Traummänner & Traumziele: Toskana

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Märchenhafte Nächte in der Toskana
Wie ein Märchenprinz erscheint Sarahs neuer Nachbar genau zum richtigen Zeitpunkt. Lorenzo rettet sie vor dem Unwetter, das die toskanische Finca, in der sie Unterschlupf gesucht hat, zu zerstören droht. In seinem prunkvollen Palazzo kommt Sarah zur Ruhe und findet in Lorenzos Armen die Hoffnung auf die wahre Liebe: Zögernd genießt sie die liebevollen Aufmerksamkeiten des vermögenden Regisseurs, bis eine bittere Erkenntnis ihr Märchen zerstört …

Die Nacht auf der Jacht
Ein verführerischer Auftrag in der Toskana! Die Innenarchitektin Katie Carter soll das Castello von Conte Giovanni Amato neu einrichten. Er ist ein faszinierender Mann, aber Katie traut der Liebe überhaupt nicht! Vorsichtig geht sie dem Conte aus dem Weg - bis er sie zu einer Party auf seiner Luxusjacht einlädt. In einem atemberaubenden Abendkleid erscheint sie an Deck: der erste Fehler! Denn das Funkeln in Giovannis dunklen Augen verrät ihr: Sie hat den Jagdinstinkt des adligen Multimillionärs geweckt! Jetzt darf sie keinen zweiten Fehler machen ...

Verführt in aller Unschuld?
Die Kameras laufen heiß, als Savannah zum Auftakt des Rugbyspiels die Nationalhymne singt! Was nicht an ihrer Stimme liegt - sondern an der Tatsache, dass ihre üppigen Kurven gerade ihr Kleid sprengen. Durch einen Tränenschleier sieht sie einen attraktiven Mann auf sich zukommen. Die Sensation ist perfekt! Denn Ethan Alexander, steinreicher Sponsor, scheut sonst das Licht der Öffentlichkeit. Aus einem Grund, den niemand kennt ...

Zur Leidenschaft verführt
Begehrenswert, sinnlich, erotisch: Die schüchterne Charlotte fühlt sich wie verwandelt, als sie dem attraktiven Conte Raphael Della Striozzi begegnet. Seinen Garten in der Toskana sollte sie gestalten – mehr nicht! Doch dann überrascht dieser faszinierende Mann sie mit kostbaren Geschenken, lädt sie ein nach Florenz und verführt sie in seinem Luxusapartment zu ungeahnter Leidenschaft. Verzückt genießt Charlotte ihren italienischen Liebestraum, bis sie sich fragen muss: Will Raphael nicht mehr als pure Lust? Ist sie für ihren Traummann nur eine Geliebte auf Zeit?

(K)ein Mann für die Ewigkeit?
Ist es nur der Duft von Zitronenblüten, der ihre Sinne verzaubert? Wie gern würde die schöne Issy das glauben! Doch sie kann nicht leugnen: Es ist viel mehr Giovannis Nähe, die sie gegen ihren Willen so sehr erregt. Dabei möchte sie den aufregenden italienischen Herzog, der ihr schon einmal das Herz gebrochen hat, endlich vergessen! Doch wie? Gio kann als Einziger ihr geliebtes kleines Theater vor der Schließung retten. Doch dafür verlangt er, dass sie mit ihm in die Toskana fliegt - für eine letzte Liebeswoche auf seinem luxuriösen Anwesen bei Florenz ...…

Sag nichts, küss mich!
Nicolo Orsini ist ein echt sizilianischer Macho: charmant, sexy, und er liebt schöne Frauen - in seinem Bett. Wahre Gefühle kommen für ihn nicht infrage. Bis er für seinen Vater ein Weingut in der Toskana kaufen soll und auf die unwillige Tochter des Hauses trifft. Kratzbürstig stellt sich Principessa Alessia ihm jeden Tag neu entgegen. Nicolo weiß bald kaum noch, was er mit der aufreizenden Adligen machen soll. Sie durchschütteln? Keine schlechte Idee. Sie küssen, bis sie endlich ihren eigensinnigen Mund hält? Überraschend ist es diese Idee, die sein Herz am meisten lockt …...

War alles nur ein heißes Spiel?
So traumhaft hat sich Tess ihre Reise in die Toskana wirklich nicht vorgestellt: Sie begegnet der großen Liebe ihres Lebens! Doch Raphael di Castelli scheint nur mit ihren Gefühlen zu spielen. Nach seinen heißen Küssen am Strand von Porto San Michele glaubt Tess anfangs, dass der faszinierende Weingutbesitzer ihre stürmische Leidenschaft erwidert, aber seine kühlen Worte treffen sie mitten ins Herz. Raphael erklärt Tess, dass sie nur ein kleiner Urlaubsflirt für ihn sei...


  • Erscheinungstag 10.11.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787394
  • Seitenanzahl 1024
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

India Grey, Christina Hollis, Susan Stephens, Penny Jordan, Heidi Rice, Sandra Marton, Anne Mather

Traummänner & Traumziele: Toskana

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IMPRESSUM

JULIA erscheint 14-täglich im CORA Verlag GmbH & Co. KG,

20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

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Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Cheflektorat:

Ilse Bröhl

Lektorat/Textredaktion:

Sarah Hielscher

Produktion:

Christel Borges, Bettina Schult

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,

Marina Grothues (Foto)

Vertrieb:

asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg

Telefon 040/347-29277

Anzeigen:

Christian Durbahn

 

Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.

© 2009 by India Grey

Originaltitel: „Powerful Italian, Penniless Housekeeper“

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

in der Reihe: MODERN ROMANCE

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe: JULIA

Band 1937 (19/2) 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Übersetzung: Kara Wiendieck

Fotos: RJB Photo Library

Veröffentlicht im ePub Format im 09/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

ISBN-13: 978-3-86295-012-6

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

JULIA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Aus Liebe zur Umwelt: Für CORA-Romanhefte wird ausschließlich 100% umweltfreundliches Papier mit einem hohen Anteil Altpapier verwendet.

Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

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India Grey

Märchenhafte Nächte in der Toskana

1. KAPITEL

Begehrenswerter Junggeselle.

Mitten auf dem Parkplatz blieb Sarah stehen und zerknüllte den Briefumschlag, den sie in der Hand hielt. Sie musste einen begehrenswerten Junggesellen finden – so lautete ihre Aufgabe bei dieser dämlichen Schnitzeljagd.

Im wirklichen Leben war sie an dieser Aufgabe schon grandios gescheitert – sie würde eine Menge Glück brauchen, um heute Abend erfolgreicher zu sein.

Auf dem Parkplatz standen ausschließlich BMWs und Porsches. Sie hatte keine Lust in Oxfordshires trendigsten Pub zu gehen und schon gar nicht bei der Schnitzeljagd mitzumachen, mit der ihre Schwester ihren Junggesellinnenabschied feierte. Sie wollte nicht wieder diejenige sein, die ständig die Späße der anderen über sich ergehen lassen musste … Sarah, die alte Jungfer.

Seufzend fuhr sie sich mit der Hand durch die widerspenstigen Locken. Sich auf einem Baum zu verstecken, mochte ihr weit verlockender vorkommen, als in diesen Pub zu marschieren und einen begehrenswerten Junggesellen aufzutreiben, aber für eine Neunundzwanzigjährige gehörte sich so etwas eben nicht. Außerdem konnte sie sich nicht für den Rest ihres Lebens verstecken. Alle sagten, sie müsse mehr ausgehen und sich, um Lotties willen, endlich dem Leben stellen. Kinder brauchten Mutter und Vater, oder? Mädchen brauchten Väter. Früher oder später sollte sie wirklich jemanden finden, der die Lücke ausfüllte, die Rupert hinterlassen hatte.

Allein bei dem Gedanken wurde ihr eiskalt.

Die Tür zum Pub wurde geöffnet und eine Gruppe Städter schlenderte lachend und sich gegenseitig in bierseliger Laune auf die Schulter klopfend hinaus. Die jungen Männer bemerkten sie kaum, nur der Letzte schien sich gerade noch an seine Pflichten als Gentleman zu erinnern und hielt Sarah die Tür auf.

Verdammt! Jetzt musste sie wohl oder übel hineingehen. Sonst würden alle sie für eine Verrückte halten, deren Vorstellung von einer tollen Nacht darin bestand, auf dem Parkplatz vor einer Bar herumzuhängen. Sie murmelte ein Dankeschön, schob den Briefumschlag in die Tasche ihrer Jeans und schlüpfte hinein.

Seit sie vor einigen Jahren aus Oxfordshire weggezogen war, hatte das alte Rose and Crown sich von einer winzigen Dorfkneipe mit dunklen Teppichen und verblassten Drucken an den nikotingelben Wänden zu einem Tempel des guten Geschmacks gemausert. Der Boden bestand jetzt aus abgeschliffenen Eichendielen, an den Wänden war das alte Mauerwerk aus roten Ziegelsteinen freigelegt worden und dezente Hintergrundmusik half den zahlreichen Börsenmaklern und Anwälten beim abendlichen Chillen.

Am liebsten wäre Sarah sofort wieder gegangen, doch ein letzter Funken Stolz hielt sie zurück. Das ist ja lächerlich, dachte sie. Sie wusste, wie man Regale aufbaute. Sie füllte ihre Einkommensteuererklärung ohne Hilfe aus. Sie zog ihre Tochter ganz alleine groß. Ganz sicher würde sie es da auch noch schaffen, in einer Bar einen Drink zu bestellen.

Sarah schob sich an Menschen in Anzügen vorbei in Richtung Theke und schaute sich um. Die Terrassentüren standen offen. Angelica und ihre Freunde hatten sich um einen großen Tisch in der Mitte versammelt. Alle trugen dieselben Shirts, auf denen in riesigen Buchstaben „Angelicas letzter Flirt“ zu lesen war. Entworfen hatte die T-Shirts Angelicas erste Brautjungfer, ein gazellenhaftes Wesen namens Fenella. Fenella arbeitete in einer PR-Agentur. Die Idee zu der Schnitzeljagd stammte natürlich von ihr … und die T-Shirts gab es – auch klar! – nur in Größe S.

Verstohlen zupfte Sarah an ihrem Shirt, um den Streifen nackter Haut oberhalb ihrer Jeans zu verbergen. Wenn sie sich an ihren Diätplan gehalten hätte, hätten die Sachen heute vielleicht gepasst … dann würde sie jetzt bei den anderen stehen, die glänzenden Haare zurückwerfen, lachend an einem bunten Cocktail nippen und sich problemlos einen begehrenswerten Junggesellen angeln. Verdammt, wenn sie fünf Kilo leichter wäre, bräuchte sie gar keinen neuen Typen, weil Rupert nicht den brennenden Wunsch verspürt hätte, sich mit einer blonden Systemanalytikerin namens Julia zu verloben. Aber zu viele einsame Nächte auf dem Sofa mit nur einer Schachtel Pralinen als Gesellschaft, bedeuteten, dass sie es nicht einmal geschafft hatte, ein paar Pfund abzunehmen.

Insgeheim schwor Sarah, ihre Anstrengungen bis zur Hochzeit zu verdoppeln. Die sollte in einem Landhaus in der Toskana stattfinden, die Angelica und Hugh kürzlich gekauft hatten und jetzt ausbauen ließen. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder, wie Angelicas Freundinnen in ihren exquisiten Seidenkleidchen durch die neu gestalteten Gärten stolzierten, während sie sich in der Küche versteckte.

Fenella kam gerade von der Bar, hielt einige bunte Cocktails, mit Schirmchen und anderem Firlefanz verziert, in Händen und trat auf sie zu. „Da bist du ja! Wir haben die Hoffnung schon fast aufgegeben. Was willst du trinken?“

„Oh, ich nehme einen trockenen Weißwein“, erwiderte Sarah. Eingedenk ihres Schwur hätte sie ein Wasser nehmen sollen, aber sie brauchte unbedingt etwas Stärkeres, um den Abend zu überleben!

Fenella lachte. „Netter Versuch, aber das glaube ich nicht. Schau in deinen Umschlag … es ist deine nächste Aufgabe.“ Grinsend bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge.

Mit pochendem Herzen zog Sarah den Umschlag aus der Tasche. Ein leiser Aufschrei entrang sich ihrer Kehle.

Der junge Barkeeper warf einen Blick in ihre Richtung und deutete ein Nicken an, was Sarah als Aufforderung verstand, ihren Drink zu bestellen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, das Blut schoss ihr in die Wangen, als sie den Mund öffnete.

„Einen Screaming Orgasm, bitte.“

Ihre Stimme klang tief und brüchig, aber leider nicht auf eine sexy Art und Weise. Irritiert zog der Barkeeper eine Augenbraue hoch.

„Einen was?“

„Einen Screaming Orgasm“, wiederholte sie unglücklich. Ihre Wangen brannten vor Scham. Und die feinen Härchen im Nacken hatten sich aufgerichtet, als würde sie jemand beobachten. Was natürlich der Fall war. Sämtliche von Angelicas Freunden spähten neugierig durch die Terrassentür zu ihr hinüber.

Gut, zumindest die hatten ihren Spaß. Der Barkeeper strich sich den blonden Pony zurück. „Was ist das?“, fragte er tonlos.

„Ich weiß es nicht.“ Sarah hob das Kinn und schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln, um ihre wachsende Verzweiflung zu verbergen. „Ich hatte noch nie einen.“

„Sie hatten noch nie einen Screaming Orgasm? Dann erlauben Sie bitte …“

Die leise Stimme unterschied sich völlig von dem üblichen, eher an Schulhofgekreisch erinnernden Lärm der übrigen Rose and Crown-Besucher. Tief und samtig, wie im Eichenfass gereifter Cognac. Mit einem fremdartigen Akzent, den Sarah nicht sofort einzuordnen vermochte.

Sie wandte den Kopf. In dem Gedränge vor der Theke konnte sie den Sprecher kaum ausmachen, obwohl er genau hinter ihr stand. Nur das Dreieck olivenfarbener Haut unter seinem am Kragen offenen Hemd nahm sie bewusst wahr.

Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als er sich plötzlich vorbeugte. „Jeweils zu gleichen Teilen Wodka, Kahlua, Amaretto …“

Seine Stimme, dieser Akzent … Italienisch! Die Art, wie er „Amaretto“ sagte … als mache er ein intimes Versprechen. Unvermittelt richteten sich ihre Brustknospen auf.

Gott, was tat sie da nur? Sarah Halliday ließ sich doch nicht von irgendwelchen Fremden aushalten! Sie war eine erwachsene Frau, hatte eine fünfjährige Tochter und kleine, feine Dehnungsstreifen am Bauch, um es zu beweisen! Seit sieben Jahren war sie in denselben Mann verliebt. Abenteuer mit Barbekanntschaften entsprachen nun wirklich nicht ihrem Stil.

„Danke für Ihre Hilfe“, murmelte sie, „aber ich komme schon allein zurecht.“

Sarah blinzelte zu ihm hinauf. Die Abendsonne blendete sie, dennoch bekam sie einen vagen Eindruck von dunklem Haar, einem kantigen Gesicht und einem markanten Kinn, auf dem erste Bartstoppeln bläulich schimmerten. Er ist das genaue Gegenteil vom britischen Goldjungen Rupert, dachte sie unvermittelt.

Und dann erwiderte er ihren Blick.

Es fühlte sich an, als würde er die Hände ausstrecken und sie an seinen muskulösen Körper ziehen. Seine Augen schimmerten so dunkel, dass Sarah Pupille und Iris nicht voneinander zu unterscheiden vermochte. Einen Moment betrachtete er ihr Gesicht, dann ließ er seinen Blick tiefer wandern.

„Ich möchte Sie gerne einladen.“

Die Worte klangen einfach, fast banal. Trotzdem lag etwas in seiner Stimme, dass sie das Rauschen ihres Blutes in den Ohren hörte. Eine unbekannte Hitze breitete sich zwischen ihren Schenkeln aus.

„Nein, wirklich, ich kann …“

Mit zitternden Händen zog Sarah ihr Portemonnaie aus der Tasche und sah hinein. Abgesehen von ein paar Münzen war es praktisch leer. Bestürzt erinnerte sie sich daran, wie sie ihre letzte Fünfpfundnote Lottie für ihr sogenanntes Fluchglas hatte übergeben müssen. Lotties Umgang mit Flüchen war drakonisch und – seit sie das Glas eingeführt hatte – äußerst lukrativ. Sarahs Ärger über die dumme Schnitzeljagd war sie heute Nachmittag teuer zu stehen gekommen.

Von Panik ergriffen schaute sie auf und in die ausdruckslosen Augen des Barkeepers.

„Neun Pfund fünfzig“, sagte er.

Neun Pfund und fünfzig? Sie hatte einen Drink bestellt, kein Drei-Gänge-Menü! Von dem Geld konnten Lottie und sie eine Woche leben! Wie betäubt sah sie in ihr leeres Portemonnaie. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie gerade noch, wie der Fremde dem Barkeeper einen Schein reichte und den lächerlichen Drink entgegennahm.

Er drehte sich um und schritt durch die Menge der Barbesucher, die vor ihm zurückwich, wie die Wellen des Roten Meeres vor Moses. Ohne nachzudenken folgte Sarah ihm … und konnte den Blick nicht von den breiten Schultern unter dem blauen Hemd abwenden. Neben ihm wirkten die anderen Männer im Raum wie Zwerge.

Auf der Schwelle zur Terrasse blieb er stehen und hielt ihr den Drink hin. „Ihr erster Screaming Orgasm. Ich hoffe doch, Sie genießen ihn …“

Seine Miene blieb neutral, sein Tonfall höflich. Aber als sie das Glas nahm, und ihre Finger sich berührten, glaubte Sarah, einen elektrischen Schlag erhalten zu haben.

Sie entriss ihm das Glas so heftig, dass einige Tropfen auf ihrem Handgelenk landeten. „Wohl kaum.“

Fragend und spöttisch zugleich zog der Fremde eine Augenbraue hoch.

„Oh Gott, tut mir leid“, sagte Sarah, entsetzt über ihre Grobheit. „Ich wollte nicht undankbar klingen … immerhin haben Sie den Drink bezahlt. Es ist nur so, dass ich normalerweise etwas anderes bestellt hätte, aber ich bin sicher, er schmeckt köstlich.“ Und beinhaltet die erlaubte Kalorienmenge für drei Tage, dachte sie, trank einen Schluck und bemühte sich um einen erfreuten Gesichtsausdruck. „Mmm … lecker.“

Der Fremde schaute ihr unverwandt in die Augen. „Warum haben Sie ihn dann bestellt?“

Sarah lächelte verkrampft. „Gegen Screaming Orgasms habe ich theoretisch nichts einzuwenden, aber“, sie hielt den Umschlag hoch, „hier geht es um eine Schnitzeljagd. Ich muss die Gegenstände sammeln, die auf der Liste stehen. Meine Schwester feiert heute ihren Junggesellinnenabschied.“

Halbschwester, hätte sie vielleicht erklären sollen. Im Moment fragte er sich bestimmt, welche der äußerst hübschen Ladies am Tisch gegenüber dieselben Gene wie sie besaß.

„Das dachte ich mir bereits.“ Er sah auf ihr T-Shirt und schaute dann zu Angelica und ihren Freundinnen hinüber, die bereits eine erkleckliche Anzahl begehrenswerter Junggesellen um sich versammelt hatten. „Ihnen scheint die Sache nicht so viel Spaß zu machen, wie den anderen.“

„Oh, nein, ich habe eine tolle Zeit.“ Sie gab ihr Bestes, um überzeugend zu klingen und nahm noch einen Schluck von dem scheußlichen Cocktail.

Vorsichtig nahm der Mann ihr das Glas aus den Händen und stellte es auf einen benachbarten Tisch. „Sie sind eine der schlechtesten Schauspielerinnen, der ich seit Langem begegnet bin.“

„Danke“, murmelte sie. „Das war’s dann wohl mit meiner Karriere als Leinwandgöttin.“

„Glauben Sie mir, das war ein Kompliment.“

Rasch schaute sie auf. Bestimmt machte er sich über sie lustig, aber seine Miene wirkte absolut ernst. Einen Moment trafen sich ihre Blicke. Heißes Verlangen flammte in Sarah auf.

„Was steht noch auf Ihrer Liste?“, fragte er.

„Das weiß ich nicht.“ Sie zwang sich, den Kopf zu senken und auf den Umschlag in ihrer Hand zu sehen. „Erst wenn eine Aufgabe erledigt ist, darf man die nächste lesen.“

„Wie viele haben Sie geschafft?“

„Eine.“

Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, aber Sarah fiel auf, dass es nicht die Schatten aus seinen Augen vertrieb. „Der Drink war die erste Aufgabe?“

„Eigentlich die zweite. Die erste habe ich aufgegeben.“

„Und die war?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wichtig.“

Fast zärtlich nahm er ihr den Umschlag aus der Hand. Eine Sekunde war sie versucht, ihm das Papier wieder zu entreißen, doch ihr war klar, dass er viel mehr Kraft als sie besaß. Deshalb drehte sie nur verlegen den Kopf zur Seite.

Fenella beobachtete sie. Sarah sah, wie sie Angelica vielsagend lächelnd anstupste und dann in ihre Richtung deutete.

„Dio mio“, sagte der Fremde neben ihr angewidert. „Sie müssen einen begehrenswerten Junggesellen finden?“

„Ja. Nicht gerade meine Stärke.“ Wütend wandte Sarah sich von der Gruppe ab und lachte verbittert auf. „Ich nehme nicht an, dass Sie einer sind?“

Kaum hatte Sarah die Worte ausgesprochen, erstarrte sie förmlich vor Verlegenheit. Herrje, wie musste sie sich anhören? Als sei sie völlig verzweifelt! Als wolle sie ihn anmachen! „Tut mir leid“, murmelte sie. „Können wir so tun, als hätte ich das nie gefragt …?“

„Nein“, erwiderte er knapp.

„Bitte …“ Sie senkte den Kopf und blickte verschämt zu Boden. „Vergessen Sie es. Sie brauchen nicht zu antworten.“

„Das habe ich gerade getan. Die Antwort lautet Nein. Ich bin weder ein Junggeselle, noch sonderlich begehrenswert“, fuhr er fort und legte einen Finger unter ihr Kinn, sodass sie ihn ansehen musste. Seine Augen schimmerten schwarz und unlesbar. „Aber das wissen die nicht“, flüsterte er und neigte den Kopf.

Wie es sich mit spontanen Ideen nun mal so verhält, ist dies hier wahrscheinlich keine gute, dachte Lorenzo, während er die Frau mit dem unsicheren Blick musterte. Aber er langweilte sich. Und fühlte sich desillusioniert und frustriert. Und diese Unbekannte zu küssen, war ein guter Weg, diesen Gefühlen zumindest eine gewisse Zeit zu entkommen. Ihre Lippen schmeckten genauso süß, wie er sie sich vorgestellt hatte.

Noch schien sie widerspenstig. Ihren Mund hielt sie fest verschlossen. Wut auf die Gruppe lautstarker Frauen in der Mitte der Terrasse, die dieser unschuldigen Blume das Leben schwer machten, durchströmte ihn. Instinktiv umfasste er mit einer Hand ihr Gesicht, mit der anderen zog er sie enger an sich.

Lorenzo triumphierte innerlich, als sich ein leiser Seufzer ihrer Kehle entrang. Ihr Widerstand ließ spürbar nach. Sie öffnete die Lippen und bog sich ihm entgegen. Dann endlich erwiderte sie den Kuss mit einer unbeholfenen Leidenschaft, die er überraschend erfrischend fand.

Unvermittelt stellte Lorenzo fest, dass er lächelte. Zum ersten Mal seit Tagen … Dio, seit Monaten lag ein wirkliches Lächeln auf seinen Lippen.

Nach Oxfordshire zu kommen, glich einer verzweifelten Pilgerfahrt: Eine Suche nach Orten, die seit langer Zeit, dank eines kleinen Büchleins eines unbekannten Autors, das ihm durch Zufall in die Hände geraten war, in seinem Kopf existierten. Jahrelang verfolgten ihn Francis Tates wunderschöne lyrische Landschaftsbeschreibungen nun schon. Hergefahren war er letztendlich in der Hoffnung, hier seine Kreativität wieder zum Leben zu erwecken, die zusammen mit dem Rest seines Gefühlslebens nach und nach gestorben war. Aber er hatte enttäuscht feststellen müssen, dass hier nichts mehr dem ländlichen Paradies aus Eichen und Zypressen entsprach. Stattdessen hatte er nur die Parodie eines ursprünglichen Englands vorgefunden, nichtssagend und seelenlos.

Diese Frau in seinen Armen verkörperte das Lebendigste und Authentischste, was ihm seit seiner Ankunft begegnet war. Gefühle huschten über ihr Gesicht wie Schatten an einem Sommertag. Sie verbarg nichts. Spielte nichts vor.

Nach Tias Betrug empfand Lorenzo das als äußerst attraktiv.

Und außerdem war diese Frau sexy wie die Hölle. Hinter der offensichtlichen Unsicherheit verbargen sich Glut und Leidenschaft. Er küsste sie im Grunde nur, weil sie ihm leidtat; weil sie so traurig aussah; weil es nichts kostete und nichts bedeutete …

Aber er hatte nicht erwartet, dass er den Kuss so sehr genießen würde.

Lorenzos Lächeln wurde intensiver, während er eine Hand über ihren Rücken gleiten ließ, ihre Taille umfasste und die Unbekannte enger an sich zog. Flammende Sehnsucht durchströmte ihn, als seine Finger den warmen Streifen nackter Haut oberhalb ihrer Jeans berührten.

Die Frau erstarrte. Sie schlug die Augen auf und stemmte plötzlich die Fäuste gegen seine Brust. Gleichzeitig stolperte sie rückwärts. Ihre Lippen waren von dem Kuss leicht gerötet, und in ihren Augen schimmerten Qual und Schmerz, während sie hektische Blicke in Richtung ihrer nun johlenden und klatschenden Gruppe warf.

Einen Moment schaute sie ihn noch erschrocken an, dann wirbelte sie herum und bahnte sich einen Weg durch die Pubbesucher auf die Tür zu.

Natürlich war es nur ein Spaß. Genau darum ging es ja bei diesen Partys. Lachen. Flirten. Ein letztes Mal Spaß haben.

Sarah zwängte sich durch die Hecke am Rand des Parkplatzes. Einzelne Dornen verletzten ihre Haut. Wütend wischte sie mit dem Handrücken die Tränen beiseite. Autsch. Das tat weh. Und nur deshalb weinte sie … nicht, weil sie keinen Spaß verstand!

Auch wenn es demütigend war, einen völlig Fremden in einem Pub zu küssen, der sich sogar währenddessen ein Lachen nicht verkneifen konnte. Gott, nein! Sie würde sich doch über eine so harmlose lächerliche Sache nicht aufregen!

Sie war die Frau, die erst vor einer Woche das Catering bei einer Verlobungsfeier in den Sand gesetzt hatte, indem sie vor den Augen aller Gäste und des glücklichen Paars die Torte hatte fallen lassen – inklusive brennender Wunderkerzen. Der eine Teil des Paares bestand nämlich aus ihrem langjährigen Freund und Vater ihrer Tochter.

Schlimm war nicht, dass sie in eine offensichtlich von Angelica und ihren Freundinnen ausgeheckte Falle getappt war, sondern dass es sich so wunderbar angefühlt hatte. Sie kam sich so einsam und verlassen vor. Sogar durch den unbedeutenden Kuss eines Fremden hatte sie sich schön und begehrenswert gefühlt …

Und genau in dem Moment war ihr klar geworden, dass er sich nur über sie lustig machte.

Sarah erreichte die Spitze des Hügels. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein und aus. Hoch über ihr, am fast abendlichen Himmel, leuchtete silbrig der aufgehende Mond. Unwillkürlich musste sie an Lottie denken. Lächelnd setzte sie sich wieder in Bewegung. Mit schneller werdenden Schritten eilte sie den Hügel hinunter.

Lorenzo hob den Umschlag vom Boden auf, den die Unbekannte auf ihrer Flucht hatte fallen lassen.

Witzig, dachte er. In den Märchen ließ Aschenputtel immer einen Schuh zurück. Er drehte den Umschlag um. Ihr Name lautete nicht Aschenputtel, sondern …

Sarah.

Sarah. Der Name passte zu ihr.

Rasch trat er auf die dunkle Gasse vor dem Rose and Crown hinaus. Rechts von ihm befand sich der Parkplatz. Er rechnete fest damit, dass gleich ein BMW angeschossen käme, aber kein Motorengeräusch zerriss die Stille des Abends.

Nirgendwo war eine Spur von Sarah zu entdecken.

Er schirmte die Augen vor den letzten Strahlen der tiefstehenden Sonne ab, drehte sich langsam um und ließ den Blick über die Weizenfelder vor ihm wandern. Es war heiß und stickig und, abgesehen von den gedämpften Stimmen aus dem Pub hinter ihm, absolut still.

Gerade wollte er sich umdrehen und zurückgehen, da bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Jemand ging mit großen Schritten durch das Weizenfeld. Es war Sarah. Die untergehende Sonne schien ihr Haar in Brand zu setzen, es leuchtete in unglaublich warmen Rottönen – jeder Lichttechniker hätte damit den Oscar so gut wie in der Tasche.

Lorenzo verspürte eine innere Unruhe, die ihn stets befiel, wenn er arbeitete. Wie von selbst griffen seine Finger nach einer imaginären Kamera. Genau deshalb war er hergekommen. Hier, unmittelbar vor ihm, lag die Essenz von Francis Tates England, das Herz und die Seele eines Buches, in das Lorenzo sich schon vor langer Zeit verliebt hatte … eingefangen in dem Bild einer jungen Frau mit in der Sonne leuchtenden Haaren inmitten eines goldgelben Weizenfeldes.

Oben auf dem Hügel blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken, sodass die lockigen Haare ihr über die Schultern fielen. Dann ging sie weiter und verschwand aus seinem Blickfeld.

Wer diese Sarah war oder weshalb sie so plötzlich die Flucht ergriffen hatte, wusste er nicht. Und es interessierte ihn auch nicht. Doch er empfand ihr gegenüber große Dankbarkeit, weil sie ihm unwissentlich etwas zurückgegeben hatte, was er endgültig verloren geglaubt hatte. Den Hunger, wieder zu arbeiten.

Jetzt, dachte er düster, während er zurück zum Pub schlenderte, bleibt nur noch die wenig poetische Frage nach den Filmrechten offen.

2. KAPITEL

Drei Wochen später.

Sarahs Kopfschmerzen wurden immer schlimmer, Müdigkeit zerrte an ihren Gliedern. Sie schloss die Augen und atmete die warme Nachtluft ein. Fast augenblicklich besserte sich ihre Stimmung.

Toskana.

Dieser wunderbare Duft. Eine unverwechselbare Mischung aus Rosmarin, Zedern und von der Sonne gewärmter Erde erfüllte die Luft. Nichts erinnerte an den Londoner Smog, der in diesem Sommer besonders schlimm war. Seit Wochen wurde England von einer Hitzewelle heimgesucht, die Zeitungen kannten kein anderes Thema mehr. Hier in der Toskana fühlte die Hitze sich anders an. Sarah kam es vor, als erfüllte die Wärme ihren ganzen Körper und zwang sie, sich zu entspannen.

„Du siehst erschöpft aus, mein Liebling.“

Am anderen Ende des Tisches saß ihre Mutter, ein Glas Chianti in der Hand. Rasch unterdrückte Sarah ein Gähnen und setzte ein heiteres Lächeln auf.

„Das liegt an der Reise. Ich bin nicht daran gewöhnt. Aber es ist wunderschön hier.“

Und das stimmte sogar. In den vergangenen Monaten war sie so damit beschäftigt gewesen, sich vor Angelicas Hochzeit zu fürchten, weil die Feier sie unablässig an ihr eigenes Versagen in so vielen Bereichen erinnern würde, dass sie ganz vergessen hatte, wie schön es sein würde, nach Italien zu kommen. Es war die Erfüllung eines Lebenstraums … und stammte aus einer Zeit, als sie sich Träume leisten konnte.

„Es ist gut, dass du hier bist. Du brauchtest dringend ein bisschen Abstand, mein Schatz.“

„Ich weiß, ich weiß …“ Unbehaglich rutschte Sarah auf dem Stuhl hin und her. Der Hosenbund schnitt in der Tat ganz schön ein. Das einzig Gute an einem gebrochenen Herzen war, dass man seinen Appetit und Gewicht verlor, aber sie wartete immer noch darauf, dass diese Phase anfing. Im Augenblick befand sie sich nämlich noch in der „Trost-im-Essen-finden-Phase“. „Ich mache ja eine Diät, aber in letzter Zeit hatte ich an so vielen Fronten zu kämpfen … Rupert, die Geldsorgen, weil ich meinen Job verloren habe …“

„Das habe ich nicht gemeint“, unterbrach ihre Mutter sie sanft. „Ich meinte, du musst geistig mal abschalten. Aber wenn Geld ein Problem ist … Guy und ich helfen dir jederzeit.“

„Nein!“, erwiderte Sarah sofort. „Mir geht es gut. Bestimmt ergibt sich schon bald etwas.“ Ihre Gedanken wanderten zu dem Brief des Verlegers ihres Vaters zurück. Es war der Letzte in einer langen Reihe, seit sie die Rechte am Buch ihres Vaters geerbt hatte. Anfangs hatte sie die Anfragen ernst genommen, doch die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Francis Tates Roman vor allem mittellose Filmstudenten mit bizarren Vorstellungen anzuziehen schien. Seither verweigerte sie jedes Nutzungsrecht, ohne lange zu fragen.

„Wie geht es Lottie?“, fragte Martha.

Ein wenig ängstlich blickte Sarah zu ihrer Tochter hinüber, die auf Angelicas Knien saß. „Gut“, entgegnete sie. „Ihr ist noch gar nicht aufgefallen, dass Rupert nicht mehr kommt – was mir wiederum verdeutlicht, was für ein schlechter Vater er ist. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal wirklich Zeit mit ihr verbracht hat.“ Bei Ruperts letzten Besuchen in ihrer kleinen Wohnung hatten sie hastigen unbefriedigenden Sex während seiner Mittagspause gehabt. Der Gedanke an seine unbeholfenen gleichgültigen Berührungen ließ Sarah jetzt erschauern. Dass er keine Zeit hatte, die Abende oder die Wochenenden mit ihr zu verbringen, hatte er auf Probleme bei der Arbeit geschoben. Wie lange, fragte sie sich, hätte er sie eigentlich noch betrogen, wenn sie ihm nicht auf die Schliche gekommen wäre?

„Ohne ihn bist du besser dran“, erwiderte Martha, als wüsste sie genau, was in Sarah vorging.

„Ich weiß.“ Seufzend stand sie auf und räumte die Teller zusammen. „Ich brauche keinen Mann.“

„Das habe ich nicht gesagt. Ich meinte, ohne ihn, nicht ohne Mann im Allgemeinen.“

„Ich bin glücklich allein“, bekräftigte Sarah stur. Das war zumindest nicht ganz gelogen … völlig unglücklich war sie nicht. Allerdings brauchte sie nur an den dunklen gut aussehenden Italiener zurückzudenken, der sie auf Angelicas Party im Rose and Crown geküsst hatte, um zu wissen, dass ihrem Leben etwas fehlte. Eilig sammelte sie das Besteck ein, um ihre Hände beschäftigt zu halten. „Du vermisst nur Guy. Immer wenn er nicht da ist, wirst du sentimental.“

Guy und Hugh würden mit den anderen Gästen morgen eintreffen. Heute war also Mädelabend, wie Angelica es ausdrückte. Martha zuckte die Schultern. „Vielleicht. Ich bin halt eine alte Romantikerin. Ich will nur nicht, dass du deine Chance auf die Liebe verpasst, nur weil du nicht richtig hinschaust.“

Klar, dachte Sarah, wie groß sind wohl meine Chancen, dass das passiert? Sie trug die Teller hinaus. Ihr Liebesleben glich einer lebensfeindlichen Wüste. Wenn sich tatsächlich irgendetwas am Horizont zeigte, dann würde sie es unmöglich übersehen können.

Vor ihr lag das alte Bauernhaus, das Angelica und Hugh gekauft hatten. Eigentlich war es mehr eine Ansammlung aus kleineren Gebäuden mit sanft geschwungenen Dächern. Sarah ging in die Küche, die ehemalige Milchkammer, schaltete das Licht ein und stellte die Teller auf der brandneuen Arbeitsfläche aus Marmor ab. Obwohl Angelica und Hugh sich überhaupt nicht fürs Kochen interessierten, hatten sie keine Kosten gescheut, die Küche überaus luxuriös auszubauen. Ein kleiner Funken Neid flackerte in Sarah auf, während sie sich umschaute und die Einrichtung mit ihrer kleinen Einbauküche in ihrer Wohnung in London verglich.

Missmutig drehte sie den Wasserhahn auf und ließ eiskaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Hitze, Müdigkeit und ein Glas Chianti hatten sie dünnhäutig gemacht. Deshalb fiel es ihr schwerer als sonst, die düsteren Gedanken zurückzuhalten. Sie drehte den Hahn zu und trat wieder hinaus. Die kühlen Handgelenke auf den Nacken gepresst, gesellte sie sich wieder zu den anderen. Angelica berichtete gerade von den Katastrophen, die sich beim Umbau des Landhauses ereignet hatten.

„… in dieser Hinsicht ist er ein absoluter Fanatiker. Er besteht darauf, dass alles so authentisch wie möglich saniert wird. Unserem Architekten hat er irgend so einen obskuren Wisch unter die Nase gehalten. Anscheinend gibt es in der Toskana ein Gesetz, das uns verbietet, ein Glasdach auf die Küche zu setzen. Nein, wir müssen die alten Ziegel recyceln, damit der Originalcharakter des Hauses erhalten bleibt.“

Fenella verdrehte die Augen. „Der Mann hat ja leicht reden, schließlich lebt er in einem Palazzo aus dem sechzehnten Jahrhundert. Erwartet er etwa von euch, wie arme Schlucker zu leben, nur weil ihr ein Bauernhaus gekauft habt?“

Lächelnd schaute Martha auf, als Sarah sich wieder zu ihnen setzte. „Angelica und Hugh sind mit dem hiesigen Adel aneinandergeraten“, erklärte sie.

„Adel?“, stieß Angelica verächtlich aus. „Schön wär’s! Aber der Mann ist definitiv ein Neureicher. Ein Regisseur. Er heißt Lorenzo Cavalleri und ist mit dieser italienischen Schauspielerin Tia de Luca verheiratet.“

Sofort ging eine sichtbare Veränderung in Fenella vor. Den Namen eines Prominenten in ihrer Hörweite fallen zu lassen, hatte in etwa denselben Effekt, wie einem Hund einen Knochen hinzuwerfen. „Tia de Luca? Gerade habe ich ein Interview mit ihr gelesen. Sie hat ihren Ehemann für Ricardo Marcello verlassen. Und schwanger ist sie auch!“

„Oh, wie aufregend“, ging Angelica darauf ein. „Ricardo Marcello ist hinreißend. Ist das Baby von ihm?“

Man könnte meinen, sie reden über gute Bekannte, dachte Sarah und unterdrückte ein Gähnen. Natürlich wusste auch sie, wer Tia de Luca war – jeder wusste das! –, aber das komplizierte Liebesleben einer Frau, die sie niemals kennenlernen und mit der sie nichts gemein hatte, interessierte sie nicht. Fenella hingegen störte sich an solchen Details nicht.

„Ich bin mir nicht sicher. Sie hat angedeutet, dass das Baby auch von diesem Lorenzo sein könnte.“ Sie senkte die Stimme. „Hast du ihn schon getroffen?“

„Nein“, sagte Angelica. „Hugh allerdings schon. Er meinte, es sei schwierig, mit ihm zurechtzukommen. Typisch italienischer Macho, arrogant und von oben herab. Wir dürfen es uns mit ihm nicht verderben, weil die Kirche, in der wir heiraten wollen, auf seinem Land steht.“

„Mmm …“ Fenellas Stimme klang warm und samtig. „Klingt himmlisch. Ich hätte nichts dagegen, seine verderbte Seite zu sehen …“

Sofort war Sarah hellwach. „Okay, Lottie, Schlafenszeit.“

Als sie ihren Namen hörte, setzte Lottie sich, die es sich auf dem Schoß ihrer Großmutter bequem gemacht hatte, schläfrig auf. „Ich bin gar nicht müde, Mummy“, protestierte sie. „Wirklich nicht …“

„Oh, doch.“ Lottie besaß die Überzeugungskraft eines Politikers. Aber heute Abend kam sie damit nicht durch. Eine Mischung aus Erschöpfung und dem seltsamen Gefühl von Ruhelosigkeit ließ ihren Tonfall schärfer werden. „Bett. Sofort.“

Lottie schaute über Sarahs Schulter in den Himmel. Sorgenfalten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab. „Da ist kein Mond“, flüsterte sie. „Gibt es keinen Mond in Italien?“

Augenblicklich verflog Sarahs Ärger. Der Mond war Lotties Halt, ihre Kuscheldecke. „Doch, gibt es“, beruhigte sie das kleine Mädchen. „Nur ist er heute hinter den Wolken verborgen. Schau, man kann auch keine Sterne sehen.“

Die Sorgenfalten verschwanden. „Wenn der Himmel bewölkt ist, heißt das, es regnet heute Nacht?“

„Oh, nein, das darfst du nicht sagen!“, mischte Angelica sich lachend ein. Sie stand auf und gab Lottie einen Gutenachtkuss. „Der einzige Grund, weshalb wir die Hochzeit hierher verlegt haben, ist das Wetter. Es regnet nie in der Toskana!“

Bald würde es anfangen zu regnen.

Am offenen Fenster seines Arbeitszimmers stehend, atmete Lorenzo den Duft der trockenen Erde ein. Er schaute in das sternenlose Schwarz des Himmels hinauf. Seit Monaten herrschte Trockenheit, der Boden war völlig ausgedörrt und brauchte dringend Wasser.

Plötzlich hörte er lustvolle Laute hinter sich. Gerade noch rechtzeitig drehte er sich um, um zu sehen, wie der Liebhaber seiner Exfrau sich über ihren nackten Körper beugte und mit der Zunge ihre aufgerichtete Brustspitze umkreiste.

Perfekte Ausführung, dachte er, als auf dem übergroßen Flachbildschirm über dem Kamin eine Nahaufnahme von Tias leicht geöffneten Lippen erschien. Ricardo Marcello besaß das schauspielerische Talent eines Holzblocks, aber Liebesszenen spielte er sehr überzeugend. Resultat war leider, dass der gesamte Film, eine große Produktion über das Leben von Galileo Galilei, wesentlich mehr davon enthielt, als das Drehbuch ursprünglich vorgesehen hatte. Die Zuschauer würden aus dem Kino kommen, ohne viel über Galileos wissenschaftliche Leistungen erfahren zu haben. Dafür würden sie ihn als den Mann erinnern, der über außerordentliche Kenntnisse des Kamasutra verfügte.

Resigniert drückte Lorenzo die Pausentaste der Fernbedienung. Die Sonne umkreisend würde sich als großer Kassenerfolg erweisen, für ihn jedoch markierte der Film den kreativen Tiefpunkt seiner Karriere. Er hatte seine Integrität und seine Visionen gegen Geld eingetauscht, das er nicht brauchte, und gegen Ruhm, den er nicht wollte.

Getan hatte er es für Tia. Weil sie ihn darum gebeten hatte. Und weil er wiedergutmachen wollte, was er ihr nicht geben konnte.

Letzten Endes, dachte er bitter, habe ich alles verloren.

Als ob er die Stimmung seines Herrchens gespürt hätte, hob der Hund, der bislang auf dem Sofa gedöst hatte, den Kopf, sprang von den Polstern und presste seine feuchte Nase gegen Lorenzos Hand. Lupo war halb Collie, halb Windhund, halb irgendetwas. Doch so zweifelhaft sein Stammbaum auch sein mochte, an seiner Loyalität gegenüber Lorenzo bestand kein Zweifel. Während er die seidigen Ohren des Hundes kraulte, verflüchtigte sich seine Wut. Dieser Film hatte ihn zwar seine Frau, seinen Selbstrespekt und fast seine gesamte Kreativität gekostet, aber er war zugleich auch die Ziegelwand, gegen die er hatte laufen müssen, um aufzuwachen.

Auf dem Schreibtisch lag der Roman von Francis Tate. Er hob ihn hoch. Das Buch fühlte sich abgewetzt und weich an. Wie oft hatte er es in seine Tasche gesteckt, um in den kurzen Pausen während eines Drehs oder im Flugzeug darin zu lesen? Auf seiner ersten Reise nach England hatte er es zufällig in einem Antiquariat entdeckt. Damals war er neunzehn und hatte als Laufbursche für eine Produktion in London gearbeitet. Pleite und von Heimweh geplagt, hatte das Wort Zypressen auf dem Einband ihn wie ein nach Thymian duftendes Flüstern angesprochen.

Bedächtig blätterte er nun in den vergilbten Seiten. Hin und wieder las er einen Abschnitt und sofort entstanden vor seinem geistigen Auge dieselben Bilder wie vor zwanzig Jahren. Eine unbestimmte Sehnsucht stieg in ihm auf. Eine Verfilmung würde ihm wahrscheinlich kein Geld einbringen, vermutlich würde er noch draufzahlen, aber – verdammt! – er wollte diesen Film machen!

Unwillkürlich musste er wieder an die junge Frau aus dem Rose and Crown denken, wie sie durch das Weizenfeld geeilt war. An das Licht auf ihren nackten Armen, an ihr in der Abendsonne glänzendes lockiges Haar. Das Bild war für ihn zu einer Art Leuchtfeuer geworden. Für ihn verkörperte sie die Essenz seines Filmes: Ruhe und Aufrichtigkeit.

Ein Blatt Papier flatterte aus dem Buch und segelte zu Boden. Es war der Brief von Tates Verleger.

Vielen Dank für Ihr Interesse, aber Miss Hallidays Meinung hinsichtlich der Filmrechte an ‚Eichen und Zypressen‘ bleibt unverändert. Natürlich werden wir Sie, sobald Miss Halliday eine andere Entscheidung trifft, diesbezüglich informieren.

Frustriert ließ er das Buch wieder auf den Tisch fallen und wandte sich dem offenen Fenster zu. Eine leise Brise war aufgekommen, stark genug, um die Papiere auf seinem Schreibtisch rascheln zu lassen. Die Planeten eines kleinen Modells des Sonnensystems auf der Fensterbank drehten sich um ihre Achsen.

Eine Veränderung lag in der Luft.

Er hoffte nur, dass diese Miss Halliday, wer auch immer sie war, es auch spürte.

Jäh wachte Sarah auf, das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

In den vergangenen Wochen hatte sie sich daran gewöhnt, auf einem tränenfeuchten Kissen aufzuwachen. Aber dieses Kissen war nicht feucht, es war nass. Ebenso die Bettdecke und ihr übergroßes T-Shirt aus Baumwolle, in dem sie schlief, seit Rupert sie verlassen hatte. Außerdem war es dunkel. Zu dunkel. Das Flurlicht schien nicht mehr durch den Türspalt. Sarah hörte das Geräusch von fließendem Wasser. Es regnete.

Im Haus.

Ein dicker Tropfen landete auf ihrer Schulter und versickerte im T-Shirt. Hastig sprang sie aus dem Bett und drückte den Lichtschalter. Nichts passierte. Instinktiv blickte sie zur Decke hinauf. Ein weiterer Tropfen traf sie genau zwischen die Augen. Sie stieß einen knappen Fluch aus.

„Mummy“, murmelte Lottie. „Das habe ich gehört. Du musst zehn Pence ins Fluchglas werfen.“ Dann das Rascheln von Laken, als Lottie sich aufsetzte. „Mein Bett ist nass.“

Sarah bemühte sich um einen gelassenen Tonfall, als sei von der Decke tropfender Regen etwas völlig Normales. „Das Dach scheint undicht zu sein. Schauen wir, ob wir einen trockenen Pyjama für dich finden, und sehen nach, was eigentlich los ist.“

Lotties Hand haltend, tastete sie sich die Wand entlang in Richtung Treppe – hoffentlich erinnerte sie den Weg richtig.

„Warum schalten wir nicht das Licht ein?“, flüsterte Lottie.

„Das Wasser muss einen Kurzschluss verursacht haben. Mach dir keine Sorgen, mein Engel, es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Ich bin sicher …“

In diesem Moment ertönte ein lautes Kreischen aus Angelicas Zimmer. Offensichtlich hatte sie die Katastrophe gerade bemerkt. „Oh, Gott“, schrie ihre Schwester panisch und riss die Tür auf. „Alle aufwachen! Wasser! Es regnet durchs Dach!“

Lotties Griff um ihre Hand wurde fester, als sie die Hysterie in Angelicas Stimme hörte. „Wissen wir längst.“ Sarah bemühte sich, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. „Am besten ist es, wir bleiben alle ruhig und finden heraus, was passiert ist.“

Aber das Einzige, was Angelica normalerweise beruhigen konnte, war eine Entspannungsmassage in einem Luxus-Spa. Fenella gesellte sich zu ihnen. Jammernd fielen die Freundinnen sich in die Arme.

„Liebling, was, um alles in der Welt, ist hier los?“, meldete Martha sich zu Wort. „Ich dachte schon, ich sei aus Versehen im Bad eingeschlafen. Alles ist nass!“

„Muss ein Problem mit dem Dach sein“, erwiderte Sarah müde. „Mum, du passt auf Lottie auf. Angelica, wo finde ich eine Taschenlampe?“

„Woher soll ich das wissen?“, jammerte Angelica. „Für Werkzeug ist Hugh zuständig. Oh, Gott, warum ist er nicht hier? Oder Daddy? Er würde wissen, was zu tun ist.“

„Ich weiß, was zu tun ist“, sagte Sarah genervt und tastete sich die Treppe nach unten. Denn genau das geschah, wenn man nicht ständig einen Mann um sich hatte, der sich um alles kümmerte … man entwickelte etwas, das man Unabhängigkeit nannte. „Ich suche eine Taschenlampe, dann gehe ich hinaus und sehe nach, was mit dem Dach los ist.“

„Du kannst doch nicht bei dem Wetter aufs Dach klettern“, fuhr Angelica sie an.

„Sie hat recht, mein Liebling“, sagte Martha. „Das ist wirklich keine gute Idee.“

„Gut, dann sagt Bescheid, sobald euch eine bessere einfällt“, rief Sarah wütend zurück. Als einzige Antwort war das Geräusch tropfenden Wassers zu hören.

Der Küchenboden war schon zentimeterhoch mit Wasser bedeckt. In einem der Schränke fand Sarah schließlich eine kleine Taschenlampe. Sie schaltete sie ein, öffnete die Tür und trat in den strömenden Regen hinaus.

Es war, als würde man sich angezogen unter die Dusche stellen. Nun, vielleicht nicht ganz angezogen, schoss es Sarah durch den Kopf, als sie an ihrem gestreiften Shirt hinunterblickte. Binnen Sekunden war sie völlig durchnässt. Sie warf die nassen Haare zurück und marschierte tapfer weiter.

Sie richtete die Taschenlampe auf das Dach. Nichts deutete auf das Desaster hin, das sich im Inneren des Hauses abspielte.

„Sarah … du bist ja ganz nass! Liebling, komm wieder herein.“ Ihre Mutter erschien auf der Schwelle. Sie trug einen Regenmantel über ihrem eleganten Nachthemd. Zusätzlich hielt sie einen Schirm in der Hand. „Wir können hier nichts ausrichten. Angelica und Fenella sind mit Lottie zu dem Regisseur gefahren, um ihn um Hilfe zu bitten.“

Sarah ließ den Lichtstrahl das geschwungene Dach entlanggleiten. „Aber es ist mitten in der Nacht. Sie können doch nicht bei einem Wildfremden um diese Zeit klingeln.“

„Liebling, wir sind arme Frauen in Bedrängnis. Es handelt sich um einen Notfall. Wir können nicht bis zum Morgen warten … wir müssen jetzt gerettet werden!“

„Ich nicht“, murmelte Sarah, während sie einen der Verandastühle zur Wand zog. Die Regenrinne als Behelfsleiter benutzend, zog sie sich aufs Dach. Die Ziegel fühlten sich rau unter ihren nackten Knien an, machten jedoch einen stabilen Eindruck. Langsam stand sie auf und machte einige vorsichtige Schritte auf dem geschwungenen Dach. Die Fläche sah ungleichmäßig und uneben aus, doch schien keiner der Ziegel zu fehlen. Sarah richtete die Taschenlampe auf den Punkt, wo das Küchendach an die Wand des Nebengebäudes stieß. War dort nicht eine Lücke?

In diesem Moment ertönten laute Stimmen unter ihr. Plötzlich war sie in helles Licht getaucht. Erschrocken fuhr sie zusammen und hob die Hände vor die Augen, um sich vor dem gleißenden Licht zu schützen, wobei sie versehentlich die Taschenlampe fallen ließ.

„Verdammt noch mal!“

„Bleiben Sie, wo Sie sind. Nicht bewegen!“

In dem hellen Lichtschein war es unmöglich, irgendetwas zu sehen. Instinktiv stolperte sie rückwärts, um den Eigentümer jener tiefen italienischen Stimme auszumachen. Gleichzeitig versuchte sie, das durchnässte Baumwollshirt weiter nach unten zu ziehen, um ihre nackten Beine ein bisschen mehr zu bedecken.

„Ich sagte, Sie sollen stehen bleiben. Wollen Sie sich umbringen?“

„Im Moment bin ich durchaus versucht“, erwiderte Sarah finster. „In Anbetracht der Tatsache, dass ich halb nackt bin, und Sie einen Scheinwerfer auf mich gerichtet haben. Könnten Sie vielleicht endlich dieses Licht ausschalten?“

„Und wenn ich das tue, wie wollen Sie dann wieder herunterkommen?“

„Bevor Sie mich geblendet haben, bin ich sehr gut alleine zurechtgekommen.“

„Dass Sie sich noch nicht den Hals gebrochen haben, ist reines Glück. Was, zur Hölle, haben Sie sich dabei gedacht, bei diesem Wetter aufs Dach zu klettern?“

Sarah stieß ein verärgertes Schnauben aus. „Sie klingen genau wie meine Mutter. Darf ich vielleicht darauf hinweisen, dass ich selbstverständlich nicht hier oben wäre, würde es nicht ins Haus regnen. Ich versuche herauszufinden, woher das Wasser kommt. Ich glaube, dort drüben kann ich ein …“

„Wenn ich darüber nachdenke, will ich es doch nicht wissen“, unterbrach er sie unüberhörbar genervt. „Und jetzt kommen Sie bitte langsam zum Rand.“

„Sind Sie verrückt geworden?“ Sie strich sich die nassen Haare aus der Stirn. „Warum?“

„Weil ich weiß, dass sich dort ein Balken befindet, der Ihr Gewicht tragen kann.“

„Oh, vielen Dank auch! Das ist wohl ein stahlverstärkter …“

„Sarah, tun Sie es einfach!“

Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, ließ sie erschrocken zusammenfahren. Es dauerte einige Sekunden, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.

„Woher weiß ich, dass ich Ihnen vertrauen kann?“, fragte sie missmutig. „Sie könnten sonst wer sein.“

„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für langwierige Vorstellungen. Sagen wir einfach, ich heiße Lorenzo, und im Moment bin ich der Einzige, der zwischen Ihnen und einem hässlichen Absturz steht.“

Seine Stimme stellte seltsame Dinge mit ihr an. Unangemessene Dinge. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, Lorenzo, aber ich finde, Sie nutzen Ihre Position schamlos aus. Ich bin nicht dumm, wissen Sie … bevor ich aufs Dach geklettert bin, habe ich mich vergewissert, dass es stabil ist. Es ist nicht sonderlich steil, und die Ziegel sind alle gut befestigt …“

Sarah machte einen Schritt in Richtung Kante. Plötzlich knirschte der Ziegel unter ihrem Fuß bedrohlich und brach dann auseinander. Erschrocken schrie sie auf und ruderte wild mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Auf einmal hatte sie Angst.

„Alles in Ordnung. Ich bin ja da.“

„Sie haben gut reden“, rief Sarah mit einem leicht hysterischen Lachen. „Sie sind ja nicht derjenige, der durchs Dach krachen und auf dem Küchentisch landen wird.“

„Das wird nicht passieren.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Weil ich es nicht zulasse.“

Der Lichtstrahl wurde zur Seite geschwenkt. Die plötzliche Dunkelheit ließ Sarah frösteln. Doch einen Moment später sprach der Fremde wieder. Seine Stimme klang warm und samtig und schien viel näher zu sein.

„Ich kann nicht gleichzeitig die Lampe halten und Sie retten. Hören Sie also bitte genau auf meine Anweisungen. Okay?“

„Okay.“

„Kommen Sie langsam zum Rand des Daches. Bleiben Sie stehen, sobald ich es Ihnen sage.“

Sarah tat wie geheißen. Ein kläglicher Laut entrang sich ihrer Kehle, als abermals ein Ziegel unter ihr brach.

„Bleiben Sie stehen“, befahl er. Und obwohl sein Tonfall durchaus herrisch wirkte, lag eine sinnliche, fast intime Note darin. „Strecken Sie die Arme aus, ich hebe Sie herunter.“

„Nein! Das geht nicht! Ich bin viel zu schwer, ich …“

Ihr restlicher Protest blieb ungesagt, weil sich in diesem Moment starke Arme um ihre Hüften legten und sie gegen einen sehr männlichen Körper gepresst wurde. Durch die nassen Kleider hindurch spürte sie die Wärme, die von seiner muskulösen Brust ausging. Wie von selbst legten sich ihre Hände auf seine Schultern. Und trotz ihrer Furcht fühlte sie seine Stärke. Unvermittelt breitete sich Hitze in ihrem frierenden Körper aus.

„Danke“, murmelte sie und versuchte, sich ihm zu entziehen, sobald ihre Füße etwas Festes berührten. Sofort schien die Welt auf dem Kopf zu stehen. Taumelnd wurde ihr klar, dass sie nur auf einem wackligen Tisch stand, den der Fremde seinerseits als Leiter benutzte. Er zog sie wieder in die Sicherheit seiner Arme.

„Allmählich glaube ich, Sie hegen doch Selbstmordgedanken“, meinte er, hob ihre Beine auf den einen Arm und sprang leichtfüßig vom Tisch.

„Wenn dem so wäre, könnte ich mir elegantere Arten vorstellen, diese Welt hinter mir zu lassen, als in einem alten T-Shirt vom Dach zu fallen. Und jetzt lassen Sie mich, bitte, runter.“

„Der Kies ist scharfkantig, und Sie haben keine Schuhe an.“

„Ich komme schon zurecht. Bitte …“ Sarah war das alles sehr unangenehm. Mittlerweile musste er dank ihres Gewichts unter höllischen Rückenschmerzen leiden. Allerdings ließ er sich nicht anmerken, dass sie geringfügig mehr als eine Feder wog. Trotz ihrer Worte hielt er keine Sekunde inne, sondern trug sie mit gleichmäßigen Schritten zu einem großen Jeep, der undeutlich in der Dunkelheit zu erkennen war. „Wohin fahren wir überhaupt?“

„Nach Hause.“

„Nein, auf keinen Fall. Lassen Sie mich sofort runter!“

Er seufzte. „Wenn Sie das wirklich wollen.“

Ein irrationales Gefühl von Enttäuschung breitete sich in ihr aus, als er sie zu Boden gleiten ließ und einen Schritt zurücktrat. Sie schwankte ein wenig, als die Kieselsteine sich schmerzhaft in ihre Fußsohlen bohrten.

„Ja“, erwiderte sie und hoffte, er bekam von ihrer Verunsicherung nichts mit. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, uns zu helfen, aber wir halten schon bis morgen früh durch. Außerdem kennen wir uns gar nicht. Und wir sind zu fünft, also …“

„Damit liegen Sie falsch.“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun, zum einen befindet Ihre Familie sich bereits im Palazzo.“

„Was? Aber sie können doch nicht einfach … Das kommt überhaupt nicht infrage.“

„Witzig. Ihre Schwester hat genau das Gegenteil gesagt. Und ihre Freundin ebenso. Fenella, richtig?“

Wieder diese verfluchte Fenella. Unvermittelt musste Sarah an ihre Worte beim Abendessen denken. Klingt himmlisch. Ich hätte nichts dagegen, seine verderbte Seite zu sehen … Nicht in einer Million Jahre würde sie sich die Gelegenheit entgehen lassen, einen Fuß in den Palazzo eines berühmten Regisseurs zu setzen.

Als er die Wagentür öffnete und einen Moment die Innenbeleuchtung aufflammte, glaubte Sarah, ihr Herz müsse stehen bleiben. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf markante Wangenknochen und einen dunklen Bartschatten, dann verschmolz der Fremde wieder mit der Dunkelheit.

Einen Augenblick hatte er sie an den Mann erinnert, der sie damals im Rose and Crown geküsst hatte. Aber das war natürlich lächerlich. Es gab solche Zufälle einfach nicht. Hastig ließ sie sich auf den Beifahrersitz gleiten, legte den Sicherheitsgurt an und blickte starr aus dem Fenster.

„Gleich morgen früh rufe ich einen guten ortsansässigen Handwerker an, der sich um das Dach kümmert“, sagte sie steif, als er den Motor anließ.

„Kennen Sie denn viele gute Handwerker in der Gegend?“

„Nein, aber ich vermute, jeder ist besser als der Idiot, den Angelica und Hugh aus London eingeflogen haben. Keine Ahnung, was der mit dem Dach angestellt hat.“

„Wahrscheinlich hat er die Ziegel verkehrt herum eingebaut. Toskanische Ziegel sind leicht gewölbt. Legt man sie falsch aus, kann Wasser in die Zwischenräume eindringen. Sollte ich recht haben, muss das gesamte Dach neu gedeckt werden.“

Sarah seufzte auf. „Oh, nein. Übermorgen findet doch die Hochzeit statt. Ich muss mir sofort etwas einfallen lassen.“

Es entstand eine kurze Pause, dann fragte er leise: „Weshalb sind Sie dafür verantwortlich?“

„Sie haben doch Angelica und meine Mutter kennengelernt. Mit einem vernünftigen Vorschlag von ihrer Seite ist nicht zu rechnen, und wir können nicht warten, bis Hugh und Guy eintreffen.“

„Hugh habe ich getroffen, aber wer ist Guy?“

Die Scheibenwischer bewegten sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, der warme Luftstrom der Heizung ließ ihre Haut prickeln. Plötzlich fühlte Sarah sich sehr, sehr müde. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. „Guy ist mein Stiefvater, Angelicas Vater. Er ist derjenige, der dafür sorgt, dass alles glattgeht … vor allem, wenn es um Angelica geht. Aber ich fürchte, ein gesamtes Dach in unter vierundzwanzig Stunden neu decken zu lassen, übersteigt auch seine Fähigkeiten.“

„Sie kommen nicht gut mit ihm aus?“

„Oh, doch. Jeder tut das. Er ist charmant, geistreich, sehr großzügig …“

„Aber?“

Ohne es bewusst wahrgenommen zu haben, hatte der Wagen gehalten. Immer noch prasselte Regen aufs Dach. Zusammen mit dem schnurrenden Motor fühlte sie sich auf einmal seltsam sicher und beschützt. Vielleicht rührte das Gefühl auch von dem Mann neben ihr her … diesem Fremden namens Lorenzo Cavalleri. Einen Moment dachte sie daran zurück, wie es sich angefühlt hatte, in seinen Armen zu liegen und sich retten zu lassen.

Abrupt setzte Sarah sich auf und öffnete die Augen. Sie tastete nach dem Türgriff.

Sich von ihm retten zu lassen.

Oh, nein! Sie brauchte nicht gerettet zu werden! Sie hatte nicht darum gebeten und konnte gut darauf verzichten! Sie kam hervorragend ohne Mann zurecht. Noch einmal würde sie nicht den Fehler begehen und ihre Hormone ihre Vernunft übertölpeln lassen. Nicht nach dem, was Rupert ihr angetan hatte. Nicht nach dem Kuss im Rose and Crown.

„Er ist nicht mein Vater, das ist alles“, erklärte sie knapp, stieß die Tür auf und stieg aus.

Wie klein die Welt doch ist, dachte Lorenzo, während er zur Eingangstür des Palazzo schlenderte. Unwillkürlich umspielte ein Lächeln seine Lippen, als er zu der Frau hinüberschaute. Sie verharrte absolut still, als könne der Regen ihr überhaupt nichts anhaben.

„Bitte, treten Sie ein.“

Sie rührte sich nicht. „Es tut mir wirklich leid“, murmelte sie. „Es ist nicht richtig. Wir kennen Sie doch gar nicht. Vielleicht sollten wir einfach wieder gehen und …“

Kommentarlos stieß Lorenzo die Tür auf. Warmes Licht ergoss sich vom Flur in den dunklen Innenhof. Er trat einen Schritt zur Seite, um ihr den Vortritt zu gewähren. Und da sah er in ihren Augen, dass sie ihn jetzt im Moment wiedererkannt hatte.

Hastig hob sie eine Hand vor den Mund. Hinreißende Röte breitete sich auf ihren Wangen aus, dann stolperte sie rückwärts in die Dunkelheit. Lorenzo streckte die Hand aus und zog sie mit sich in den Flur.

„Du gehst nirgendwohin“, sagte er sanft. „Diesmal nicht.“

3. KAPITEL

„Diesmal.“

Sarah lehnte mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Von der luxuriösen Pracht des Raumes, in dem sie sich befand, bekam sie überhaupt nichts mit. „Diesmal? Dann wusstest du es? Die ganze Zeit über, in der ich mich zum Idioten gemacht habe, wusstest du, dass ich es bin?“ Mit Entsetzen ließ sie die Ereignisse der vergangenen Stunde Revue passieren. „Du hättest etwas sagen können.“

„Und wenn ich das getan hätte?“

Peinlich berührt schloss sie die Augen. Welch lächerlichen Anblick sie in dem nassen T-Shirt geboten haben musste!

In diesem Moment ertönte eine bekannte Stimme. „Da bist du ja, mein Liebling! Du siehst wie ein begossener Pudel aus.“ Sarah spürte, wie noch mehr Blut in ihre Wangen schoss, als sie ihre Mutter auf sich zukommen sah. Martha trug noch immer ihr Nachthemd und den Mantel, hielt darüber hinaus nun aber auch einen großen Drink in der Hand, als befinde sie sich auf einer etwas unkonventionellen Cocktailparty. „Komm mit in den Salon und nimm dir ein Handtuch, Sarah. Wir sind alle dort versammelt, trocknen uns vor dem offenen Kamin und wärmen uns an Signor Cavalleris ausgezeichnetem Brandy.“ Kokett schlug sie die Lider in Lorenzos Richtung nieder. „Er ist ein wahrer Gentleman.“

Sarah war das alles nur unangenehm. Genauso hatte sie sich immer in der Schule gefühlt, wenn Martha und Guy bei Sportfesten mit dem Rolls-Royce vorgefahren waren und lautstark die Champagnerkorken hatten knallen lassen, während alle anderen Eltern Tee aus Thermoskannen tranken. „Mum, bitte“, sagte sie genervt und folgte ihrer Mutter in einen Raum zu ihrer Rechten. „Ich glaube, wir sollten wirklich nicht …“

Wie angewurzelt blieb sie stehen. Das Zimmer besaß dieselben prunkvollen Ausmaße wie die Eingangshalle, bestach jedoch im Augenblick durch enorme Unordnung. Papiere bedeckten den gesamten Boden, angefangen bei dem riesigen antiken Schreibtisch neben dem Fenster bis zu einem niedrigen Tisch vor dem Kamin. Ausgenommen waren allein die Stellen, die von Angelica, Fenella, Lottie und einem großen grauen Hund in Beschlag genommen worden waren.

„Signor Cavalleri“, fuhr Martha unverdrossen fort. „Ich muss Ihnen wirklich danken, dass Sie sich unser in dieser Stunde der Not erbarmt haben. Jetzt, da wir alle hier sind, können wir einander auch anständig begrüßen.“

Sarah lachte humorlos auf. „Das scheint mir nicht notwendig zu sein. Angelica und Signor Cavalleri kennen einander bereits.“

Angelica schüttelte ihre blonde Mähne. „Oh, nein, ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Aber Sie hatten mit Hugh, meinem Verlobten, zu tun? Sie waren so nett, uns Ihren Rat hinsichtlich …“

Mitten im Satz knuffte Fenella die Freundin in den Arm und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Angelicas Blick fiel auf Sarah. „Oh, du meine Güte, ja! Sie waren damals im Rose and Crown, oder? Bei meiner Party?“

Sarah spürte, wie ihr etwas die Kehle zuschnürte, als Lorenzo knapp nickte.

„Ich kann es kaum glauben! Was für ein unglaublicher Zufall, was meinst du, Fenella?“

„Ganz erstaunlich“, bestätigte Fenella vielsagend lächelnd und stand in einer fließenden Bewegung vom Ledersofa auf. Wie zufällig fielen dabei die Seiten ihrer Strickjacke ein wenig auseinander. Darunter kamen kurze Shorts und ein enges Top zum Vorschein. „Wenn wir die Chance gehabt hätten, früher mit Ihnen zu plaudern, wäre uns dieser glückliche Umstand schon eher aufgefallen.“

Sarah schnappte sich eines der bereitliegenden Handtücher und begann, ihre Haare trocken zu rubbeln … die einzige Möglichkeit, sich davon abzuhalten, Fenella den eleganten Schwanenhals umzudrehen. Außerdem half es, die neuen Informationen über den Mann zu verarbeiten, den sie bislang insgeheim immer nur als Mistkerl tituliert hatte.

Wenn Angelica und Fenella ihn nicht gekauft hatten, weshalb hatte er sie dann geküsst?

„Wirklich eine ganz außergewöhnliche Fügung des Schicksals, die Sie in den hintersten Winkel unseres verschlafenen Oxfordshires geführt hat“, mischte ihre Mutter sich ein. „Ich bin übrigens Martha. Martha Halliday.“

Eine Sekunde wirkte Lorenzo wie erstarrt. Dann wandte er sich mit dunkel funkelnden Augen zu ihr um. „So verschlafen nun auch wieder nicht, Signora Halliday.“

Bildete Sarah es sich nur ein, oder betonte Lorenzo den Nachnamen ihrer Mutter besonders?

„Auf jeden Fall nicht an dem Abend, an dem ich dort war“, fuhr ihr Gastgeber fort. „Leben Sie schon lange in der Gegend?“

„Seit ich mich mit neunzehn zum ersten Mal verliebt habe. Damals sah vieles anders aus. Das Rose and Crown war ein kleiner Pub, in dem Stammgäste oftmals ihr Bier selbst zapften und das Geld in eine kleine Schachtel legten. Francis, mein erster Ehemann, verbrachte dort mehr Zeit als zu Hause. Er saß immer in der Ecke neben dem Kamin und schrieb. Ich weiß nicht, wie oft er gesagt hat, das sei der einzige Platz, der auch im Winter warm genug zum Denken sei.“

„Er hat geschrieben?“

„Ja. Hauptsächlich Gedichte, aber …“

„Mum“, zischte Sarah ein weiteres Mal. „Es ist drei Uhr morgens. Das ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um über Literatur zu diskutieren.“

Vor allem nicht über die wenig erfolgreichen Schreibversuche ihres Vaters. Außerdem wusste sie ganz genau, was ihre Mutter als Nächstes erzählen wollte. Dass nämlich, nach endlosen wütenden Gedichten, die die Industrialisierung seiner geliebten Heimat verdammten, Francis Tate in seinen letzten Lebensjahren auch einen Roman zustande gebracht hatte, dessen Handlung in Oxfordshire und der Toskana spielte. Die Tatsache, dass auch diesem Buch kein kommerzieller Erfolg beschieden war, hielt Martha nie davon ab, es anzupreisen, als sei es ein verkannter Geniestreich.

„Tut mir leid, mein Liebling.“ Lachend stellte Martha ihr leeres Brandyglas auf den Tisch. „Wir haben Ihnen schon genug Ärger beschert, Signor Cavalleri. Ich hoffe, es bereitet Ihnen nicht zu viele Umstände, uns heute hier übernachten zu lassen?“

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Lorenzo. „Allerdings kann ich Ihnen keinen Luxus versprechen. Meine Haushälterin hat vor einer Weile gekündigt, und ich bin noch nicht dazu gekommen, einen Ersatz zu finden. Deshalb werden Sie sich um alles selbst kümmern müssen.“

„Vielen Dank, Signor Cavalleri. Jetzt ist es auch wirklich Zeit, dass wir zu Bett gehen.“

Traurig hob der Hund den Kopf, als Angelica und Fenella vom Sofa aufstanden und allen eine gute Nacht wünschten. Müde blickte Sarah zu Lottie hinüber und überlegte, wie sie ihre Tochter zu Bett bringen sollte, ohne sie aufzuwecken.

Sie zuckte zusammen, als Lorenzos samtige Stimme die Stille durchbrach.

„Du hast also eine Tochter?“ Er stand auf der anderen Seite des Sofas, auf dem Lottie friedlich schlief, und musterte Sarah ausdruckslos.

„Ja“, erwiderte sie abweisend. Es gelang ihr nicht so gut wie ihm, ihre Gefühle zu verbergen.

An diesem Punkt sagten die meisten Männer etwas darüber, wie süß Lottie doch war, wie liebenswert, während sie insgeheim über die beste Methode nachdachten, sich aus dem Staub zu machen. Aber Lorenzo nickte nur. Sein Blick stellte etwas ganz und gar Ungebührliches in ihrem Inneren an. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie lediglich ein durchnässtes T-Shirt trug. Und ihre Haare hatte sie so heftig trocken gerubbelt, dass sie wahrscheinlich in alle Himmelsrichtungen abstanden. Hastig beugte sie sich über Lottie, damit er die verlegene Röte auf ihren Wangen nicht sah.

„Ich helfe dir“, sagte er.

„Nein, nein. Ich komme schon zurecht.“

„Woher wusste ich bloß, dass du das sagen würdest?“, fragte er spöttisch. „Nimmst du jemals Hilfe an?“

„Ich bin daran gewöhnt, die Dinge selbst zu erledigen, das ist alles“, entgegnete sie. Wie, fragte sich Sarah, sollte sie sich weiter vorbeugen und Lottie in die Arme heben, ohne sich gleichzeitig ganz zu entblößen? „Lotties Vater war nicht gerade der zupackende Typ.“

„Wo ist er jetzt?“

„Im Bett mit seiner wunderschönen Verlobten“, erwiderte sie mit einer gewissen Bitterkeit.

Lorenzo nickte langsam. „Ich verstehe.“

Sie lachte rau auf. „Das bezweifle ich.“ Kurzentschlossen setzte sie sich aufs Sofa, um Lottie auf diesem Weg in ihre Arme zu ziehen.

Sie zuckte zusammen, als auf einmal der Fernseher über dem Kamin zum Leben erwachte. Das Bild zeigte den nackten Bauch einer Frau – glatt und leicht gebräunt wie ein Stück unendlicher Wüstensand. Es folgte ein Kameraschwenk aufwärts, über das sanfte Tal zwischen festen schönen Brüsten zu sinnlichen Schlüsselbeinen und weiter zu einem halb geöffneten Mund, aus dem gleich ein lustvolles Seufzen ertönen würde …

Auch Sarah stand der Mund offen, was bei ihr allerdings nicht halb so sexy aussah wie bei Tia de Luca.

Es gab keinen Zweifel, dass sie es war. Ihre apfelgrünen Augen waren unverwechselbar. Ebenso ihre stets ein wenig schmollenden Lippen, denen sich nun der Mund des Helden näherte …

Sarahs Aufschrei deckte sich mit Tias, als sie plötzlich Lorenzos Hand unter ihren Po gleiten fühlte. Im nächsten Moment war der Bildschirm schwarz.

Erschüttert drehte sie sich zu Lorenzo um. Er stand absolut still, eine Fernbedienung in Händen haltend. Kurz blitzte etwas in seinen Augen auf, dann war es fort. Die ausdruckslose Maske war zurückgekehrt.

Er ließ die Fernbedienung auf den kleinen Tisch neben sich fallen. „Du hast dich darauf gesetzt.“

Stolpernd kam Sarah auf die Füße. „Es tut mir ja so leid.“

„Kein Problem“, entgegnete er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht dass ich mich draufgesetzt habe. Mir tut leid, was ich vorhin gesagt habe. Dass du nicht weißt, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden. Ich hatte es ganz vergessen. Ich meine, ich kenne dich nicht, aber Angelica und Fenella haben beim Essen über deine Frau gesprochen …“

„Bestimmt bist du müde“, unterbrach er sie kalt. „Ich zeige dir dein Zimmer.“

„Natürlich.“ Mit gesenktem Kopf machte sie sich daran, Lottie in die Arme zu heben.

„Ich nehme sie. Du bist ganz nass.“

„Du auch.“

„Ja, aber ich kann mich ausziehen.“ Er öffnete bereits die Hemdknöpfe. Seine Bewegungen verrieten seine Ungeduld. Ganz offensichtlich wollte er Sarah so schnell wie möglich loswerden. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Wahrscheinlich hatte er den Film angesehen, als Angelica hereingeplatzt war. Zumindest erklärte das, warum er noch wach und angezogen war …

Und es erklärte die Traurigkeit, die sie hinter seiner ausdruckslosen Miene spürte. Vermutlich hatte sie auch gerade die Erklärung gefunden, weshalb er sie damals in dem Pub geküsst hatte. Wenn man unter Liebeskummer litt, tat man alles, um den Schmerz und die Einsamkeit wenigstens für eine kleine Weile zu vertreiben.

Unterdessen hatte Lorenzo sein Hemd ausgezogen und Lottie auf die Arme gehoben. „Hier entlang.“

Sie folgte ihm durch die Eingangshalle und eine weite geschwungene Treppe hinauf. Die ganze Zeit über hielt sie ihren Blick fest auf Lotties Kopf gerichtet. Es erschien ihr als überlebenswichtig, sich nicht zu erlauben, die breiten Schultern zu betrachten oder das Spiel seiner Rückenmuskeln unter der olivenfarbenen Haut zu bewundern, denn dann würde sie sich wahrscheinlich zu ungerechten Vergleichen mit Ruperts englischer Blässe hinreißen lassen … oder zu seiner untersetzten Statur mit dem mittlerweile deutlichen Bauchansatz.

An Lorenzo Cavalleri war kein Gramm Fett zu entdecken. Für die Stärke, die er ausstrahlt, dachte sie mit plötzlich aufsteigendem Mitgefühl, ist er zu dünn.

„Wir sind da.“

Er war vor einer Tür stehen geblieben. Sarah, ganz in ihre Gedanken versunken, prallte gegen ihn. Hastig und eine Entschuldigung murmelnd, trat sie einen Schritt zurück. Er ging voraus, doch sie verharrte noch einen Moment im Korridor, um ihrem Herz die Chance zu geben, sich zu beruhigen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie von ihrer Umgebung rein gar nichts mitbekommen hatte. Und von den kleinen Details, die sie jetzt ausmachen konnte, musste der Palazzo sehr beeindruckend sein … allerdings nicht so beeindruckend wie Lorenzo Cavalleris Körper.

Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Wand. Irgendwie musste sie es schaffen, ihre Gedanken zur Ordnung zu rufen. Aber es war so lange her, seit Rupert und sie …

„Sie gehört ganz dir.“

Sarah schlug die Augen auf, was sich als Fehler erwies. Lorenzo stand vor ihr. In dem gedämpften Licht des Flurs wirkte seine Haut weich und samtig.

„Danke“, sagte sie mit krächzender Stimme und huschte mit gesenktem Kopf an ihm vorbei ins Zimmer. „Für alles. Und Entschuldigung.“

Und dann hörte sie auch schon seine sich entfernenden Schritte. Gleich darauf war auch das aus ihrem Bewusstsein entschwunden, weil sie sich nun endlich im Zimmer umsah.

Ihr war, als befände sie sich in einer Szene aus einem Märchenbuch. Eine kleine Lampe auf dem Nachttisch warf sanftes Licht auf den polierten Parkettboden und ließ die hellgrünen Seidenvorhänge des Himmelbetts wie einen Wasserfall schimmern. Unwillkürlich lachte Sarah leise auf, als sie sich vorstellte, wie ihre Tochter reagieren würde, wenn sie morgen früh aufwachte.

Das Bett wirkte ungemein einladend. Hastig streifte sie das nasse T-Shirt über den Kopf und wollte gerade unter die Laken schlüpfen, da klopfte es an der Tür.

Das Herz pochte ihr bis zum Hals. „Einen Moment“, rief sie und zog die Decke bis zum Kinn hinauf. Eine Sekunde später öffnete Lorenzo die Tür.

Das warme Licht betonte die dunklen Schatten um seine Augen und die Falten um seinen Mund. Er sah unglaublich müde aus. Und traurig.

„Ich dachte, du könntest das hier vielleicht gebrauchen. Aber wie ich sehe, kommst du auch so zurecht.“

Er war ans Bett getreten und reichte ihr ein graues Bündel. Es war ein T-Shirt, weich und ein wenig verwaschen.

„Danke“, murmelte sie, seinem Blick ausweichend.

Eigentlich erwartete sie, dass er nun wieder ging, aber er rührte sich nicht. Im Zimmer war es sehr, sehr still. Die einzigen Geräusche kamen vom leisen Prasseln des Regens gegen das Fenster und Lotties gleichmäßigen Atemzügen.

„Also …“, meinte er düster, schob mit einer Hand die Haare nach hinten, nur um sie gleich darauf wieder in die Stirn fallen zu lassen. „Du hast dich immer noch nicht richtig vorgestellt.“

„Sarah“, murmelte sie müde. „Mein Name ist Sarah. Du hast mich so gerufen, als ich auf dem Dach stand.“

Er nickte langsam, wandte den feurigen Blick jedoch nicht eine Sekunde von ihrem Gesicht ab. „Si. Aber das bedeutet nicht, dass ich weiß, wer du bist.“

„Dann befinden wir uns in derselben Situation.“ Sie senkte den Kopf und blickte auf ihre Hände, mit denen sie krampfhaft sein T-Shirt umklammerte. „Abgesehen von der Tatsache, dass ich ein Niemand bin und du ein weltberühmter Regisseur bist.“

„Weltberühmt bin ich wohl kaum“, widersprach er. „Und du bist kein Niemand.“

„Doch, das bin ich.“ Neben ihr bewegte Lottie sich im Schlaf. Die kastanienbraunen Locken wippten ein wenig, als sie den Kopf zur Seite neigte. Als sie im Traum lächelte, erschienen zwei Grübchen in ihren rosigen Wangen. „Ich bin eine Mutter“, sagte Sarah leise. „Das ist alles. Zumindest alles, was zählt.“

Sie schaute auf. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als sie Lorenzos verschlossene kalte Miene sah. Abrupt drehte er sich um und eilte mit großen Schritten zur Tür.

„Es ist schon spät. Ich halte dich auf.“

„Die meisten würden sagen, es ist genau andersherum“, rief Sarah ihm rasch nach. „Es tut mir wirklich leid, wie wir hier eingefallen sind. Meine Familie ist ein Albtraum. Du wirst deine Freundlichkeit bald bereuen, glaub mir.“

Auf der Türschwelle hielt er inne und wandte sich höflich lächelnd zu ihr um. „Ganz bestimmt nicht“, sagte er tonlos, bevor er die Tür leise hinter sich schloss.

Ganz bestimmt nicht.

Sarah Halliday konnte nicht einmal ansatzweise ahnen, wie falsch ihre Einschätzung war. Diese Welt war wirklich klein. Und sie wurde von einem gütigen Schicksal gelenkt. Lorenzo richtete ein kurzes Dankgebet gen Himmel, der ihm so unverhofft Francis Tates dickköpfige Tochter gesandt hatte.

Das war mehr, als er jemals zu hoffen gewagt hätte. Der Rest lag nun ganz an ihm.

Sarah lehnte den Besen gegen die Wand und schaute sich niedergeschlagen um. Nach fast einer Stunde harter Arbeit zeigten sich in der vom Regen ruinierten Küche des Landhauses nur minimale Verbesserungen. Sie hatte das Wasser vom Boden wischen können, aber es gab nichts, was sie gegen den bröckelnden Putz oder die unheilvoll durchhängende Decke tun konnte.

Ebenso wenig war es ihr während dieser Stunde gelungen, das Gefühl von Nervosität und Ruhelosigkeit zu vertreiben, das sie seit gestern Nacht beherrschte. Es hatte ihr einen unruhigen Schlaf beschert, voller verstörender Träume, in denen Lorenzo Cavalleri sie mit nackter Brust auf seinen starken Armen durch die Korridore des Palazzo trug …

Verärgert seufzte sie auf, griff nach dem Lappen in der Spüle und begann, die marmornen Arbeitsplatten zu bearbeiten, als könne sie so auch die lächerlichen Bilder aus ihrem Kopf vertreiben. Sie vermisste Rupert, das war alles. Auch wenn er in vielen Dingen nicht gut war, wie mit Lottie in den Park zu gehen oder zu erwähnen, dass er jemand anders heiraten wollte, aber immerhin hatte er in regelmäßigen Abständen die Zeit gefunden, sie anzurufen und sich mit ihr zu schnellem Sex zwischendurch zu verabreden.

Sie schämte sich zuzugeben, wie sehr sie das vermisste.

Plötzlich fiel ihr die Schlagzeile eines Magazins ins Auge, das in der hintersten Ecke der Arbeitsplatte lag: Bittersüßes Babyglück für Tia de Luca.

Rasch griff Sarah nach der Zeitschrift, dann schaute sie sich schuldbewusst um, ob auch niemand sie beobachtete. Die Seiten klebten ein wenig aneinander. Schließlich fand sie den Artikel. Ein doppelseitiges Foto zeigte Tia de Luca ausgestreckt auf einem Stapel Kissen aus fuchsiaroter Seide. Sie trug ein weites Gewand aus Chiffon, in dem sie gleichzeitig züchtig und mütterlich aussah, ohne ihren Sex-Appeal zu verbergen. Die Ellenbogen auf die Arbeitsplatte gestützt, begann Sarah zu lesen.

Miss de Lucas Schönheit ist legendär, ihre Haut besitzt eine atemberaubende Frische, die im wahren Leben noch sinnlicher wirkt, als auf der Leinwand … Sarah glitt ein verächtlicher Laut über die Lippen. Noch zeigen sich kaum Anzeichen ihrer in der vergangenen Woche bekannt gegebenen Schwangerschaft. Darauf angesprochen umwölken sich ihre ausdrucksstarken Augen einen Moment. ‚Ich sehne mich schon so lange nach einem Baby. Und ich dachte, mein Ehemann empfindet genauso‘, flüsterte sie. Gemeint ist natürlich der bejubelte Regisseur Lorenzo Cavalleri, von dem sie sich kürzlich, nach fünf Jahren Ehe, hat scheiden lassen. ‚Er ist mit der Vorstellung nicht klargekommen, sein Leben mit einem Kind zu teilen. Aber ich bin froh, dass Ricardo meine Freude auf dieses wundervolle Geschenk teilt …‘

„Schwer bei der Arbeit, wie ich sehe“, verkündete eine spöttische Stimme hinter ihr.

Sarah wirbelte herum. Das Magazin versteckte sie hinter dem Rücken vor Lorenzos funkelnden schwarzen Augen. Er hatte sich noch nicht rasiert, ein bläulicher Bartschatten lag auf seinem Kinn. Im hellen Licht der Morgensonne sah sie einige graue Strähnen an den Schläfen, die sie bislang gar nicht bemerkt hatte.

„Ich habe … ich meine …“

Er zuckte die Schultern. „Ich wollte dich nur aufziehen. Als ich gefahren bin, hat deine Schwester sich gerade ein ausgiebiges Frühstück genehmigt. Also sollte ich mich nicht zu schuldig fühlen, dich dabei zu stören, wie du ihr Haus putzt.“

„War Lottie bei ihr?“, fragte sie automatisch und wünschte sofort, nichts gesagt zu haben. Dieser Mann wollte nicht einmal sein eigenes Kind im Haus haben. Auf das einer Fremden konnte er wirklich gut verzichten.

„Ja. Ihren begeisterten Schreien nach scheint es ihr im Palazzo gut zu gefallen.“

Sarah zuckte zusammen. „Oje. Das tut mir leid. Unsere Wohnung ist nicht einmal groß genug, um einen Hamster halten zu können.“ Möglichst unauffällig ließ sie die Zeitschrift in den Mülleimer fallen und griff wieder nach dem Lappen. „Ich räume hier nur noch kurz auf, dann werde ich …“

Sie hielt inne. Lorenzo war neben sie getreten und legte nun seine Hand auf ihre. „Was?“, fragte er. „Das Dach neu decken?“

Sarah erstarrte. Ihr gesunder Menschenverstand befahl ihr, auf der Stelle ihre Hand zurückzuziehen und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Lorenzo zu bringen, damit ihm nicht auffiel, dass sie wie ein Schulmädchen errötete und ihr Atem sich anhörte, als sei sie gerade einen Marathon gelaufen. Aber sie wollte nicht. Die Berührung fühlte sich einfach zu gut an. „Vielleicht nicht ganz“, murmelte sie leise, „aber ich kann wenigstens versuchen, vor der Hochzeit ein bisschen Ordnung zu schaffen.“

Er gab ein ungläubiges Geräusch von sich, trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Dio, Sarah …“

„Ich weiß, es sieht immer noch chaotisch aus, aber Angelica besitzt noch nicht einmal einen anständigen Mopp. Mit der richtigen Ausrüstung wäre alles viel einfacher.“

„Das habe ich nicht gemeint“, unterbrach er sie. „Warum ist das überhaupt dein Problem? Das Haus gehört deiner Schwester. Es ist ihre Hochzeit.“

„Ja, schon, aber da ich das Catering übernommen habe, ist es eben mein Problem. Denn solange ich nicht ein Mindestmaß an Ordnung schaffe, kann ich nicht anfangen zu kochen.“

„Moment mal.“ Lorenzo schüttelte den Kopf. „Du willst was?“

„Ich bin für das Essen zuständig.“

Seine Miene verfinsterte sie. „Für die gesamte Hochzeitsgesellschaft? Dio! Wie viele Gäste kommen denn?“

„Nur dreißig.“ So entsetzt braucht er nun auch wieder nicht auf die Vorstellung zu reagieren, dass ich dreißig Leute verköstige, dachte sie missmutig. „Es ist nur eine kleine Feier für die Familie und enge Freunde. Die große Party findet in ein paar Monaten in London statt.“

„Konnten Sie keinen professionellen Partyservice engagieren?“

Sie drehte den Wasserhahn an und wrang mit aller Kraft den Lappen aus. „Ich besitze eine Ausbildung zur Köchin. Ich habe für eine Firma gearbeitet, die Geschäftsessen in der Stadt ausgerichtet.“

„Hast gearbeitet? Du bist nicht mehr dort beschäftigt?“

Unbehaglich schaute Sarah sich nach der nächsten Stelle um, die sie schrubben konnte. „Nein. Nein, ich bin … nach einem kleinen Unfall mit einer Torte bei einer Verlobungsfeier gegangen.“ Sie lachte auf. „Es war äußerst unschön. Allerdings …“, fuhr sie rasch fort, bevor Lorenzo nachfragen konnte, „… ist seither das Geld ein bisschen knapp. Ein teueres Hochzeitsgeschenk kann ich mir nicht leisten. Deshalb habe ich angeboten, mich ums Essen zu kümmern. Und jetzt muss ich wirklich weitermachen. Und Lebensmittel muss ich auch noch einkaufen.“

„Zieh deine Schuhe an“, wies er sie energisch an. „Du kommst mit mir.“

Sarah schüttelte den Kopf. „Oh, nein, das geht nicht. Ich will dir nicht noch mehr Ärger bereiten. Außerdem hat es keinen Sinn, das Essen einzukaufen, bevor hier keine Ordnung herrscht.“

„Wir gehen nicht einkaufen … noch nicht. Und du hörst sofort auf, diese Küche zu putzen. Wir fahren zurück zum Palazzo.“

Sie öffnete den Mund, um zu protestieren – genau, wie Lorenzo es erwartet hatte. Aber er war nicht in der Stimmung sich anzuhören, was sie zu sagen hatte. Stattdessen marschierte er entschlossen in Richtung Tür. „Die Küche dort ist nicht perfekt, aber immerhin werden die dreißig Gäste deiner Schwester keine Lebensmittelvergiftung erleiden.“

Treffer, dachte er zufrieden, als er einige Sekunden später ihre Schritte hinter sich vernahm. Natürlich kannte er sie kaum, aber sein Instinkt verriet ihm, dass sie zwar wie eine Katze um ihre Unabhängigkeit kämpfen würde, gleichzeitig aber auch von einer unglaublichen Selbstlosigkeit beseelt war, die ihr verbot, ihre Prinzipien vor das Wohlergehen anderer zu stellen.

„Okay. Du hast gewonnen. Schon wieder. Ich fahre mit. Aber zuerst muss ich noch einmal ins Haus und frische Kleider für Lottie und mich holen. Ich bin in einer Minute zurück.“

Die Strasssteinchen auf dem pinkfarbenen Band, mit dem sie versucht hatte, ihre Lockenmähne zu bändigen, glitzerten im klaren Licht der Morgensonne. In den knappen Shorts und dem viel zu großen grauen T-Shirt, das er ihr geliehen hatte, sah sie seltsam verletzlich aus.

„Natürlich. Ich warte im Wagen.“

Lorenzo rechnete mit einer langen Wartezeit, doch Sarah kam wirklich binnen einer Minute wieder aus dem Haus gerannt. Sein T-Shirt hatte sie gegen ein pinkfarbenes Leinentop ausgetauscht, das ihrem Gesicht einen rosigen Schimmer verlieh. Ein bezauberndes Gesicht, fiel ihm auf, als sie sich neben ihn auf den Beifahrersitz gleiten ließ, das ohne jedes Make-up auskam.

„Tut mir leid, dass du warten musstest“, meinte sie und stellte einen Korb mit Kleidungsstücken zwischen ihre Füße.

„Habe ich gar nicht“, widersprach er. „Wenn eine Frau sagt, sie will sich nur schnell umziehen, bedeutet das meiner Erfahrung nach, dass sie mindestens fünf Outfits anprobiert und nicht unter einer Stunde zurückkommt.“

„Fünf Outfits habe ich gar nicht eingepackt, was die Dinge wesentlich vereinfacht.“

Der Jeep setzte sich in Bewegung und holperte über die unebene Straße. Sarah veränderte ihre Sitzposition im selben Moment, wie Lorenzo in einen anderen Gang schaltete. Zufällig berührte er dabei ihr nacktes Bein. Sie zuckte zusammen, als habe sie einen elektrischen Schlag erhalten.

Einen Moment herrschte Schweigen, dann sagte Sarah betont fröhlich: „Wie auch immer, es ist wirklich nett von dir, mir deine Küche zur Verfügung zu stellen. Ich kann dort das Essen vorbereiten, es morgen früh holen und …“

„Hörst du nie auf zu kämpfen?“, fragte Lorenzo gereizt und trat das Gaspedal weiter durch. Am Ende der Straße waren bereits die Umrisse des Palazzo zu erkennen, links davon das prunkvolle Gewächshaus inmitten eines kleinen Hains aus Zitrusbäumen.

„Kämpfen? Gegen was denn?“

Im Schatten des Innenhofes hielt Lorenzo den Wagen an und stellte den Motor ab. In der plötzlichen Stille schien die Spannung zwischen ihnen mit Händen greifbar zu sein.

„Logik. Vernunft. Den gesunden Menschenverstand“, entgegnete er ruhig. „Das Landhaus gleicht einem Schlachtfeld. Und nicht einmal du schaffst es, bis morgen alles in Ordnung zu bringen. Ich meinte nicht nur, dass du hier kochst … ich meinte, die Hochzeit wird hier stattfinden.“

Verunsichert lachte Sarah auf und zupfte verlegen an einem Stück Stroh, das aus dem Korb ragte. „Nein, auf keinen Fall. Du darfst nicht einmal daran denken, diese Idee Angelica gegenüber zu erwähnen. Denn bevor du bis drei zählen kannst, wirst du glauben, wilde Reiterhorden wären bei dir eingefallen und wünschen, du hättest uns nie zu Gesicht bekommen.“

Unwillkürlich musste er lächeln. „Das glaube ich nicht.“

„B…bist du sicher?“ Zögernd schaute Sarah auf. Direkt in seine Augen. Da wusste Lorenzo, dass er sie genau da hatte, wo er sie haben wollte. Sarah Halliday besaß ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein, und nachdem er ihr einen Gefallen getan hatte, würde es ihr sehr schwerfallen, ihm irgendetwas abzuschlagen.

Wie zum Beispiel die Filmrechte am Buch ihres Vaters.

4. KAPITEL

„Mummy!“

Sarah schrieb gerade eine Einkaufsliste, als ihre Tochter in die Küche stürmte. „Da bist du ja, mein Engel!“, rief sie und hob Lottie in die Arme. „Tante Angelica hat mir gesagt, Granny und du machen eine Entdeckungstour.“

„Ja! Wir haben die Kirche gefunden, in der Tante Angelica heiraten wird. Dann haben wir den Gärtner getroffen … er heißt Alfredo. Es gibt hier einen alten Tempel mit einer großen Treppe davor. Und wir haben eine Statue gesehen, die hatte keine Kleider an. Man konnte alles sehen!“

„Die gute Granny“, fiel Sarah ihrer Tochter schnell ins Wort, bevor die Beschreibungen zu detailreich wurden.

„Du musst mitkommen und sie auch ansehen. Granny hat gesagt, es ist nicht schlimm, dass der Mann nackt ist. Das ist nämlich Kultur.“

„Ich verstehe. Granny denkt also, in meinem Leben gibt es nicht genug Kultur.“

„Nein“, antwortete Martha trocken, die nun ebenfalls in die Küche kam. „Granny denkt, es gibt nicht genug nackte Männer in deinen Leben.“ Plötzlich blitzten ihre dunklen Augen schelmisch auf. „Hallo, Signor Cavalleri. Wir haben gerade von Ihnen gesprochen, nicht wahr, Sarah?“

„Haben wir?“, fragte sie verwundert, augenscheinlich vertieft in ihre Einkaufsliste. Warum musste ihre Mutter sie immer in so peinliche Situationen bringen? Und dann auch noch ausgerechnet vor Lorenzo Cavalleri? Lorenzo Cavalleri, der bis vor Kurzem mit einer der schönsten Frauen der Welt verheiratet war. Als ob der sich für sie interessierte! „Okay, ich sollte jetzt wirklich los. Willst du mitkommen, mein Engel?“

Lottie runzelte die Stirn. „Wohin gehst du denn?“

„Das Essen für Tante Angelicas Hochzeit einkaufen.“ Sie nahm ihren Korb und legte die Geldbörse hinein.

„Ich würde lieber bei Granny bleiben.“ Lottie zögerte, dann fügte sie hinzu: „Aber ich begleite dich, wenn du dich sonst einsam fühlst.“

„Wie wäre es, wenn ich mitgehe?“, wandte Lorenzo sich fragend an Lottie.

Begeistert klatschte das Mädchen in die Hände. „Ja“, rief sie im selben Moment, in dem Sarah entschieden Nein sagte.

„Du könntest dich verlaufen“, meinte Lottie nachdenklich. Dann schenkte sie Lorenzo ihr unwiderstehlichstes Lächeln. „Mummy sagt immer, sie braucht einen netten Mann, der mit ihr ausgeht.“

Nach dem nächtlichen Regen schien der Tag besonders heiß werden zu wollen. Am azurblauen Himmel war kein einziges Wölkchen zu entdecken.

Lorenzo hatte sie in einer kleinen Gasse aussteigen lassen, die auf den Markt führte. Den dank der Klimaanlage angenehm kühlen Wagen zu verlassen hatte sich angefühlt, wie in einen Ofen zu laufen. Trotzdem fiel ihr das Atmen in der brütenden Hitze viel leichter, als im Wagen dicht neben Lorenzo.

Die Einkaufsliste fest in der Hand, schlenderte Sarah anfangs ziellos umher. Es war ein für italienische Städte typischer Markt mit bunten Markisen über den Ständen. Schon bald war sie von der lebhaften Atmosphäre gefangen genommen. Hin und wieder blieb sie stehen, um die Festigkeit einer Tomate zu prüfen oder an einer Melone zu riechen.

Die Farben, die Gerüche und überhaupt die vielen Eindrücke faszinierten sie. Sie war in Italien. Italien! Überall um sie herum hörte sie die wunderschönste Sprache der Welt. Manchmal verirrte sich ein einzelnes Wort an ihr Ohr, das längst vergessen geglaubte Bedeutungsketten in ihr wachrief. Endlich befand sie sich in diesem Land, der Heimat von gutem Essen, herrlicher Kunst und leidenschaftlichem Sex.

Sie besaß nur Grundkenntnisse in Italienisch, aber die Marktleute waren so nette Menschen, dass Sarah bald entdeckte, wie viel sie mit Gesten und einem freundlichen Lächeln erreichen konnte. Scheiben dünnen Schinkens wurden ihr zum Probieren angeboten, rauchiger Käse, Oliven, die nach Sonne schmeckten. Sie kaufte Rucola, Zucchini, an denen noch die leuchtend gelben Blüten hingen, tennisballgroße Zitronen und würzig duftenden Knoblauch bei einem beleibten Mann in einer gestreiften Schürze. Lächelnd übergab er ihr das Päckchen und drückte ihr, nachdem sie bezahlt hatte, einen herrlichen reifen Pfirsich in die Hand.

„Grazie, signore.“

Seine Antwort bestand aus wilden Gesten und einem Schwall Italienisch, der ihre Sprachkenntnisse komplett überstieg. Sie biss in den Pfirsich und hob hilflos die Schultern. „Tut mir leid. Ich kann Sie nicht verstehen.“

„Er sagt, dass es ihm großes Vergnügen bereitet hat, einer so hübschen Dame behilflich sein zu dürfen, die offensichtlich etwas von gutem Essen versteht“, sagte eine samtige Stimme hinter ihr.

Sarah wandte sich nicht um, doch das Lächeln erstarb auf ihren Lippen. Hingegen funkelten die dunklen Augen des Standbesitzers freudig auf, als er Lorenzo erblickte. Auch ihn begrüßte er mit einem lautstarken Wortschwall. Das folgende Gespräch beinhaltete viel Gelächter und ausholende Armbewegungen. Sicherheitshalber trat Sarah einen Schritt zur Seite. Im Sonnenschein stehend, aß sie ihren Pfirsich und lauschte versonnen Lorenzos tiefer sinnlicher Stimme.

Erschrocken fuhr sie auf einmal zusammen, als ihr bewusst wurde, dass beide Männer sie anblickten. Auch etliche andere Marktbesucher waren stehen geblieben, heuchelten Interesse an den Orangen und warfen doch immer wieder verstohlene Blicke in ihre Richtung. Oh, verflixt! Lief ihr etwa Pfirsichsaft übers Kinn? Hastig tupfte sie sich ihren Mund ab. Lorenzo lachte über etwas, das der Standbesitzer sagte, und schüttelte den Kopf. Und als er seinen Blick aus funkelnden Augen auf sie richtete, glaubte sie, von einem Blitz getroffen zu werden.

„Ein alter Freund?“, fragte Sarah neugierig, nachdem sie sich endlich wortreich verabschiedet hatten.

Lorenzo trug die Kiste mit den Zucchinis, zu denen sich auf wundersame Weise noch eine Handvoll schwarzer Trüffel gesellt hatte.

„Nein. Aber wenn man einen Job hat, der einem ab und zu ein Bild in einer Zeitung beschert, gibt das den Menschen das Gefühl, einen zu kennen.“

Verlegen schaute Sarah auf ihre Füße, die in abgetragenen Flipflops steckten. Ihre Zehen wiesen nur noch einen Rest abgesplitterten hellgrünen Nagellacks auf. „Was hat er gesagt?“

Lorenzo bedachte sie mit einem forschenden Seitenblick. „Er hat mich gefragt, ob du die neue Frau in meinem Leben bist.“

Hastig schob Sarah die Sonnenbrille, die bislang in ihren Haaren steckte, auf die Nase, damit er ihre Augen nicht sehen konnte. „Oh, Gott. Wie entsetzlich peinlich. Das tut mir sehr leid.“

„Das braucht es nicht. Als ich Nein gesagt habe, wollte er wissen, warum nicht.“ Sie erreichten ein kleines Restaurant. Bevor sie noch protestieren konnte, ging Lorenzo hinein und zog Sarah mit sich. „Keine Widerrede. Außerdem musst du etwas essen.“

Im Restaurant saßen keine anderen Gäste. Die Farbe der Wände war hinter einem Wald aus gerahmten Fotos, Zeitungsausschnitten, alten Speisekarten und Servietten, auf denen unleserliche Widmungen standen, nicht zu erkennen. Lorenzo führte sie zu einem Tisch und rückte einen Stuhl für sie zurecht.

„Nicht wirklich. Es ist ja nicht so, dass ich vom Fleisch falle, oder?“, murmelte sie, griff nach einer Speisekarte und hielt sie sich vors Gesicht, damit er ihre roten Wangen nicht sah. „Es ist, wie der Verkäufer gesagt hat … von gutem Essen verstehe ich etwas.“

Sanft zog er ihr die Karte weg und legte sie vor Sarah auf den Tisch. Dann streckte er noch einmal die Hand aus und nahm ihr auch die Sonnenbrille von der Nase.

„Das war ein Kompliment“, meinte er ruhig.

Sein dunkler Blick umfing sie. Sarah verspürte dieselben Empfindungen wie in einer lauen Sommernacht, wenn man sich trotz der Dunkelheit völlig sicher und geborgen fühlt. Einen Moment erwiderte sie seinen Blick, ohne dabei an irgendetwas zu denken. Sie wollte nicht denken, sondern sich ganz dem unglaublichen Gefühl hingeben, beschützt zu werden …

Sie blinzelte und schaute mit einem selbstironischen Lächeln beiseite. „Natürlich, ich hatte vergessen, wie anders die Menschen sich hier im Vergleich zu den verschlossenen Engländern verhalten“, erklärte sie, schob den Stuhl zurück und stand auf. „Entschuldige mich kurz.“

In der kleinen Damentoilette betrachtete Sarah niedergeschlagen ihr Spiegelbild. Ihr Gesicht glänzte, und die Sonne hatte bereits die ersten Sommersprossen hervorgezaubert. Aber das war alles nichts im Vergleich zu der Katastrophe, die ihre Haare darstellten. Wütend auf sich selbst zerrte sie sich Lotties glitzerndes Prinzessinnenband aus den Haaren. Sie hatte es heute Morgen einfach als Erstes zu fassen bekommen. Dann versuchte sie, die wilde Lockenmähne, in die erst der Regen, dann ihr hektisches Handtuchgerubbel ihre Haare verwandelt hatte, wenigstens ein bisschen zu bändigen.

Was, fragte sie sich, ist schlimmer? Das pinkfarbene Haarband für Kinder oder der Hippie-Look? Sie drehte den Wasserhahn an, befeuchtete ihre Hände und fuhr einige Male über die Haare. Wenn sie sie offen trug, konnte sie sich zumindest hinter ihnen verstecken.

Unterdessen hatte Lorenzo zwei Gläser mit dunklem Rotwein gefüllt und beobachtete, wie Sarah ihren Weg zwischen den anderen Tischen hindurch zu ihm zurückfand. Immerhin, dachte er. Es hätte ihn nicht sonderlich gewundert, wäre sie durch die Küche geflüchtet.

Er war es gewohnt, dass Frauen sich an ihn klammerten und nicht von seiner Seite wichen. Sie spielten komplizierte Spielchen, die ihnen seine Aufmerksamkeit sichern sollte. Wohingegen Sarah aussah, als wäre sie am allerliebsten irgendwo ganz anders. Und sie war absolut nicht in der Lage, ihre wahren Emotionen zu verbergen.

Das war eines der Dinge, die ihm schon in England an ihr aufgefallen waren. Ihr Gesicht glich einem offenen Buch, jede Gefühlsregung spiegelte sich sofort in ihren Augen wider. Was es ihm wiederum sehr leicht machen sollte, mehr über ihren Vater herauszufinden. Er musste sie nur dazu bringen, sich zu entspannen und ihm ein bisschen Vertrauen zu schenken.

Lorenzo schob das Rotweinglas vor sie, wofür er mit einem flüchtigen Lächeln belohnt wurde, das ihre süßen Grübchen aufblitzen und sie wie sechzehn aussehen ließ.

„Ich sollte keinen Alkohol trinken. Heute Nachmittag muss ich das Hochzeitsessen vorkochen, und ich weiß noch gar nicht, was es geben soll.“

„Das Menü ist noch nicht entschieden? Bene, in diesem Fall können wir diesen Besuch als Recherche bezeichnen.“

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, trank aber auch einen Schluck Wein, was Lorenzo aufrichtig freute. „Recherche?“

Er nickte einem dunkelhäutigen Mann zu, der unauffällig an der Bar Gläser polierte. Gennaro war viel zu diskret, um ohne Aufforderung an einen Tisch zu kommen. Doch jetzt eilte er mit einem freundlichen Lächeln auf sie zu.

„Sarah, ich möchte dir Gennaro vorstellen, den Besitzer dieses Restaurants.“

Sie schenkte ihm ein warmherziges Lächeln, erhob sich halb von ihrem Stuhl und bot ihm höflich die Hand. Gennaro nahm sie zwar, beugte sich dann jedoch vor und küsste Sarah auf beide Wangen. Als er sich wieder aufrichtete, lag ein anerkennendes Funkeln in seinen Augen.

„Delizioso“, verkündete er in rasantem Italienisch. „Dein Frauengeschmack hat sich definitiv verbessert.“

Lorenzo lud ihn ein, sich zu ihnen zu setzen, bevor er ihm ebenfalls auf Italienisch versicherte, dass Sarah nur eine Freundin sei.

In gespielter Verzweiflung hob Gennaro die Hände über den Kopf. „Seit siebzehn Jahren ist das die erste Frau, die nicht so aussieht, als würde sie einen Salat ohne Dressing bestellen! Und dann sagst du mir, sie ist nur eine Freundin?“ Er schüttelte den Kopf.

„Sarah ist Köchin“, wechselte Lorenzo nicht nur das Thema, sondern sprach jetzt auch Englisch. Hoffentlich verstand Gennaro den warnenden Unterton. „Wir brauchen deinen Rat bezüglich eines Essens.“

Gennaro lachte. „Natürlich. Wie kann ich helfen?“

„Als Einstieg kannst du uns deine köstliche Bresaola bringen und danach alles, was du empfehlen kannst.“

„Ah, du bist am richtigen Tag gekommen, mein Freund. Heute haben wir in Kräutern geschmortes Schweinefilet. Überlass alles mir! Ich serviere euch das beste Essen der Toskana.“

„Bresaola“, wiederholte Sarah, nachdem Gennaro gegangen war. Lorenzo fiel ein heller Schimmer in ihren Augen auf, den er bisher noch nie gesehen hatte. „Das ist Rindfleisch, richtig?“

Er nickte. „Luftgetrocknet und leicht gesalzen. Gennaro bezieht es von einem örtlichen Bauern, dessen Identität er streng geheim hält. Aber ich bin mir sicher“, fügte er lächelnd hinzu, „dir könnte es gelingen, ihm diese Information zu entlocken.“

Sarah lachte verlegen und verrückte dann das Besteck, das vor ihr auf dem Pinientisch lag, einige Millimeter. „Herrscht hier eigentlich Frauenmangel?“

„Nein, weshalb fragst du?“

„Ich bin es nicht gewohnt, dass Männer sich geradezu überschlagen, um etwas für mich zu tun.“

„Vielleicht liegt das daran, dass du normalerweise den Eindruck vermittelst, eher sterben zu wollen, als Hilfe anzunehmen. Oder denjenigen umzubringen, der sie anbietet.“

„Das würde ich nie tun“, protestierte sie. „Ich …“

Sie hielt inne, weil in diesem Moment Gennaro mit etlichen Tellern zurückkehrte. Als guter Gastwirt spürte er die Stimmung seiner Gäste, weshalb er nur rasch die Teller auf dem Tisch abstellte und mit einem gemurmelten „Buon appetito“ wieder verschwand.

„Du hast recht“, gestand Sarah leise. „Ich bin nicht gut darin, Hilfe anzunehmen. Hoffentlich hältst du mich jetzt nicht für undankbar.“

„Nein.“ Lorenzo nahm ein Stück warmes Brot und tunkte es in ein Schälchen mit Olivenöl. Dann legte er eine Scheibe Bresaola darauf und reichte es Sarah. „Trotzdem wüsste ich gerne den Grund dafür.“

Sie nahm das Brotstück und biss hinein. Fasziniert beobachtete Lorenzo, wie ihr Gesichtsausdruck sich änderte. Erst runzelte sie leicht die Stirn, dann schloss sie die Augen. Mit einer Mischung aus Frust und Belustigung wurde ihm klar, dass sie völlig in den Geschmack vertieft war und seine Frage längst vergessen hatte.

„Gut?“

Sarah nickte. „Besser als gut. Unglaublich.“ Sie krümelte ein wenig Parmesan über das verbliebene Brotstück. „Das wäre der perfekte Appetizer für die Hochzeit … allerdings sind die Zutaten wahrscheinlich zu teuer.“ Fast war es, als spräche sie mit sich selbst. Doch plötzlich blickte sie auf und schenkte ihm ein schuldbewusstes Lächeln. „Was für ein herrliches Restaurant. Isst du oft hier?“

Lorenzo zögerte einen Moment zu lang, bevor er antwortete. „Nicht mehr so oft wie früher.“

Nicht mehr, seit er alleine war, meinte er damit. Tia hatte es geliebt, auswärts zu essen … nur ging es dabei nie ums Essen. In Wahrheit liebte sie es, fotografiert zu werden, am besten in Augenblicken, in denen sie anscheinend überhaupt nicht damit rechnete.

Sarah nickte, als verstände sie nur zu gut, was er sagen wollte und schaute sich um. „Oh“, rief sie überrascht. „Bist du das auf dem Bild?“

Sie stand auf, um die Fotografie genauer zu betrachten, die zwischen Gennaros anderen Andenken an der Wand hing. Lorenzo schaute auf, um zu sehen, welches Bild sie entdeckt hatte. Es zeigte Tia und ihn an einem der Tische auf der Terrasse, zwischen ihnen stand eine Flasche Sekt in einem eisbeschlagenen Kühler. Gerade hatte Tia die Kamera bemerkt, die auf sie gerichtet war, weshalb sie lachend den Kopf in den Nacken warf. Er hingegen schaute recht ernst drein.

„Sie ist wunderschön“, murmelte Sarah wehmütig.

„Ja.“ Seine Stimme klang unnatürlich barsch. Ihm wurde bewusst, dass Sarah glauben musste, es verletze ihn, an Tia erinnert zu werden. „Das Bild wurde letzten Sommer während einer Drehpause aufgenommen“, fügte er aus diesem Grund hinzu. „Deshalb trägt sie auch dieses Korsettkleid.“

„Welcher Film ist es?“

„Er heißt Die Sonne umkreisend, aber er ist noch nicht in den Kinos angelaufen. Erst bei den Filmfestspielen Ende des Monats in Venedig hat er Premiere.“

„Und deine … Tia … spielt die Hauptrolle?“

„Ja. Zusammen mit ihrem neuen Partner, in der Titelrolle als Galileo Galilei.“

Obwohl sein Tonfall nichts von seinen Gefühlen verriet, schnürte Mitgefühl ihr fast die Kehle zu. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie Rupert Hand in Hand mit dieser Blondine erwischt hatte. Wie schlimm musste es erst für Lorenzo gewesen sein, bei diesem Film Regie zu führen und seine Frau und ihren Liebhaber ständig beobachten zu müssen?

Sarah nahm wieder Platz und versuchte das Gespräch auf neutraleres Terrain zu bringen. „Worum geht es in dem Film?“

Ihr Plan ging auf, denn Lorenzo konnte nun ausführlicher über seinen Film berichten. „Galileo war ein faszinierender Mann“, begann er. „Er hat alles infrage gestellt, was die Menschen zu seiner Zeit über das Universum zu wissen glaubten. Darüber hinaus war er ein frommer Katholik, was ihn aber nicht davon abhielt, eine leidenschaftliche Affäre mit einer Frau namens Maria Gamba einzugehen. Er zeugte drei uneheliche Kinder mit ihr.“ Ein ironisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Leider ist es vor allem dieser Aspekt, den die amerikanischen Geldgeber im Vordergrund sehen wollten, weniger die revolutionären Theorien über unser Sonnensystem.“

Während er noch erzählte, hatte Gennaro den nächsten Gang serviert. Zwei herrlich duftende Teller mit Schweinefilet standen nun vor ihnen.

„Das wird Lottie gar nicht gefallen“, sagte Sarah und atmete das köstliche Aroma der Kräuter ein. „Im Gegensatz zu leidenschaftlichen Beziehungen interessiert sie sich nämlich außerordentlich für das Sonnensystem.“

„Sie ist ein sehr kluges Mädchen.“

„Ja, das muss sie von ihrem Vater geerbt haben. Wie auch sein mangelndes Interesse an Beziehungen.“

„Was für ein Mensch ist er?“

„Clever … analytisch“, erwiderte sie nachdenklich. „Konzentriert, ehrgeizig …“ Sie lachte. „Allmählich frage ich mich wirklich, wie wir beide überhaupt zusammengefunden haben.“

„Wie habt ihr euch kennengelernt?“

Ihr fiel auf, dass Lorenzo noch gar nichts gegessen hatte. Schuldbewusst schaute sie auf ihren bereits halb geleerten Teller. „Er arbeitete bei einer Investmentfirma in der Stadt, meine Firma richtete oft die Geschäftsessen aus.“

„Liebe auf den ersten Blick also?“

„Schwangerschaft in der ersten Nacht“, korrigierte sie, fuhr mit einem Finger über den Teller und naschte die Soße von der Spitze. „Armer Rupert. Er muss das Gefühl gehabt haben, seinen Kopf in eine Schlinge gesteckt zu haben. Ein Kind war nun wirklich weit entfernt von dem, was er wollte, aber …“

„Was er wollte? Was ist mit dir? Was wolltest du?“

„Oh, ich möchte nur, dass Lottie glücklich ist“, sagte Sarah schnell. Sie redete viel zu viel über sich selbst … mit einem Regisseur, dessen Adressbuch wahrscheinlich überquoll mit Namen von berühmten Persönlichkeiten.

„Nein, ich meinte vorher. Bevor du Mutter geworden bist. Welche Pläne hattest du für dein Leben?“

Sarah schwieg einen Moment. „Witzigerweise wollte ich immer schon eine Reise nach Italien machen. Ich wollte hier leben und alles über italienisches Essen lernen. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn ich bin eine Mutter“, schloss sie lächelnd. „Zugegeben, keine sehr gute.“

Auf einmal brannten Tränen in ihren Augen. Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte den Kopf ab. Durch die Tür des Restaurants hindurch sah sie den Marktplatz im hellen Sonnenschein. Nein, diesmal würde sie sich die Peinlichkeit ersparen, in aller Öffentlichkeit wegen nichts zu weinen.

Unwillkürlich griff sie nach einem Stängel Rucola, den sie binnen Sekunden zerfetzte. Sehr behutsam nahm Lorenzo ihr das Blatt ab. Ein Schauer überlief sie, als seine Hände die ihren berührten.

„Warum tust du das?“

„Was?“, flüsterte sie.

„Dich selbst schlecht machen.“

Schniefend lächelte sie verlegen, schaute ihn jedoch nicht an. „Tut mir leid.“

„Und dich für alles entschuldigen.“ Er seufzte. „Ich arbeite in einer Branche, in der jeder sich als wichtiger hinstellt, als er wirklich ist. Du tust das Gegenteil. Warum?“

Die Wärme und Kraft, die von seinen Händen ausgingen, stellten dumme Dinge mit ihrer Fähigkeit zu denken an. Die ungeweinten Tränen schnürten ihr noch immer die Kehle zu. Doch als viel intensiver empfand sie ein plötzlich aufflammendes süßes Ziehen tief in ihrem Bauch.

Einen Moment schloss sie die Augen und kämpfte dagegen an. „Ich weiß nicht. Schuldgefühle vielleicht.“

„Weswegen solltest du dich schuldig fühlen?“

In ihrem Lachen lag mehr als eine Spur Verzweiflung. „Wo soll ich anfangen? Weil ich Lottie keine Ferien in Disneyworld oder auf Mauritius ermöglichen kann? Weil ich keine rosa schimmernden Nägel mit weißen Spitzen habe, wie andere Mütter? Weil ich nicht in der Lage war, ihren Vater dazu zu bringen, mich zu lieben und bei uns zu bleiben? Weil ich ihr keine Geschwister …“

Eine Sekunde verstärkte er den Druck seiner Hand. „Möchte Lottie denn Geschwister?“

„Sie hat nie etwas in diese Richtung gesagt. Aber meine Familie denkt, sie würde etwas verpassen.“

„Und was ist mit dir? Möchtest du mehr Kinder?“

Sarah schüttelte den Kopf. „Ich liebe Lottie so sehr. Es ist nicht so, dass ich denke, ich könnte ein zweites Kind nicht genauso lieben, aber … es tut manchmal so weh“, flüsterte sie. „Die ständige Sorge, ob ich das Richtige tue. Die Angst, ob sie glücklich ist oder nicht. Die … Verantwortung. Ich kann das nicht noch einmal durchmachen. Ich schaffe das nicht. Macht mich das zu einem schlechten Menschen?“

Lorenzos Lächeln war voller Mitgefühl, Qual und Stärke. „Nein“, erwiderte er sanft. „Überhaupt nicht.“

5. KAPITEL

Während Lorenzo den Wagen auf der holprigen Straße zurück zum Palazzo lenkte, erlaubte er sich hin und wieder einen Seitenblick zu Sarah. Sie blickte starr aus dem Fenster und hielt den Korb mit den Einkäufen auf ihrem Schoß so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Er hatte keine Ahnung, was genau in dem Restaurant passiert war. Alles war nach Plan gelaufen, sie hatte angefangen, sich ihm zu öffnen. Warum also hatte er sich um Himmels willen ablenken lassen und sie nach ihren Kinderwünschen gefragt?

Er unterdrückte ein verärgertes Seufzen.

Irgendwie erinnerte Sarah ihn an Lupo. Lorenzo hatte den Hund in einer Seitenstraße in Pisa entdeckt. Offenbar war er so schlimm geschlagen worden, dass er, obwohl er kurz vorm Verhungern stand, Menschen gegenüber zu misstrauisch war, als dass er Futter von ihnen angenommen hätte. Drei Wochen hatten sie in Pisa gedreht, und genauso lange hatte Lorenzo gebraucht, um den Hund dazu zu bringen, genug Vertrauen zu ihm zu fassen, dass er ihn streicheln durfte.

Lorenzo erinnerte sich an das Glücksgefühl, das er damals empfunden hatte.

Als sie durch das Eingangstor des Palazzo fuhren, wandte Sarah sich mit einem kleinen Lächeln zu ihm um. „Danke“, sagte sie leise. „Dass du mir beim Einkaufen geholfen hast. Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.“ Sie hielt inne. Einen Moment zeigte sie ihm ihr schelmisches Lächeln. „Tiefgekühlte Pizza aufgebacken wahrscheinlich.“

„Deine Schwester und ihre Freundin sehen nicht so aus, als würden sie viel essen“, erwiderte er trocken. „Vermutlich wärst du damit durchgekommen.“

Sie lachte – und ihr Lachen traf ihn so unvorbereitet, dass auch er lächeln musste. Er parkte den Wagen vor der Eingangstür. Im Garten sah er Menschen auf dem Rasen sitzen. Lottie lief umher, verfolgt von einem munter bellenden Lupo.

„Oh, Hugh ist angekommen. Und Guy“, sagte Sarah. Auf einmal klang ihre Stimme kalt und tonlos.

„Liebling, das war ausgezeichnet, wie immer. Ein Gedicht. Wie könnte das morgige Essen das noch überbieten?“

„Das ist sehr nett von dir, Guy.“ Sarah nahm den leeren Teller, der vor ihrem Stiefvater stand. „Es war nur ein schlichtes Risotto.“

„Was ist mit der Küche? Hast du alles, was du brauchst?“

„Sie ist wunderbar. Wie der ganze Palazzo.“

Sie hatten an einem langen Tisch im alten Gewächshaus gegessen. Eiserne Kerzenhalter waren an den Streben an der Wand angebracht. Warm spiegelte sich das Licht der Kerzen in den Fenstern. Der Abendhimmel verfärbte sich gerade indigoblau.

Hugh lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und lächelte seiner Frau liebevoll zu. „Als du mich angerufen und mir von der Katastrophe mit dem Dach erzählt hast, habe ich einen ganz schönen Schrecken bekommen. Aber nun scheint ja doch alles in Ordnung zu sein. Gut gemacht, Liebling.“

Verärgert stapelte Sarah weiter die Teller aufeinander.

„Oh, das war gar kein Problem“, mischte Angelica sich ein. „Nach allem, was du mir über Mr. Cavalleri – Lorenzo – erzählt hast, dachte ich, er könnte uns Schwierigkeiten machen, aber er war überaus freundlich. Allerdings gibt es auch nicht viele Männer, die Fenella widerstehen können, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat.“

Fenella lächelte verschmitzt. „Ich habe ihn gebeten, uns beim Dinner Gesellschaft zu leisten, aber er sagte, er müsse noch arbeiten. Sehr schade.“

Sarah hielt es nicht länger aus. Sie stellte noch eine Salatschüssel auf den Tellerstapel, dann balancierte sie alles zurück in die Küche. Warum musste ihre Familie ihr das antun? Ihre Mutter und Angelica waren ja schon allein schlimm genug, aber wenn die Männer dabei waren, wurde ihr Geschnatter einfach unerträglich. Und was Hugh und Guy anging … die beiden waren erst ein paar Stunden hier und benahmen sich bereits so, als gehöre der Palazzo ihnen.

Was wohl Lorenzo davon hielt? Immerhin war dies sein Zuhause. Es erschien Sarah grundfalsch, dass er sich gezwungen fühlte, sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen, während ihre laute unsensible Familie mit atemberaubender Geschwindigkeit seine Großzügigkeit und seine Freundlichkeit ausnutzte.

Und freundlich verhielt er sich wirklich. Ein kleiner Schauer überlief sie, als sie an ihr gemeinsames Essen im Restaurant zurückdachte. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, als interessiere er sich für sie. Als sei sie wichtig.

Beinahe begehrenswert …

Was total lächerlich war! Der Mann hatte Tia de Luca geheiratet! Er war der Experte, wenn es um begehrenswerte Frauen ging, sie hingegen schaffte es nicht einmal in die erste Runde.

Seufzend wusch sie sich die Hände. Sie durfte Höflichkeit nicht mit Interesse verwechseln. Er war ein Gentleman, wahrscheinlich gebot es ihm sein Pflichtgefühl, sich um andere Menschen zu kümmern.

Wer, fragte Sarah sich, kümmerte sich eigentlich um ihn, jetzt, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte? Er wirkte so stark, so kontrolliert, aber die Gefühle, die manchmal in seinen Augen aufblitzten, die Linien in seinem markanten Gesicht und sein allzu schlanker Oberkörper verrieten ihr, dass das nur Fassade war.

Ihr Blick fiel auf den Topf mit Risotto, der noch auf dem Herd stand. Einen plötzlichen Entschluss fassend, holte sie einen sauberen Teller aus dem Schrank. Lorenzo hatte sich ihr gegenüber heute sehr zuvorkommend benommen, sie konnte zumindest versuchen, ihm etwas zurückzugeben.

Barfuß, ein Tablett in Händen, ging sie durch den nur schwach erleuchteten Flur. In der Ferne hörte sie leise Musik, die aus Lorenzos Arbeitszimmer kommen musste. Als sie an einem venezianischen Spiegel vorbeikam, erhaschte sie einen Blick auf sich. Küchendämpfe und abendliche Luftfeuchtigkeit hatten ihre Locken wilder denn je werden lassen. Um ihre Augen lagen dunkel Schatten. Sarah zögerte einen Moment und überlegte, rasch in ihr Zimmer zu laufen und ein bisschen Make-up aufzulegen, verwarf die Idee aber sofort wieder.

Es bedurfte schon mehr als Abdeckcreme unter den Augen, um sie in dieselbe Liga wie Angelica oder Fenella oder gar Tia de Luca zu hieven.

Vor der Tür zum Arbeitszimmer blieb sie stehen und lauschte. Es war ein verträumtes Stück für Streichinstrumente, melancholisch und wunderschön. Sarah lehnte sich gegen die Wand neben der reich verzierten Tür. Emotionen wallten in ihr auf und schnürten ihr die Kehle zu. Sie musste sich wirklich zusammenreißen. Mit dem Tablett in Händen konnte sie sich nicht einmal die Nase putzen. Oder anklopfen, fiel ihr nach einem unbeholfenen Versuch mit dem Ellenbogen auf.

Plötzlich sprang die Tür auf. Sarah schreckte zurück, ein wenig Wein schwappte über den Rand des Glases aufs Tablett.

Lorenzo saß an seinem Schreibtisch, auf dem heilloses Chaos herrschte. Überall lagen Papiere verstreut. Er schaute auf, als sie ins Zimmer stolperte. Zunächst zeigte sich Überraschung in seinem Gesicht, die sich rasch in Wut verwandelte, bevor die ausdruckslose Maske zurückkehrte.

„Tut mir leid, ich dachte nur …“

Energisch drückte er auf eine Fernbedienung, die Musik verstummte. In der plötzlichen Stille klang ihre Stimme unnatürlich laut.

„… du solltest etwas essen.“ Sie senkte die Stimme, damit sie sich nicht wie eine Verrückte anhörte. „Ich wollte klopfen, aber das ging nicht“, fügte sie unsicher hinzu und hob das Tablett an.

Aber er sah sie nicht einmal an, sondern schlug das Buch zu, das vor ihm auf dem Tisch lag, und stopfte es zusammen mit den Papieren in eine Schublade.

„Das hättest du nicht zu tun brauchen“, meinte er gepresst. Sein Tonfall verriet, was er eigentlich sagen wollte. Er war nur zu höflich, es auszusprechen.

„Kein Problem. Ich meine, ich habe ohnehin für meine Familie gekocht, also …“ Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch. Der Hund stupste sie mit der Nase an und warf ihr einen sehnsüchtigen Blick zu. Wenigstens einer weiß die Geste zu schätzen, dachte sie traurig. „Das mit dem Wein tut mir leid. Ich hole …“

„Nein.“

Das Wort hallte wie ein Schuss durch den Raum. Eine kurze Stille senkte sich über sie, dann machte Sarah kehrt und hastete auf die Tür zu. Als sie die Schwelle erreicht hatte, sprach Lorenzo weiter. „Danke für das Essen.“ Er deutete auf den Teller mit Risotto. „Es sieht fantastisch aus.“

Eine bedeutungslose Antwort murmelnd, schloss Sarah die Tür hinter sich und floh zurück in die Küche.

Verdammt!

Lorenzo ließ den Kopf in die Hände sinken und fluchte noch einmal. Grauenhafter hätte er mit der Situation nicht umgehen können.

Er schaltete die Musik wieder ein, leiser diesmal, und zog die Fotos, erste Überlegungen zu möglichen Drehorten von Francis Tates Roman, wieder aus der Schublade.

Anstatt sie zu verstecken, hätte er Sarah alles erzählen sollen. Sie um die Rechte bitten sollen. Irgendetwas. Ihr auf jeden Fall die Wahrheit sagen sollen.

Aber es war noch zu früh, und er hatte Angst davor, sie zu verschrecken. Er wusste nicht, weshalb sie ihm die Rechte vorher verweigert hatte. Doch eines war ihm klar: Wenn er diesen Film machen wollte, musste er Sarah Hallidays Vertrauen gewinnen und das bedeutete, sie kennenzulernen. Das wiederum würde, ausgehend von dem, was er bislang über sie erfahren hatte, ein langwieriger Prozess werden.

Vor allem, wenn er sich so verhielt wie gerade eben.

Am besten, er fing mit einer Entschuldigung an.

Denk nicht darüber nach. Konzentrier dich auf die Creme. Das ist wenigstens etwas, das du kannst …

Die Gedanken wirbelten im selben Rhythmus durch Sarahs Kopf, wie sie den Schneebesen durch die hellgelbe Masse aus Eigelb und Sahne im Topf bewegte.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht … eine Mischung aus Wut und Ungeduld, die er nicht schnell genug hatte verbergen können.

Nicht daran denken. Einfach weiterrühren.

Sie seufzte frustriert. Es war so heiß in der Küche! Die anderen waren schon vor geraumer Zeit zu Bett gegangen. Die Fenster konnte sie nicht öffnen, weil sonst sämtliche Motten der Umgebung sich auf die einzige Lichtquelle an der Decke stürzten. Als sie es versucht hatte, waren unzählige Insekten in die Küche eingedrungen. Einige hatten in der Vinaigrette für die Bresaola und in der Puddingcreme, die sie für den Kuchen anrührte, den Tod gefunden. Nein, es erschien ihr einfacher, die Fenster geschlossen zu halten und die Hitze auszuhalten.

Und es war tatsächlich eine unglaubliche Hitze. Tagsüber war es in der Küche mit ihren dicken Mauern angenehm kühl geblieben. Aber jetzt, bei eingeschaltetem Ofen und keinerlei Luftzug, sammelte sich die Hitze im Raum. Ihr Haar war schon ganz feucht, und das Kleid, das sie unter der Schürze trug, klebte auf der Haut.

Sie zerrte an den Bändern der Schürze und streifte sie ab. Das fühlte sich schon besser an, nicht viel, aber immerhin ein bisschen. Kurz entschlossen zog sie auch das Kleid über den Kopf.

Ungeheure Erleichterung überkam sie.

Sofort fühlte sie sich ruhiger, beherrschter. Sie schlüpfte wieder in die Schürze und verknotete die Bänder hinter dem Rücken. Wenn jetzt jemand hereinkam, sah sie zumindest von vorne absolut anständig aus, aber die Wahrscheinlichkeit war ohnehin nicht groß. Es war fast zwei Uhr morgens, alle schliefen längst. Wie eine sanfte Decke hatte sich Schweigen über den Palazzo gesenkt – ein kurzer Moment des Friedens, bevor morgen mit lautem Getöse die Hochzeit stattfand.

Am Nachmittag hatte sie gesehen, wie Lorenzo Guy den Keller zeigte, in dem die Tische und Stühle von seiner Hochzeit mit Tia aufbewahrt wurden. Das Herz wurde ihr schwer, als ihr klar wurde, wie grauenhaft es für Lorenzo sein musste, den ganzen Trubel in seinem Haus zu haben und immer wieder an sein früheres glückliches Leben erinnert zu werden.

Die Masse im Topf dickte langsam ein, gleich würde sie den magischen Punkt erreichen und sich in eine geschmeidige Creme verwandeln, die sie für den traditionellen italienischen Hochzeitskuchen benötigte. Unablässig rührte Sarah weiter. Jetzt hieß es aufpassen, einen Moment zu lange auf dem Herd, und die Creme würde gerinnen.

Auf einmal wurde die Tür geöffnet.

Eine Sekunde empfand sie nur Verärgerung, an einem so kritischen Moment gestört zu werden. Dann, als sie aufsah und Lorenzo erblickte, der das Tablett zurückbrachte, fiel ihr siedend heiß ein, dass sie ihr Kleid ausgezogen hatte.

Gott sei Dank bot ihr die Arbeitsinsel in der Küchenmitte ein wenig Schutz.

„Lass das Tablett einfach hier“, sagte sie rasch.

Er stellte es ab. „Grazie. Das Risotto war köstlich.“

Sein Tonfall klang steif und förmlich, und sie antwortete mit derselben Distanziertheit. „Wie gesagt, gekocht hatte ich ohnehin. Es tut mir nur leid, dich gestört zu haben.“

Lorenzo zögerte, dann seufzte er. „Nein, ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen. Weil ich mich so taktlos benommen habe. Wenn ich arbeite, bin ich sehr unsozial.“

Sie warf einen knappen Blick auf den Topf und schrie entsetzt auf. Hastig zog sie ihn vom Herd. Die cremige Masse von vor zwei Sekunden begann, sich in körnige Klümpchen aufzulösen.

„Was ist passiert?“

„Die Creme gerinnt“, antwortete sie und stieß eine ganze Serie von Flüchen aus, die sie in den Bankrott getrieben und Lotties Fluchglas zum Bersten gebracht hätte. Sofort war Lorenzo an ihrer Seite und nahm ihr den schweren Topf aus den Händen, damit sie zum Spülbecken hasten und kaltes Wasser einlaufen lassen konnte.

Sarah drehte den Hahn zu heftig auf, Wasser spritzte auf und durchnässte sie – es kümmerte sie nicht. Während sie herumwirbelte, stieß sie fast mit Lorenzo zusammen, der unterdessen den Topf gebracht hatte. Einen Augenblick sahen sie einander hilflos an. Plötzlich pulsierte die Luft zwischen ihnen. Alles wirkte, wie mit einer geheimen Bedeutung aufgeladen. Sein Blick hielt den ihren gefangen, während sie die Hände nach dem Topf ausstreckte und über seine legte.

Er ließ die Griffe los und trat einen Schritt zurück. Schwungvoll ließ sie den Topf ins kalte Wasser gleiten und begann, in der Creme zu rühren, als hinge ihr Leben davon ab. Die ganze Zeit über schaute Lorenzo ihr in die Augen.

Außer als sie sich vorbeugte und sie ihm damit einen tiefen Blick in ihr Dekolleté gewährte.

Dennoch versuchte sie, sich auf das zu konzentrieren, was sie tat … und nicht an das zu denken, was sie gerne tun würde. Zum Beispiel sich umdrehen, die Arme um seinen Nacken schlingen, sich auf die Zehenspitzen stellen und ihre Lippen auf seinen Mund pressen …

Oh, verflixt, es ging nicht gut. Die Creme löste sich auf. Verzweifelt verdoppelte Sarah ihre Anstrengungen. Sie durfte nicht aufgeben. Oder nachgeben.

„Sarah … hör auf.“

Lorenzo erkannte kaum seine eigene Stimme. Er fasste Sarah bei den Armen und drehte sie zu sich herum. Hitze ging von ihrem sinnlichen Körper aus und hüllte ihn ein. Sie stieß einen heiseren Laut aus.

Das war zu viel. Seine Selbstbeherrschung zerriss. Er schien nur noch aus Empfindungen zu bestehen, die schiere Leidenschaft hatte sein Bewusstsein in Besitz genommen und trieb ihn dazu, Dinge zu tun, die er nicht kontrollieren konnte. Er zog Sarah an sich, ihre Lippen berührten sich. Mit einer Hand fuhr er über ihren nackten Rücken, durch ihr nach Vanille duftendes Haar.

Es war ein hungriger Kuss, wild und hemmungslos. Sarah bewegte sich rückwärts, bis sie mit dem Rücken gegen das Spülbecken stieß. Sie hielt seine Schultern fest umklammert, öffnete den Mund und gewährte seiner Zunge Einlass. Lorenzo spürte, wie ihre Hüften gegen seine rieben. Seine Männlichkeit erwachte zum Leben. Die Erregung war so intensiv, dass es fast wehtat. Mit unbeholfenen Fingern zerrte er an der Schleife der Schürze hinter ihrem Rücken. Er wollte sie hier, jetzt, ans Spülbecken gelehnt …

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, unterbrach sie den Kuss und stemmte sich hoch, sodass sie nun auf dem Beckenrand saß. Die Bewegung brachte ein bisschen Raum zwischen sie. Und ohne die himmlische Ekstase ihrer Lippen auf seinen, ihr heißer Körper an seinen geschmiegt, wurde Lorenzo von einem lichten Moment der Klarheit befallen.

Was, zur Hölle, tat er da?

Er machte einen Schritt zurück, fuhr sich mit den Händen durchs Haar, dann ballte er sie zu Fäusten und presste sie gegen die Schläfen. „Nein“, stieß er hervor. „Nein, das ist falsch.“

Hergekommen war er, um sich zu entschuldigen. Er wollte ihr Vertrauen gewinnen, nicht ihr den Selbstrespekt rauben. Denn genau das würde er tun, wenn er nun mit ihr Sex hatte, hier, in der Küche, für ein paar Augenblicke gestohlenen Glücks.

Lorenzo drehte sich um, weil er den Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht nicht sehen wollte. Die Lust, die sich in ungläubige Verwirrung verwandelte, dann in quälenden Schmerz. Indem er sich umdrehte, würde sie wenigstens einen Rest Würde bewahren können. Er wollte ihr erklären, dass er es für sie tat, weil sie viel zu lieb, zu großzügig und zu verletzlich war, als dass er sie auf diese Weise ausnutzen wollte.

Aber kein Wort davon kam über seine Lippen. „Vergib mir“, murmelte er bloß und eilte, ohne sich noch einmal umzusehen, aus der Küche.

6. KAPITEL

„Mummy, aufwachen! Heute ist der große Tag!“

Seufzend schlug Sarah die Augen auf. Nachdem sie irgendwann in den frühen Morgenstunden ins Bett geschlüpft war, hatte sie die nächsten Stunden wach gelegen und voller Scham und Selbstvorwürfe starr an die Decke gesehen. Es kam ihr wie ein Wunder vor, dass sie überhaupt eingeschlafen war.

Sie rollte auf die Seite und zog das Kissen über den Kopf. Doch davon ließ Lottie sich nicht beeindrucken.

„Hast du den Kuchen gebacken? Sind kleine Figürchen drauf, die wie Tante Angelica und Onkel Hugh aussehen? Kann ich jetzt mein Blumenmädchenkleid anziehen?“

„Lottie, du bist ja schlimmer als ein Wecker“, murmelte Sarah. „Hast du keinen Ausschalter?“

Lottie lachte erfreut auf. „Doch habe ich, aber du darfst ihn nicht drücken, weil du jetzt aufstehen musst. Der große Zeiger steht auf der Zwölf, der kleine auf der Neun.“

Augenblicklich saß Sarah kerzengrade im Bett. In zwei Stunden fand die Hochzeit statt!

Sekundenschnell sprang sie aus dem Bett und erlaubte Lottie, ausnahmsweise im Schlafanzug zu frühstücken, während sie in die Shorts von gestern schlüpfte und das erste T-Shirt über den Kopf streifte, das ihr in die Finger fiel.

Die Küche, die sie in der Nacht noch eilig aufgeräumt hatte, sah aus, als seien wilde Reiterhorden hindurchgeritten. Sarah folgte den fröhlichen Stimmen und stieß auf eine im vollen Gange befindliche Frühstücksparty im Garten, inklusive Champagner und Menschen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Dem arroganten Auftreten nach zu urteilen wahrscheinlich Hughs alte Schulfreunde und Kollegen aus der Stadt.

Hugh kam auf sie zu und drückte ihr ein Glas Champagner in die Hand. Als sie die Wolke Rasierwasser einatmete, die ihn umgab, hätte sie beinahe husten müssen.

„Wir haben uns schon gewundert, wo du steckst, altes Mädchen“, meinte er jovial. „Mussten uns unser Frühstück ganz alleine zusammensuchen. Aber mach dir keine Sorgen, letzten Endes haben wir es geschafft.“

Sarah zwang sich zu einem Lächeln. „Wie beruhigend. Du bist ja so clever.“

Die Ironie in ihrer Stimme entging ihm völlig. Stattdessen legte er einen Arm um ihre Schultern und drängte sie zu einem Grüppchen von Männern im Anzug. „Jeremy, das ist Sarah, Angelicas Schwester. Sie kümmert sich um das Essen. Mit ihr musst du über dein Hochzeitsgeschenk reden.“

Jeremy schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, wippte ein wenig auf den Absätzen und wirkte sehr zufrieden mit sich. „Austern“, dröhnte er. „Hundertzwanzig von den kleinen Biestern, frisch aus der Nordsee. Angelica liebt sie … es soll eine Überraschung für sie werden. Dachte, sie machen sich gut als Vorspeise.“

Hugh klopfte ihm begeistert auf den Rücken. „Du hinterhältiger Teufel, das ist ja verdammt fantastisch. Findest du nicht auch, Sarah?“

„Verdammt fantastisch“, war nicht unbedingt die Beschreibung, die Sarah für die gedankenlose Zerstörung ihres Menüplans gewählt hätte. Noch eine Stunde später, als sie starr auf die Kisten mit den Austern blickte, suchte sie nach den passenden Worten für Jeremys dämliches Geschenk. Sie war immer noch nicht dazu gekommen zu duschen, geschweige denn, sich umzuziehen. Nein, sie war damit beschäftigt gewesen, die Küche auf Vordermann zu bringen, Hughs zugänglichere Freunde zu bitten, die Tische aus dem Keller zu holen und aufzubauen und das Gewächshaus mit den Blumen zu schmücken, die der Florist schon früh am Morgen geliefert hatte. Außerdem blieb noch dieses kleine Problem mit dem Hochzeitskuchen, das sie lösen musste.

Voller Abscheu betrachtete sie noch immer die Kisten mit den Austern, dann fluchte sie herzhaft. Zwei Mal.

„Wie viel ist es dir wert, dass ich dich nicht der Fluchpolizei melde?“

Sarah zuckte zusammen und blickte auf. Lorenzo stand auf der Schwelle.

„Wie lange stehst du schon da?“, fragte sie und wünschte, sie würde sich so gelassen anhören wie er.

„Lange genug, um zu wissen, dass du keinen guten Tag erwischt hast. Solltest du dich nicht für die Hochzeit umziehen?“

„Ich fürchte, ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig in die Kirche.“

„Warum nicht?“

Sie deutete auf die Kisten. „Austern“, erwiderte sie bitter. „Ein Überraschungsgeschenk von Hughs Trauzeugen. Leider habe ich nicht die leiseste Ahnung, was ich mit ihnen machen soll. Aber was auch immer mir einfällt, ein paar Stunden dürfte es schon in Anspruch nehmen.“

Langsam trat er näher. Ein Prickeln überlief ihren Körper, eine Mischung aus Verlegenheit und Verlangen, als vor ihrem geistigen Auge die Bilder der vergangenen Nacht lebendig wurden. „Was ist mit dem Kuchen?“

Sie konnte kaum atmen. Als sie sprach, klang es, als würde sie gerade ersticken.

„Katastrophe.“ Was den Rest auch ganz gut zusammenfasste. „Die Creme ist geronnen und …“

Entschieden fiel er ihr ins Wort. „Bene. Überlass alles mir. Ich kümmere mich um einen Ersatz. Niemand wird es je erfahren.“

„Nein“, entgegnete sie unglücklich. Niemand brauchte je zu erfahren, was passiert war … und schon gar nicht warum. Nicht, dass ihr jemand geglaubt hätte. „Danke.“

Lorenzo nickte. Einen Moment schien er zu zögern, als wolle er noch etwas sagen, wüsste aber nicht, wie er anfangen sollte. Dann seufzte er. „Wo ist Lottie?“

„Oben. Meine Mutter hilft ihr, das Kleid anzuziehen.“ Die Stimme versagte ihr. Auf einmal konnte sie das alles nicht mehr ertragen. Seit Monaten zählte Lottie die Tage, wann sie endlich ihr Blumenmädchenkleid aus der Plastikhülle nehmen und anziehen durfte. Der Gedanke, dass sie nun nicht bei ihrer Tochter sein konnte, die sich, wie alle anderen auch, aufgeregt auf die Hochzeit freute, war so …

Unfair.

Hallo? meldete eine höhnische Stimme sich in ihrem Kopf. Seit wann ist das Leben fair?

„Geh und hilf du ihr“, wies Lorenzo sie knapp an und nahm ihr den Stapel Teller aus den Händen, den sie gerade willkürlich von einem Platz zum anderen räumte. Seine Finger streiften dabei die ihren. Sarah wich zurück und schüttelte den Kopf.

„Nein, ist schon in Ordnung. Meine Mutter hat alles im Griff.“

„Dann geh und mach dich selbst fertig.“

„Nein, wirklich, das kann ich im Moment nicht.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „In einer halben Stunde findet die Trauung in der Kirche statt. Und selbst wenn du dich um den Kuchen kümmerst, muss ich immer noch herausfinden, was ich mit diesen verfluchten Austern anstellen soll. Zunächst einmal alle öffnen, nehme ich an.“

„Nein.“ Er fasste sie an den Schultern und schob Sarah zur Tür. Die Berührung löste ein wildes Gefühl der Freude in ihr aus. Seine Stimme klang tief und samtig, dicht an ihrem Ohr. „Austern sollten immer erst kurz vor dem Verzehr geöffnet werden. Es sei denn, du möchtest die Gäste vergiften.“

Sarah wusste, sie war geschlagen.

„Nicht unbedingt alle“, entgegnete sie düster und huschte mit eingezogenem Kopf die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

„Ciao, Gennaro. E grazie mille!“

Lorenzo legte den Hörer auf. Problem gelöst. Gennaro hatte versprochen, ihm einen respektablen Hochzeitskuchen zu liefern und zwei seiner Angestellten für die Feierlichkeiten auszuleihen. Binnen einer Stunde würden sie hier sein.

Natürlich würde er dafür bezahlen, aber selbst der doppelte – nein, der zehnfache – Preis war nur ein Bruchteil dessen, was er eigentlich zahlen müsste!

Oder was dieser Hugh und dieser Guy bezahlen sollten. Er schaute aus dem Fenster. Die beiden standen im Kreis ihrer Gäste, nestelten an ihren Krawatten und posierten vor einem roten Ferrari im Innenhof des Palazzo.

Eigentlich sollten sie ihre Portemonnaies zücken und für den Kuchen und das Catering zahlen, aber das würde solange nicht passieren, wie sie Sarah hatten, die diese Aufgaben freiwillig und selbstredend ohne Bezahlung übernahm. Er dachte an die vergangene Nacht zurück, wie sie noch geschuftet hatte, während alle anderen längst zu Bett gegangen waren. Es war fast zwei Uhr morgens gewesen, als er zu ihr in die Küche gekommen war. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Er rief sich die Hitze ins Gedächtnis, die von ihrem Körper ausgegangen war …

Lorenzo schlug so fest mit der Faust auf den Fensterrahmen, dass Lupo erschrocken aufheulte. Schuldgefühle stiegen in ihm auf.

Ihre faule egoistische Familie sah in Sarah nichts weiter als ein Paar Hände, das ihnen die Mahlzeiten kochte und anschließend das schmutzige Geschirr wegräumte. Er hatte sie beobachtet. Niemanden interessierte, wie es ihr ging, was sie fühlte, was sie wollte. Und das Schreckliche war, dass er sich fast genauso benommen hätte.

Hatte sie nur als warmen erotischen Körper wahrgenommen. Als sinnliche Lippen …

Er kannte Sarah Halliday kaum, doch er hatte genug Zeit mit ihr verbracht, um zu wissen, dass gefühlloser schneller Sex das Letzte war, was sie brauchte. Ihr Selbstvertrauen war ohnehin schon dürftig genug, auch ohne dass er sie auf so schäbige Weise ausnutzte.

Lauter Applaus und Jubelrufe der Hochzeitsgäste rissen ihn aus seinen Gedanken. Die Braut betrat die Szene. Er blickte auf seine Uhr. Knapp zwanzig Minuten waren erst vergangen, seit er Sarah zum Duschen und Umziehen geschickt hatte. In dieser kurzen Zeit konnte sie unmöglich fertig geworden sein. Und das bedeutete, sie verpasste Lotties großen Auftritt.

Er schnappte sich die kleine Kamera, die immer auf seinem Schreibtisch lag, und öffnete die Tür einen Spalt. Angelica schritt gerade die Treppe zum Innenhof hinunter. Das helle Sonnenlicht brachte das weiße Seidenkleid zum Leuchten, der hauchzarte Schleier wirkte wie ein feines Gespinst. Sie lächelte für den Fotografen, der am Fuß der Treppe auf sie wartete und ununterbrochen auf den Auslöser drückte.

Hinter ihr kam Fenella. Sie trug ein Kleid aus einem goldenen Stoff, der sich sehr eng an ihren Körper schmiegte – zweifellos hatte sie es nur gewählt, um aller Welt zu zeigen, wie schlank sie war. Lorenzo ignorierte die beiden Frauen und richtete die Kamera auf das kleine Mädchen, das ihnen folgte. Lottie blickte sehr ernst und feierlich, ein Kranz aus kleinen weißen Rosen schmückte ihren Kopf.

Plötzlich wurde ihm die Brust ganz eng. Eigentlich hätte er längst darüber hinweg sein sollen, aber manchmal überfiel ihn immer noch der Schmerz. Dann überkam ihn ein Gefühl, als müsse er jeden Moment ersticken.

Er zoomte auf Lotties Gesicht. Gerade schob das Mädchen eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Während sie das tat, schaute sie nach oben. Ihre Augen funkelten auf, und sie zeigte ein fröhliches Lächeln samt Grübchen.

An wen, dachte er, erinnert mich das?

Er folgte Lotties Blick mit der Kamera. Ein seltsames Prickeln überlief ihn, als er Sarah entdeckte. Ein Handtuch um den Körper geschlungen, das Haar noch feucht von der Dusche, lehnte sie aus dem Fenster und erwiderte strahlend das Lächeln ihrer Tochter.

Lorenzo bannte alles auf Film. Der Stolz und die Freude auf ihrem Gesicht, die Tränen, die in ihren Augen schimmerten, die Lippen, mit denen sie die Worte ‚Du bist wunderschön‘ formte, den Kuss, den sie ihrer Tochter entgegenhauchte.

„Könnte das kleine Blumenmädchen nach vorne kommen?“, fragte der Fotograf. Lottie warf ihrer Mutter noch einen letzten Blick zu, dann zog Fenella sie auch schon vor sich. Lorenzo hielt die Kamera weiter auf Sarah gerichtet und widerstand dem Drang, die Linse auf ihr Dekolleté zu schwenken, als sie sich vorbeugte.

Die Freude war aus ihrem Gesicht verschwunden. Auf einmal sah sie nur noch traurig aus. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Einen Moment glitzerte sie wie die Tiara der Braut im Sonnenschein.

Als Lorenzo den Kopf wieder hob, war Sarah vom Fenster verschwunden.

Vorsichtig und leise schloss Sarah die Tür zu ihrem Zimmer und lehnte sich dagegen. Sie presste die Handflächen gegen die Wangen und versuchte, die Gefühle unter Kontrolle zu bringen, die so plötzlich in ihr aufgewallt waren.

Sie weinte doch nie!

Mit Weinen erreichte man gar nichts … es sei denn, man war Angelica und besaß die Fähigkeit, Tränen in bestimmten Situationen ganz gezielt einzusetzen.

Aber als sie aus dem Fenster geschaut hatte, hatten ihre Emotionen sie schlicht überwältigt. Da war Lottie, die so süß und gut war, dass es Sarah manchmal den Atem raubte. Da war die allgemeine Freude, die in der Luft lag. Da waren Champagner und Kuchen und Seide und Rosen und Liebe und die Zusammengehörigkeit einer Familie. Auf einmal war es ihr vorgekommen, als stände sie vor den Toren zum Paradies, würde durch die Gitterstäbe blicken und wissen, sie würde niemals Zutritt erhalten.

Doch Selbstmitleid war ein weiterer Luxus, für den sie keine Zeit hatte, ebenso wenig wie eine pflegende Kur in ihre Haare einzumassieren oder sich die Beine zu rasieren.

Ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, schlüpfte sie in ihr Kleid. Es war ein lilafarbenes Etuikleid, das sie vor Jahren im Schlussverkauf erworben hatte, weil Rupert ihr versprochen hatte, sie zu einem Polospiel nach Windsor mitzunehmen. Damals hatte sie noch strikte Diät gehalten – beseelt von der Überzeugung, wenn sie nur dünn und klug genug wäre, würde Rupert aus seiner Apathie erwachen und erkennen, dass er sich unsterblich in sie verliebt hatte.

Wie vorhersehbar doch alles im Nachhinein gewesen war: Es hatte weder den Ausflug zum Poloturnier, noch die wundersame Verwandlung gegeben.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

„Herein.“

Ein Glas Champagner in der Hand stand Lorenzo auf der Schwelle. „Für dich.“

„Oh … danke, aber das wäre nicht nötig …“

„Ich wollte dir nur sagen, dass du dir um den Kuchen und die Austern keine Sorgen mehr zu machen brauchst.“

„Wirklich?“ Ihre düstere Miene hellte sich auf. „Aber wie?“

„Ich habe Gennaro angerufen. Er bringt die Hochzeitstorte, während alle in der Kirche sind.“

„Und was ist mit den Austern?“

„Normalerweise würde er sein Personal mit niemandem teilen, aber du hast gestern ganz schön Eindruck auf ihn gemacht. Alfredos Frau Paola kommt auch vorbei … das heißt, falls sie ihren kleinen Sohn mitbringen darf. Es ist nicht gerade eine Armee, aber es sollte reichen.“ Er zögerte, dann streckte er eine Hand aus und fuhr über ihre vom Weinen ein wenig gerötete Wange. „Zumindest was die Arbeit angeht … bei dem Rest bin ich mir nicht sicher.“

„Nein.“ Sie ließ sich auf den Stuhl vor der Frisierkommode gleiten. „Dafür bräuchte ich einen Make-up-Künstler oder ein Wunder. Doch da mit beiden nicht zu rechnen ist, bin ich erst einmal dankbar für den Champagner. Danke, dass du ihn mir gebracht hast.“

„Gern geschehen.“ Schulterzuckend ging er zur Tür, blieb dann jedoch stehen. „Komm nach unten, sobald du fertig bist. Ich fahre dich zur Kirche.“

Es war eine wunderschöne Hochzeit.

Alle sagten das. Schon in der Kirche flüsterten sie es einander zu, als die Sonnenstrahlen durch die hohen Fenster fielen und farbige Muster auf den alten Steinboden malten. Sie sagten es anschließend, während alle Gäste einander vorgestellt wurden. Und später, während sie im Garten Champagner tranken, sagten sie es wieder.

Mit einem Tablett voller kleiner Kaffeetassen in der Hand trat Sarah aus der Küche. Dank Gennaros großzügiger Hilfe in Form der beiden Gehilfen war das Essen reibungslos verlaufen. Zeit, sich zu setzen und selbst einen Happen zu essen, hatte Sarah allerdings bisher nicht gefunden.

Allmählich verwandelte das Azurblau des Himmels sich in ein sanftes Hellblau, aber es war immer noch furchtbar heiß. Im Gewächshaus war es kaum auszuhalten, weshalb die Menschen sich in den Garten zurückgezogen hatten. Überall standen Tassen, Gläser und Teller herum, die Sarah nun einsammeln durfte.

„Danke, Sie sind ein Engel“, seufzte eine von Hughs Tanten, als Sarah ihr den Kaffee servierte. „Die Hochzeit war ganz großartig.“

„Ja.“ Pflichtbewusst – anscheinend war die alte Dame auf einen Plausch aus – stellte Sarah das Tablett auf die Tischkante und stützte ein Knie auf einen Stuhl, um ihre Beine einen Moment zu entlasten. „Es war schrecklich, alles in letzter Sekunde ändern zu müssen, aber …“

„Typisch für Hugh und Angelica, aus einer Katastrophe etwas Wunderbares zu machen“, meinte die Tante warmherzig und nippte an der Kaffeetasse. „Angelica besitzt das Talent, alles, was sie tut, so mühelos und leicht wirken zu lassen. Kennen Sie sie näher?“

„Ich bin ihre Schwester.“

Innerlich seufzend wartete Sarah auf die unvermeidliche, wenig schmeichelhafte Reaktion.

„Wirklich? Sie sehen ihr gar nicht ähnlich. Ihre Schwester?“

„Halbschwester“, erklärte sie. „Wir haben verschiedene Väter.“

Das war eine gewaltige Untertreibung. Francis Tate und Hugh Halliday waren so verschieden wie Menschen nur sein konnten.

In diesem Augenblick entdeckte sie Lottie, die fröhlich lachend über den Rasen rannte. Verfolgt wurde sie von einem ebenfalls lachenden kleinen Jungen. Sarah witterte ihre Chance zur Flucht und richtete sich auf.

„Entschuldigen Sie mich, bitte. Ich möchte nach meiner Tochter sehen.“

Doch unzufrieden mit der Aussicht, alleine am Tisch zurückbleiben zu müssen, war die alte Dame nicht gewillt, Sarah gehen zu lassen. „Dann gehört das kleine Blumenmädchen zu Ihnen?“, fragte sie lächelnd. „Sie ist ja ganz bezaubernd. Ist Ihr Ehemann auch hier?“

Auch darauf war Sarah vorbereitet, sie kannte das Spielchen. Sie setzte zu einer Antwort an, als …

„Da bist du ja, tesoro. Ich habe dich schon gesucht.“

Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter, ein Daumen streichelte ihren Nacken.

„Oh!“, hauchte sie atemlos. Sie wandte den Kopf und nahm vage den ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht von Hughs Tante wahr. Aber als sie in Lorenzos dunkle Augen blickte, vergaß sie alles um sich herum.

Auf einmal fühlte sie sich ganz schwach.

„Bitte, entschuldigen Sie uns, signora“, sagte er und legte wie selbstverständlich seinen Arm um sie.

Wie, fragte Sarah sich, schaffte er es, so höflich und gleichzeitig so verdammt sexy zu klingen? Angenehm geborgen fühlte sie sich in Lorenzos Arm. Sarah setzte ein – wie sie hoffte – nonchalantes Lächeln auf und flüsterte ohne die Lippen zu bewegen: „Warum hast du das getan? Jetzt wird sie denken, du bist mein Ehemann?“

„Ich habe gehört, was sie gesagt hat“, erwiderte er. „Ich dachte, du könntest ein bisschen Hilfe gebrauchen.“

Alles in ihr sträubte sich dagegen, weil es sich so gut anfühlte, neben ihm zu gehen. Trotzdem blieb sie stehen und entzog sich seiner Hand. „Du musst das wirklich nicht ständig tun.“

„Was?“

„Mich retten.“ Sie blickte über die Rasenfläche zu Lottie und ihrem mysteriösen neuen Freund hinüber, die im Schatten einer Weide miteinander spielten. „Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

Lorenzo lachte rau auf. „Das denke ich nicht.“

Sarah erstarrte. Wut und Schmerz explodierten in ihrem Kopf, füllten ihn mit einem weißen Licht. Stolpernd machte sie einen Schritt rückwärts. „Doch, das kann ich. Mein ganzes Leben lang habe ich das bereits getan. Und morgen, wenn diese Hochzeit vorbei ist, werde ich damit weitermachen.“

Sie drängte sich an ihm vorbei und eilte in die Sicherheit der ihr mittlerweile vertrauten Küche.

Lorenzo schlug mit der Faust gegen die Hauswand und stieß ein paar sehr heftige Flüche aus, was ihm die verwunderten Blicke der in der Nähe stehenden Gäste einbrachte.

Was war es nur, das diese Sarah Halliday an sich hatte, dass er jedes Mal so komplett versagte? Dio, er war es gewohnt, mit nörgelnden Produzenten zu verhandeln, dilettantische Filmcrews auf Vordermann zu bringen, ja sogar mit Hollywoods A-Prominenz umzugehen – sicherlich die flatterhaftesten, egozentrischsten und emotional instabilsten Menschen auf diesem Planeten. In der Filmbranche kannte man ihn als jemanden, dem es immer gelang zu bekommen, was er wollte. Aber stellte man ihn vor diese Frau, eine ganz normale, bescheidene und unprätentiöse Frau, dann gab er plötzlich immer genau die falschen Antworten.

Seine Worte waren ganz anders gemeint gewesen. Er hatte ihr nicht das Gefühl geben wollen, hilflos und unfähig zu sein. Das erledigte bereits ihre Familie. Was er eigentlich hatte sagen wollen, war, dass sie sich immer an die letzte Stelle setzte.

Und dass ihm das nicht gefiel.

Das Problem war, dass es mit allem, was er sagte, immer schwieriger zu werden schien, mit ihr über die Filmrechte an Eichen und Zypressen zu sprechen. Falls er jetzt damit anfing, würde sie ihm vermutlich sehr genau darlegen, wo genau er sich seinen Film hinstecken konnte. Allmählich wurde die Zeit knapp. Morgen, hatte sie gesagt, würde sie abreisen.

Helles Kinderlachen drang an sein Ohr. Am anderen Ende des Rasens konnte er Lotties helles Kleid ausmachen. Offensichtlich spielte sie Fangen mit Alfredos kleinem Jungen. Bevor Lorenzo noch länger über seine plötzliche Eingebung nachdenken konnte, eilte er auch schon mit großen Schritten auf die beiden zu.

Es war kein perfekter Plan, den er sich da in seinem Kopf zurechtlegte, mehr eine vage Idee … die viel Potenzial für das nächste Desaster bereithielt.

„Mummy, das ist Dino, mein neuer Freund.“

Sarah setzte die nasse Pfanne ab, die sie gerade hatte abtrocknen wollen, strich eine Locke hinter ihr Ohr zurück und drehte sich zu ihrer Tochter um. Neben Lottie stand ein dunkelhaariger Junge mit Augen wie geschmolzene Schokolade. Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln.

„Hallo, Dino. Schön, dich kennenzulernen.“

Dino erwiderte das Lächeln, warf dann aber einen raschen Seitenblick zu Lottie.

„Er spricht kein Englisch, aber er bringt mir Italienisch bei“, erklärte Lottie. „Die Worte für Hallo und Mond kann ich schon. Mond heißt luna.“

Lachend verdrehte Sarah die Augen. „War ja klar, dass du das zuerst lernst.“

„Neumond bedeutet luna nuova. Wusstest du, dass heute Nacht Neumond ist? Wir haben Tante Angelica schon gesagt, sie soll sich etwas wünschen. Ich habe mir ein Teleskop gewünscht und eine neue Lehrerin, eine nettere als Mrs. Pritchard.“ Lottie griff nach Sarahs Hand. „Jetzt bist du dran. Du musst dir auch etwas wünschen.“

„Moment“, protestierte Sarah. „Erst muss ich diese ganzen dreckigen Töpfe und Pfannen spülen. Könnt ihr das mit dem Wünschen nicht für mich übernehmen? Ich wünsche mir …“ Sie zögerte und brachte die leise Stimme in ihrem Inneren zum Schweigen, die ihr verführerische Dinge über Lorenzo Cavalleri einflüsterte. „Hmm, ich weiß nicht … Weltfrieden und eine Badewanne voller Schokoladeneis?“

„So funktioniert das nicht“, widersprach Lottie stur. „Du musst mitkommen und es dir selbst wünschen. Vielleicht kannst du dir ja wünschen, dass die dummen Pfannen sich selbst spülen, und wenn du zurückkommst, sind alle sauber. Komm jetzt, Mummy.“

Wieder zerrte Lottie an ihrer Hand, und diesmal gab Sarah nach. Zwischen Belustigung und Verärgerung schwankend, folgte sie den Kindern durch den Garten. Sobald Lottie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie sich durch nichts aufhalten. Und Sarah war auch nicht in der Stimmung, eine Diskussion mit ihrer dickköpfigen Tochter anzufangen. Sie war müde, erhitzt und … hungrig, stellte sie überrascht fest. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen? Sie konnte sich nicht einmal erinnern.

Aber mehr als alles andere empfand sie Traurigkeit. Lorenzo war so freundlich zu ihnen allen gewesen, und sie hatte es ihm gedankt, indem sie ihn wie ein verzogenes Schuldmädchen angefahren hatte. Dabei war sie gar nicht auf ihn wütend gewesen, sondern nur auf sich selbst. Und morgen würde sie abreisen und ihn nie wiedersehen.

Bei dem Gedanken wurde ihr eiskalt ums Herz.

Zu ihrer Verwunderung dämmerte es bereits. Sie musste viel länger in der Küche geblieben sein, als sie gedacht hatte. In der Zwischenzeit waren die Musiker eingetroffen, die Hugh angeheuert hatte und spielten „The Way You Look Tonight“.

Der kleine Dino rannte vor ihnen her, sein weißes Hemd war alles, was sie von ihm in der samtenen Dunkelheit sehen konnte.

„La luna! Esprimi un desiderio!“

Sarah blickte in die Richtung, in die Dino zeigte. Die silbern leuchtende Sichel des Neumonds schwebte am Himmel, genau dort, wo das dunkle Indigoblau in das letzte Violett des Sonnenuntergangs überging.

„Du musst deine Augen schließen“, wies Lottie sie an. „Ich werde dich dreimal umdrehen, dann darfst du dir etwas wünschen, okay?“

Umgeben vom Lachen der Kinder wurde die Welt um sie herum immer dunkler. Der Boden unter ihren Füßen schien sich zu heben und zu senken, während sie ihre Pirouetten drehte.

„Jetzt! Wünsch dir etwas!“, rief Lottie. „Mach die Augen auf und wünsch dir etwas!“

Sarah schlug die Augen auf, doch anstatt die Neumondsichel zu sehen, wandte sie dem Mond nun den Rücken zu. Vor ihr erhob sich der Tempel, von dem Lottie ihr gestern erzählt hatte. Zwischen den vier Eingangssäulen schimmerte hell und einladend ein Licht.

Verwirrt schaute sie sich um. Dann erblickte sie eine dunkle Gestalt, die sich von einer der Säulen löste und einen Schritt ins Licht machte.

Lorenzo.

7. KAPITEL

Sarahs Herz tat einen Sprung, das Blut rauschte in ihren Ohren, sodass sogar die Musik, die leise vom Garten her zu ihr hinüberdriftete, nicht mehr zu hören war. Lottie schob ihre Hand in Sarahs. „Hast du dir etwas gewünscht, Mummy?“

„Ich … ich weiß nicht. Vielleicht.“

Lottie zog ihre Mutter in Richtung Tempel. Dino folgte ihnen. „Wir haben eine Überraschung für dich vorbereitet.“

Sarah spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte und ihr Mund trocken wurde, je näher sie Lorenzo kam.

„Lottie, was soll das alles? Ich hoffe, du bist Lorenzo nicht auf die Nerven gefallen mit …“

„Nein, ist sie nicht. Es war meine Idee.“ Mit ausgestreckten Händen schritt er die Treppe hinunter.

„Was denn?“

„Dinner.“

Sanft schob er Sarah vorwärts. Und als sie den Absatz erreichte, entrang sich ein verwunderter Laut ihrer Kehle.

Eine steinerne Bank zog sich die Wand des quadratischen Gebäudes entlang. An den Enden spendeten weiße Kerzen in kunstvollen Kandelabern flackerndes Licht. In der Mitte stand ein silberner Kühler voller Eiswürfel mit einer Flasche Champagner, daneben ein altmodischer Picknickkorb.

Erstaunt schaute sie Lorenzo an. Er beobachtete sie. Aber sie konnte einfach nicht ergründen, was er dachte. Immer noch hielt er ihre Hand. Ein elektrisches Kribbeln schien sich über ihre lose verschränkten Finger auszubreiten. Hastig entzog Sarah ihm ihre Hand und schlang die Arme um ihren Körper.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, flüsterte sie.

„Sag, dass es dir gefällt!“, krähte Lottie und klatschte in die Hände. Sie und Dino waren ebenfalls die Treppe hinaufgekommen und schauten sie nun freudestrahlend mit funkelnden Augen an.

„Ich finde es wunderschön“, erwiderte sie. „Aber ich verstehe nicht, weshalb ihr …“

Lorenzo fiel ihr ins Wort. Er hatte sich zu den Kindern umgewandt und reichte ihnen etwas. „Grazie mille, bambini. Vergesst nicht, was ihr mir versprochen habt, ja? Lottie, du gehst ohne Umweg zu deiner Großmutter.“

„Si“, riefen sie im Chor und rannten lachend die Stufen hinunter.

Sarah sah ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen waren. Dann spürte sie, wie ihr Blick wie magisch von Lorenzo angezogen wurde. In seinen Augen lag ein seltsamer, fast trauriger Ausdruck, der Sarahs Herz berührte.

„Ich verstehe nicht“, wiederholte sie.

„Ich wollte mich entschuldigen. Was ich vorhin gesagt habe, habe ich nicht so gemeint.“ Er seufzte. „Oder ich habe es gemeint, aber nicht so, wie es geklungen hat. Ich glaube nicht für eine Sekunde, dass du nicht in der Lage bist, dein Leben zu organisieren. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass du deine Bedürfnisse nie an erster Stelle siehst.“

„Das spielt keine Rolle. Es geht mir gut.“

„Hast du heute schon etwas gegessen?“

„N…nein, aber …“

„Esattamente.“ Lorenzo hob den Deckel des Picknickkorbs an. „Immer kümmerst du dich um alle anderen.“ Er setzte sich und holte eine Dose aus dem Korb. „Du kochst für sie. Räumst hinter ihnen auf. Du riskierst sogar deinen Hals für sie, wenn du auf ein undichtes Dach kletterst. Aber was ich wissen will, ist …“ Er öffnete die Dose und nahm eine Auster und ein kurzes stumpfes Messer heraus, „… wer kümmert sich um dich?“

Seine Stimme klang ganz ruhig, sehr zärtlich. Fasziniert beobachtete sie die Bewegungen seiner starken Hände.

„Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert. Wirklich nicht. Ich war immer unabhängig. Ich hasse es, wenn jemand mir sagt, was ich zu tun habe.“

„Setz dich.“

Sie machte einen Schritt nach vorne und setzte sich. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen, woraufhin Sarah lachen musste.

„Okay, meistens hasse ich es. Heute Abend bin ich zu müde, um zu streiten.“

Lorenzo schenkte zwei Gläser perlenden Champagner ein und reichte ihr eines.

„Welche Erleichterung“, sagte er trocken, „aber nicht wirklich eine Überraschung. Du hast die Hochzeitsfeier ganz alleine gestemmt. Leicht ist es bestimmt nicht, für alles die Verantwortung zu übernehmen.“

„Ich bin daran gewöhnt. Wie gesagt, Lotties Vater hat sich nicht oft blicken lassen.“

„Ich weiß. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass du schon viel länger Verantwortung auf deinen Schultern trägst.“

Die Dunkelheit, die sich außerhalb des Lichtkreises gesammelt hatte, schien auf einmal auf sie einzustürzen, kroch in ihr Herz und legte sich als vertrautes Gewicht auf ihre Seele.

Wieso wusste er davon?

Sarah trank einen großen Schluck Champagner. Sie wollte ihn nicht ansehen. Sie hatte Angst vor dem, was er vielleicht in ihren Augen lesen konnte.

Er hielt eine Auster in der Hand, schob das Messer zwischen die Schalenhälften, drehte es und öffnete die Muschel. Dann reichte er ihr die Hälfte mit dem hellen Muschelfleisch.

„Ich weiß nicht …“, murmelte sie. „Es klingt lächerlich, aber ich habe noch nie Austern gegessen.“

„Du hast ein viel zu behütetes Leben geführt, Miss Halliday“, sagte er ernst. „Kein Screaming Orgasm, keine Austern. Deine Erziehung weist große Lücken auf.“

Er hob die Auster an ihren Mund. Wie von selbst öffneten sich ihre Lippen. Ihre Blicke fanden einander, und auf einmal glaubte sie, sich in geheimnisvollen Tiefen zu verlieren.

„Du nimmst sie in den Mund“, erklärte er, „lass sie einen Moment dort und genieße. Nicht kauen.“

Sie tat wie geheißen. Ein fremder Geschmack explodierte auf ihrer Zunge. Salzig, ein wenig wässrig vielleicht. Gleich darauf flammte glühende Lust tief in ihrem Bauch auf, was teilweise an dem durchaus erotischen Geschmack lag, teils an der Wärme, die sie in Lorenzos Augen sah.

„Jetzt schlucken“, befahl er sanft.

Oh, Gott. Oh, Hilfe.

„Hat dir das gefallen?“

„Ja“, hauchte sie. „Oh, ja …“

Er holte eine zweite aus der Dose und öffnete sie. „Also, Sarah Halliday, woher kommt dieses Verantwortungsbewusstsein?“

Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet. „Ich weiß nicht. Mein Vater …“

Abrupt hielt sie inne. Die Worte auszusprechen ließ sie schlagartig wieder zur Vernunft kommen. Nach dem Stress mit der Hochzeitsfeier fühlte sie sich unendlich müde. Die Mischung aus Champagner, den Kerzen, der Hitze des Abends und Lorenzos ruhigem sanftem Blick besaß etwas durchaus Verführerisches. Aber wenn sie jetzt nicht aufpasste, würde sie ihm noch die ganze unerquickliche Geschichte ihres Lebens erzählen und ihn zu Tode langweilen.

Genussvoll ließ Lorenzo eine Auster in seinen Mund gleiten und wartete darauf, dass Sarah weitersprach. Dio, er hatte damit gerechnet, dass es schwierig werden würde. Worauf er nicht gefasst war, war die Wirkung der Austern. Sie zu essen und gleichzeitig Sarah anzusehen, war die reinste Folter.

Aber er hatte sie endlich da, wo er sie haben wollte.

„Was ist mit deinem Vater?“, fragte Lorenzo beiläufig. „Erzähl mir von ihm.“

Sie schüttelte den Kopf mit einer Heftigkeit, die ihn sowohl faszinierte, als auch frustrierte. „Es ist eine lange Geschichte. Eine lange uninteressante Geschichte.“

„Das würde ich gerne selbst beurteilen.“

„Glaub mir. Die Familiendramen anderer Leute sind immer langweilig. Außerdem sind es immer Variationen derselben großen Themen, oder?“

„Und welche Themen wären das?“ Er setzte das Messer an die nächste Auster an.

„Schuld, Kummer, Verlust …“

Sarah verstummte, als er die Auster an ihren Mund hob. Wieder öffnete sie die Lippen. Heiße Lust wallte in ihm auf, während er ihr Gesicht beobachtete, wie versunken sie in den Genuss dieses kleinen Luxus war. Er schenkte ihr Champagner nach, wobei der Flaschenhals klirrend mit dem Rand des Glases zusammenstieß. Überrascht stellte Lorenzo fest, dass seine Hände zitterten. Konzentrier dich, befahl er sich. Das hier ist deine Chance!

„Hast du ihn geliebt?“

„Ja“, entgegnete sie leise.

„Wie passen dann Schuld und Kummer dazu?“, fragte er und hoffte, halbwegs beiläufig zu klingen. Ich darf sie nicht drängen. Sie darf sich keine Sekunde bedroht fühlen.

„Ich habe es ihm offensichtlich nicht genug gezeigt. Ich hätte mehr tun müssen.“

Lorenzo zwang sich, in aller Ruhe einen Schluck Champagner zu trinken. „Wie alt warst du, als er starb?“

Den Kopf gesenkt, saß sie ganz still da. Dunkle Locken verdeckten ihr Gesicht. Im Kerzenschein schimmerte ihr Haar wie poliertes Kupfer. „Fünf.“

„Wie Lottie jetzt.“ Jäh zog sich Lorenzos Herz zusammen.

„Ja“, flüsterte sie.

Vorsichtig stellte er sein Glas ab und strich ihr einige Locken hinters Ohr. „Das ist eine große Last für ein kleines Mädchen. Wieso denkst du, du hättest mehr tun müssen?“

„Er hat Selbstmord begangen.“

„Warum nur?“ Die Worte kamen über seine Lippen, bevor er darüber nachdenken konnte. Zugleich verspürte er den übermächtigen Wunsch, ihr Gesicht mit den Händen zu umfassen und das tiefe Stirnrunzeln und die dunklen Schatten unter ihren Augen fortzuküssen. Er hielt sich zurück. Er musste sie dazu bringen weiterzusprechen, damit er irgendwann das Buch erwähnen konnte.

„Wenn ich mehr … Ich weiß nicht … Einfach mehr … Vielleicht hätte er es dann nicht getan. Er hat dieses Buch geschrieben, weißt du. Es war so etwas wie sein Lebenswerk. Er hat es mir gewidmet. Und in der Widmung steht, dass ich sein Leben lebenswert gemacht habe …“ Sie unterbrach sich und lachte bitter auf. „Kurz darauf muss er seine Meinung geändert haben.“

Lorenzo fühlte sich wie zu Stein erstarrt. Ich weiß, sollte er jetzt sagen. Ich kenne das Buch. Aber plötzlich, angesichts ihres Leids und ihrer Verzweiflung, ihrer schrecklichen unberechtigten Schuldgefühle, kam ihm das nicht mehr so wichtig vor. Alles, was zählte, war sie.

Langsam schüttelte er den Kopf. „Du darfst dir nicht die Schuld an seinem Tod geben“, sagte er. „Er war ein erwachsener Mann. Seine Gründe, sich das Leben zu nehmen, werden wir vielleicht niemals erfahren oder verstehen. Für ihn war es der einzige Ausweg. Und wenn die Dinge schon so schlecht um einen stehen, ist man bestimmt nicht mehr in der Lage, über die Konsequenzen seiner Tat nachzudenken.“

Sarah zögerte, dann hob sie den Kopf. „Ich wünschte, ich könnte dir glauben.“

Ihre Stimme klang seltsam tonlos, aber in ihren Augen spiegelten sich Kummer und Trauer. Und als Lorenzo sie anblickte, wurde ihm klar, dass er gerade auf die dunkelsten Geheimnisse ihres Herzens blickte. Irgendwo dort lag der Schlüssel zu dem, wer und was sie war. Auf einmal wollte er nichts sehnlicher, als diesen Schlüssel finden. „Es ist in Ordnung, wütend zu sein, Sarah.“

Ein Aufblitzen in ihren Augen verriet ihm, dass er mit seiner Einschätzung richtig lag. Sie zog die Beine auf die Bank und bettete den Kopf auf die Knie. „Ist es nicht“, widersprach sie. „Wir hatten nicht viel Zeit miteinander. Und es ist nicht okay, die wenigen Erinnerungen, die mir geblieben sind, durch meine Wut zu verderben. Das ist furchtbar.“

„Nein, es ist ganz natürlich. Das ist auch ein Grund, weshalb du dich schuldig fühlst, oder? Nicht weil du dir Vorwürfe machst, sondern ihm.“

Sie nickte. „Ein bisschen. Später, nachdem meine Mutter Guy geheiratet hatte, habe ich mir immer gewünscht, er wäre mein Vater. Er verhielt sich, wie ein richtiger Vater sich verhalten sollte. Er war immer gut gelaunt und nannte Angelica seine Prinzessin. Aber ich war auch ganz anders als die aufgeweckte und neugierige Angelica. Ich war schüchtern und ängstlich.“

„Du warst seine Tochter. Er hat dich so geliebt, wie du bist.“

Stirnrunzelnd schaute sie ihn an. Einen Moment fürchtete Lorenzo schon, sie hätte die Wehmut hinter seinen Worten gehört, die er zu verbergen versuchte. Doch dann erschien ein kurzes Lächeln auf ihren Lippen.

„Ich war nicht genug“, sagte sie.

Seufzend beugte Lorenzo sich vor und holte einen Teller mit einem Stück Hochzeitskuchen aus dem Korb. „Kinder sind nicht für das Glück ihrer Eltern verantwortlich. Das weißt du. Ist es Lotties Schuld, dass ihr Vater nicht bei euch geblieben ist?“

„Nein, das ist auch meine Schuld.“ Tapfer versuchte sie zu lachen. „Oh, Gott, was rede ich da nur. Normalerweise bin ich schon keine gute Gesellschafterin, aber sonst stelle ich mich wenigstens nicht so dumm an. Essen wir endlich Gennaros Kuchen und reden über etwas anderes.“

Während sie sprach, lief ihr eine einzelne Träne über die Wange. Sofort umfasste Lorenzo ihr Gesicht mit beiden Händen und wischte die salzige Perle fort.

„Wir werden den Kuchen essen“, versicherte er ihr. „Aber das Thema wechseln wir erst, nachdem wir einige Dinge klargestellt haben.“ Er spürte, wie sie zitterte. „Erstens … Es ist nicht deine Schuld, dass Lotties Vater nicht bei euch geblieben ist. Es ist nicht einmal seine Schuld. Es ist sein Pech.“

Einen Moment schloss sie die Augen, verbarg die Qual und den Schmerz vor seinem Blick. Er wartete auf ihren Protest, aber die Sekunden verrannen, ohne dass sie zu einer Antwort ansetzte.

„Zweitens“, fuhr er fort, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern, „du bist nicht dumm. Du gehörst zu den kompliziertesten und interessantesten Menschen, die ich je getroffen habe.“

Er lehnte sich mit einer Schulter gegen die Wand und zog Sarah in seine Arme. Dann spießte er ein Stückchen Kuchen auf die Gabel und fütterte sie damit. Ihre Blicke trafen sich und nahmen einander gefangen.

Aus der Ferne drang leise Musik zu ihnen herüber. Die Abenddämmerung war in die Nacht übergegangen. Eine angenehme Stille hatte sich über den Tempel gesenkt. Goldenes Kerzenlicht erhellte den Raum um sie herum, sandte flackernde Schatten auf den alten Steinboden. Lorenzo hörte Sarahs leise Atemzüge, spürte, wie ihre Brust sich verführerisch hob und senkte.

Äußerst verführerisch. Er musste dringend an etwas anderes denken.

„Sarah …“, murmelte er nachdenklich. „Ein hübscher Name.“

Sie lächelte traurig. „Nicht so hübsch wie Angelica.“

„Anders. Hat dein Vater dich so genannt?“

„Nein, meine Mutter“, erwiderte sie schläfrig. „Der Name Angelica stammt auch von ihr. Sie liebt Engel.“

Eine seltsame Empfindung schnürte Lorenzo die Kehle zu. „Seraphina“, flüsterte er.

Sie nickte. Im Kerzenschein kamen die Grübchen in ihren Wangen besonders deutlich zum Vorschein, als sie lächelte. „Das passt nicht zu mir. Ich werde den Erwartungen nicht gerecht. Ich habe viel mehr von einer Sarah.“

Lorenzo legte die Gabel beiseite und veränderte seine Sitzposition, sodass er ihren Kopf an seine Schulter schmiegen konnte. Sie leistete keinen Widerstand, sondern seufzte nur, als er anfing, sanft über ihr Haar zu streicheln.

Die Minuten verstrichen, dehnten sich ins Unendliche. Ein leichter Wind ließ das Wachs der Kerzen auf den Steinboden tropfen. Irgendwann verstummte auch die Musik. Jetzt gab es nur noch ihre Atemzüge, ihr weiches Haar, ihren warmen Körper, der nach Seife duftete. Immer wieder fuhr Lorenzo mit einer Hand über ihr Haar. Es spielte keine Rolle, dass sie eingeschlafen war. Er wollte sie einfach berühren. Weil sie es wert war.

8. KAPITEL

Lorenzo saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm lag sein Exemplar von Eichen und Zypressen. Stirnrunzelnd schlug er es auf. Er blätterte die ersten Seiten durch, bis er die Widmung fand.

Für Seraphina,

die mir Hoffnung und Freude und einen Grund zu leben gibt.

Seufzend ließ er das Buch auf den Tisch fallen und stand auf. Allmählich begriff er, wieso Sarah auf die absurde Idee kam, ihren Vater enttäuscht zu haben. Weshalb sie dachte, seiner bedingungslosen Liebe niemals gerecht geworden zu sein. Und warum sie glaubte, sich alles erst verdienen zu müssen.

Er trat ans Fenster und schaute hinaus. Lottie und Dino saßen auf dem Rasen am Ende der Auffahrt. Lupo lag ein Stücken entfernt und beobachtete, wie sie halbherzig Steinchen in einen leeren Saftkarton warfen, den sie unterhalb seines Arbeitszimmers aufgestellt hatten. Beide ließen die Schultern hängen. Als er Lottie genauer musterte, sah er, dass sie geweint hatte. Die Tränenspuren waren deutlich zu erkennen.

Wieder warf sie ein Steinchen. Wütender diesmal, härter, sodass es gegen das Fenster prallte, hinter dem er stand. Erschrocken hob sie die Hände an den Mund, während Dino neben ihr aufsprang und sie mit sich zog. Sekunden später stürmten sie die Einfahrt entlang.

Lächelnd wandte Lorenzo sich ab. Er drückte auf die Fernbedienung. Gleich darauf vertrieb herrliche Musik das bedrückende Schweigen im Zimmer.

Mit diesem Komponisten hatte er schon oft zusammengearbeitet. Antonio Agostino gehörte zu den Ersten, denen er von seinen Filmplänen erzählt hatte. Er hatte ihm eine Ausgabe von Eichen und Zypressen besorgt, woraufhin er diese Musik komponiert hatte. Lorenzo brauchte nur die Augen zu schließen, und er befand sich wieder in Oxfordshire. Sarah lief durch das hellgelbe Kornfeld. In der untergehenden Sonne glänzte ihr Haar wie geschmolzenes Gold …

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Tagträumen.

„Entrate“, rief er, wesentlich barscher, als beabsichtigt. Einen Moment passierte gar nichts, dann wurde sehr langsam die Tür geöffnet. Dino schob eine schuldbewusst dreinblickende Lottie hinein, Lupo folgte ihnen.

„Das mit dem Stein tut mir leid“, sagte sie. „Mi dispiace.“ Ihr Kinn zitterte, als koste es sie viel Kraft, die Tränen zurückzuhalten.

„Es ist nichts passiert“, erwiderte er freundlich und spürte plötzlich einen Kloß im Hals. „Dein Italienisch wird immer besser. Gibt Dino dir Unterricht?“

Sie nickte, und dann flossen doch die Tränen. Angesichts des offensichtlichen Kummers des Mädchens fühlte sich Lorenzo seltsam hilflos.

„Was ist los?“, fragte er sanft, als er sah, wie Dino einen Arm um Lotties Schultern legte. Vielleicht sollte ich auch Unterricht bei ihm nehmen, dachte Lorenzo. Dinos natürliches Mitgefühl schien wesentlich besser anzukommen, als seine armseligen Versuche, einer Frau in Not tröstend beizustehen.

„Ich will nicht nach Hause“, schluchzte Lottie. „Ich hasse London, und ich hasse die doofen Mädchen in meiner Klasse. Die spielen immer nur mit Puppen und sagen gemeine Sachen. Ich habe Mummy gefragt, wann wir wieder herkommen, aber sie hat gesagt, vielleicht nie mehr, und Dino ist mein bester Freund, und ich weiß nicht, ob ich ihn je wiedersehen werde, weil wir so weit weg von hier wohnen, und …“

„Shh …“, murmelte Lorenzo, etwas Besseres wollte ihm partout nicht einfallen. „Komm mal mit“, meinte er dann, als sein Blick auf das Modell des Sonnensystems fiel, das auf seinem Schreibtisch stand.

„Was ist das?“, fragte Lottie nach einigen zögernden Schritten. „Der Mond?“

„Die große goldene Kugel in der Mitte ist die Sonne“, erklärte Lorenzo. „Die kleine weiße dort der Mond, und die daneben, mit den aufgemalten lustigen Formen, ist die Erde.“

„Ohh …“, rief Lottie begeistert aus.

Lorenzo drehte die kleine Erdkugel. „Schau, hier ist Italien. Und hier …“ Er fuhr mit seinem Finger ein winziges Stückchen nach oben. „… hier ist England. So weit ist das gar nicht. Zumindest nicht im Vergleich zu …“ Er setzte das Modell in Bewegung, die Erde drehte sich um ihre eigene Achse, der Mond umkreiste sie, und zusammen wirbelten sie um die Sonne in der Mitte.

„Lottie?“

Lorenzo blickte auf. Sarah stand in der Tür. Sie hatte die Haare zu einem engen Pferdeschwanz zusammengefasst und trug ein verblichenes grünes T-Shirt, dazu einen kurzen Jeansrock, der ihre braunen Beine wunderschön betonte.

Lottie drehte sich nicht einmal um. „Was?“, fragte sie missmutig.

„Kommst du, bitte, mit und wäschst dir Gesicht und Hände“, sagte sie freundlich.

Immer noch rührte Lottie sich nicht. „Danke, dass du mir das gezeigt hast“, meinte sie ernst zu Lorenzo, dann ging sie mit steifen Schritten auf ihre Mutter zu und durch die Tür an ihr vorbei. Dino folgte ihr wie ein Schatten.

„Lorenzo, wegen gestern Abend …“, setzte Sarah unbehaglich an. „Es tut mir leid, dass ich dich mit meiner Familiengeschichte zu Tode gelangweilt habe und dann auch noch eingeschlafen bin. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“

„Extreme Müdigkeit, schätze ich“, entgegnete er trocken. „Du hast den ganzen Tag hart gearbeitet. Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen.“

Sie hielt den Kopf gesenkt, trotzdem konnte er sehen, dass ihr das Blut in die Wangen schoss. „Aber du hast mich ins Bett getragen und …“

„Si“, entgegnete er so neutral wie möglich. „Ich fand es sehr schön, etwas für dich tun zu können, ohne dass du protestierst.“

„Danke“, sagte sie leicht gequält. „Ich hoffe, die Kinder haben dich nicht allzu sehr gestört“, wechselte sie rasch das Thema.

„Nein.“ Warum war ihm eigentlich nie aufgefallen, wie schön ihre Beine waren? Jetzt schien er an nichts anderes mehr denken zu können.

„Gut.“ Sarah seufzte. „Lottie ist im Augenblick ziemlich wütend auf mich.“

„Weil du ihr gesagt hast, dass sie Dino nicht mehr wiedersehen wird.“

Aufgestachelt durch den anklagenden Tonfall, hob sie trotzig den Kopf. „Ja, ich halte nichts davon, unrealistische Erwartungen zu wecken. Es ist unwahrscheinlich, dass wir noch einmal herkommen. Angelicas Liebe zu dem Bauernhaus scheint erloschen zu sein. Wer weiß, ob sie und Hugh es überhaupt behalten. Und selbst wenn, Flüge sind teuer, vor allem in den Schulferien. Diesmal hat Guy für uns bezahlt, aber normalerweise ist ein Tagesausflug nach Brighton das Äußerste, was ich mir leisten kann.“

Nachdenklich schaute Lorenzo sie an. „Lottie mag die Schule nicht sonderlich, oder?“

Die Frage nahm ihr den Wind aus den Segeln. Er sollte ihr sagen, dass eine Rückkehr vielleicht doch nicht so aussichtslos war, wie sie glaubte. Und ein bisschen hoffte sie auch, er würde sagen, dass er sie wiedersehen wollte.

„Woher weißt du das?“

„Sie hat es mir gesagt.“

„Ich fürchte, ihr bleibt keine andere Wahl.“

Lorenzo schwieg einen Moment, dann sagte er: „Ich möchte dir einen Vorschlag machen.“

Auf einmal schien die Zeit um sie herum stillzustehen. „Was meinst du damit?“

„Ich meine, dass ich dich bitten möchte, zu bleiben. Du brauchst einen Job, und ich brauche …“

„Nein“, fiel sie ihm ins Wort. „Nein, das kannst du nicht tun.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Was tun?“

„Mich schon wieder retten. Ich weiß, du versuchst nur zu helfen, aber …“

„Du hältst mich für ehrenwerter als ich bin“, erwiderte er spöttisch. „Eigentlich bin nämlich ich derjenige, der Hilfe benötigt. Der Palazzo ist zu groß für mich allein, ich suche jemanden, der sich um das Haus kümmert. Du kannst das Geld gut gebrauchen, du liebst Italien, und Lottie scheint es hier auch zu gefallen. Was ich vorschlage, ist eine rein geschäftliche Abmachung.“

Seine Stimme klang sehr ruhig und vernünftig. Nachdem er geendet hatte, senkte sich tiefe Stille über sie. In dem Lichtstrahl, der durch das Fenster fiel, tanzten schläfrig Staubkörnchen. Sarah beobachtete sie, versuchte, die verschlungenen Pfade von einem zu verfolgen.

Natürlich war es unmöglich. Genauso unmöglich, wie zu begreifen, was Lorenzo da sagte. Bis vor einer Sekunde hatte sie sich damit abgefunden, abzureisen und nie wieder zurückzukommen.

Und jetzt das. Lorenzo zeigte ihr eine andere Möglichkeit auf.

„Es gibt da dieses Projekt, das ich gerne realisieren würde“, sprach er weiter, ein altes, abgewetztes Buch in den Händen drehend. „Es befindet sich in einer heiklen Phase, aber ich will diesen Film unbedingt machen. Ich muss mich mit Produzenten treffen, mit Geldgebern, Schauspielern und Leuten aus verschiedenen Studios. Deshalb möchte ich, dass jemand im Palazzo ist, der einen anständigen Kaffee kochen kann.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Selbst in ihren Ohren klang ihre Stimme fremd. „Dein Angebot kommt ein bisschen unerwartet.“

Er nickte. „Natürlich. Denk darüber nach. Sprich mit Lottie.“ Er wandte sich um, hob einen Stapel Papiere vom Schreibtisch auf und blätterte sie stirnrunzelnd durch. „Die überwiegende Zeit bekommst du mich ohnehin kaum zu Gesicht.“

Sarah verstand die Botschaft sofort. Hier ging es um Arbeit. Leidenschaftliche Küsse in der Küche oder nächtliche geflüsterte Geständnisse würde es nicht mehr geben. Die Ferien waren vorbei – Zeit, in die Realität zurückzukehren.

London war Realität und Rupert und Julia. Ebenso ihre winzige Wohnung mit dem hässlichen orangefarbenen Teppich, den auszutauschen sie sich nicht leisten konnte. Dazu ein Garten, in den nie ein Sonnenstrahl fiel. Und die Suche nach einem neuen Job. Wer würde sich um Lottie kümmern, wenn sie in den nächsten Ferien arbeiten musste?

Die Realität war ein Ort, an dem sie sich um jede Menge Probleme kümmern musste. Lorenzo servierte ihr einen fantastischen Ausweg auf dem Silbertablett. Alles, was zwischen ihr und der Lösung sämtlicher Probleme stand, war ihr Stolz. Und da sie nicht einmal genug Geld besaß, ihrer Tochter neue Schuhe zu kaufen, kam Stolz ihr wie Luxus vor, den sie sich einfach nicht erlauben konnte.

„Danke“, sagte sie ernst. „Dann würde ich gerne bleiben.“

Nachdem ihre Familie abgereist war, fühlte Sarah sich zunächst sehr unbehaglich in dem Palazzo. Während der langen heißen Tage war es unglaublich still in dem alten Haus. Die Räume schienen den Atem anzuhalten, als fragten sie sich, wer sie sei und was sie hier tat.

Im Gegensatz zu ihr brauchte Lottie keinerlei Eingewöhnungszeit. Im Gegenteil, aus dem schüchternen verschlossenen Mädchen, das Sarah in London gekannt hatte, wurde eine fröhliche Waldelfe mit funkelnden Augen und rosigen Wangen.

Die Krönung von Lotties Glück bestand in dem Zimmer, das Lorenzo ihr gegeben hatte, ein heller Raum am Ende des Flurs, an dessen Zimmerdecke ein herrlicher Nachthimmel, komplett mit Sternen und einem silbrigen Halbmond gemalt war.

Doch während Lottie immer mehr aufblühte, schlich Sarah zunehmend wie ein Geist umher. Die Zukunft besaß keinen Platz mehr in ihren Gedanken. Weiter als bis zur nächsten Mahlzeit dachte sie nicht. Vielleicht gehörte auch das zu dem Zauber des Palazzo. Nichts erinnerte mehr an das Leben, das sie zurückgelassen hatte. Die Probleme, die sie in London unablässig beschäftigt hatten, wirkten hier so weit entfernt, als würde sie durch das falsche Ende eines Fernglases blicken.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass diese Distanz ihr half, ihr altes Leben viel klarer zu sehen. Als die Tage zu Wochen wurden, dachte sie immer seltener an Rupert, und wenn, dann mit wachsender Wut und Verachtung. Allmählich fragte sie sich, wie sie je hatte glauben können, ihn zu lieben. Er hatte ihr Lottie geschenkt, wofür sie ihm ewig dankbar sein würde. Aber darüber hinaus hatte er ihr wenig gegeben. Sie meinte das nicht in materieller Hinsicht. Dass er ihr nie Blumen oder Schmuck geschenkt hatte, interessierte sie nicht. Vielmehr ging es darum, dass sie nun abends alle an einem großen Tisch saßen und gemeinsam aßen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie es vermisst hatte, mit jemandem zu reden, von ihrem Tag zu erzählen und zuzuhören.

Allerdings gab es eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Lorenzo und ihr, dass ihre Gespräche nicht allzu persönlich wurden. Zu einer Wiederholung der Nacht im Tempel, als sie ihm ihre Seele offenbart hatte, kam es nicht.

Manchmal aß sie allein mit Dino und Lottie. Anschließend trug sie ein Tablett mit Essen in Lorenzos Arbeitszimmer. Oft saß er hinter seinem Schreibtisch, telefonierte oder war so in seine Unterlagen versunken, dass er die Zeit schlicht vergessen hatte. Dann streckte er seinen kräftigen Körper wie ein anmutiger Panther, woraufhin ihr Herz wie immer einen Sprung tat. Dennoch sah sie die tiefen Linien der Erschöpfung, die sich in sein Gesicht gegraben hatten, die dunklen Schatten unter seinen Augen. In diesen unbeobachteten Momenten blitzten unzählige Gefühle in ihnen auf, die gleich darauf wieder hinter einer ausdruckslosen Maske verschwanden.

Es war nur natürlich, dass sie sich um ihn sorgte, redete sie sich ein, wenn sie nachts im Bett lag und nicht schlafen konnte. Er hatte so viel für Lottie und sie getan. Er hatte ihr geholfen, über ihr gebrochenes Herz hinwegzukommen, oder ihr zumindest gezeigt, dass es in Wahrheit gar nicht gebrochen war. Selbstverständlich wollte sie auch gerne etwas für ihn tun. Schließlich waren sie Freunde. Aber wenn sie sich ruhelos auf den weichen Laken wälzte und der leisen Musik lauschte, die aus seinem Arbeitszimmer drang, spürte sie eine Sehnsucht in sich aufsteigen, die mit Freundschaft überhaupt nichts zu tun hatte.

Eines Abends, Sarah hatte Lottie gerade zu Bett gebracht, klingelte das Telefon in der Küche. Daran war an sich nichts Ungewöhnliches, normalerweise wartete sie, bis Lorenzo den Hörer in seinem Arbeitszimmer abhob. Doch diesmal hörte sie seine samtige Stimme. Er telefonierte bereits auf der anderen Leitung.

Also nahm sie den Hörer ab. „Hallo?“ Meine Güte, dachte sie gleich drauf, was mache ich hier eigentlich? Ich spreche doch gar kein Italienisch!

„Hallo. Wer spricht da?“, fragte eine Stimme auf Englisch, wenn auch mit unverkennbar italienischem Akzent.

„Oh, ich bin Sarah. Signor Cavalleris … Haushälterin.“

Bene. Das freut mich zu hören, Sarah. Gott sei Dank ist er zur Vernunft gekommen und hat jemand eingestellt, der sich um das Haus kümmert. Und um ihn. Könnte ich vielleicht mit ihm sprechen?“

Unwillkürlich umklammerte Sarah den Hörer fester, als ihr klar wurde, wem diese Stimme gehörte. Immerhin führte man nicht jeden Tag ein Telefonat mit einem Hollywoodstar. „Ich fürchte, er telefoniert auf der anderen Leitung. Sind Sie das, Signora de Luca? Ich kann ihm ausrichten, er soll Sie zurückrufen, wenn er …“ Sie hielt inne. Lorenzo stand auf der Schwelle. „Oh, warten Sie, er ist …“ Er schüttelte den Kopf, doch es war schon zu spät, die Worte waren ihr schon über die Lippen gekommen. „… hier. Einen Moment.“ Sie hielt den Hörer in seine Richtung. „Tut mir leid“, murmelte sie, als er an ihr vorbeiging und das Gespräch annahm.

„Ciao“, sagte er tonlos, Sarah den Rücken zuwendend.

Sie stolperte nach draußen. Mit geschlossenen Augen fuhr sie mit den Händen über die duftenden Lavendelsträucher, während sie versuchte, nicht Lorenzos melodischer Stimme zu lauschen. Verstehen konnte sie ohnehin kein Wort.

Kein Wunder, dass seine Stimme so sanft und weich klingt – er spricht mit Tia, rief sie sich ins Gedächtnis. Wie die Hälfte der männlichen Erdbevölkerung war er immer noch verrückt nach ihr. Ein Wort gab es, das sie verstand; Lorenzo wiederholte es einige Male. Venezia. Vielleicht sprachen sie darüber, es bei einem romantischen Ausflug nach Venedig noch einmal miteinander zu versuchen?

Eifersucht wallte in ihr auf. Rasch schlang sie die Arme um ihren Körper und ging über den Rasen so weit vom Haus weg, bis sie Lorenzo nicht mehr hörte. Das Gras fühlte sich ganz weich unter ihren Füßen an. Sie schaute an sich herunter. Ihre Zehennägel zeigten immer noch denselben hellgrünen Nagellack wie vor drei Wochen, als Lorenzo sie in Gennaros Restaurant zum Essen eingeladen hatte.

Damals hatte er sich mit ihr unterhalten, als interessiere ihn wirklich, was sie zu sagen hatte. Über sich selbst, über Lottie, über ihren Vater …

Was würde passieren, wenn Tia de Luca zu ihm zurückkehrte? Natürlich würde sie sich für ihn freuen, redete sie sich ein. Vielleicht würde dann endlich der leere Ausdruck aus seinen Augen verschwinden. Und er würde nicht mehr vierzehn Stunden am Tag arbeiten, um die Einsamkeit in seinem Leben auszuhalten.

Mit Einsamkeit kannte sie sich aus. Dieses Gefühl, ganz alleine zu sein, wünschte sie niemandem. Lorenzo verdiente es, glücklich zu sein …

Ein ungläubiger Laut entrang sich ihrer Kehle, als sie aufblickte und erkannte, wohin ihre Schritte sie geführt hatten. Sie stand vor dem Tempel, dessen helle Mauern im letzten Licht der Abendsonne warm und heimelig wirkten.

Autor

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<p>Ich habe schon immer gern geschrieben, was nicht heißt, dass ich unbedingt Schriftstellerin werden wollte. Jahrelang tat ich es nur zu meinem Vergnügen, bis mein Mann vorschlug, ich solle doch meine Storys mal zu einem Verlag schicken – und das war’s. Mittlerweile habe ich über 140 Romances verfasst und wundere...
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