, nehme ich an, dass du sie erst kürzlich kennengelernt hast.“

„Ja, das stimmt.“

„Wie bist du ihr begegnet?“

„Ich habe mit ihrem Vater Karten gespielt.“

Roger kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Und er hat euch miteinander bekannt gemacht?“

Dev hatte plötzlich das Gefühl, dass sein Krawattentuch zu eng gebunden war. „Ich bin ihr begegnet, nachdem ihr Vater das Land verlassen hatte.“

„Wer hat sie dir vorgestellt?“

„Sie hat sich mir selbst vorgestellt.“

Roger sah ihn entsetzt an. „Sie hat sich selbst vorgestellt? Wo?“

„Hier.“

„Im Dorf, meinst du?“

Dev räusperte sich. „Nein, hier in Dundrake Hall. Wir haben kurz danach geheiratet.“ Es schien ihm unnötig zu erwähnen, dass sie schon am nächsten Tag nach Gretna Green gereist waren. „Was spielen die Umstände für eine Rolle?“

„Vielleicht spielen sie keine. Ich nehme an, dass einige deiner Freunde sie oder ihre Familie kennen.“

„Das bezweifle ich. Sie ist in Irland aufgewachsen. Ihr Vater steht jedoch im Adelsregister. Ich habe nachgesehen.“

„Und wer hat dir das erzählt?“

„Sie hat es mir erzählt“, gab Dev zurück, der sich immer mehr in die Defensive gedrängt sah. Schließlich wollte er von Roger erfahren, ob die Ehe annulliert werden konnte und nicht …

„Bist du ganz sicher, dass diese Frau wirklich diejenige ist, die sie vorgibt zu sein?“

Dev starrte ihn erstaunt an. „Wie bitte?“

„Wie kannst du dir sicher sein, dass sie Lady Theodora Markham ist, wenn du sie nicht über gemeinsame Bekannte kennengelernt hast?“, wiederholte Roger seine Frage mit anderen Worten. „Existiert diese Lady Theodora überhaupt? Ich habe ebenfalls im Adelsregister nachgeschlagen. Sir John und seine Frau werden genannt, doch Kinder finden keine Erwähnung. Ich habe mich auch im Kollegenkreis umgehört, und nur einer hatte von einem Sir John Markham gehört. Diesem Sir John drohte das Schuldgefängnis, weil er einige Pfund für eine Unterkunft schuldig geblieben war.“

Dev wurde es ganz übel. „Es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie eine Betrügerin sein könnte“, räumte er ein. „Aber warum sollte sie ausgerechnet behaupten, dass sie Sir John Markhams Tochter ist, wenn es nicht stimmt? Damit kann sie doch gar nichts gewinnen. Der Mann ist ein Spieler und völlig verarmt.“

„Sie hat dich gewonnen, oder nicht?“

Dev griff nach der nächsten Stuhllehne und setzte sich. „Du liebe Güte.“

„Es tut mir leid, wenn ich dich verunsichert habe“, sagte Roger mitfühlend. „Aber du bist ein sehr reicher Mann, hast ein gutes Herz und bist großzügig. Keiner weiß besser als ich, was für eine lieblose Kindheit und Jugend du hinter dir hast. Aber wenn niemand bestätigt, dass sie Sir John Markhams Tochter ist, kann sie wer weiß wer sein. Du musst an deine gesellschaftliche Stellung und an deine Zukunft denken. Nicht dass im Laufe der Zeit eine geschmacklose Geschichte zutage tritt.“

„Was schlägst du vor? Was können wir tun?“

„Sollte sich herausstellen, dass ihre Identität frei erfunden ist, dürfte eine Annullierung der Ehe ein Leichtes sein.“

„Und wenn sie tatsächlich Sir John Markhams Tochter ist?“, fragte Dev.

Rogers dunkle Brauen senkten sich bis an die Wurzel seiner Adlernase. „Was meinst du damit?“

„Dann könnte ich mir doch immer noch eine Annullierung wünschen.“

Der Anwalt blickte ihn verwundert an.

„Ich glaube allmählich, dass ich zu voreilig geheiratet habe“, gab Dev zu.

„Und jetzt hast du es dir anders überlegt?“

Dev nickte und errötete, als Roger ihn tadelnd anblickte. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass es ihr schlecht ergeht. Ich werde sicherstellen, dass sie niemals in Armut leben muss. Außerdem ist sie eine sehr kluge und einfallsreiche junge Frau. Bestimmt wird sie einen anderen …“

Das Wort Ehemann blieb ihm im Halse stecken. Der Gedanke, dass ein anderer Mann mit Thea das Bett teilen könnte, erfüllte ihn mit einer Eifersucht, die einem Messerstich ins Herz glich.

„Gibt es andere Beweggründe für eine Annullierung?“, hakte Roger nach.

„Das wollte ich eigentlich von dir wissen“, antwortete Dev, bemüht, sich auf den rechtlichen Aspekt der Angelegenheit zu konzentrieren.

„Hast du mit ihr die Ehe vollzogen?“

Intensive Bilder kamen ihm in den Sinn: Er mit Thea in den Armen, ihr Körper mit dem seinen vereint, ihre leisen verzückten Schreie, die in der Dunkelheit widerhallten. „Ja.“ Oh ja.

„Dann kommt eine Annullierung fast nur noch infrage, wenn sie sich als Betrügerin erweist“, sagte Roger. Den Kopf leicht zur Seite gelegt musterte er Dev. „Du könntest eine Scheidung beantragen.“

Eine Scheidung? „Auf welcher Grundlage?“

„Wenn du dich wirklich trennen möchtest, lässt sich gewiss etwas Geeignetes finden“, entgegnete Roger mit missbilligendem Unterton.

Dev hatte damit gerechnet, dass es einen Skandal geben würde, wenn er seine spontan geschlossene Ehe beendete. Doch dass er Gefahr lief, damit auch Rogers Respekt zu verlieren, war ihm bis dahin nicht in den Sinn gekommen. „Ich möchte nicht, dass der Familienname durch solche Geschichten in den Schmutz gezogen wird“, sagte er leise.

Roger blickte Dev wie einen Mann an, der sich an einer wehrlosen Frau schadlos hielt. „Du musst deine Gründe gehabt haben, weshalb du sie geheiratet hast“, stellte er frostig fest. „Oder konntest du sie nur auf diese Weise verführen?“

„So ist es nicht gewesen“, verteidigte sich Dev vehement. „Ich würde eine Frau nie anlügen, um mit ihr das Bett zu teilen, und ganz gewiss würde ich dafür keine Ehe eingehen.“

„Und warum in aller Welt hast du diese Frau dann so überstürzt geheiratet?“

Es half nichts. Er musste Roger die Wahrheit erzählen.

Er berichtete ihm ausführlich von dem Abend mit Sir John in der Spielhölle, erwähnte jedoch nicht, dass er zu guter Letzt mit gezinkten Karten gespielt hatte, um den besessenen Spieler zum Aufgeben zu zwingen.

Als er schließlich erzählt hatte, mit welchem Vorschlag Thea bei ihm aufgetaucht war, sah ihn Roger ungläubig an.

„Exakt in diese Worte hat sie ihren Antrag gekleidet. Ich sollte also eine Frau bekommen, die mir den Haushalt führt und einen Erben zur Welt bringt. Gleichzeitig versprach sie, mir ohne jeden Vorwurf alle Freiheiten zu lassen, die ich als Junggeselle genossen habe.“

Roger stand auf, ging zum Kamin und starrte eine gefühlte Ewigkeit auf den Kaminrost. Dann drehte er sich wieder zu Dev um. „Das waren also deine Gründe für die Heirat?“, fragte er mit tiefer und bedrohlicher Stimme.

„Nein, das ist nicht alles. Ihre Entschlossenheit und ihre Bestimmtheit haben mir imponiert“, antwortete Dev wahrheitsgemäß.

„War das alles?“, bohrte Roger im selben Tonfall nach.

„Nein, ich fand … finde … sie durchaus attraktiv. Und sie kann sehr leidenschaftlich sein.“

„Ich verstehe.“

Dev fragte sich, ob ein Mann wie Roger – stoisch, kalt, pragmatisch bis zum Äußersten – wirklich nachvollziehen konnte, wie er sich gefühlt hatte, und welche Empfindungen ihn zu dem Entschluss getrieben hatten. Verlangen hatte dabei eine Rolle gespielt, aber auch die Suche nach echter Zuneigung.

Doch bei einer Heirat mussten leider mehr Aspekte in Betracht gezogen werden als gegenseitige Anziehungskraft. „Leider erweist sie sich als ungeeignet, wenn es darum geht, Dundrake Hall nach außen zu repräsentieren. Schon jetzt erschwert sie mir den gesellschaftlichen Umgang mit wichtigen Bekannten.“

„Hast du ihr schon mitgeteilt, dass du die Heirat bedauerst?“

Dev verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich habe es nicht ausdrücklich zur Sprache gebracht, aber vermutlich ahnt sie es längst.“

Roger blickte ihn stirnrunzelnd an. „Wenn sie wirklich Sir John Markhams Tochter ist, gibt es keinen echten Grund für eine Annullierung. Du bist einen Vertrag mit ihr eingegangen, deren Bedingungen sie bisher nicht verletzt hat. Sollte sie jedoch eine Betrügerin sein, wird es nicht schwer sein, die Eheschließung für ungültig zu erklären. Bevor ich Genaueres in Erfahrung gebracht habe, solltest du sie weder spüren lassen, dass du ihr nicht traust, noch dass du die Ehe beenden möchtest.“

„Dann soll ich also bis auf Weiteres so tun, als ob alles in bester Ordnung wäre?“, fragte Dev nach.

„Nun, vielleicht nicht in jeder Hinsicht. Das könnte ihr nur nützen.“ Wieder legte er die Stirn in Falten. „Vorausgesetzt, dass du dich zurückhalten kannst.“

„Das kann ich“, beteuerte Dev.

„Möglicherweise fällt es dir leichter, wenn du die nächsten Wochen ohne sie in London verbringst.“

„Das würde sie bestimmt argwöhnisch machen. Ich bleibe besser hier.“

Roger nickte. „Hat sie dich je um Geld gebeten?“

„Nein, nicht direkt.“

„Und ihr Vater?“

„Nein, wie auch? Er befindet sich auf einem Schiff nach Halifax.“

„Falls ihre Angaben stimmen. Von welchem Hafen soll er aufgebrochen sein?“

Dev strich sich mit einer Hand durch das dunkle Haar. „Ich weiß es nicht. Sie nannte mir nur das Ziel seiner Reise.“

„Dann wird es höchstwahrscheinlich Liverpool sein. Ich werde meine Leute aber auch zu anderen Häfen schicken. Aus welcher Gegend Irlands kommt sie?“

„Sie sprach, glaube ich, von Dublin.“

„Bitte stell ihr hin und wieder Fragen über ihre Familie, und wo sie gelebt hat. Schreib mir, wenn du etwas Neues erfährst. Jedes Detail kann uns dabei helfen, herauszufinden, ob sie die Wahrheit spricht.“

Dev nickte zustimmend. „Du bleibst doch über Nacht?“

„Ich denke, es ist besser, wenn ich verschwinde, bevor ich deiner Frau begegne. Falls sie eine Betrügerin ist, ist sie darin vermutlich besonders geschickt. Ein Zusammentreffen würde nur mein Urteilsvermögen trüben.“

Wieder nickte Dev und erhob keinen Widerspruch. Möglicherweise war sein Urteilsvermögen längst getrübt.

7. KAPITEL

Ein paar Tage später saß Thea vor ihrem Ankleidetisch und starrte in den Spiegel, während Alice Cartwright ihr das Haar frisierte. Die junge Frau war sofort gekommen, nachdem ihr Mrs. Wessex die Stelle angeboten hatte. Von Anfang an bewies die neue Zofe, dass sie ihre Aufgaben und Pflichten so gewissenhaft und gründlich wie möglich erfüllen wollte. Die schadhaften Stellen an Theas alter Kleidung nähte sie mit so winzigen Stichen, dass die Reparaturen praktisch unsichtbar waren. Auch beim Reinigen von Stoffen erwies sie sich als sehr geübt. Selbst Mrs. Wessex zeigte sich beeindruckt, nachdem Alice ihr geholfen hatte, mit Milch einen Tintenfleck zu entfernen.

Leider führte Alice Cartwrights Tüchtigkeit aber auch dazu, dass Thea mehr Zeit hatte, um über ihren Ehemann und dessen schwankende Stimmungen nachzudenken.

Sie wusste nie, wie Dev reagieren würde, wenn sie etwas sagte oder tat – ob er sich abweisend und schweigsam verhielt wie nach ihrer Hochzeit oder sich wie jüngst charmant und leutselig gab. Er hatte sie nach ihrer Kindheit gefragt, und sie hatte ihm von ihrer Zeit in Irland berichtet. Als sie ihm von der zunehmenden Verarmung ihrer Familie und vom Tod der Mutter erzählte, hatte er mitfühlend ihre Hände ergriffen. Er selbst sprach nie über seine Eltern und erwähnte nur ein paar Freunde und Bekannte.

Auch wenn er sich in den letzten Tagen freundlich verhalten hatte, kam er abends nie in ihr Schlafzimmer. Stets wartete sie vergeblich auf ihn.

„Sie haben wundervoll kräftiges Haar, wenn Sie erlauben, dass ich das anmerke“, sagte Alice, womit sie Thea aus ihren Gedanken riss. Gerade steckte die Zofe die letzte Haarnadel an die richtige Stelle.

Thea schenkte der Frau mit dem gepflegten rötlichen Haar ein Lächeln. „Vielen Dank, aber Ihre Haare wirken sogar noch kräftiger.“

„Meine Haare sind ein Ärgernis, Mylady“, klagte die Zofe und verzog das Gesicht. „Wenn ich sie nicht jeden Tag hundert Mal bürste, habe ich ein Rattennest auf dem Kopf. Das hat mir in der Schule ganz schön Ärger bereitet, weil ich damals keine Bürste hatte.“

„War es sehr schlimm für Sie auf dieser Schule?“

„Oh nein, es war nicht so arg, Mylady“, antwortete Alice. „Immerhin haben wir etwas zu essen bekommen.“

Thea konnte sich vorstellen, was man den Kindern gegeben hatte: wässrige Schleimsuppe und altbackenes Brot. Umso eindrucksvoller erschien ihr die fröhliche Art der jungen Frau.

Ein Lakai klopfte an, und Alice öffnete ihm. Auf einem silbernen Tablett reichte er Thea eine weiße Besucherkarte. Seit dem verhängnisvollen Tag, an dem Thea der Duchess und ihrer Tochter im Dorf begegnet war, fürchtete sie sich vor einem Besuch der beiden. Mit ernster Miene ergriff Thea die Karte und erkannte erleichtert, dass es sich um Lady Gladys’ Visitenkarte handelte.

Erfreut stand sie auf und wandte sich an den wartenden Lakaien. „Bitte führen Sie Lady Gladys in das Morgenzimmer. Ich bin gleich bei ihr.“

„Jawohl, Mylady“, entgegnete der junge Mann, bevor er das Zimmer verließ.

Thea warf noch einen Blick in den großen Standspiegel. In dem neuen hellblauen Kleid mit den hübschen Biesen und mit ihrem modisch frisierten Haar fühlte sie sich nicht mehr wie ein Aschenbrödel.

„Bitte geben Sie in der Küche Bescheid, damit Tee und Gebäck in das Morgenzimmer gebracht werden“, forderte sie die Zofe auf, die bereits den Ankleidetisch aufräumte.

„Jawohl, Mylady“, antwortete Alice, bevor Thea das Zimmer verließ und die Treppe hinuntereilte.

Vergeblich hielt sie im Vestibül nach ihrem Mann Ausschau. Leider deutete nichts darauf hin, dass er an diesem sonnigen Tag schon von seinem Ausritt zurückgekehrt war. Immer wenn sie ihn vormittags plötzlich in seiner maßgeschneiderten Reitkleidung und vom Wind zerzaustem Haar erblickte, machte ihr Herz einen Sprung.

Als Thea das Morgenzimmer betrat, erhob sich Gladys rasch von einem der Sessel neben den französischen Fenstern, die auf die Terrasse führten. Ihr cremefarbener Hut passte hervorragend zu der hübschen Seidenpelisse und ihrem hellen Batistkleid.

„Guten Morgen!“, begrüßte Gladys sie freudig, während sie auf Thea zueilte und beinahe einen kleinen Tisch aus Ebenholz umstieß. Glücklicherweise fing sie das Möbelstück noch rechtzeitig auf, bevor sie die Begrüßung fortsetzte, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen wäre. „Ich hoffe, dass ich Sie nicht zu früh besuche, aber heute ist so herrliches Wetter – einfach perfekt für einen längeren Spaziergang. Und da dachte ich mir, ich komme einfach zu Besuch bei Ihnen vorbei.“

Thea lächelte sie freundlich an und bat sie, auf dem nahen Sofa Platz zu nehmen, das mit grünem Brokat bezogen war. „Ich freue mich sehr, Sie zu sehen“, sagte sie und setzte sich neben Gladys auf das Sofa.

„Gehen Sie auch so gern durch die frische Luft? Es gibt für mich kaum etwas Belebenderes als einen zügigen Marsch zu Fuß.“ Gladys senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. „Außer einem kurzen Sprung in den Fischteich an einem heißen Tag.“

Obgleich Thea eine lebhafte Fantasie hatte, konnte sie sich das kaum vorstellen. „Haben Sie keine Angst, dabei beobachtet zu werden?“, fragte sie. „Oder sich eine Erkältung zu holen?“

„Der Fischteich liegt ziemlich abgeschieden, und ich werde ohnehin nie krank“, entgegnete Gladys, als Ella gerade Tee und Kuchen brachte.

Während das Dienstmädchen das Tablett auf dem Sofatisch abstellte, setzte Gladys das Gespräch fort, als ob sie noch immer allein im Zimmer wären. Anders als Thea schien die Besucherin an die Gegenwart von Bediensteten gewöhnt zu sein und achtete gar nicht mehr auf sie.

Thea schenkte Tee ein, und Ella zog sich leise zurück.

„Ich war schon immer die Gesundheit in Person“, erläuterte Gladys und nippte an ihrem Tee. Mit einem Mal runzelte sie die Stirn und blinzelte Thea durch die Brillengläser an. „Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich das einfach so sage, aber Sie wirken heute sehr blass.“

„Ich bin nur müde, sonst nichts“, meinte Thea. Das war nicht verwunderlich, da sie abends stundenlang wach lag und vergeblich auf ihren Ehemann wartete.

„Ah!“, sagte Gladys mit einem Lächeln, dessen Bedeutung Thea leicht erraten konnte.

„Soweit ich weiß, bin ich nicht guter Hoffnung.“

Gladys errötete und stellte die Teetasse auf der Untertasse ab. „Bitte entschuldigen Sie! Ich ziehe immer viel zu voreilig meine Schlüsse. Obgleich es mich natürlich nicht wundern würde, wenn Sie … Ich meine, mit einem solchen Ehemann …“

„Da stimme ich Ihnen zu“, eilte Thea der puterrot angelaufenen Gladys zu Hilfe. Dann wechselte sie das Thema. „Ist die Spitze für Ihr Kleid inzwischen angekommen?“

„Ja, in der Tat! Der arme Papa ist fast in Ohnmacht gefallen, als er die Rechnung gesehen hat. Aber Mama hat wie immer nur gelächelt. Sie hofft, dass ich einen Ehemann finde, wenn ich nur hübsch genug herausgeputzt bin.“ Gladys lächelte in ihrer offenherzigen Art. „Die arme Mama! Ich werde nie einen Mann heiraten, dem meine Kleidung und mein Vermögen wichtiger sind als meine Gefühle.“

„Nicht alle Frauen haben diese Wahl“, wagte Thea anzumerken.

Gladys wurde erneut rot. „Oje, ich wollte niemanden verletzen.“

Sofort bedauerte Thea ihre Worte und beeilte sich, der Besucherin aus der Verlegenheit zu helfen. „Ich fühle mich ganz und gar nicht verletzt. Ihre Entschlossenheit, die Liebe an die erste Stelle zu setzen, kann ich nur gutheißen.“

„Ja, also, ich denke, die Gefühle sind doch das Wichtigste, oder nicht?“

„Da haben Sie recht“, stimmte Thea zu, auch wenn es nicht jedem vergönnt war, aus Liebe zu heiraten.

Gladys seufzte und trank erneut einen Schluck Tee. „In diesem Haus hätte ich besser kein Wort über unglückliche Ehen verlieren sollen, nach dem, was zwischen Develins Eltern passiert ist. Wahrscheinlich wird mich der verstorbene Baronet als Geist heimsuchen.“

„Offen gestanden weiß ich kaum etwas über die Eltern meines Mannes“, gestand Thea. „Er redet nie über sie.“

Gladys legte die Stirn in Falten und schob die Brille nach oben. „Vielleicht hätte ich besser auch nichts dazu sagen sollen.“

„Ich wünschte, Sie würden mir mehr erzählen. Es würde mir helfen, ihn besser zu verstehen und ihm eine gute Ehefrau zu sein“, erwiderte Thea wahrheitsgemäß.

Wenn es ihr schon nicht gelang, die Liebe ihres Gatten zu gewinnen, strebte sie wenigstens ein freundliches Miteinander und gegenseitige Rücksichtnahme an.

„Wenn Sie es so sehen, kann es vermutlich nichts schaden. Schließlich wissen es hier in der Gegend ohnehin alle. Develins Mutter war das einzige Kind eines sehr reichen Kaufmanns. Ich habe gehört, dass ihre Mitgift fast fünfzigtausend Pfund betragen hat. Sir Randolf – Develins Vater – wollte dieses Geld unbedingt haben, und ihr Vater wiederum wollte, dass sie Sir Randolf wegen des Titels heiratete.“

„Hat man sie etwa zu dieser Ehe gezwungen?“, fragte Thea, die sich eine verzweifelte junge Frau vorstellte, die geschlagen und in ihrem Zimmer eingesperrt wurde, bis sie nachgab.

„Nein, überhaupt nicht. Mutter behauptet, sie sei damals überglücklich gewesen, zumal Sir Randolf auch gut ausgesehen hat. Bedauerlicherweise war das Glück nicht von langer Dauer. Er war zwar ein Mann mit kultiviertem Geschmack, aber er verhielt sich ihr gegenüber gar nicht liebenswürdig, insbesondere, als sie ihm nach Develin keine weiteren Kinder mehr schenkte. Mutter sagt, dass Develins Geburt eine Tortur war und die arme Frau beinahe dabei gestorben ist. Dem Baronet schien das gleichgültig zu sein. Mutter hat ihn reden hören, dass er einen Sohn als Erben, einen für die Armee und einen für die Kirche brauche, um in allen Bereichen seinen Einfluss geltend zu machen.“ Gladys senkte erneut die Stimme. „Er war ein sehr unangenehmer Mensch. Daher hat es mich nicht gewundert, als Develin einmal äußerte, er wolle keine Kinder haben. Ebenso wenig hat es mich überrascht, dass Develin sich jahrelang von hier ferngehalten hat …“

„Guten Morgen! Du musst dich heute aber schon in aller Frühe auf den Weg gemacht haben, Gladys.“

Als ob sie beim Plündern der Vorratskammer erwischt worden wären, drehten sich die beiden Frauen erschrocken zur Tür um. Develin stand in seiner Reitkleidung im Türrahmen.

Wie lange stand er schon dort? Hatte er gehört, worüber sie gesprochen hatten? Wenn dies der Fall war, ließ er sich zumindest nichts anmerken. Er legte die Reitgerte auf einen kleinen Tisch und lächelte.

Gladys war rot im Gesicht und erhob sich unter lautem Stoffrascheln. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen, Mylady. Ich denke, es wird Zeit für mich, zu gehen.“

„Es gibt keinen Grund zur Eile“, widersprach Thea.

„Ich bitte dich, Gladys, bleib doch“, pflichtete Develin seiner Frau bei und kam näher. „Wir bekommen so wenig Besuch.“

Thea warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. Was wollte er damit sagen?

„Oh, aber ich muss aufbrechen. Ich habe noch eine Menge zu erledigen“, beteuerte Gladys. „Vor allem muss ich wegen eines weiteren Kleides zu Mrs. Lemmuel. Mutter besteht darauf, dass ich für die Dinnerparty der Duchess ein neues bekomme.“

Offenkundig sind wir nicht eingeladen worden, dachte Thea bestürzt. Sie warf einen Blick auf Develin, der weder überrascht noch brüskiert wirkte. Doch ganz gleich, was ihr Gatte dachte, sie machte sich Vorwürfe, weil sie sich nicht diplomatischer gegen die Unhöflichkeit der Duchess gewehrt hatte.

„Sie brauchen mich nicht zur Tür zu begleiten, Lady Theodora. Ich kenne den Weg.“ Gladys schritt zielstrebig auf die Tür zu. Dabei stolperte sie gegen einen anderen kleinen Tisch, bückte sich, um ihn aufzurichten und stieß dabei mit dem Ellbogen gegen einen Stuhl, der krachend zu Boden fiel. „Oje! Ich bitte vielmals um Verzeihung!“

„Es ist gar nichts passiert“, versuchte Thea sie zu beruhigen.

„Alles ist heil geblieben“, ergänzte Dev und stellte den Stuhl wieder auf die Beine.

„Ja, nun also, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Lady Theodora, und dir natürlich auch, Dev“, murmelte die junge Frau rasch und verschwand durch die Tür.

„Als jemand das Sprichwort vom Elefanten im Porzellanladen prägte, hatte er vermutlich Gladys vor Augen“, bemerkte Dev trocken, als die Besucherin gegangen war.

„Ich denke, dass sie sich nur so ungeschickt anstellt, wenn sie verunsichert ist“, sagte Thea.

„Was leider häufig der Fall ist“, pflichtete ihr Gatte Thea bei. „Aber sie hat ein gutes Herz“, fuhr er fort und stellte sich neben das Sofa. „Außerdem kann sie so gut reiten wie jeder Mann und ist schnell wie der Wind.“

Devs überschwängliches Lob für Gladys überraschte Thea. Sie hatte nicht gedacht, dass die unbeholfene junge Frau athletische Talente besaß. Doch wenn Thea an die langen Beine der neuen Bekannten dachte, war es vielleicht nicht verwunderlich, dass sie eine gute Läuferin war.

Im Augenblick wollte sie mit ihrem Mann allerdings nicht über Gladys reden. Andere Dinge beschäftigten sie viel mehr. „Bist du verärgert, weil wir nicht zur Dinnerparty der Duchess eingeladen wurden?“

Zu ihrem Erstaunen schien ihn die Frage in Verlegenheit zu bringen.

„Wir sind eingeladen worden“, entgegnete er und blickte ihr endlich in die Augen. „Der Duke hat uns persönlich eingeladen, kurz nachdem wir aus Gretna Green zurück waren.“

„Warum hast du mir das nicht erzählt?“, fragte sie aufgebracht, bevor ihr die Antwort selbst in den Sinn kam. Weil er nicht hingehen möchte, weil er sich deiner schämt, weil du dich der Duchess gegenüber anmaßend verhalten hast …

„Ich nahm an, dass die Duchess die Einladung nach eurer Begegnung zurückziehen würde“, antwortete er und bestätigte damit ihre Vermutung.

„Das hat sie nicht getan?“

„Nein, bisher nicht.“

„Rechnest du damit, dass sie uns jetzt noch auslädt?“

Er strich sich mit einer Hand durch das dunkle Haar. „Vielleicht. Jedenfalls sollten wir besser abwarten, ob sie uns noch die offizielle Einladung schickt. Es ist jedenfalls sehr ungewöhnlich, dass wir kein Schreiben erhalten haben.“

Sie seufzte. „Ich schätze, dass wir bald mehr Besucher haben werden“, sagte sie vorsichtig. „Du erzählst mir doch, wenn du jemanden einlädst, oder?“

„Natürlich.“

„Auch wenn es sich um einen Geschäftspartner wie deinen Anwalt aus London handelt? Jackson erwähnte, dass er hier war.“

Devs Brauen zogen sich zusammen, und er wirkte alarmiert. „Falls es einen Grund für eine Begegnung mit Mr. Bessborough geben sollte, werde ich ihn dir vorstellen.“

Sie nickte. Ihr war nicht entgangen, dass er den Besuch des Anwalts lieber vor ihr geheim gehalten hätte.

„Ich habe ihn von unserer Heirat in Kenntnis gesetzt, und er kam zu mir, um die Details zu besprechen. Schließlich hat eine Eheschließung auch rechtliche Konsequenzen.“

„Sicherlich ist ein neues Testament vonnöten, in dem Vorkehrungen für die Kinder getroffen werden“, meinte sie eifrig.

Die Falten auf Devs Stirn vertieften sich.

„Du hast doch gesagt, dass du Kinder haben möchtest, bevor du auf meinen Vorschlag eingegangen bist.“ Sie stand jetzt direkt vor ihm und bemühte sich, nicht an ihren ersten Kuss zu denken.

„Ja, unbedingt“, bestätigte er und blickte sie verwegen an.

„Wir müssen schon gelegentlich das Bett miteinander teilen, wenn wir welche haben wollen“, flüsterte sie.

„Das ist mir bewusst. Sehr bewusst“, murmelte er, und sie sah ein Verlangen in seinen Augen aufblitzen, das dem ihren entsprach.

Sie strich ihm mit einer Hand über den linken Arm. „Unsere Hochzeitsnacht war doch schön, oder nicht?“

Er nickte.

„Seitdem habe ich jede Nacht auf dich gewartet.“

Er schwieg, doch der sehnsüchtige Blick blieb.

„Willst du mich nicht, Develin? Begehrst du mich nicht?“

Er antwortete nicht mit Worten.

8. KAPITEL

Dev schloss Thea in die Arme und zog sie fest an sich, um sie zu küssen. Dies war kein zaghafter Hochzeitskuss, sondern eine hitzige Umarmung – wild und ungestüm, als ob er plötzlich alle Zurückhaltung abgelegt hätte.

Doch so leidenschaftlich er auch war, Thea war es, die den Kuss vertiefte, die Zunge zwischen seine Lippen gleiten ließ und sich an ihn schmiegte, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe, als mit ihm zusammen zu sein.

Wo sie sich gerade befanden und welche Tageszeit herrschte, war ihr vollkommen gleichgültig. Es war einfach viel zu lange her, dass sie in seinen Armen gelegen hatte. Zu viele einsame Tage und Nächte waren vergangen, in denen sie sich die qualvolle Frage gestellt hatte, ob er sie noch wollte.

Und jetzt war er bei ihr, und es bestand kein Zweifel daran, dass er sie begehrte.

Er zog sie zu einem nahen Sessel und auf seinen Schoß. Er hörte nicht auf, sie zu küssen, während er ihre Röcke und Unterröcke nach oben schob und begierig die zarte Haut ihrer Oberschenkel liebkoste. Sie versuchte, sein Krawattentuch zu lösen und hätte es ihm am liebsten vom Hals gerissen. Er ließ eine Hand unter ihr Mieder gleiten, um ihre Brüste zu streicheln, während er die Hemdknöpfe öffnete und ihre rechte Hand durch die Öffnung steckte, damit sie seine Brust erkundete. Sie spürte seine Erregung durch die Kleidung, als sie ihre Position veränderte. Sie sehnte sich danach, ihn in sich willkommen zu heißen.

Sie unterbrach den Kuss, um seine Breeches zu öffnen. Sie hörte sein heiseres Atmen, während er sehnsüchtig ihre Brüste umfasste. Sie befreite ihn von den Breeches, er zog sie wieder auf seine Knie, spreizte ihr die Schenkel und drang in sie ein. Keuchend hielt er sie an der Taille fest und küsste ihre Brüste.

Während sie sich von seinem Rhythmus mitreißen ließ und es genoss, ihn ganz tief in sich zu spüren, saugte er an ihren harten Brustwarzen, bis er schließlich den Kopf nach hinten warf und erlöst stöhnte. Einen Augenblick später kam sie mit einem verzückten Aufschrei zum Höhepunkt.

Nach Atem ringend legte sie ihm den Kopf auf die Schulter.

Ein lautes Klopfen ertönte.

Entsetzt blickte sie zur Tür, als ob es sich um ein Fenster handelte, durch das sie von anderen beobachtet wurden.

Autor

Margaret Moore
<p>Margaret Moore ist ein echtes Multitalent. Sie versuchte sich u.a. als Synchronschwimmerin, als Bogenschützin und lernte fechten und tanzen, bevor sie schließlich zum Schreiben kam. Seitdem hat sie zahlreiche Auszeichnungen für ihre gefühlvollen historischen Romane erhalten, die überwiegend im Mittelalter spielen und in viele Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt mit...
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