Traummänner & Traumziele: Bali

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BEGEGNUNG AUF BALI

Die weite blaue See ist Angies Heimat - und die "Sea Fever" ihr Zuhause. 13 Jahre segelt sie mit ihrem Großvater über die Meere. Doch jetzt der Schock: Kurz vor Bali stirbt er. Der Einzige, der Angie auf der Insel hilft, ist der Bankier Charles. Kann sie mit ihm ein neues Leben beginnen?

WIEDERSEHEN AUF BALI

Der reiche Bauunternehmer Richard Fielding will nur eins: Emma vergessen! Aber als er seine Exfrau auf Bali wiedersieht, vergisst er alle Vorsätze. Sie ist einfach hinreißend und ihre tiefgrünen Augen verzaubern ihn so sehr, dass sich Richard sehnlichst wünscht, Emma erneut erobern zu können...

ÜBER DEN WOLKEN VON BALI

Blütenweißer Strand, türkisfarbenes Wasser … Allison kann die exotische Landschaft kaum genießen. Sie ist nach Bali gekommen, um ihre Höhenangst zu überwinden. Dabei soll ihr der aufregende Fluglehrer Dylan helfen. Aber warum verhält er sich ihr gegenüber so feindselig?

UND EWIG BRENNT DIESES FEUER

Ins Bett mit dem Boss? Niemals! Auch wenn Jaya es sich tausendmal gewünscht hat … Aber dann geschieht es doch. In der exklusiven Hotelanlage, die Theo Makricosta auf Bali betreibt, brennt die Leidenschaft zwischen ihnen lichterloh. Und obwohl Jaya das Unternehmen des griechischen Millionärs am nächsten Tag verlässt, ist diese Begegnung in jeder Hinsicht unvergesslich … Jedenfalls für Jaya. Denn Theo reagiert auf keinen ihrer Anrufe! Erst über ein Jahr später meldet er sich - mit einer absolut unverschämten Bitte. Und Jaya ist hin und hergerissen zwischen Gefühl und Verstand.


  • Erscheinungstag 13.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737832
  • Seitenanzahl 548
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Anne Weale, Angela Devine, Penny Roberts, Dani Collins

Traummänner & Traumziele: Bali

IMPRESSUM

Begegnung auf Bali erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© by Anne Weale
Originaltitel: „Sea Fever“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA
Band 837 - 1991 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Umschlagsmotive: GettyImages_anyaberkut

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733756659

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Angela zog das Schlauchboot an den Strand. Dann richtete sie sich auf und blickte zu dem Schiff hinüber, das im tieferen Wasser hinter den scharfen, gefährlichen Korallen vor Anker lag. Obwohl weder die Kabinen noch das Deck beleuchtet waren, war das Schiff im hellen Mondlicht gut zu erkennen.

Die ‚Sea Fever‘ war ihre Heimat gewesen, solange Angela zurückdenken konnte.

Von einem Haus, das hinter dem Strand lag, klang schallendes Gelächter herüber. Dann hörte Angela Männer- und Frauenstimmen, anscheinend redeten alle wild aufeinander ein. Schließlich gab sie sich einen Ruck und ging über den weiten Sandstrand auf den Garten zu, in dem das Haus stand.

Es war das einzige Gebäude in diesem Küstengebiet Balis. Auf der anderen Seite der Landspitze lag ein kleines Fischerdorf, doch in dieser Bucht hatte Angela mit ihrem Fernglas nur das große, auf einem gepflegten Grundstück stehende Haus ausmachen können und sich entschlossen, dort um Hilfe zu bitten.

Der Garten war von einer Mauer umgeben, zu dessen Tor ein paar Stufen hinaufführten. Als Angela eintrat, sah sie zwei kleine flache Wasserbecken. Sie wusste, wozu sie dienten. Einmal war sie aus Neugier durch eines jener großen Hotels gegangen, wo reiche Europäer und Australier ihren Urlaub verbrachten. Dort hatte sie Schilder gesehen, auf denen die Gäste gebeten wurden, sich gleich beim Verlassen des Strandes den Sand von den Füßen zu spülen und nicht erst im Bad des Hotelzimmers.

Obwohl hier kein entsprechendes Schild sie dazu aufforderte, benutzte Angela eines der Becken, um sich den feinen weißen Korallensand von den Füßen abzuwaschen. Hätte sie ein Batiktuch aus Baumwolle angehabt, wie sie es oft um die schmalen Hüften gewickelt trug, hätte sie sich die Füße daran abtrocknen können. Heute jedoch war sie mit ihren besten Sachen bekleidet – mit Jeans und einem Hemd. Früher hatte sie einmal ein Kleid besessen, wie man auf einem Foto sehen konnte, das sie auf der ‚Sea Fever‘ aufbewahrte. Es zeigte sie als Fünfjährige zusammen mit ihren Eltern. Doch weder an ihre Eltern noch an das Kleid konnte sie sich erinnern. Als sie heranwuchs, hatte sie nur Shorts oder Sarongs, indonesische Baumwolltücher, getragen. Jeans zog sie nur zu seltenen Anlässen an, etwa wenn Formalitäten zu erledigen waren.

Im Garten überragten hohe Palmen buschige Zierpflanzen, die auf dem Rasen zu beiden Seiten des Weges gepflanzt waren, der zum Haus führte. Da Angela die Leute auf der Terrasse in Augenschein nehmen wollte, bevor sie sie ansprach, benutzte sie nicht den Weg, sondern ging im Schutz der Büsche leise über den Rasen.

Auf der Terrasse saßen zwei Männer und drei Frauen, die Abendkleider trugen. Sie nippten an Cocktails. Im Haus war unter zwei rotierenden Deckenventilatoren eine festlich gedeckte Tafel zu erkennen.

Eine der Frauen entdeckte Angela zuerst. „Oh, wo kommen Sie denn her?“, fragte sie mit breitem amerikanischen Akzent.

Angela trat näher an die Terrasse heran. „Guten Abend. Es tut mir leid, wenn ich störe, aber ich brauche Ihren Rat … oder vielmehr Ihre Hilfe.“ Sie blickte den älteren der beiden Männer an. „Gehört das Haus Ihnen?“

Bevor er antworten konnte, erschien ein weiterer Mann. Er war sehr groß und sonnengebräunt. Als er Angela sah, blickte er sie überrascht an. „Wer sind Sie?“ Dem Akzent nach war er Engländer.

„Mein Name ist Angie … ich meine, Angela Dorset. Ich bin vom Segler ‚Sea Fever‘. Wir sind hier letzte Nacht sehr spät eingelaufen. Vielleicht haben Sie uns heute Morgen bemerkt. Eigentlich wollte ich schon viel eher kommen und um Hilfe bitten, aber Ludo wollte das nicht. Seiner Meinung nach konnten Ärzte und Krankenhäuser nichts für ihn tun. Er … er starb vor einer Stunde. Sein letzter Wunsch war eine Seebestattung, aber ich kann das nicht selbst arrangieren. Außerdem glaube ich, dass man für so etwas eine Genehmigung des Konsuls oder irgendwelcher Behörden braucht.“

Nur mit größter Mühe gelang es Angela, mit fester Stimme zu sprechen. Sie wollte ihre Gefühle nicht vor diesen fremden Leuten zeigen, für die ihr Eindringen in die Abendgesellschaft eine ärgerliche Störung sein musste.

„War Ludo Ihr Vater?“, fragte eine Rothaarige, die von allen anwesenden Frauen am attraktivsten aussah.

„Er war mein Großvater.“

„Und außer Ihnen ist niemand sonst an Bord?“, erkundigte sich der Mann, mit dem Angela zuerst gesprochen hatte.

Sie schüttelte den Kopf. „Wir beide waren allein.“

„Großer Himmel! Armes Kind“, meinte er mitfühlend. „Dann sind Sie allerdings in einer üblen Lage.“

Angela schluckte. Das Glitzern in ihren Augen verriet, dass sie den Tränen nahe war.

„Kommen Sie doch mit in mein Büro“, sagte der gut aussehende Mann. „Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“ Angela folgte ihm.

„So ein Ärger. Hoffentlich kann Charles die Sache schnell regeln. Das Mädchen kann einem zwar leidtun, aber …“, hörte Angela die rothaarige Frau sagen, kurz bevor sie den großen Raum verließen.

Sie beendete den Satz nicht. Der Mann, den die Rothaarige Charles nannte, hatte offensichtlich nichts davon gehört. Er war Angela vorausgeeilt. Ob die Rothaarige seine Frau ist? überlegte Angela.

Als Angela das Büro betrat, hatte Charles bereits die Schreibtischlampe und einen Deckenventilator eingeschaltet. Er nahm hinter dem großen Schreibtisch Platz und forderte Angela mit einer Geste auf, sich ebenfalls zu setzen. Dann griff er nach einem Stift.

„Ist der Familienname Ihres Großvaters mit Ihrem identisch?“

„Ja … Ludovic Dorset.“

Sie sah ihm zu, wie er es notierte. Seine Hände waren ebenso sonnengebräunt wie sein Gesicht. Offenbar gehörte er nicht zu den Menschen, die Ludo als Bürohocker bezeichnet hätte. Zwar standen auf einem kleineren Tisch ein Computerbildschirm samt Tastatur und eine Reihe anderer Apparaturen, die Angela nicht kannte, aber eine sitzende Tätigkeit schien Charles nicht auszuüben. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und wirkte sehr sportlich. Von der Figur her erinnerte er Angela an Ludo, der Zeit seines Lebens ein stattlicher Mann gewesen war. Er war schon siebzig Jahre alt, als er Angela zu sich nahm, aber er wirkte immer noch jung und war voller Tatendrang. Erst im vergangenen Jahr war er alt und gebrechlich geworden.

„Und wo ist die – ‚Sea Fever‘, nicht wahr? – registriert?“

„Sie kam aus Brixham in Devon, aber das war lange vor meiner Zeit. Ich bin nie in England gewesen.“

„Aber Ihre Familie stammt doch von dort. Wo leben Ihre Verwandten?“ Charles sah Angela prüfend an.

Angela fror plötzlich. Auf sie wirkte Charles’ Blick kalt und abschätzend. Ihr Großvater war stets freundlich gewesen, er betrachtete die Welt voller Humor und Toleranz. Von diesen Eigenschaften schien Charles nichts zu besitzen, jedenfalls konnte Angela nichts davon erkennen.

„Ich habe keine anderen Verwandten – soweit ich weiß.“

„Hm. Wie alt sind Sie, Angie?“

„Achtzehn – jedenfalls fast.“

Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Sind Sie sicher? Sie sehen nicht älter als fünfzehn aus.“

„Ich kann es mit einer Geburtsurkunde beweisen“, entgegnete sie mit fester Stimme. „Im März werde ich achtzehn.“

Charles ließ den Blick über Angelas jungenhart schmalen Körper gleiten.

„Wann haben Sie zuletzt gegessen?“, fragte er schließlich abrupt.

Angela konnte sich nicht daran erinnern. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte sie keine Zeit gehabt, ans Essen zu denken.

„Ich weiß nicht. Aber ich habe keinen Hunger.“

„Kennen Sie die Todesursache Ihres Großvaters? Sind Sie sicher, dass er auch wirklich tot ist und nicht etwa im Koma liegt?“

„Ich bin ganz sicher. Sein Herz schlug nicht mehr. Er musste Tabletten zur Stärkung seines Herzens nehmen, aber sie wirkten nicht mehr. Gestern fühlte er sich den ganzen Tag über so schlecht, dass er seine Koje nicht verließ. Ab und zu versuchte er zu sprechen, doch es war kaum zu verstehen. Er wusste, dass er sterben musste, und sagte sogar … Goodbye …“

Trotz ihres Entschlusses, niemandem ihre Verzweiflung zu zeigen, traten Angela Tränen in die Augen. Sie versuchte sie fortzuwischen, doch sie liefen ihr bereits die Wangen hinab.

„Es tut mir leid“, sagte sie leise und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen.

In diesem Moment erschien ein mit Seidenbluse und Sarong gekleideter Balinese. Charles erklärte ihm auf Indonesisch, was vorgefallen war, und bat den Mann, ihn, Charles, bei den anderen Gästen zu entschuldigen und eine leichte Mahlzeit für Angela zu bringen.

Nachdem der Diener das Zimmer verlassen hatte, griff Charles zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. „Charles Thetford. Entschuldigen Sie bitte die Störung außerhalb der Geschäftszeiten, aber ich dachte, dass Sie der Richtige sind, um mich in folgendem Fall zu beraten. Was ist zu tun, wenn ein Seemann auf seinem Segler stirbt und vorher den Wunsch geäußert hat, auf See bestattet zu werden?“

Angela konnte die Stimme am anderen Ende der Leitung hören, verstand jedoch nicht, was gesagt wurde.

Charles legte eine Hand auf den Hörer. „War Ihr Großvater religiös? Würde er es wollen, dass ein Geistlicher an der Bestattung teilnimmt?“

Angela schüttelte den Kopf. „Ludo hatte seine eigene Religion. Er wollte nur, dass ich bei der Bestattung sein Lieblingsgedicht aufsage, und sonst nichts.“ Sie erwartete einen tadelnden Blick, doch Charles nickte nur und informierte den Mann am anderen Ende der Leitung, dass keine der herkömmlichen Bestattungszeremonien in Frage kam.

In diesem Moment kehrte der Diener mit einem Tablett zurück, auf dem eine zugedeckte Schüssel, ein großes Glas Fruchtsaft und etwas Brot und Butter standen. Auf Charles’ Zeichen hin stellte der Balinese es vor Angela auf den Schreibtisch.

Auf der ‚Sea Fever‘ war irgendetwas mit dem Kühlschrank nicht in Ordnung gewesen. Ludo konnte den Schaden nicht selbst reparieren, sodass es seit mehreren Wochen keine kalten Getränke mehr an Bord gab. Umso mehr genoss Angela den eiskalten Fruchtsaft. Sie musste sich zwingen, nicht alles mit einem Mal auszutrinken.

Sie spürte, dass Charles sie beobachtete. Langsam entfaltete sie die in Form einer Lotosblüte zusammengelegte Serviette und legte sie sich auf den Schoß, wie Ludo es ihr gezeigt hatte.

Bevor Ludo wie ein Seezigeuner von Insel zu Insel durch den ganzen Pazifik und dann den Indonesischen Archipel entlang bis zum Golf von Siam gesegelt war, hatte er ein anderes Leben geführt. Bis zum Tod seiner Frau war er kaum mehr als ein Sonntagssegler gewesen, der während der Woche in London lebte. Damals war er einer der besten Anwälte gewesen. Eine gewisse Rastlosigkeit musste allerdings schon immer in ihm gewesen sein, denn nach dem Tod seiner Frau Eva verzichtete er als Fünfzigjähriger auf eine Karriere und entschied sich für ein Leben mit Reisen und Abenteuern.

Das jahrelange Vagabundenleben und einige unglückliche Spekulationen hatten Ludos finanzielle Rücklagen mehr und mehr aufgezehrt. In den letzten Jahren war es schwer gewesen, noch zurechtzukommen. „Wenn ich sterbe, musst du die ‚Sea Fever‘ verkaufen und zusehen, dass du es an Land zu etwas bringst“, hatte er Angela immer wieder gesagt.

Jetzt war sie mutterseelenallein zurückgeblieben. Der klägliche Rest von Ludos Vermögen war viel zu gering, als dass Angela davon hätte leben können, und das Schiff brauchte längst eine gründliche Überholung. Bei einem Verkauf würde Angela nicht viel dafür bekommen, das wusste sie. Leute mit Geld bevorzugten heutzutage andere Schiffe – Motoryachten mit aufwendiger Takelage und starken Turbo-Dieselmotoren. Die Segelschiffe von heute mussten Masten aus Aluminium, elektrische Winden und Klimaanlagen in den Kabinen haben. Die ‚Sea Fever‘ konnte dagegen nur mit nautischem Können und Muskelkraft gesteuert werden. Sie hatte zwar einen Hilfsmotor, aber eigentlich war sie für den Segelbetrieb gebaut worden.

Der Gedanke, das Schiff verkaufen zu müssen, versetzte Angela in Panik. Es war für sie die einzige Heimat, die sie jemals gehabt hatte.

Als sie nun die Gabel nahm, um von dem Omelett zu probieren, merkte sie, dass ihre Hand zitterte.

Angela erwachte aus einem tiefen Schlaf. Unablässig rüttelte jemand an ihrer Schulter. Sie öffnete die Augen und sah eine Balinesin, die sich über sie beugte.

„Sie aufstehen … nehmen Bad … Kleider anziehen. Ich lasse Wasser ein. Bitte jetzt aufstehen.“

Angela wusste nicht sofort, wo sie war. Sie ließ sich von der Frau ins Bad führen und beim Auskleiden helfen.

„Ich zurück in fünf Minuten. Hole neue Kleider. Tuan Thetford nicht gern warten“, erklärte sie Angela mit ernster Miene.

Nachdem Angela in das lauwarme Schaumbad geglitten war, erinnerte sie sich an den vergangenen Abend. Wie kam es, dass sie, statt auf das Schiff zurückzukehren, in Charles Thetfords Haus übernachtet hatte? Sie wusste noch, dass der balinesische Diener das Tablett fortgebracht hatte und anschließend mit einem Kaffee hereingekommen war, während Charles noch immer telefonierte.

War sie etwa in seinem Büro eingeschlafen? Unmöglich erschien es ihr nicht. In den Tagen zuvor hatte sie ja in dem Wissen, dass Ludo sterben würde, kaum Schlaf gefunden.

Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, als sie daran dachte, wie kraftlos der Druck seiner ehemals so starken Hände gewesen war, als er sie anfasste. „Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen. Ich hätte dich schon lange gehen lassen müssen. Aber ich konnte mich einfach nicht von dir trennen. Du erinnerst mich so sehr an meine Eva. Ach, was war ich doch für ein egoistischer alter Mann. Es war falsch, dich so lange bei mir zu behalten. Du hättest eine Berufsausbildung erhalten müssen. Frauen müssen heute auf ihren eigenen Beinen stehen und dürfen sich nicht von den Männern abhängig machen. Es ist alles anders geworden, seit ich ein junger Mann war.“

Als junger Mann war er durch die Welt gereist, und Eva Chesterfield, das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, lehnte zahlreiche Heiratsanträge ab – unter anderem die von zwei Aristokraten –, um ihn zu heiraten.

Als die Balinesin zurückkam und Angela tränenüberströmt in der Wanne sitzen sah, beugte sie sich zu ihr und strich ihr sanft über das Haar. „Weine nur, aber weine nicht um den Mann, dessen Geist seinen Körper verlassen hat“, sagte die Frau auf Indonesisch. „Der Tod ist eine Erlösung für die, die ein gutes Leben geführt haben.“ Sie wischte Angela vorsichtig mit einer Ecke des Handtuchs, das sie über den Arm trug, die Tränen fort. Dann stand sie auf, breitete das Tuch aus und hielt es hoch, um es Angela umzuhängen, als sie sich aus der Wanne erhob.

Eine Stunde später stand Angela auf dem Deck der ‚Sea Fever‘, die langsam der aufgehenden Sonne entgegenfuhr. Weiß ist in Bali die Farbe der Trauer. Die Segel waren aufgerollt, und ein Balinese steuerte das Schiff mit Hilfe des Dieselmotors. An Bord waren mehrere Menschen: der Arzt, der Ludovic Dorsets Totenschein ausgestellt hatte, der Beamte, der die Erlaubnis für die Seebestattung gegeben hatte, und zwei kräftige Fischer aus dem nahen Dorf, die eine Stelle kannten, wo das Meer tief genug war, um Ludos Leichnam zu versenken. Während Angela geschlafen hatte, waren die Vorbereitungen für die Bestattung getroffen worden. Der Körper ihres Großvaters lag in kräftiges Tuch gehüllt und mit Blumen bestreut auf Deck.

Neben Angela stand das balinesische Hausmädchen, deren Namen Lila war. Sie hatte sich eine weiße Seidenschärpe um die Hüfte gewickelt, wie es die Balinesen zu tun pflegen, wenn sie einen Tempel betreten oder an einer Bestattungszeremonie teilnehmen.

Angela vermutete, dass Charles Thetford Lila gebeten hatte, der Bestattung beizuwohnen. Er befürchtete wohl, dass Angela zusammenbrechen könnte. Aber sie war ruhig und gefasst. Sie war Charles dankbar dafür, dass er ihr alle organisatorischen Notwendigkeiten abgenommen hatte, die zur Erfüllung des letzten Wunsches ihres Großvaters nötig gewesen waren. Trotz des harten Zuges um den Mund musste er ein gutherziger Mensch sein.

Charles hatte sogar an das kleine Gedicht gedacht, das anstatt einer Abschiedsrede für Ludo gesprochen werden sollte. Auf die Frage, ob sie es ablesen wollte, schüttelte Angela verneinend den Kopf.

„Ich kenne es auswendig. Es ist das Gedicht ‚Sea Fever‘ von John Masefield. Ludo lernte es in der Schule, und ich lernte es von ihm, als ich klein war.“

Einige Meilen vor der Küste Balis erreichten sie die Stelle, wo der Körper versenkt werden sollte. Der Steuermann stellte den Motor ab, und das Schiff glitt über die ruhige Oberfläche des Meeres, das im Licht der am Horizont aufgehenden Sonne rot schimmerte.

Angela wandte sich zum Heck. Sie blickte Charles Thetford an, dessen dunkles Haar vom Seewind zerzaust war. Er nickte ihr zu und wirkte jetzt bei weitem nicht so einschüchternd auf sie wie am vergangenen Abend.

Angela senkte den Blick auf den Leichnam ihres Großvaters und fragte sich, ob sein Leben nun wirklich ein Ende gefunden hatte oder ob seine Seele eine neue Existenz auf ihrem langen Weg zum Nirwana durchlaufen würde, wie die Buddhisten glaubten.

Dann hob sie den Kopf und blickte zum morgendlichen Himmel, der in feuerfarbenes Licht getaucht war, und rezitierte einfühlsam das Gedicht, das sie als Kind einst auf Ludos Knien sitzend gelernt hatte.

„Ich muss zurück aufs weite Meer, zum Himmel der einsamen See, was brauche ich mehr als ein gutes Schiff und den Wind, der nach Süden weht?“

Das goldene Licht der Sonne fiel jetzt auf die Küste Balis, und Angela erinnerte sich daran, wie oft sie und Ludo die Umrisse ferner Inseln am Horizont hatten auftauchen sehen. Dann fuhr sie fort. „Lacht mit mir, Matrosen, spinnt Seemannsgarn und singt mir eure Weisen, bis einst ich versinke im stillen Schlaf, am Ende der langen Reise.“

Auf ein Signal von Charles Thetford hin traten die Fischer vor, hoben die Bahre, auf der Ludos Körper lag, und trugen sie zur Reling. Angela sah noch einmal zum Himmel auf und erinnerte sich an eine Zeile aus einem anderen Gedicht John Masefields: ‚Der Tod öffnet unbekannte Türen.‘

Dann schlug der Körper mit einem lauten Platschen auf die Wasseroberfläche auf, und es war vorbei. Als Angela über die Reling blickte, sah sie nur noch die Blumen, die auf dem Meer trieben.

Die ‚Sea Fever‘ hatte Kurs auf ihren Ankerplatz vor dem Strand genommen.

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für Ihre Freundlichkeit danken soll, Mr. Thetford“, sagte Angela und blickte zu ihm auf. Obwohl sie selbst ziemlich groß war, reichte sie Charles gerade bis an die Schultern.

„Ich freue mich, dass ich Ihnen helfen konnte“, entgegnete er höflich.

Als sie ankamen, hätte Angela sich am liebsten von den Anwesenden verabschiedet, ohne selbst das Schiff zu verlassen. Sie musste nachdenken und sich daran gewöhnen, dass sie nun allein war. Da sie sich jedoch die weiße Bluse und den weißen Rock von einer der drei Frauen, die am vergangenen Abend auf der Terrasse waren, für die Bestattung geliehen und ihre eigenen Sachen zurückgelassen hatte, musste sie mit ins Haus zurückgehen.

Als sie das Haus betraten, war keiner von Charles’ Gästen zu sehen. Zu Angelas Erleichterung lehnten der Arzt und der Konsulatsbeamte eine Einladung zum Frühstück ab. Obwohl die beiden viel älter als Charles waren, verhielten sie sich ihm gegenüber sehr respektvoll, was Angela in ihrer Vermutung bestärkte, dass Charles ein wichtiger und einflussreicher Mann sein musste.

„Ich werde mich jetzt umziehen“, sagte sie, als die beiden Männer gegangen waren.

„Ihre Sachen sind gewaschen worden und noch nicht trocken“, entgegnete Charles. „Wir werden in der Gartenlaube frühstücken, wo wir keinen unserer Spätaufsteher mit unserem Gespräch stören. Ich habe ihnen gesagt, dass sie die beste Zeit des Tages verschlafen, aber sie wollen ihre Gewohnheiten nicht ändern.“

Die Gartenlaube stand an der Mauer, die das Grundstück umgab. Das Dach wurde von vier Säulen getragen. Eine Balustrade grenzte die Laube nach drei Seiten hin ab. In der Mitte stand ein Tisch, um den herum Eckbänke aufgestellt waren. Eine der Bänke war mit Kissen ausgelegt. Der Diener war gerade dabei, den Tisch zu decken. An diesem Morgen trug er ein Baumwollhemd und hatte den Sarong nach balinesischer Tradition so gebunden, dass an der Vorderseite eine Schleife in Form eines Fischschwanzes entstand.

Der Diener hatte fünf oder sechs Helfer bei sich, die unter seiner Anleitung eine reiche Vielfalt von Leckerbissen heranschafften. Die Balinesen bewegten sich dabei mit der gemächlichen Eleganz der Bewohner tropischer Breiten, wo die Hitze bereits eine Stunde nach Sonnenaufgang so unerträglich ist, dass einem die Lust auf einen Aufenthalt im Freien leicht vergeht. Jedenfalls tat man gut daran, die direkte Sonneneinstrahlung zu meiden.

„Möchten Sie Tee oder Kaffee zum Frühstück?“, fragte Charles.

„Tee, bitte.“ Die Frage erinnerte Angela an den Kaffee, den sie am Abend zuvor getrunken hatte, bevor sie eingeschlafen war. „Es tut mir leid, dass ich gestern in Ihrem Büro einschlief. Ich verstehe gar nicht, warum ich nicht aufwachte, als man mich ins Bett trug.“ Sie stellte sich vor, dass zwei Diener nötig gewesen waren, um sie in den Schlafraum zu bringen.

„Sie konnten gar nicht aufwachen. Ihr Kaffee enthielt Kräuter, die stark beruhigend wirken und jeden, der sie zu sich nimmt, für einige Stunden in Tiefschlaf versetzen. Ich selbst nehme sie auch gelegentlich ein. Sie sind besser als Schlaftabletten, weil sie keine Nebenwirkungen haben.“

„Soll das heißen, Sie haben mich unter Drogen gesetzt?“, fragte Angela empört. Sie hatte zum ersten Mal den Eindruck, dass Charles nicht nur reich, sondern auch rücksichtslos war. Vielleicht, so dachte sie, ist eine gewisse Rücksichtslosigkeit ja die Voraussetzung dafür, um in Charles’ Alter schon so viel erreicht zu haben. Oder gingen Reichtum und Macht etwa immer Hand in Hand mit Rücksichtslosigkeit?

„Ich hielt es für richtig, dass Sie sich ausruhen“, erwiderte Charles ruhig.

Angela biss sich auf die Unterlippe, wie sie es immer tat, wenn sie Zweifel hegte. Charles war so hilfsbereit gewesen, dass sie es für unhöflich hielt, ihn zu tadeln. Andererseits hatte sie das Gefühl, sie musste ihm einfach sagen, wie sie seine Eigenmächtigkeit empfand.

„Ich bin überzeugt, dass Sie mir das Beruhigungsmittel in guter Absicht gegeben haben, aber Sie hätten es nicht ohne meine Einwilligung tun dürfen. Ludo sagt immer – ich meine, er sagte immer, dass der Zweck nicht die Mittel heiligen dürfe.“

„Im Großen und Ganzen stimme ich mit Ihrem Großvater überein, aber jede Regel hat ihre Ausnahmen. Möchten Sie etwas von diesem Reis?“ Er hob den Deckel von einem Topf, in dem sich gebratener Reis mit kleinen Stücken Hühnerfleisch und Gemüse befand.

Angela stellte fest, dass sie Hunger hatte. „Ja, danke“, antwortete sie und tat sich etwas von dem Reis auf den Teller.

Als sie Charles den Vorlegelöffel reichte und sie sich dabei an den Fingerspitzen berührten, spürte Angela etwas, das sie in ähnlichen Situationen noch nie empfunden hatte. Es war, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Das erschreckte und verwirrte sie. Ob es eine Nachwirkung der Droge war, die Charles ihr gegeben hatte? Was immer es auch für Kräuter gewesen waren – vielleicht zeigten sie keine Nebenwirkungen bei Charles, aber bei anderen Menschen. Eine andere Erklärung für die seltsame Empfindung konnte Angela sich nicht denken.

2. KAPITEL

Angela und Charles widmeten sich einige Minuten lang schweigend dem Frühstück.

„Erzählen Sie mir doch etwas über sich, Angie“, sagte Charles plötzlich.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Meine Eltern starben bei einem Unfall, als ich fünf Jahre alt war. Ludo nahm mich zu sich, und seitdem lebte ich bei ihm.“

„An Bord der ‚Sea Fever‘?“

„Ja.“

„Sind Sie denn nie zur Schule gegangen?“, fragte Charles voller Erstaunen.

„Als ich zwölf war, überlegte Ludo, ob er mich in ein Internat schicken sollte. Aber die Gebühren für die Schule und die Reisekosten zu Ludo in den Ferien wären zu hoch gewesen. Bis dahin hatte er mir selbst Unterricht gegeben und war der Meinung, dass ich mehr wüsste als die meisten Mädchen meines Alters. Schließlich beschloss er, mich weiterhin selbst zu unterrichten. Er hielt nicht viel von den Lehrplänen der Schulen, über die er sich erkundigt hatte. Seiner Meinung nach waren sie alle nur auf das Bestehen von Prüfungen ausgerichtet und nicht auf die Entwicklung der individuellen Begabungen der Kinder.“

„Was sind denn Ihre besonderen Begabungen?“

„Ich glaube nicht, dass ich welche habe“, antwortete Angela. „Ich kann nicht zeichnen, und obwohl ich Musik sehr liebe, wollte ich nie lernen, ein Instrument zu spielen. Meine Begabungen sind eher praktischer Art. Ich beherrsche alles, was man für ein Leben auf einem Schiff können muss.“

„Können Sie navigieren?“, erkundigte sich Charles.

„Natürlich. Das konnte ich schon mit acht Jahren. Es ist außerordentlich wichtig, wenn man nur zu zweit an Bord ist. Wenn Ludo auf See jemals krank geworden wäre oder einen Unfall gehabt hätte, wäre ich der Skipper gewesen.“

„Mein Wissen über Segelboote beschränkt sich auf wesentlich kleinere Schiffe als das Ihres Großvaters. Aber ich dachte, die ‚Sea Fever‘ braucht wenigstens zwei Mann Besatzung“, meinte Charles.

„Das stimmt. Als ich noch zu jung war, um Ludo eine wirkliche Hilfe zu sein, hatte er meistens eine Hilfskraft an Bord. Manchmal machte er aber auch alles selbst. Ich jedenfalls werde mir eine Hilfe suchen müssen. Gibt es hier eigentlich Busverbindungen nach Kuta?“, fragte Angela.

„Ja, ich glaube zwei oder drei Busse täglich. Warum fragen Sie?“

„Morgen fahre ich vielleicht nach Kuta und versuche, einen Australier zu finden, der segelt und einige Monate mit auf See will. Als unsere finanziellen Mittel einmal sehr gering waren, vercharterten wir die ‚Sea Fever‘. Auf diese Weise werde ich in Zukunft wohl meinen Lebenserwerb bestreiten müssen. In Kuta machen viele Rucksackreisende auf ihrem Weg nach Europa oder Indien Halt. Ich werde bei ‚Made’s‘ einen Aushang machen, dass ich eine Hilfskraft suche.“

Angela fiel ein, dass Charles ‚Made’s‘ wahrscheinlich nicht kannte. Es war ein billiges Restaurant in der Hauptstraße Kutas, wo Angela und Ludo oft gegessen und dem bunten Leben auf der Straße zugesehen hatten. Es war kein Ort, den reiche Leute aufzusuchen pflegten. „Bei ‚Made’s‘ essen junge Leute mit wenig Geld“, erklärte sie.

„Ich kenne ‚Made’s‘“, meinte Charles. „Den Leuten, die dort verkehren, würde ich keine Sekunde lang vertrauen.“

„Das können Sie über jedes billige Restaurant sagen und wahrscheinlich auch über jedes teure.“ Angela trank einen Schluck Fruchtsaft. „Ich habe eine ziemlich gute Menschenkenntnis. Das verdanke ich Ludo. Er war früher Rechtsanwalt und wusste eine ganze Menge über unehrliche Menschen“, fuhr sie fort.

Charles Thetford legte die Gabel beiseite. „Ihr Plan wird nicht funktionieren“, meinte er. „Eine Frau Ihres Alters kann nicht vom Chartern leben. Selbst wenn Sie älter wären – sagen wir Mitte Zwanzig – wäre es riskant. Mit siebzehn Jahren wäre es geradezu eine Dummheit.“

„Ich bin fast achtzehn – und habe keine andere Wahl. Was soll ich sonst tun?“, fragte Angela resigniert.

„Ich kann verstehen, dass Sie das Schiff, auf dem Sie so lange gelebt haben, nicht verkaufen wollen. Aber ich fürchte, Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben“, sagte Charles ernst. „Mir scheint, der Segler muss generalüberholt werden. Im Falle eines sofortigen Verkaufs würden Sie keinen besonders guten Preis erzielen, aber das Geld würde reichen, bis Sie sich Ihren Lebensunterhalt auf bessere Weise verdienen können.“

„Ich denke nicht im Traum daran, die ‚Sea Fever‘ zu verkaufen“, entgegnete sie entrüstet. „Ich würde mich wie ein Einsiedlerkrebs ohne Muschel fühlen. Wo sollte ich denn leben? Wohin sollte ich gehen?“

Die Frage war eher rhetorisch gemeint, aber Charles antwortete, als hätte Angela ihn um Rat gefragt.

„Warum versuchen Sie es nicht zuerst in England? Schließlich war Ihr Großvater doch dort beruflich tätig, nicht wahr. Haben Sie nicht die britische Staatsangehörigkeit?“

„Ja, ich bin in London geboren, aber ich hatte nie den Wunsch, dorthin zurückzukehren. Für mich kämen nur Paris, Venedig oder New York in Frage.“

„Ohne Arbeitserlaubnis hätten Sie in Amerika keine Chance, und in Frankreich und Italien gäbe es Sprachprobleme. In England wäre der Neubeginn für Sie am leichtesten.“

„Ich will nicht nach England. Ich gehöre hierher. Nicht unbedingt nach Bali, aber in diesen Teil der Welt. Eines Tages werde ich mir gern Europa ansehen, aber leben möchte ich lieber in Südostasien oder im Südpazifik.“

Charles wollte gerade antworten, als plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte.

„Guten Morgen“, sagte Charles, und erhob sich.

Als Angela sich umdrehte, sah sie die Frau mit dem roten Haar auf die Gartenlaube zukommen. Sie trug einen glitzernden Kimono, unter dem sie nichts anderes anzuhaben schien. Ihre Brüste, die sich bei jedem Schritt bewegten, zeichneten sich deutlich unter der dünnen Seide ab.

„Guten Morgen, Liebling.“ Sie neigte sich zu Charles, und er küsste sie leicht auf die Wange.

„Komm, setz dich zu uns“, sagte er einladend und trat beiseite, um ihr Platz zu machen. „Ich glaube, ihr habt euch noch nicht richtig vorgestellt. Leonora York, Angie.“

„Angenehm“, sagte Angela. Die Frau war also nicht mit Charles verheiratet – jedenfalls noch nicht. Vielleicht waren sie verlobt. „Waren Sie es, die mir die Sachen für die Bestattung geliehen hat?“

„Nein, die gehören Amy. Es tut mir leid wegen Ihres Großvaters.“

Da Angela am vergangenen Abend Leonoras Bemerkung mitbekommen hatte, zweifelte sie an der Ehrlichkeit dieser Beileidsbekundung. Verwundert fragte sie sich, warum Leonora heute Morgen so freundlich zu ihr war. Hatte Charles die Bemerkung vielleicht auch gehört und seine Freundin deswegen zurechtgewiesen?

„Danke für Ihr Mitgefühl“, erwiderte Angela. „Natürlich werde ich ihn sehr vermissen, aber er war schon zweiundachtzig und hat nicht sehr lange gelitten. Es wäre für ihn schlimmer gewesen, den Rest seines Lebens als Invalide zu verbringen.“ Sie versuchte, ihren Schmerz hinter einer fast philosophischen Gleichmütigkeit zu verbergen, denn sie wusste, dass ihre Trauer diesen Leuten eher peinlich sein würde. Schließlich hatten sie weder Ludo gekannt, noch kannten sie Angela.

„Wir haben uns gerade über Angies Zukunft unterhalten“, erklärte Charles Leonora. „Sie wird deinen Rat wahrscheinlich ernster nehmen als meinen. Würdest du mir beipflichten, dass ihr Vorhaben, eine Hilfskraft auf ihrem Segler einzustellen und vom Verchartern des Schiffes zu leben, eine schlechte Entscheidung wäre?“

„Ich weiß nicht recht“, entgegnete Leonora. „Meine Kenntnisse über Schiffe und Segeln sind sehr begrenzt.“

„Aber du weißt, was es heißt, ein Mädchen im Alter von siebzehn zu sein.“ Charles warf Angela einen Blick zu und fügte amüsiert hinzu: „Das auf die Achtzehn zugeht. Hättest du mit einem Mann allein auf See sein wollen, den du in Kuta als Matrosen eingestellt hast, weil er behauptet, Segelkenntnisse zu haben?“

„Ich hätte mit keinem allein auf See sein wollen“, antwortete Leonora. „Für Segeln habe ich nichts übrig, außer vielleicht auf Khashoggis Luxusyacht. Und da du gerade Kuta erwähnst – ich würde gern noch einmal in den Laden gehen, wo ich mein Batikhemd gekauft habe. Es muss in der Taille etwas enger gemacht werden. Können wir heute hinfahren?“

„Warum fährst du nicht zusammen mit Amy und Maureen hin? Ich kann dir beim Einkaufen ja doch nicht helfen.“

„Ich gehe sehr ungern mit anderen Frauen einkaufen. Da gehe ich lieber allein – aber mit dir würde es mehr Spaß machen.“

Charles ignorierte die Bemerkung.

„Dann nimm doch den Wagen und fahr allein. Die anderen sagten gestern Abend, dass sie sich heute ausruhen wollen, und ich habe fast den ganzen Tag über zu tun“, schlug er vor.

„Du solltest auch etwas ausspannen“, wandte Leonora ein und legte ihm sanft ihre manikürte Hand auf den muskulösen Arm.

„Ich erhole mich doch prächtig. Der Aufenthalt hier wirkt auf mich entspannend genug.“

Charles ließ den Blick von der Landzunge zum Meer streifen.

„Wann wurde die ‚Sea Fever‘ eigentlich gebaut?“, fragte er Angela, als er das vor dem Strand ankernde Segelschiff sah.

Angela gab nur widerwillig über das Alter des Schiffes Auskunft. „Sie wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg für einen Mann hergestellt, der in die Kriegsmarine eintrat und in einer Schlacht fiel. Als Ludo die ‚Sea Fever‘ 1958 kaufte, war sie praktisch neuwertig, weil sie die ganze Zeit über nicht ausgelaufen war. Vor kurzem lasen wir einen Artikel über eine Vergnügungsyacht mit sieben Kajüten, Baujahr 1930, die für eine drei viertel Million Dollar verkauft wurde. Die Yacht war zwar wesentlich größer als die ‚Sea Fever‘ und mit einem Kamin im Salon ausgestattet, aber daran kann man sehen, dass das Alter nicht unbedingt ein Nachteil sein muss, wenn das Schiff gut gebaut worden ist.“

„Um heutzutage so einen Preis zu erzielen, muss ein Schiff neben einem Zedernrumpf, Teakholztischen und Mahagonitäfelung mit den neuesten technischen Errungenschaften der Elektronik und Hydraulik ausgestattet sein“, gab Charles zu bedenken. „Das Neueste auf dem Markt ist die Satellitennavigation. Ich interessiere mich für eine britische Firma, die diese Geräte herstellt. Es heißt, dass man mit der Satellitennavigation die Position einer Yacht mit einer Abweichung von nur wenigen Metern bestimmen kann.“

„Das stimmt“, bestätigte Angela. „Aber all diese neuen Erfindungen sind störanfällig. Was ist, wenn die Apparatur auf hoher See plötzlich ausfällt? Ich verlasse mich lieber auf die herkömmliche Art der Navigation.“

Charles wandte sich Angela zu und lächelte. Es war das erste Mal, dass Angela in lächeln sah, und mit dem Verschwinden des strengen Gesichtsausdrucks, der ihn ernst und hart erscheinen ließ, strahlte Charles plötzlich einen unwiderstehlichen Charme aus.

„Ich stimme Ihnen zu. Ich würde keinem Kapitän vertrauen, der sich nur auf die Technologie verlässt und nicht in der Lage ist, ein Schiff gegebenenfalls in herkömmlicher Weise zu steuern.“ Dann richtete Charles den Blick wieder auf den Segler. „Vor einigen Jahren sah ich während einer Amerikareise einmal die Segelregatta von Newport, Rhode Island. Den Pokal gewann eine Yacht, die 1929 in Schottland gebaut worden war. Es war ein herrliches Schiff, und die ‚Sea Fever‘ hat die gleiche Eleganz. Ich würde sie gern einmal mit vollen Segeln auf hoher See sehen.“

Es tat Angela gut, wie Charles das Schiff lobte. „Wahrscheinlich werden Sie Gelegenheit haben, wenn ich abfahre.“

„Wo wollten Sie eigentlich hin, bevor Sie hier vor Anker gingen?“, fragte Leonora. Ihre Hand lag nicht mehr auf Charles’ Arm. Charles hatte sie getätschelt und dann in einer Weise beiseitegeschoben, die vermuten ließ, dass er besitzergreifende Vertraulichkeiten in der Öffentlichkeit nicht schätzte, ganz gleich, wie eng ihrer beider Beziehung auch sein mochte.

„Wir wollten weiter nach Java und von dort zur Ostküste Malaysias, waren aber nicht an feste Routen oder Zeitpläne gebunden“, antwortete Angela.

„Ich gehe jetzt schwimmen“, sagte Charles. „Fragen Sie Leonora, was sie an Ihrer Stelle machen würde, Angie. Sie sieht im Moment vielleicht nicht wie eine Karrierefrau aus, aber sie ist Teilhaberin einer sehr erfolgreichen Werbeagentur und genau die richtige Person, um Sie im Hinblick auf Ihre Zukunft zu beraten.“ Dann stand er auf und ging davon.

Leonora blickte Charles nach. „Was er Schwimmen nennt, ist ein halbstündiges Kraulen. Ich werde schon vom Zusehen müde. Er hat eine unglaubliche Energie, sowohl körperlich als auch geistig. Sie können froh sein, dass Sie ihm begegneten, als Sie Hilfe brauchten. Er ist nicht oft in Bali, aber es ist typisch für ihn, dass er die Landessprache lernt und die nötigen Verbindungen hat, um in jedem Notfall das Richtige zu tun.“

„Oh, ich dachte, dass er hier lebt und arbeitet“, sagte Angela überrascht.

„Aber nein. Dies ist nur sein Ferienhaus, wo er im Winter einige Wochen verbringt und Geschäftsfreunde einlädt. Dummerweise habe ich immer deren Ehefrauen zu unterhalten, und die sind meistens so langweilig wie die beiden, die hier zurzeit wohnen. Sie sprechen über nichts anderes als über ihre Ehemänner, ihre Kinder und ihre Kleider“, meinte Leonora schulterzuckend.

Angelas Meinung nach war das typisch für Frauen im mittleren Alter. Ihre Großmutter hatte mit neunzehn Jahren geheiratet und den Rest ihres Lebens damit verbracht, Ehefrau und Mutter zu sein. Angelas Mutter war Lernschwester in der Londoner Klinik gewesen, wo ihr Vater als Medizinstudent tätig war. Nach der Heirat arbeitete Angelas Mutter noch eine Zeit lang als Krankenschwester, aber als sie schwanger geworden war, hatte sie aufgehört und war nie wieder berufstätig gewesen.

„Wo ist denn Mr. Thetfords Hauptsitz?“, fragte Angela.

„Wir wohnen in London“, antwortete Leonora. Es klang, als ob sie zusammenlebten. Angela fragte sich, warum die beiden nicht heirateten. Sie konnten viele Gründe dafür haben. Vielleicht hielten sie die Ehe für veraltet. Leonora war etwa im gleichen Alter wie Charles, und es konnte durchaus sein, dass sie oder er oder beide verheiratet waren und noch immer Partner hatten, oder dass sie geschieden waren und sich nicht wieder verheiraten wollten. In diesem Fall hätte es bedeutet, dass Leonora diejenige war, die es wollte, und Charles sich dagegen sträubte. Wie Angela ihn einschätzte, war er ein Mann, der Himmel und Erde in Bewegung setzte, um seine Ziele zu erreichen.

Angela wollte gerade nach der Werbeagentur fragen, als der Diener kam und wissen wollte, ob er den Damen noch etwas bringen sollte.

„Bitte noch einen Kaffee“, sagte Leonora. „Wenn ich hier bin, trinke ich immer einen Kaffee im Bett“, fuhr sie fort, als der Diener gegangen war. „Charles steht jeden Morgen um sechs auf, ganz gleich, wo er ist. Aber er ist leise, damit ich nicht aufwache. Da drüben geht er übrigens. Der andere Mann ist Gilbert. Stellen Sie sich vor, Sie müssten mit so einem Fleischklops ins Bett gehen.“

Sie sprach von dem Engländer, der am vergangenen Abend sein Mitgefühl für Angela zum Ausdruck gebracht hatte. Nur mit einer Badehose bekleidet und neben Charles’ perfektem, sportlichen Körper sah Gilbert wahrhaftig nicht umwerfend aus.

Als sie den Strand erreichten, breiteten sie Handtücher auf dem Sand aus. Charles lief zum Wasser, stürzte sich mit einem Kopfsprung in die Wellen und tauchte für einige Sekunden unter. Als er wieder an der Oberfläche erschien, schüttelte er den Kopf und strich die nassen Haare nach hinten. Seine Haut glänzte in der Sonne wie Bronze. Gilbert ging bis zur Hüfte ins Meer und begann mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen zu schwimmen.

„Bis später“, hörten sie Charles rufen, bevor er schnell auf die Landzunge zu schwamm. Den Kopf dicht an der Wasseroberfläche, hob und senkte er die Arme so mühelos, als ob er im Meer zur Welt gekommen wäre.

Während Angela ihm zusah, fiel ihr ein, dass sie schon zwei Tage lang nicht mehr geschwommen war. Normalerweise gehörte das Schwimmen am Morgen und am Abend zu ihrer täglichen Routine wie das Zähneputzen oder das Kämmen ihres langen Haars. Das Haar reichte ihr fast bis zur Hüfte. Es war durch die Sonne heller geworden. Wenn Angela es als Zopf zusammenband, konnte man erkennen, dass es in gemäßigteren Klimazonen eine mittelbraune Farbe gehabt hätte.

Die Farbe ihrer Augenbraunen und Wimpern war dunkelbraun, und ihre großen Augen waren von leuchtend hellem Blau.

Der Diener brachte den Kaffee für Leonora und einen Topf mit aromatisch duftendem Tee für Angela.

„Mr. Thetford meint, ich sollte das Schiff verkaufen und nach England gehen, aber ich kenne dort niemanden und würde mich fühlen wie ein Fisch ohne Wasser“, sagte Angela.

Leonora stellte ihr die gleichen Fragen wie Charles.

„Australien würde viel besser zu Ihnen passen als Europa“, meinte sie dann. „Da Sie fast Ihr ganzes Leben in diesen Breiten verbracht haben, hätten Sie Schwierigkeiten, sich an den englischen Winter zu gewöhnen. Abgesehen davon würden Sie ohne Qualifikationen nur schwer einen Job finden. Ich halte es für vernünftiger, das Schiff zu verkaufen. Den Erlös sollten Sie zum Teil in Ihre Ausbildung investieren und zum Teil so anlegen, dass Sie über ein Mindesteinkommen verfügen. Charles kann ihnen sicher hilfreiche Adressen von Leuten in Sydney geben, damit Sie einen Einstieg bekommen. Er hat Verbindungen in der ganzen Welt.“

„Er erwähnte, dass er sich für Satellitennavigation interessiere. Was macht er eigentlich beruflich?“, fragte Angela.

„Er ist Anlagenberater bei Cornwall Chester, einem der erfolgreichsten Bankhäuser Londons. Statt sich mit kleinen Darlehen und Sparguthaben normaler Bürger zu befassen, ist Cornwall Chester auf Millionäre, große Firmen, Institutionen und sogar Regierungen spezialisiert. Die Bank handelt Übernahmeangebote aus und arrangiert Aktienausgaben. Mit anderen Worten: Hochfinanz.“

„Er sieht gar nicht wie ein Banker aus – jedenfalls nicht so, wie ich mir einen Banker vorstelle“, wunderte sich Angela. Sie beobachtete Charles, der die Landzunge bereits erreicht hatte und nun wieder zurückschwamm.

„Nein, Gilbert entspricht wohl eher dem Bild, das die meisten Menschen von einem Banker haben. Viele der Jüngeren aus der Branche nehmen Fitness sehr ernst. Die müssen es, wenn sie den Stress aushalten wollen“, entgegnete Leonora. „Es ist eine harte Arbeit. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Charles sich erholt, wenn er hier ist, und nicht so sehr mit den Problemen anderer Leute belastet wird“, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.

„Keine Sorge, Miss York. Ich habe nicht die Absicht, Mr. Thetford weiterhin mit meinen Angelegenheiten zu belästigen. Sobald meine Wäsche trocken ist – und das sollte jetzt eigentlich der Fall sein – werde ich weitersegeln.“

Eigentlich hatte Angela gar nicht vorgehabt, noch am gleichen Tag abzureisen, aber in Anbetracht der Anspielung hielt sie es für die beste Lösung.

„Sie brauchen nicht sofort abzufahren“, wandte Leonora ein. „Bleiben Sie zum Mittagessen und sprechen sie mit den anderen. Aber ich glaube, Charles unterschätzt Ihre Fähigkeit, Ihre Angelegenheiten selbstständig zu regeln. Nachdem Sie mit Ihrem Großvater jahrelang durch den Pazifik gesegelt sind, müssten Sie eigentlich cleverer sein als die meisten anderen achtzehnjährigen Frauen. Vielleicht finden Sie eine Frau, die mit Ihnen segelt. Heutzutage lernen viele Frauen das Segeln. Überlegen Sie mal, wie viele Frauen bereits ganz allein lange Reisen machen.“

„Das wäre eine Möglichkeit“, stimmte Angela zu. „Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich werde nach meiner Wäsche sehen.“

Sie verließ die Laube und ging entschlossen zum Haus zurück. Offensichtlich wollte Leonora sie loswerden. Angela konnte sich nicht erklären, warum. Vielleicht hatte Leonora lieber Umgang mit Männern und fühlte sich nicht nur gelangweilt von den beiden Ehefrauen, die im Haus zu Gast waren, sondern vom ganzen weiblichen Geschlecht. Doch für jemanden, der in der Werbebranche arbeitete, war es ein recht ungewöhnliches Verhalten.

Jedenfalls war Angela sicher, dass sie und Charles’ Freunde sich vom ersten Augenblick an nicht gemocht hatten.

3. KAPITEL

Als Angela das Haus betreten hatte, traf sie Lila und erfuhr von ihr, dass die Wäsche noch nicht trocken war. Daraufhin beschloss sie, zum Schiff hinüberzurudern, einen Bikini anzuziehen und ein wenig zu schwimmen. Danach wollte sie endlich die geborgte Kleidung zum Haus zurückbringen. Bis dahin, so dachte sie, würde Charles sicherlich vom Schwimmen zurück sein, sodass sie sich verabschieden und einen Ankerplatz in der Nähe von Kuta suchen konnte.

Bei Kuta war das Meer nicht so ruhig wie hier. Wahrscheinlich musste sie vor Sanur ankern, einem anderen beliebten Touristenort, und mit dem Bus nach Kuta weiterfahren. In den dichter besiedelten Gebieten der Insel gab es gute Verkehrsverbindungen.

Als Angela zu der Stelle zurückging, wo sie das Schlauchboot an Land gezogen hatte, stellte sie erstaunt fest, dass die Ruder fehlten. Wer hatte sie wohl weggenommen? An jedem anderen Platz hätte Angela vermutet, dass sie gestohlen worden waren, aber bei diesem Privatstrand konnte sie es sich nicht vorstellen. Ob ein übereifriger Hausangestellter die Ruder an einen sicheren Ort gebracht hatte?

„Guten Morgen, Miss Dorset. Wir sahen uns gestern Abend kurz. Ich bin Gilbert Winterton.“ Der Engländer mit dem massigen Körper reichte Angela die Hand. Den Spuren im Sand zufolge hatte er nach dem Baden einen Spaziergang am Strand gemacht.

„Guten Morgen“, erwiderte Angela. „Meine Ruder sind verschwunden. Hoffentlich wurden sie nicht gestohlen.“

„Keine Sorge. Charles hat sie irgendwo deponiert.“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter. „Er hatte sie bei sich, als ich ihn heute Morgen im Garten traf. Vielleicht hielt er es für leichtsinnig, sie herumliegen zu lassen, und hat sie einem Angestellten gegeben. Das Meer ist übrigens herrlich warm. Ich bin wie ein Nilpferd – ich liege gern im Wasser, aber schwimmen mag ich nicht. Charles dagegen saust durchs Wasser wie ein Torpedo. Er muss noch immer irgendwo da draußen sein.“ Gilbert legte eine Hand über die Augen und hielt nach Charles Ausschau. „Wo mag er nur hingeschwommen sein? Können Sie ihn sehen?“

Angela war es gewöhnt, mit zusammengekniffenen Augen über das Meer zu spähen, aber auch sie konnte Charles nirgends erblicken.

„Verflixt noch mal, wo ist er nur geblieben?“, fragte Gilbert mit einem Anflug von Besorgnis. „Er scheint verschwunden zu sein, genau wie Ihre Ruder. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Auch der beste Schwimmer kann mal einen Krampf bekommen. Sagen Sie, es gibt hier doch hoffentlich keine Haie, oder?“

Seiner Stimme nach zu urteilen, befürchtete er das Schlimmste. Angela vermutete, dass Gilbert unbewusste Ängste vor dem Meer hatte, die in Augenblicken wie diesem offen zu Tage traten. Sie selbst hatte ebenfalls ein ungutes Gefühl, aber nicht, weil sie vermutete, dass Charles etwas geschehen sein konnte.

„Keine Sorge, Mr. Winterton. Sehen Sie, dort ist er – auf dem Schiff.“ Angela war nicht besonders überrascht, als sie Charles aus der Luke an Deck kommen sah. Nach der Bestattung hatte sie es nicht für nötig gehalten, das Schiff zu verschließen, da sie ja eigentlich nicht vorgehabt hatte, lange an Land zu bleiben.

Charles hielt sich nicht weiter auf der ‚Sea Fever‘ auf, sondern machte einen eleganten Kopfsprung über die Reling ins Meer. Bei seinem Aufprall entstanden Wellen auf der Wasseroberfläche, die das Schiff leicht gegen die Ankerkette stoßen ließen.

„Na, da fällt mir aber ein Stein vom Herzen“, sagte Gilbert aufatmend. Dann wandte er sich an Angela. „Wollen Sie nicht noch ein wenig bei uns bleiben, Miss Dorset? Nach diesem traurigen Ereignis sollten Sie sich etwas ausruhen und unter Menschen sein.“

„Hat Mr. Thetford Ihnen aufgetragen, mir das zu sagen?“, hakte sie nach. Ihr ungutes Gefühl nahm zu.

Er nickte. „Ihr Großvater hätte sich ohne Zweifel weniger Sorgen um Sie gemacht, wenn er gewusst hätte, dass der Ort seines … Ablebens … glücklicherweise die Hilfe und Unterstützung von Landsleuten ermöglichte.“

Angela schwieg. Gilberts Worte irritierten sie. Ludo hätte bei dem ausweichenden Wort „Ableben“ verächtlich die Nase gerümpft. Wie kam dieser übergewichtige Bankmensch eigentlich zu der Annahme, dass Landsleute ihr am besten helfen konnten?

Lila, die Angela an diesem Morgen im Badezimmer so liebevoll die Tränen fortgewischt hatte, würde nie so etwas sagen wie Leonora am vergangenen Abend auf der Terrasse. Wenn Angela gezwungen gewesen wäre, im Dorf um Hilfe zu bitten, wären die Bewohner zweifellos ebenso hilfreich gewesen. Nicht nur Europäer sind zu Empfindungen wie Güte und Mitleid fähig, obwohl Gilberts Worte dies anzudeuten schienen, dachte Angela.

Angela beobachtete Charles, wie er zum Strand zurückschwamm. Als er sich aus dem Wasser erhob und an Land watete, sah sie einen kleinen röhrenförmigen Behälter an seiner tiefbraunen Brust. Charles trug ihn an einer Schnur um den Hals. Vermutlich diente der Behälter zur Aufbewahrung von Geld oder Autoschlüsseln, doch da Charles wohl kaum Wertsachen bei sich hatte, musste etwas anderes darin sein – die Schlüssel für das Schiff. Angela schien es, als wollte Charles sie mit allen Mitteln zurückhalten, während seine Freundin sie am liebsten sofort losgeworden wäre.

„Warum haben Sie die Ruder weggenommen?“, fragte sie Charles, als er sich zu ihr und Mr. Winterton gesellte.

„Wollen Sie sie haben?“

„Ja, bitte. Ich würde gern schwimmen, aber meine Badesachen sind an Bord.“

„Leihen Sie sich doch einen Bikini von meiner Frau“, schlug Gilbert vor. „Sie hat mindestens ein halbes Dutzend dabei, und ich weiß, dass sie Ihnen gern einen gibt. Sie könnten sich den Weg zum Schiff sparen.“

„Danke, aber ich möchte Ihre Frau lieber nicht belästigen.“ Angela sah Charles prüfend an. „Wo sind die Ruder?“

„Ich hole sie Ihnen. Es wird nicht lange dauern“, versprach er und ging zum Haus.

Als Charles zurückkam, hatte Angela das Boot bereits zum Wasser gezogen. Er trug jetzt Shorts. Der Oberkörper war immer noch unbekleidet, doch den kleinen Behälter hatte Charles abgelegt.

Nachdem Angela den geliehenen Rock hochgezogen hatte, damit er nicht nass wurde, brachte sie mit Charles das Boot zu Wasser.

„Steigen Sie ein“, sagte Charles, und Angela folgte seiner Aufforderung. Sie erwartete, dass er ihr die Ruder geben würde, doch stattdessen kletterte er zu ihr ins Boot und begann selbst zu rudern. Als sie ihm zu verstehen geben wollte, dass es nicht nötig war, sie zum Schiff zu bringen, ließ er sie nicht zu Wort kommen.

„Während ich schwamm, habe ich nachgedacht. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Ach, übrigens, ich nahm an, dass Sie den Motorraum nicht abgesperrt hatten, und deshalb ging ich vorhin an Bord. Ich fand den Schlüssel und schloss die Luke ab. Manchmal liegen bis zu drei oder vier Yachten in dieser Bucht vor Anker, und einmal wurde einem meiner Gäste eine sehr teure Sonnenbrille vom Strand gestohlen. Man kann nicht vorsichtig genug sein.“

Angela war erleichtert, dass Charles den Schlüssel und die Ruder nur aus Vorsicht an sich genommen hatte. „Ich hätte selbst abschließen müssen, aber ich bin wegen der Geschehnisse etwas unkonzentriert. Was wollen Sie mir denn vorschlagen?“

„Schwimmen Sie erst einmal. In der Zwischenzeit mache ich Kaffee, und hinterher werden wir in Ruhe darüber reden.“

Auf der ‚Sea Fever‘ gab es mehr Unterkünfte als der Schiffskörper vermuten ließ. Vorn und achtern lagen jeweils eine Doppelkajüte und eine Einzelkajüte. In der Mitte waren ein geräumiger Salon, eine hübsch eingerichtete Kombüse und eine Nische mit einem Kartentisch. Toiletten und Duschen gab es sowohl an der Bug- als auch an der Heckseite, und der Stauraum des Schiffes war beträchtlich.

Angela hatte sich schnell umgezogen und sprang in das funkelnde Wasser, das an einen Aquamarin erinnerte. Sie hatte Charles in der Kombüse zurückgelassen, ohne ihn einzuweisen. Es interessierte sie, ob ein Mann, der das Jonglieren mit hohen Geldsummen gewöhnt war, auch so elementare Dinge wie das Kaffeekochen in einer ungewohnten Umgebung beherrschte.

Vor langer Zeit hatte Ludo Angela einmal gezeigt, wie man einen Fisch ausnimmt und zerlegt. Damals erzählte Ludo ihr, wie er eines Tages feststellte, dass er einfache Dinge wie das Wäschewaschen, Bügeln, Nähen und Kochen nicht beherrschte. Er war sein ganzes Leben lang von Frauen umsorgt worden und hatte bis dahin nie gemerkt, dass er ohne sie in dieser Hinsicht völlig hilflos war.

„Ich brauchte damals sehr lange, um zu lernen, für mich selbst zu sorgen“, hatte er hinzugefügt. „Wenn Eva nicht gestorben wäre, hätte ich wahrscheinlich niemals gelernt, wie man einen Knopf annäht oder ein leckeres Omelett macht.“

Als er siebzig Jahre alt war, konnte er so gut mit Nadel und Faden umgehen, dass er manchmal ganze Abende lang stickte, während Angela ihm etwas vorlas. Die Frau eines amerikanischen Yachteigners hatte Ludo einmal gezeigt, wie man Kissenbezüge mit Sinnsprüchen bestickt. Der letzte Spruch, den er gestickt hatte, lautete „Ich bekämpfe die Armut – ich arbeite.“

Während Angela schwamm, dachte sie an die Abende mit ihrem Großvater. Nach dem Essen hatte er immer einen Kaffee, eine gute Zigarre und ein Glas Brandy genossen – eine Angewohnheit aus seiner Zeit in London, die er mit dem neuen Leben auf See nicht aufgegeben hatte. Als Angela sich an all das erinnerte, hatte sie das Gefühl, als wäre ihr der Boden unter den Füßen fortgezogen worden. Sie kämpfte dagegen an, indem sie sich mit kräftigen Kraulbewegungen erschöpfte.

Nach dem Schwimmen fühlte sie sich wohler. Noch während sie die Leiter an der Außenwand des Schiffes erklomm, roch sie bereits den Duft frisch gemahlenen Kaffees.

Charles kam an Deck, als Angela gerade ihr Haar zusammendrehte, um das Wasser herauszuwringen. Sie war nicht ganz so braun wie er. Charles war von Natur aus ein dunkler Typ mit seinem schwarzen Haar. Außerdem legte Angela sich nicht in die Sonne wie die Menschen aus kälteren Teilen der Welt. Ludo hatte immer ein Sonnendach am Heck aufgespannt, sobald sie irgendwo vor Anker gegangen waren, und deshalb hatte Angela auch nicht den tiefbraunen Teint, den die Touristen während ihres zwei- oder dreiwöchigen Urlaubs im fernen Osten anstrebten. Sie besaß eine helle, gesunde Bräune.

Aufmerksam betrachtete Charles Angela, und in diesem Moment wurde ihr zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst, dass sie fast nackt war. Sie empfand seinen Blick als abschätzend, was ihr das Gefühl gab, dass ihre Figur viel zu wünschen übrig ließ. Bis dahin hatte es sie nie gestört, dass sie kleine Brüste und keine anderen nennenswerten Kurven besaß. Nun jedoch wünschte sie sich ein paar Rundungen an den richtigen Stellen.

Während Charles in die Kombüse zurückging, wickelte Angela sich in einen Sarong mit den typisch balinesischen Batikfarben Indigo auf Hellbraun. Sie sah aus wie eine Balinesin, die sich gerade auf den Weg zum Fluss machen wollte, um ein Bad zu nehmen.

Als Charles zurückkam, hing ihr Bikini bereits zum Trocknen über der Reling. Angela stellte fest, dass Charles sogar die Keksdose gefunden hatte, und wieder überkam sie ein Hauch von Wehmut. Ludo hatte gern Süßes gegessen und dafür gesorgt, dass die Dose immer gefüllt war. Angela hatte als kleines Kind statt Süßigkeiten immer nur Apfel- und Karottenstücke bekommen, da ihre Mutter nicht wollte, dass Angela schlechte Zähne bekam.

Als Angela dann später zu Ludo gekommen war, besaß sie bereits einen voll ausgeprägten Geschmack. Sie aß gern Früchte, insbesondere reife Papaya. Raffinierten Zucker mochte sie überhaupt nicht.

Während Angela im Wasser war, hatte Charles nicht nur Kaffee gemacht, sondern auch zwei Klappstühle aufgestellt. Vielleicht ist Charles nicht wie Ludo in seiner Jugend ständig von Frauen umsorgt worden, dachte sie, und fragte sich, ob er in die Oberschicht hineingeboren wurde oder ob er sich seine berufliche und gesellschaftliche Stellung selbst erkämpft hatte. Auf jeden Fall war er in körperlicher Hinsicht mit den besten Voraussetzungen zur Welt gekommen. Sie beobachtete das Spiel seiner Muskeln zwischen den breiten Schultern, als er ihr Kaffee eingoss.

„Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, mir eine Yacht zuzulegen“, erzählte er. „Die ‚Sea Fever‘ hat etwas, das mir gefällt. Wenn ein Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis käme, dass eine Generalüberholung lohnenswert wäre, würde ich Ihnen das Schiff zur Hälfte abkaufen und die Überholung finanzieren. Auf diese Weise blieben Sie teilweise Eigentümerin und könnten gleichzeitig Ihre Berufsausbildung finanzieren. Als Gegenleistung dafür würde ich mir das Recht vorbehalten, den Segler zwischen November und Februar für mich und meine Gäste zu nutzen. Was halten Sie davon?“

Angela hatte eine vage Vorstellung davon, was eine Generalüberholung kosten würde. Charles’ Angebot erschien ihr daher erstaunlich großzügig – zu großzügig.

„Ich muss darüber nachdenken“, antwortete sie vorsichtig.

„Selbstverständlich. Ich habe Ihnen meine Vorstellung ja nur in groben Zügen dargelegt. Über die Details müssen wir uns noch genauer unterhalten.“ Er lehnte sich zurück, streckte die Beine weit von sich und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen ein balinesisches Auslegerboot mit einem dreieckigen Segel, das zum Fischen aufs Meer fuhr.

„Der Gedanke, die Eigentumsrechte der ‚Sea Fever‘ zur Hälfte aufzugeben, gefällt mir nicht“, begann Angela, nachdem sie einige Minuten nachgedacht hatte. „Ich würde gern zu sechzig Prozent beteiligt bleiben. Schließlich weiß ich wesentlich mehr über Segelschiffe als Sie, und für den Fall, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen uns auftreten sollten, würde ich mir gern eine größere Entscheidungsbefugnis vorbehalten.“

Charles sah sie nachdenklich an, und Angela fragte sich, was er wohl denken mochte. Sie und Ludo hatten ihre Gedanken fast erraten können, aber Charles schien ihr rätselhaft und undurchschaubar. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn noch nicht lange kannte.

„Einverstanden. Allerdings unter der Bedingung, dass Sie für ein Jahr mit nach England kommen“, entgegnete er plötzlich und unerwartet. „So lange wird die Überholung des Schiffes wohl dauern, und Sie könnten in Erfahrung bringen, wie es auf der anderen Seite der Erde aussieht. Eine Tante von mir lebt in London ganz allein in einem Haus, das viel zu groß für sie ist. Sie würde sich freuen, wenn sie Sie bei sich aufnehmen und Ihnen während der ersten Zeit in England behilflich sein könnte.“

„Mir ist nicht ganz klar, warum Sie so viel für mich tun, Mr. Thetford. Ich …“

„Wir sollten mit dem albernen Sie aufhören. Du kannst mich Charles nennen“, unterbrach er sie. „Ich kümmere mich nicht mehr um dich als jeder andere verantwortungsvolle Mensch, der ein Mädchen in deiner Lage antrifft. Durch das Leben mit deinem Großvater bist du weitgehend von den Gefahren und Einflüssen abgeschirmt gewesen, denen die meisten Mädchen deines Alters ausgesetzt sind. Das macht dich sehr verletzbar, und es gibt genug Männer, die das auszunutzen wissen. Ich gehöre nicht dazu, und du solltest nicht denken, dass ich irgendwelche schlechten Hintergedanken habe.“

Angela errötete. „Das unterstelle ich Ihnen – ich meine, dir – ja gar nicht. Doch die meisten Menschen sind viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, als dass sie sich um die Probleme anderer Leute kümmern könnten. Und du hast sicher mehr zu tun als die meisten anderen.“

Charles zog die Augenbrauen hoch. „Was weißt du denn von mir?“

„Nur das, was ich selbst beobachtet habe und was Miss York mir erzählt hat. Offenbar bist du sehr reich und ein brillanter Geschäftsmann“, erwiderte Angela.

Er lachte kurz auf. „Reich ist relativ, und was heißt schon brillant? Ich arbeite mehr als die meisten Menschen, bin nicht verheiratet, habe keine Kinder und außer meiner Arbeit keine zeitaufwändigen Interessen. Wenn man in meiner Welt – die sich von deiner Welt erheblich unterscheidet – erfolgreich sein will, muss man sich einer Sache von ganzem Herzen widmen und nicht zehn Dingen zur gleichen Zeit, wie es die meisten Menschen tun. Das Geschäftsleben erfordert völlige Hingabe – genau wie die Kunst.“

„Gibt es dir auch so viel wie Kunst?“, erkundigte Angela sich.

„Es gibt mir sogar sehr viel. Wenn es nicht so wäre, würde ich etwas anderes tun.“ Während er sprach, warf er einen Blick auf die Armbanduhr und erhob sich dann. „Ich habe noch eine Menge zu tun. Denk am besten genau über mein Angebot nach, und wenn du es für akzeptabel hältst, können wir nach dem Essen über die Details reden.“

Der Steward der ersten Klasse ging durch den Gang und reichte jedem Fluggast ein kleines heißes Tuch zur Erfrischung. Danach kam eine Stewardess mit Orangensaft, den sie in kleinen Kelchen servierte.

Angela, die einen Fensterplatz hatte, fragte sich, ob die Passagiere der Economy Class auch so verwöhnt wurden. Vor wenigen Stunden hatte sie sie in einem großen, übervölkerten Raum versammelt gesehen, während die Fluggäste der ersten Klasse in einem stilvollen, klimatisierten Salon auf den Abflug warteten.

Sie befanden sich auf dem Flughafen von Djakarta, der indonesischen Hauptstadt, und in Kürze würden sie nach Bangkok weiterfliegen. Charles hatte dort geschäftlich zu tun, was Anlass zu einem zweitätigen Zwischenstopp gab.

Charles und Leonora hatten die Plätze auf der anderen Seite des Ganges belegt. Leonora probierte gerade ein Paar Ohrringe an, die sie sich im Juwelierladen des Flughafens gekauft hatte. Angela war durch den kleinen Ladenbereich des Flughafens gegangen und hatte den Eindruck gewonnen, dass dort alles viel teuer verkauft wurde als in der Stadt. Amy und Maureen, die in Bali reichlich eingekauft hatten, hielten sich auch auf dem Flughafen nicht zurück. Einkaufen schien ihre größte Leidenschaft zu sein. Wahrscheinlich saßen sie noch immer im Salon der ersten Klasse und warteten auf ihre Flüge nach Hongkong und Los Angeles.

Während die anderen Frauen ihr Gepäck nur mit Hilfe von Gepäckträgern bewältigen konnten, hatte Angela ebenso wie Charles nicht besonders viel zu tragen. Ihr mittelgroßer Koffer wies Ludos Initialen auf und enthielt neben einigen Kleidungsstücken ihre Lieblingsbücher.

Als Leonora Angelas Koffer gesehen hatte, war sie der Meinung gewesen, man müsste ihn wegwerfen und einen neuen kaufen. Angela fand jedoch, dass er durchaus noch zu gebrauchen war, wenn er auch nicht gerade neu aussah. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch nicht gewusst, dass sie erster Klasse fliegen und ihr Koffer unter dem Luxusgepäck auffallen würde. Doch im Grunde war es ihr gleichgültig, und Charles vermutlich auch. Den anderen Damen war es vielleicht peinlich gewesen, insbesondere Leonora, der Angelas Anwesenheit allerdings auch dann nicht behagt hätte, wenn Angela einen neuen Koffer gehabt hätte.

Angela wäre aus Kostengründen lieber in der Economy Class geflogen und am Zielflughafen zu den anderen gestoßen, aber Charles hatte den Flug ohne vorherige Absprache mit ihr gebucht. Offenbar kam für ihn nur die erste Klasse in Frage.

Sie war in ihrem Leben erst einmal geflogen. Damals hatte Ludo sie aus Europa geholt. Doch daran konnte Angela sich nicht mehr erinnern, und so sah sie während dieses Fluges praktisch erstmals die Welt aus der Vogelperspektive. Sie war ziemlich aufgeregt. Diesmal würde es nur wenige Stunden bis zum Golf von Siam dauern, während der Seeweg mehrere Wochen erforderte.

Einmal hatte sie die Strecke mit Ludo und Tim auf dem Segler zurückgelegt. Damals war sie elf Jahre alt gewesen, und der achtzehnjährige Tim war als Hilfsmatrose mitgefahren. Angela hatte ihn fast vergessen, bis sie nach langer Zeit wieder einmal die alten Fotoalben ansah und auf einen Schnappschuss stieß, den Ludo von Deck aus gemacht hatte. Auf dem Bild waren sie und Tim im Beiboot zu sehen, als sie gerade an Land ruderten, um Proviant einzukaufen.

Außerdem war Tims Name wiederholt in Ludos Tagebüchern erwähnt, die er neben dem Logbuch regelmäßig geführt hatte.

„Tim Bolton, Großneffe meines alten Freundes und Kollegen John Bolton, kam heute an Bord. Er hat eine kräftige Figur und gute Manieren. John bat mich, ihn einige Zeit mit an Bord zu nehmen, da es dem Jungen nach der Scheidung seiner Eltern nicht gut ging. Sein Vater war ungehalten, weil Tim die Aufnahmeprüfung der Militärakademie Sandhurst nicht bestanden hat.“

Einige Wochen später hatte Ludo eingetragen: „Tim hat sich gut eingelebt und zeigt großen Einsatz. Er ist intelligent, zuverlässig, hat Sinn für Humor und würde meiner Einschätzung nach ein guter Offizier werden. Aber Zulassungsprüfungen scheinen wichtiger zu sein als Charaktereigenschaften, und das spricht nicht für die Armee. Ich bin sicher, dass Tim es in einem für ihn geeigneten Beruf weit bringen wird. Angie, die ihm gegenüber anfangs sehr misstrauisch war, scheint ein wenig für ihn zu schwärmen.“

Ob ich damals in ihn verliebt war? fragte Angela sich, als das Flugzeug auf die Startbahn rollte. Wenn ja, musste das Gefühl bald nach Tims Rückkehr nach Europa aufgehört haben. Er war jetzt etwa fünfundzwanzig. Ob er den für ihn geeigneten Beruf gefunden hatte? Er ließ nie wieder von sich hören, und Angela würde wohl nie erfahren, was aus ihm geworden war.

Wie schwer es doch war, sich daran zu gewöhnen, dass Ludo nicht mehr da war. Angela empfand sich als die Hälfte eines Ganzen, das aus ihr und Ludo bestand. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich eine Witwe fühlen musste.

An den Schmerz, den sie nach dem Tod ihrer Eltern empfunden hatte, konnte sie sich nicht mehr erinnern, doch jetzt, da Ludo ihr so fehlte, empfand sie manchmal eine so große Trauer und Einsamkeit, dass sie sich am liebsten in eine Ecke verkrochen und geweint hätte.

Der Steward und die Stewardess machten wieder ihre Runde und servierten den Fluggästen Champagner und kleine Leckerbissen auf einem silbernen Tablett.

Angela erinnerte sich an ein Sprichwort, das sie einmal gehört hatte. „Mit Geld kann man kein Glück kaufen, aber es macht das Unglück erträglicher.“ Sie blickte zu Charles und Leonora hinüber. Leonora blätterte gelangweilt in einem Modemagazin, während Charles ein Schreiben, das ihm per Fax übermittelt worden war, aufmerksam las und mit Anmerkungen versah. Während Angela die beiden beobachtete, überlegte sie, ob ihre Entscheidung, Charles zum Teilhaber der ‚Sea Fever‘ zu machen, richtig gewesen war.

4. KAPITEL

Angela war zwar schon einmal im Süden Thailands gewesen, aber nicht in Bangkok oder irgendeiner anderen großen Stadt des Landes. Ludo hatte Großstädte immer gemieden und es vorgezogen, in kleinen Fischerhäfen vor Anker zu gehen, die in der Regel weniger überfüllt und billiger waren.

„Der thailändische Name für Bangkok ist Krung Thep, was so viel heißt wie ‚Stadt der Engel‘“, erklärte Charles, als sie den weit außerhalb der Stadt gelegenen Flughafen in einer klimatisierten Limousine verließen. „Auf den ersten Blick ist die Innenstadt nicht besonders interessant. Früher, bevor die Kanäle zugeschüttet wurden, fand der ganze Verkehr auf dem Wasser statt. Damals muss die Stadt sehr reizvoll gewesen sein. Heute ist sie von chaotischem Straßenverkehr, unerträglichem Lärm und stinkenden Abgasen geprägt. Wenn man allerdings weiß, wo man suchen muss, findet man noch heute Stellen, wo das alte Bangkok weiterlebt.“

Angela war das langsame Vorankommen im zähfließenden Verkehr nicht unangenehm, da sie in Ruhe das pulsierende Leben auf den Straßen beobachten konnte. Leonora dagegen trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihrem Modemagazin herum und hielt ihre Verärgerung nicht zurück, als der Fahrer eines klapprigen Lastwagens neugierig in die Limousine starrte, als ob es sich bei den europäischen Insassen um seltene Tiere handelte, die in einem Käfig eingesperrt waren. Angela lächelte über das unverhohlene Interesse des Thais und bemerkte, dass auch Charles belustigt mit den Mundwinkeln zuckte.

Arme Leonora, dachte Angela. Wahrscheinlich hatte sie sich darauf eingestellt, dass sie zusammen mit Charles ein paar schöne Tage in Bangkok verbringen würde, und nun machte eine dritte Person all ihre Träume zunichte. Angela konnte sie verstehen, aber an Leonoras Stelle hätte sie aus Gründen der Höflichkeit um jeden Preis versucht, ihre Enttäuschung und Abneigung zu verbergen.

Angela überlegte, ob Leonoras Mangel an Feingefühl hinsichtlich ihrer, Angies, Gefühle und Probleme einen bestimmten Grund hatte. Vielleicht war Leonora innerlich zutiefst unzufrieden, weil sie ahnte, dass Charles sie niemals heiraten würde. Als er sich nämlich mit Angela darüber unterhalten hatte, dass seine Geschäfte totale Hingabe verlangten, hatte Angela nicht den Eindruck gewonnen, dass er sich mit Heiratsgedanken trug.

„Hast du ein Kleid dabei, Angie?“, fragte Charles plötzlich.

„Nein“, antwortete sie. „Ich habe eigentlich nie eines gebraucht. Die Partys, zu denen ich bisher gegangen bin, fanden immer auf Schiffen statt, und dafür reichten Jeans.“

„Es gibt Restaurants, die Jeansträger nicht gern sehen. Du solltest dir für das Dinner heute Abend ein Kleid kaufen. Leonora wird dir dabei helfen.“

„Ich habe keine Zeit, Charles“, erwiderte Leonora. „Wenn wir ankommen, werde ich zum Friseur gehen und mich maniküren lassen. Angela muss doch heute Abend nicht unbedingt im Restaurant essen. Wenn sie mag, kann sie ja in ihrem Zimmer essen und sich einen Videofilm ansehen. Das wäre dir doch lieber, nicht wahr, Angie?“

Da die Frage bereits die Antwort vorzugeben schien, wollte Angela gerade zustimmen, doch Charles kam ihr zuvor. „Ich glaube, Angie würde sich zu Tode langweilen. Sie ist ohne endlose Familienserien und zweitklassige Spielfilme aufgewachsen. Wenn du zu beschäftigt bist, werde ich eben mit ihr einkaufen gehen. Wir brauchen höchstens eine halbe Stunde.“

Einen Augenblick lang sah Leonora fürchterlich wütend aus. „Vielleicht will sie das Kleid lieber allein kaufen. Schließlich ist sie ja kein Kind mehr.“

Charles ignorierte Leonoras Einwand, und Angela hielt es für das Beste, nichts zu sagen. Sie fühlte sich unbehaglich, weil die beiden sich ihretwegen stritten. Oder hatte es bereits Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben, bevor Angela erschienen war?

An der Rezeption des Luxushotels wurde Charles wie ein Stammgast begrüßt. Sie wurden von einem Herrn, der der Hotelmanager selbst zu sein schien, persönlich zum Aufzug geleitet.

„Wie haben Ihnen dieselbe Suite wie immer reserviert. Miss Dorsets Zimmer befindet sich eine Etage tiefer.“

„Miss York hat dringende Angelegenheiten zu erledigen und möchte so schnell wie möglich auspacken. Ich werde Miss Dorset begleiten und sie in ihr Zimmer einweisen“, sagte Charles zum Manager, als der Lift hielt und der Liftboy auf den Flur trat, um Angela zu ihrem Zimmer zu geleiten.

Nachdem der Liftboy das Zimmer aufgeschlossen und die Tür geöffnet hatte, war Angela förmlich geblendet von der luxuriösen Innenausstattung. Was sie jedoch am meisten beeindruckte, war die große Glasfläche, die die Außenwand bildete und einen atemberaubenden Blick auf einen riesigen Fluss bot. Es musste der Chao Phraya sein, auf dem zu besonderen Anlässen die goldenen Prunkboote des Königs fuhren.

„Was für eine herrliche Aussicht“, rief Angela begeistert aus. „Wozu braucht man da noch Fernsehen? Wenn ich hier oben essen und das Leben auf dem Fluss betrachten kann, bin ich absolut glücklich.“

„Du isst mit uns“, sagte Charles streng. Er erklärte ihr, wie man die Klimaanlage regulierte und prüfte die Dusche. Dann deutete er auf zwei Frottee-Bademäntel, die an der Innenseite der Tür zum Bad hingen. „Die Bademäntel zieht man an, wenn man zum Swimmingpool im Garten geht. Wenn dein Koffer angekommen ist, kannst du ja ein wenig schwimmen. Wir treffen uns in einer Stunde in der Hotelhalle, und dann kaufen wir dein Kleid.“

„Charles, es ist nicht nötig, dass du mich begleitest …“

„Wahrscheinlich nicht“, unterbrach er sie. „Vielleicht hast du ja einen guten Geschmack, was Kleidung betrifft. Es könnte aber auch sein, dass du erst noch einen Geschmack entwickeln musst. Sei also in einer Stunde unten.“

Während Angela in der Hotelhalle auf Charles wartete, fühlte sie sich ein wenig wie der thailändische Lastwagenfahrer, der so fasziniert in die Limousine gestarrt hatte. Obwohl sie sich etwas diskreter verhielt als jener Mann, konnte sie sich nicht satt sehen an den reichen Hotelgästen, an dem glänzenden Marmorboden, den massigen Kronleuchtern und den Blumenarrangements in der Halle. Ein junger Türsteher öffnete den Gästen die großen Glastüren. Er trug einen traditionellen „Panung“, eine Art Sarong, der zwischen den Beinen zusammengenäht war und Knickerbockern ähnelte. Angela wusste, wie das Kleidungsstück hieß, da sie zu ihrem vierzehnten Geburtstag von ihrem Großvater ein Buch über die Trachten der südostasiatischen Völker geschenkt bekommen hatte.

Ach, der gute Ludo, dachte sie. Sie wehrte sich gegen ihre deprimierenden Trauergefühle, indem sie ein Spiel spielte, das Ludo ihr als Kind beigebracht hatte.

Als sie es einige Male lang gespielt hatte, spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Sie drehte sich um und sah Charles, der einige Meter entfernt stand. Sie erhob sich und ging auf ihn zu.

„Es tut mir leid, ich habe dich nicht bemerkt. Warum hast du mich nicht angesprochen?“, fragte Angela.

„Ich versuchte herauszufinden, was in deinem Kopf vorging“, antwortete er. „Einige Minuten lang hattest du abwechselnd einen ernsten und einen lächelnden Gesichtsausdruck.“

„Ach ja? Ich muss ja ziemlich idiotisch ausgesehen haben. Ich habe Ludos Spiel gespielt“, erklärte Angela. „Man spielt es besser zu zweit, damit es einen Sieger gibt, aber es geht auch allein. Man muss vorhersagen, was bestimmte Leute tun, welche Sprache sie sprechen, was sie sich auf der Speisekarte aussuchen, ob sie rauchen und so weiter.“

„Aha. Und welche Variante spieltest du mit den ankommenden Hotelgästen?“

„Ob sie dem Türsteher zulächeln, ob sie sich bedanken, oder ob sie ihn einfach ignorieren.“

„Waren deine Prognosen größtenteils richtig?“

„Leider nicht“, erwiderte Angela. „Ich ging davon aus, dass Gäste eines so guten Hotels bessere Manieren hätten als es offenbar der Fall ist. Vielleicht sind die nächsten zehn Leute, die durch die Tür gehen, höflicher.“

„Das bezweifele ich“, meinte Charles sarkastisch. „Ich habe selbst auch schon Türen geöffnet – in London, New York und Madrid. Ein professioneller Türsteher gewöhnt sich daran, dass er ignoriert wird, und es stört ihn nicht im Geringsten.“

„Das mag sein, aber wer weiß, was Unhöflichkeit langfristig zur Folge haben kann. Vielleicht ist die Geschichte ja erfunden, aber es heißt, Ho Chi Minh wurde Kommunist und besiegte die Franzosen, weil man ihn in seiner Jugend in Frankreich und England herablassend behandelt hatte“, gab Angela zu bedenken.

„Vielleicht liegt darin ein Funke Wahrheit“, meinte Charles. „Wollen wir jetzt gehen?“

Als der Türsteher ihnen die Tür öffnete, lächelte Angela und sagte: „Khop-khun-khaa.“ Die thailändischen Worte für „vielen Dank“ waren ihr noch aus der Zeit in Erinnerung geblieben, als sie mit Tim Bolton einen Grundwortschatz der Thaisprache gelernt hatte. Ihr Großvater war immer der Ansicht gewesen, dass jeder zivilisierte Mensch wenigstens die Worte für „Bitte“ und „Danke“ in der Sprache des Landes beherrschen sollte, das er besuchte.

Angelas Worte auf Thai vertrieben den teilnahmslosen Blick des Türstehers. „Bitte sehr“, sagte er lächelnd.

Einige Minuten später stiegen Angela und Charles die Stufen zu einem exklusivem Geschält namens „Design Thai“ hinauf.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine junge Frau, die sehr schmal aussah und ihr tiefschwarzes Haar im Pagenschnitt trug.

„Wir suchen ein einfaches Kleid, das man auch abends tragen kann. Je schlichter, desto besser“, erklärte Charles.

„Folgen Sie mir bitte. Ich werde Ihnen zeigen, was wir haben.“ Die Verkäuferin führte sie zu den Seidenkleidern und wählte ein pinkfarbenes Kleid mit Stickereien an den Ärmeln und am Saum. „Dieses müsste Ihnen passen.“

„Zu überladen. Wie wäre es mit dem blauen?“, meinte Charles, bevor Angela etwas sagen konnte.

„Das ist sehr hübsch“, pflichtete die Verkäuferin ihm bei. „Die Größe stimmt auch.“

Als er es sich genauer angesehen hatte, nickte Charles zustimmend. „Probier dieses an.“

Angela mochte sein autoritäres Verhalten nicht. Er behandelte sie wie ein Kind. Dennoch tat sie, was er von ihr verlangte, und als sie das Kleid angezogen hatte, sah sie ein, dass Charles recht hatte. Die blaue Farbe passte wunderbar zum Blau ihrer Augen, und der Schnitt betonte ihre jugendlich schlanke Figur. Der vordere Ausschnitt war verhältnismäßig hoch, doch dafür ließ der hintere viel Rücken frei. Wenn es mit dem dazu passenden kurzen Jäckchen kombiniert wurde, konnte das Kleid auch tagsüber zu feierlichen Anlässen getragen werden. Aber in Angelas Leben hatte es bisher keine feierlichen Anlässe gegeben, und sie fragte sich, ob es die für sie jemals geben würde.

„Es steht dir ganz hervorragend“, war Charles’ Kommentar, als Angela aus der Umkleidekabine trat. Während sie in der Kabine gewesen war, hatte Charles sich die anderen Artikel des Ladens angesehen und einen marineblauen Rock aus Baumwolle sowie zwei weiße Seidenblusen ausgewählt „Und jetzt probierst du diese Sachen an.“

Eine der Blusen hatte einen Seemannskragen mit blauer Borte, die andere einen Rundkragen und eingewebte Ornamente an der Vorderseite. Angela hatte das Gefühl, dass sie in den Blusen wie ein Schulmädchen wirkte, aber Charles fragte sie gar nicht nach ihrer Meinung und ließ beide Blusen einpacken.

„Jetzt brauchst du noch Schuhe“, stellte er fest, als sie den Laden verlassen hatten und auf der langen Geschäftsstraße weitergingen. „Die Verkäuferin hat mir ein Schuhgeschäft ganz in der Nähe empfohlen.“

„Ich kann mir auch selbst ein Paar Schuhe kaufen, wenn du nur eine halbe Stunde Zeit hast“, schlug Angela vor.

„Ich habe meine Verabredungen verlegt und bin nicht in Eile. In England ist es kalt, und du wirst warme Kleidung brauchen, aber der Sommer ist nicht mehr weit. Du solltest dich mit leichteren Sachen eindecken. Sicher bist du im Sommer nicht mehr so mager wie jetzt, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du jemals dick wirst“, sagte er mit einem Blick auf ihre schlanke Figur.

Im Schuhgeschäft brachte die Verkäuferin ein Paar hochhackige Schuhe zum Anprobieren, aber Charles schüttelte den Kopf.

„Du hast hübsche Füße. Mach sie nicht zu Schanden, indem du sie in enge Schuhe presst und auf hohen Hacken herumwackelst“, riet er Angela. „Wenn mir auffällt, dass eine Frau einen besonders schönen Gang hat, ist sie meistens barfuß – oder fast barfuß. Jedenfalls hat sie mit Sicherheit keine supermodernen Schuhe an.“

Angela war ganz seiner Meinung, konnte aber Charles’ Geschmack hinsichtlich der Farbe nicht teilen.

„Warum muss es denn diese Farbe sein? Sie erinnert mich an schlammiges Flusswasser. Ich hätte lieber blaue Schuhe – die würden viel besser zum Kleid passen“, meinte sie, als sie sich die Nylonsöckchen anzog, die die Verkäuferin ihr vor dem Anprobieren der flachen Schuhe gegeben hatte.

„Eine Frau, die viel in der Welt herumreist und dabei immer elegant aussieht, sagte mir einmal, wenn im Koffer nur Platz für ein Paar Schuhe ist, dann sollte man sich für Schuhe in dieser Farbe entscheiden“, erklärte Charles.

„Sagte sie auch, warum?“, hakte Angela nach.

„Nein, aber ich habe gesehen, mit wie wenig Gepäck sie auskam und wie gut sie trotzdem immer gekleidet war. Bei der Wahl der bestgekleideten Frau der Welt hätte sie vermutlich mehr Chancen als manche, die Kisten voller Kleidung besitzt, aber jedes Teil nur wenige Male anzieht.“

Angela fragte sich, wer diese Frau gewesen und wie eng Charles’ Verhältnis zu ihr gewesen war. Wenn eine Frau mit einem Mann über Kleidung sprach, dann musste sie spüren, dass er großes Interesse an ihr hatte, denn andernfalls würde sie fürchten, ihn zu langweilen.

Nachdem sie die Schuhe und eine Ledertasche in der gleichen Farbe gekauft hatten, gingen sie zurück zum Fluss.

„Du musst den Preis für alles, was wir heute kauften, vom Geld für deinen Anteil an der ‚Sea Fever‘ abziehen“, sagte Angela.

Bevor sie Bali verlassen hatten, war der Segler von einem Sachverständigen geprüft worden. Charles machte Angela daraufhin ein Angebot, das sie akzeptiert hatte.

In der Nähe des Hotels gingen sie an einem Geschäft vorbei, das Nachtbekleidung und Unterwäsche im Schaufenster ausstellte. Charles schien anzunehmen, dass Angela im Sarong schlief.

„Du solltest dir noch etwas für die Nacht kaufen. Such dir aus, was dir am besten gefällt.“ Er zog einige Fünfhundert-Bath-Noten aus der Brieftasche und gab sie ihr. „Die Päckchen werden dir ins Zimmer gebracht. Wir treffen uns um sieben Uhr in der Suite.“

Als Angela später ihr Hotelzimmer betrat, trug sie eine große Tüte. Sie hatte sich einen pfirsichfarbenen Seidenpyjama und einen aquamarinfarbenen Bademantel gekauft. Die Päckchen mit den vorher getätigten Einkäufen waren bereits ins Zimmer gebracht worden. Zu Angelas Überraschung war eines dabei, von dessen Existenz sie nichts wusste.

Es handelte sich um eine flache Schachtel. Vorsichtig öffnete Angela sie und fand darin eine Perlenkette und ein Paar Perlenohrstecker. Außerdem lag in der Schachtel ein Kärtchen mit einer Nachricht. Die Handschrift erkannte sie sofort. „Ein kleines Geschenk im Voraus zum achtzehnten Geburtstag.“

Um viertel vor sieben betrachtete Angela sich im Spiegel. Sie war mit ihrem Aussehen sehr zufrieden. Gleichzeitig kam sie sich aber auch fremd vor. War das wirklich noch Angela Dorset, die sie da im Spiegel erblickte, oder war dies nicht vielmehr Charles’ Werk? Er hatte sie schließlich zu der neuen Kleidung überredet. Sie musste sich erst daran gewöhnen, dass sie so elegant aussehen konnte.

Nachdenklich betrachtete Angela ihre Frisur. Passte das eigentlich zu der exklusiven Thai-Seide? Sie drehte das Haar zusammen, wickelte es auf und hielt es mit einer Hand hinter dem Kopf fest. Es sah tatsächlich viel besser aus. Aber heute Abend hatte sie weder Haarnadeln noch genügend Zeit, um das Haar hochzustecken. Sie nahm sich vor, alles Notwendige, einschließlich Make-up, in der Stadt einzukaufen. Einmal hatte sie einen Lippenstift besessen, doch er war in der Hitze geschmolzen, und Angela hatte es nicht für nötig erachtet, einen neuen zu kaufen.

Kurz vor sieben drückte sie auf die Klingel von Charles’ Suite. Er öffnete die Tür. „Absolut pünktlich“, sagte er lächelnd. Charles trug einen hellgrauen Anzug aus leichtem Stoff, ein hellblaues Hemd und eine graue Krawatte mit diagonalen hellblauen Streifen. Als er zur Seite trat, um Angela hereinzulassen, nahm sie einen feinen würzigen Duft wahr, der von einer Seife, einem Shampoo oder dem Rasierwasser herzurühren schien.

Charles führte Angela durch ein mit großen Spiegeln ausgestattetes Zimmer in einen luxuriös eingerichteten Salon. Von Leonora war weit und breit nichts zu sehen.

„Was darf ich dir anbieten? Orangensaft? Limonensaft?“

Angela hätte am liebsten einen Campari Soda getrunken, ein rosafarbenes Getränk, das am Nachmittag von einer jungen Frau am Swimmingpool bestellt worden war. Aber da sie nicht wusste, wie alkoholhaltig das Getränk war, entschied sie sich sicherheitshalber für einen Limonensaft.

Während Charles zu einem mit Goldornamenten verzierten Tisch ging, auf dem ein Tablett mit Getränken und Gläsern sowie ein Eiskübel standen, bedankte sich Angela.

„Vielen Dank für die Perlen. Das war sehr nett und großzügig von dir.“

„Mir fiel auf, dass deine Ohrläppchen durchstochen sind. In Amerika ist es üblich, dass man Frauen zu ihrem achtzehnten Geburtstag Perlen schenkt“, erklärte Charles.

„Bist du oft in Amerika?“

„Oft genug, um dort einen festen Wohnsitz zu haben.“ Er reichte Angela ein großes Glas. „Setz dich doch.“

Sie ließ sich in einem der dick gepolsterten, mit hellgrüner Thaiseide bezogenen Sofas nieder. Charles nahm gegenüber Platz.

Wenn Angela allein gewesen wäre, hätte sie jetzt die neuen Schuhe ausgezogen, um den weichen Flor des kostbaren chinesischen Seidenteppichs an ihren nackten Füßen zu spüren.

„Wie viel Platz man hier zur Verfügung hat“, staunte sie, während sie sich im Zimmer umsah. „Ich habe ausgerechnet, wie viel Mal eine Kajüte der ‚Sea Fever‘ in mein Hotelzimmer passen würde. Sogar das Bad ist größer.“

„Hast du ein Schaumbad genommen?“, erkundigte sich Charles lächelnd.

„Ja, und es war wunderbar. Vielleicht bade ich später noch einmal. Duschen genügt, um sauber zu werden, aber ein Schaumbad ist gut zum Nachdenken.“

„Hast du darüber nachgedacht, was du tun wirst, während der Segler überholt wird?“

„Ja. Ich habe zwei gute Ideen. Zum einen halte ich es für richtig, dass …“ Sie hielt inne, als sie hörte, wie hinter ihr eine Tür geöffnet wurde.

Charles erhob sich.

Vor wenigen Minuten noch hatte Angela den Eindruck, dass Charles sich über Leonoras Unpünktlichkeit ärgerte. Davon war nun jedoch nichts mehr zu spüren. Als er jetzt Leonora ansah, glaubte Angela in Charles’ Blick den Ausdruck eines Mannes zu erkennen, der von der Attraktivität einer Frau so beeindruckt war, dass er ihre Unzulänglichkeiten übersah.

Leonora schloss die Tür hinter sich und ging langsam auf Charles zu. Sie trug einen Rock aus glanzloser schwarzer Seide mit einem Schlitz an der Seite. Die Knöpfe waren offen. Über die Schultern hatte sie sich eine schwarze Seidenjacke gehängt. Eine glitzernde schwarze Bluse mit atemberaubendem Ausschnitt wurde in der Taille von einem breiten schwarzen Gürtel zusammengehalten. In Bali war Leonora eine außergewöhnlich gut aussehende Frau gewesen, doch hier in Bangkok, nach mehreren Stunden im Schönheitssalon, war sie eine wirkliche Schönheit.

„Hallo, Angie. Hübsch siehst du aus“, sagte sie freundlich, bevor sie sich Charles zuwandte. „Kannst du mir noch mal verzeihen, dass ich mich fünf Minuten verspätet habe?“, fragte sie ihn lächelnd und blickte ihm tief in die Augen.

Am folgenden Tag aß Angela nicht im Hotel zu Mittag, sondern kaufte sich frittierte Bananen und andere Leckerbissen an den Ständen auf der Straße. Sie fand die billigen Snacks, die in Papiertüten eingewickelt oder auf Holzspieße gesteckt angeboten wurden, leckerer als das große Dinner, das es am Abend im Hotelrestaurant gegeben hatte.

Nach dem Dinner hatte Leonora Charles überredet, mit ihr einen Nachtklub zu besuchen. Vorher hatten sie noch mit Angela das Programm für den nächsten Tag abgesprochen und waren übereingekommen, dass Angela mit Leonora Bangkoks Sehenswürdigkeiten ansehen und Einkäufe machen sollte. Nachdem Charles an diesem Morgen jedoch zu seiner geschäftlichen Verabredung gegangen war, hatte Leonora Angela telefonisch mitgeteilt, dass sie Migräne hätte und Angela nicht begleiten könnte. „Am besten ist es, du schließt dich einer Führung durch die Tempel an. An der Hotelrezeption gibt es Informationen darüber“, hatte sie Angela empfohlen.

Angela hatte keine Lust, mit anderen Touristen von einer Sehenswürdigkeit zur anderen zu hetzen. Stattdessen setzte sie sich in ein Tuk-Tuk, ein dreirädriges Fahrzeug mit lautem Motor, das an den Seiten offen war und hinter dem Fahrer Platz für zwei Passagiere bot, und ließ sich zum königlichen Palast bringen. Der Palast war so groß, dass er Angela wie eine eigene Stadt vorkam. Sie verbrachte fast den ganzen Vormittag dort.

Später benutzte sie ein anderes Tuk-Tuk zur Chinatown, wo sie sich den Nachmittag über im dichten Gewühl der Gassen und Märkte umsehen wollte. Hier nahm sie auch ihr Essen ein. Hinsichtlich der Hygiene hatte sie keine Bedenken, denn was in heißem Fett frittiert wurde, war bestimmt sicherer als manche Saucen und Puddings, die im Hotelrestaurant angeboten wurden.

Angela hatte sich gerade diverse Kosmetika und ein Paar bestickte Seidenpantoffeln gekauft, als sie plötzlich angesprochen wurde.

„Guten Tag“, sagte jemand hinter ihr.

Im ersten Moment erkannte sie den jungen Thai nicht, der sie lächelnd anblickte. Es war der Türsteher des Hotels, den sie tags zuvor in der Hotelhalle beobachtet hatte.

„Sie haben eingekauft? Haben Sie schöne Sachen gekauft?“, fragte er. „Sie sind weit weg vom Hotel. Finden Sie wieder zurück? Soll ich Sie führen?“

Angela war überrascht, wie gut er Englisch sprach. Mit seinen Sprachkenntnissen hätte er wirklich eine interessantere Arbeit verdient, als den ganzen Tag lang Türen zu öffnen, dachte sie.

„Sind Sie auf dem Weg zur Arbeit?“, fragte sie dann.

„Nein, ich arbeite erst wieder heute Abend, aber ich würde Sie gern begleiten. Im Augenblick habe ich nichts vor, und wenn ich mit Ihnen spreche, kann ich mein Englisch verbessern“, antwortete er.

„Aber Ihr Englisch ist doch schon gut genug“, erwiderte sie.

„Nein, nein, es ist sehr schlecht. Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn ich Sie begleiten dürfte.“

5. KAPITEL

„Wo bist du bloß gewesen?“

Angela war gerade aus der Stadt zurückgekommen und hatte auf den Lift zu ihrer Etage gewartet, als Charles aus dem Fahrstuhl trat und sie wütend anfuhr. Nicht nur Angela zuckte bei seinen scharfen Worten zusammen, sondern auch zwei Frauen, die neben ihr standen. Schließlich packte Charles Angela am Arm und zog sie vom Lift fort zu einem ruhigeren Teil der Empfangshalle.

„Leonora ist außer sich. Sie erwartete dich zum Lunch, und als du nicht kamst, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Als ich um vier Uhr zurückkehrte, war sie fast verrückt vor Sorge um dich.“

„Das … tut mir leid“, entschuldigte Angela sich zögernd. „Ich wollte schon vor einer Stunde zurück sein, aber ich bin aufgehalten worden. Wir haben uns anscheinend missverstanden. Ich wusste nicht, dass Leonora mich zum Mittagessen zurückerwartete, und ging davon aus, dass es reicht, wenn ich zum Nachmittagstee wieder da bin.“

„Wenn sie nicht ihre Migräne gehabt hätte, wäre sie heute Morgen nicht von deiner Seite gewichen“, erwiderte Charles heftig.

„Ich wüsste nicht, warum. Ich kann mich sehr wohl allein in einer Stadt bewegen. Schließlich habe ich das oft genug gemacht.“

„Aber nicht in Bangkok. Diese Stadt ist bekannt für ihre Bordelle. Hier gibt es mehr Prostitution als in jeder anderen Stadt des Fernen Ostens“, entgegnete Charles.

„Das mag sein“, gab Angela zu, „aber ich habe noch nie gehört, dass eine Touristin in ein Bordell entführt wurde. Der einzige Mann, der mich heute angefasst hat, bist du. Und du tust mir weh.“

„Entschuldige bitte.“ Charles ließ Angela los. Obwohl er noch immer verärgert wirkte, war seine Wut anscheinend verflogen. „Wir müssen Leonora sofort mitteilen, dass es dir gut geht.“

Sie stiegen in den Lift. Obwohl sie allein waren, schwiegen sie.

Angela wusste, dass es ein Fehler gewesen war, später als Charles zurückzukommen. Ludo wäre in einer vergleichbaren Situation ebenso verärgert gewesen, aber er hätte sie nicht in der Öffentlichkeit zurechtgewiesen oder ihren Arm so fest gepackt, dass sie blaue Flecken bekam. Ludo war immer selbstbeherrscht gewesen, doch Charles war ja auch fünfzig Jahre jünger als er.

Als sie den Lift verließen, hatte Angela sich wieder gefasst. Um ein Haar hätte sie Charles alles erklärt und sich entschuldigt, aber der Gedanke an Leonora hielt sie davon ab. Angela wusste, dass Leonora ihn belogen hatte. In Wirklichkeit hatte sie Angela weder zum Lunch erwartet, noch war sie besonders besorgt um Angela gewesen – außer vielleicht, weil man sie verantwortlich gemacht hätte, wenn Angela etwas zugestoßen wäre. In Wahrheit hätte es Leonora kaum berührt. Für Charles’ Freundin war Angela nur lästig.

Als Charles und Angela die Suite betraten, war Leonora nicht im Salon. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen.

„Alles in Ordnung – Angela ist zurück. Kein Grund mehr zur Panik“, rief Charles.

Er wollte gerade ins Schlafzimmer gehen, als Leonora ihm entgegenkam. Sie trug einen eng anliegenden grünen Morgenrock, und da sie keinen Lippenstift aufgetragen hatte, wirkte sie blass und erschöpft. Angela bemerkte jedoch, dass Leonora die Augenbrauen und Wimpern sorgfältig geschminkt hatte.

„Glücklicherweise geht es dir gut“, rief Leonora. „Wo um Gottes Willen hast du denn nur gesteckt? Ich habe mir schon die schlimmsten Situationen ausgemalt und mir dabei die Fingernägel abgebissen vor Sorge. Das war nicht nett von dir, Angela. Warum hast du mir denn nicht mitgeteilt, dass du den ganzen Tag fortbleiben wolltest? Weißt du nicht, wie man ein Münztelefon bedient?“

Angela erkannte, dass sie jetzt zwei Möglichkeiten hatte und sich schnell für eine entscheiden musste. Entweder sagte sie, dass Leonora mit ihrer Behauptung log, sie hätte Angela zum Mittagessen erwartet, oder sie akzeptierte Leonoras Lüge. Sie überlegte, was sie gewinnen würde, wenn sie Leonora als Lügnerin hinstellte. Charles würde ihr, Angela, wahrscheinlich nicht glauben, und Leonoras Verhalten ihr gegenüber würde noch feindseliger werden. Daher beschloss sie, Leonoras Unwahrheit hinzunehmen.

„Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Aber ich freue mich, dass du dir deine gepflegten Nägel nicht wirklich abgebissen hast. Es wäre schade gewesen, wenn sie meinetwegen gelitten hätten“, sagte Angela mit einem Blick auf Leonoras Hände. Da Leonora die Arme verschränkt hielt, kamen die rot lackierten Nägel gerade besonders gut zur Geltung.

Leonoras Gesichtsausdruck veränderte sich. „Du machst dir gar nichts daraus, du kleines …“

„Leonora“, unterbrach Charles sie energisch.

Leonora wandte den Blick von Angela ab und sah Charles kurz an. Dann drehte sie sich um, ging ins Schlafzimmer und schlug die Tür knallend hinter sich zu.

„Geh jetzt besser in dein Zimmer“, sagte Charles, wobei er Angela kühl ansah. „Vielleicht bist du heute Abend beim Dinner so anständig, dich richtig bei ihr zu entschuldigen.“

Statt Leonora ins Schlafzimmer zu folgen, ging er auf die Terrasse der Suite und stützte sich auf die Balustrade. Angela beobachtete ihn noch einen Moment lang. Ob er es wohl bereute, dass er sich ihrer angenommen hatte?

Als Angela kurz vor neunzehn Uhr auf dem Weg zu Charles’ Suite war, betrachtete sie sich in der spiegelnden Wand des Lifts und stellte voller Genugtuung fest, dass sie wenigstens zwei Jahre älter wirkte. Das Haar hatte sie hoch gesteckt, und statt der dezenten Perlenohrstecker trug sie halbmondförmige Silberohrringe. Außerdem hatte sie Lippenstift und Lidschatten aufgetragen, wobei sie jedoch sehr vorsichtig vorgegangen war. Sie wusste, dass zu viel Schminke ihr im Gegensatz zu Leonora nicht stand. Die Farbe des Lippenstifts war papayafarbenes Rosa, und von den sechs Farben ihres neu erworbenen Schminkkästchens hatte sie sich für Grau entschieden, das sie hauchdünn auf die Lider aufgetragen hatte. Die Wimpern waren mit blauer Tusche gefärbt. Die Anregung dazu verdankte sie einer Portraitaufnahme der Prinzessin von Wales. Angela hatte das Foto irgendwann einmal in einer Zeitschrift gesehen und aufgehoben.

Angela fragte sich, wie sie wohl auf Charles und Leonora wirken würde. In diesem Augenblick verließ gerade ein älteres Ehepaar sein Zimmer und trat auf den Gang. Angela grüßte sie höflich, und zu ihrem Erstaunen hörte sie kurz darauf, wie die Frau zu ihrem Mann sagte: „Sieht das Mädchen nicht genau aus wie Prinzessin Di? Einen Augenblick lang dachte ich, sie wäre es.“

Angela hatte nie darüber nachgedacht, aber vielleicht gab es wirklich Ähnlichkeiten zwischen ihr und der Prinzessin. Sie war ebenso groß und schlank und hatte eine ähnliche Unebenheit auf dem Nasenrücken wie die Prinzessin. Außerdem bildeten sich auch bei ihr kleine Grübchen an den Wangen, wenn sie lächelte, und der ganze Eindruck wurde noch verstärkt, weil sie das Haar hoch gesteckt trug.

Diesmal öffnete Leonora, nachdem Angela geläutet hatte. Sie drehte sich sofort um, ohne Angela anzublicken. Auch Charles, der gerade Getränke eingoss, blickte nicht auf, als Angela Leonora in den Salon folgte.

„Charles sagte mir, ich solle mich richtig bei dir entschuldigen, Leonora“, sagte sie schließlich. Erst jetzt blickten die beiden sie an. „Wenn du dir wirklich Sorgen um mich gemacht hast, bitte ich dich um Verzeihung“, fuhr Angela fort. „Ich habe mich nicht absichtlich verspätet, sondern ein interessantes Gespräch mit jemandem geführt und dabei vergessen, wie spät es war.“

Leonora zog die Augenbrauen hoch, als sie Angelas Frisur und die Ohrringe bemerkte. Sie schien die Veränderung nicht gutzuheißen. Was Charles dachte, konnte Angela nicht erraten.

„Mit wem hast du dich denn unterhalten?“, fragte er.

„Mit dem jungen Türsteher des Hotels. Wir trafen uns auf einem Markt im Chinesenviertel. Er heißt Cham und wuchs in einem Slum namens Klong Toey auf. Er erzählte mir davon und erklärte mir die Betonungen in der Thaisprache. Für uns Abendländer ist es sehr schwer, die richtigen Töne im Thailändischen zu lernen, weil wir es gewöhnt sind, unseren Gefühlen – wie zum Beispiel Zweifel oder Missfallen – durch Betonung und Tonhöhen Ausdruck zu geben. In der Thaisprache dagegen ist jede Bezeichnung fest mit einer Tonhöhe verbunden, und deshalb muss die Stimme emotionslos bleiben.“

„Und danach bot er dir an, dich zu einem Laden zu führen, wo Edelsteine zum Großhandelspreis verkauft werden, nicht wahr?“, fragte Leonora spöttisch.

„Er sagte nichts von Edelsteinen. Warum sollte er?“

„Weil das meistens der Grund ist, wenn Thais Ausländern gegenüber freundlich sind. Sie überreden jeden dazu, sie in ein bestimmtes Juweliergeschäft zu begleiten, und bekommen dafür vom Geschäft eine prozentuale Umsatzbeteiligung.“

„Cham tat so etwas nicht. Er dachte, ich hätte mich verlaufen, und bot mir an, mich zum Hotel zu begleiten. Unterwegs tranken wir etwas und kamen dabei ins Gespräch über die Thai-Sprache.“

„Vielleicht glaubt er, dass du noch länger in Bangkok bleibst und nimmt sich Zeit, um dein Vertrauen zu gewinnen. In Wirklichkeit denkt er an ein Geschäft, darauf kannst du dich verlassen“, entgegnete Leonora sarkastisch.

Angela war überzeugt, dass Chams Freundlichkeit kein Deckmantel für betrügerische Absichten war, doch sie hatte keine Lust, sich mit Leonora zu streiten. Stattdessen wechselte sie das Thema.

„Deine Bluse hat eine schöne Farbe“, sagte sie mit Blick auf Leonoras hellgrüne Bluse.

„Danke“, erwiderte Leonora. Sie antwortete rein automatisch und ohne ihrerseits auf Angelas Aussehen einzugehen. Hätte Angela nicht die Bemerkung der Frau auf dem Korridor gehört, wären ihr jetzt die ersten Zweifel gekommen, ob sie ihr Aussehen wirklich verbessert und sich nicht etwa nur zur Witzfigur gemacht hatte.

Als Angela mit Charles und Leonora im Restaurant saß, bemerkte sie an den Blicken der anderen Leute, dass sie heute besser aussah, auch wenn ihre Begleiter sich unbeeindruckt gaben.

Autor

Dani Collins
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