Traummänner & Traumziele: Venedig

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Sinnlicher Maskenball in Venedig
"Keine Namen", flüstert der geheimnisvolle Fremde, den Valentina auf einem Maskenball in Venedig trifft. Er ist so attraktiv und charmant, dass sie sofort in seinen sinnlichen Bann gerät. Wie verzaubert tut sie, was sie noch niemals tat, und lässt sich zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht im Hotel hinreißen. Doch kaum schläft ihr Verführer, wagt sie heimlich einen Blick hinter seine Maske. Ihr stockt der Atem: Es ist Niccolo Gavretti, der Erzfeind ihres Bruders! Schockiert läuft Valentina davon - und muss bald darauf entdecken, dass sie ein Kind unter dem Herzen trägt …

Palazzo der Liebe
Diese dunklen Augen, diese markanten Züge … Als sie Stephen Haviland zum ersten Mal gegenübersteht, ist Sophia fasziniert - und fassungslos. Bis aufs Haar gleicht der attraktive Unternehmer ihrem Traummann auf dem Porträt, das sie einst von ihrem Vater geschenkt bekam. Erregt folgt sie Stephens Einladung nach Venedig in seinen Palazzo. Und während er ihr die schönsten Seiten der romantischen Lagunenstadt zeigt, erlangt sie die Gewissheit: Stephen ist nicht nur ein überaus zärtlicher Liebhaber, sondern auch der Schlüssel zu ihrem Familiengeheimnis ...

Maskenball des Glücks
Maskenball in Venedig: Daniellas Herz klopft bis zum Hals, als ein verwegener Pirat mit ihr flirtet. Nur dieses eine Mal will die junge Engländerin alles vergessen und sich ganz der Magie des Augenblicks hingeben. Hingebungsvoll genießt sie die zärtlichen Küsse des geheimnisvollen Fremden und folgt ihm in hinaus in die dunkle Nacht. Wer wohl der Mann hinter der Maske ist? Für einen Moment erhascht Daniella im Mondschein einen Blick auf das Gesicht ihres Verführers – und erstarrt: Sie sieht direkt in die Augen ihres Erzfeindes, des vermögenden Bankiers Niccolo D’Alessandro …...

Verräterische Sehnsucht
Seit die schöne Caroline ihn vor dem Altar stehen ließ, hat der attraktive Milliardär Valente Lorenzatto nur eins im Sinn: Rache! Erst wird er alles in Besitz nehmen, was Caroline lieb und teuer ist – und dann sie selbst! Genüsslich malt er sich aus, wie er sie in seinem Palazzo in Venedig heiß verführt. Und anschließend eiskalt fallen lässt … Doch als er sie dann leidenschaftlich küsst, sehnt er sich plötzlich nach etwas ganz anderem. Und sein verräterisches Herz fragt: Ist diese betörend unschuldige Frau wirklich die Betrügerin, für die er sie immer hielt?

Einmal und für immer
Sie ist es! Dem Unternehmer Jordan Smith stockt der Atem, als die neue Marketingleiterin sein Büro betritt. Zuletzt hat er Alexandra vor zehn Jahren gesehen. Damals war sie süß und schüchtern. Jetzt ist sie aufregend und sexy. High Heels verleihen ihr endlos lange Beine … und dieser Mund! Erregt erinnert er sich, wie er ihr das Küssen beigebracht hat. Doch er hat auch nie ihren anschließenden Betrug vergessen! Und als er sie zu einem Kurztrip nach Venedig entführt, will er nur noch einmal eine heiße Nacht mit ihr erleben - und sie dann für immer aus seinem Leben verbannen …


  • Erscheinungstag 24.11.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787387
  • Seitenanzahl 720
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lynn Raye Harris, Lee Wilkinson, Carole Mortimer, Lynne Graham, Kate Hardy

Traummänner & Traumziele: Venedig

Lynn Raye Harris

Sinnlicher Maskenball in Venedig

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2012 by Lynn Raye Harris
Originaltitel: „Revelations of the Night Before“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 2102 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Julia Hummelt

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733700126

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Es konnte gar nicht sein! Valentina D’Angelis Blick war auf den Teststreifen in ihrer Hand gerichtet. Ihre Finger zitterten. Die blaue Linie sagte ihr eindeutig, dass sie ein Kind erwartete.

Es war absurd. Und doch nicht völlig unmöglich.

Tina schauderte. Die Nacht des Maskenballs war die verrückteste Nacht ihres Lebens gewesen. In dieser Nacht hatte sie sich über alle Tabus hinweggesetzt. Sie hatte ein einziges Mal in ihrem Leben die Frau sein wollen, die sie nie hatte sein dürfen. Eine Frau, die aus purer Lust mit einem fremden Mann schlief. Und am nächsten Morgen verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen.

Eine einzige Nacht lang hatte sie sich leidenschaftlich und verführerisch geben wollen, um ihre Schüchternheit ein für alle Mal zu überwinden. Sie wollte wie all die anderen Frauen in ihrem Alter sein – selbstbewusst, erfahren und souverän.

Seufzend nahm Tina einen neuen Teststreifen aus der Verpackung. Irgendetwas musste mit dem ersten Streifen nicht in Ordnung sein. Zumindest hoffte sie, es wäre so.

Rein theoretisch war diese Nacht eine gute Idee gewesen. In der Praxis jedoch hatte es ganz anders ausgesehen. Selbst mit der Maske, die ihr eine gewisse Anonymität verlieh, hatte sie sich nicht so hemmungslos geben können wie geplant. Dabei war sogar ihre Freundin Lucia von der Idee überzeugt gewesen.

„Du musst endlich mal mit einem Mann schlafen, Tina“, hatte Lucia sie gedrängt.

Tina war errötet und hatte gar nicht gewusst, was sie sagen sollte. Ihre Freundin hatte recht. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und immer noch Jungfrau. Sie hatte es satt. Aber sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass sie in dieser Nacht ihre Unschuld verlieren würde. Sie hatte getanzt und versucht, ein wenig zu flirten. Doch als ihr Tanzpartner sie an sich zog und ihr seine Knoblauchfahne in die Nase stieg, wusste sie, dass sie es nicht konnte. Sie stieß ihn von sich und floh aus dem Palazzo, hinaus an einen der unzähligen Kanäle Venedigs. Tief atmete sie die frische Luft ein. Hier war es angenehm ruhig und kühl.

Und in diesem Moment tauchte er auf. Nicht der Mann, vor dem sie geflohen war, sondern der, mit dem sie die Nacht verbringen würde. Groß und dunkelhaarig, trug er einen eleganten schwarzen Samtanzug und eine seidene Maske über den Augen.

Er zog sie sofort in seinen Bann. Und sie ließ sich bereitwillig von ihm verführen. Er hatte sie so zärtlich geliebt, dass ihr allein bei der Erinnerung daran Tränen in die Augen stiegen.

„Keine Namen“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. „Keine Gesichter.“

Das war es, was die Magie zwischen ihnen ausgemacht hatte. Und dennoch – sie hätte nur zu gern gewusst, wer er war. Es hatte sie traurig gemacht, dass sie es wohl nie herausfinden würde.

Tina schluckte, als das vertraute Gefühl der Beklemmung sie wieder überkam. Manchmal war es besser, wenn man nicht alles wusste. Sie wünschte, sie hätte es immer noch nicht gewusst.

Als das Mondlicht das Gesicht des schlafenden Fremden neben ihr erhellte, hatte sie sich nicht zurückhalten können. Vorsichtig hatte sie die Maske hochgeschoben. Ihr stockte noch immer der Atem, wenn sie an diesen Moment dachte.

Er hatte seelenruhig weitergeschlafen, während sie nach Luft rang. Er war nicht einmal aufgewacht, als sie aus dem Bett sprang und mit wild klopfendem Herzen in dem dunklen Hotelzimmer stand und auf ihn herabsah.

Musste es ausgerechnet dieser Mann sein?

Im nächsten Moment hatte sie nicht mehr klar denken können. Panisch hatte sie sich angezogen und war, so leise sie konnte, aus dem Zimmer geflohen.

Tina seufzte, während sie auf den neuen Teststreifen in ihrer Hand starrte. Das Universum hatte sich offenbar einen Scherz mit ihr erlaubt. Oder es wollte sie bestrafen. Dafür, dass sie mit einem fremden Mann geschlafen hatte.

Dabei war er gar kein Fremder. Sie kannte ihn, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Er war immer ihr großer Schwarm gewesen.

Tina biss sich auf die Lippe. Die Sekunden schienen in Zeitlupe zu verstreichen.

Dann hatte sie die Antwort. Diese war ebenso eindeutig und schockierend wie beim ersten Versuch.

Schwanger.

„Da ist eine Frau, Signore Marchese“, informierte ihn der Ober.

Niccolo Gavretti, der Marchese di Casari, saß in einem exklusiven Hotelrestaurant in Rom und warf ihm einen unbeeindruckten Blick zu.

Da war immer eine Frau. Frauen waren nun einmal sein liebstes Hobby. Jedenfalls solange sie nicht mehr forderten, als er zu geben bereit war. Und solange sie nicht glaubten, er sei ihnen etwas schuldig, bloß weil er mit ihnen schlief.

Nein, er liebte Frauen – aber nur zu seinen Bedingungen.

„Wo ist sie, und was will sie?“, fragte er mit einem resignierten Unterton.

„Sie weigert sich hereinzukommen, mein Herr“, entgegnete der Ober ein wenig ungehalten.

Nico winkte ab. „Dann sagen Sie ihr, dass ich keine Zeit für sie habe.“

Der Ober nickte. „Wie Sie wünschen, mein Herr.“

Nico richtete den Blick wieder auf die Papiere vor ihm auf dem Tisch. Er hatte sich an diesem Morgen mit einem Geschäftspartner zum Frühstück verabredet und war gerade dabei, in Ruhe noch einen Kaffee zu trinken und die Zeitung zu lesen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass eine Frau in seinem Hotel auftauchen würde. Sonderlich überrascht war er allerdings auch nicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihm eine seiner Geliebten nachstellte.

Einige Sekunden später stand der Ober erneut vor seinem Tisch. Es schien ihm furchtbar peinlich zu sein.

„Mein Herr, ich bitte vielmals um Entschuldigung wegen der erneuten Störung.“

Stirnrunzelnd ließ Nico die Zeitung sinken. Während der letzten Wochen hatten seine Nerven ständig blank gelegen, nicht zuletzt wegen all der Probleme, die sein Vater ihm nach seinem Tod hinterlassen hatte.

„Ja, Andres?“

„Die Dame sagt, sie müsste wirklich dringend mit Ihnen sprechen. Unter vier Augen. Sie möchte, dass Sie sie in ihrem Zimmer aufsuchen.“

Nico verdrehte die Augen. Er war einer der weltbesten Grand-Prix-Motorradfahrer. Erst vor einigen Monaten hatte er den Weltmeistertitel gewonnen. Die Frauen rissen sich um ihn. Sie ließen sich alles Mögliche einfallen, nur um sein Interesse zu wecken. Manchmal ließ er sich darauf ein – wenn er gerade Lust dazu hatte.

Heute hatte er keine Lust.

„Richten Sie ihr bitte aus, dass ich keine Zeit habe“, wies er den Ober an und sah auf seine Uhr. „Ich habe gleich noch einen Termin.“

Dieser sah ihn unbewegt an. Dann zog er eine Karte aus seiner Schürzentasche. „Sie hat mich gebeten, Ihnen das hier zu geben, mein Herr.“

Nico warf einen Blick auf die Visitenkarte. Sie war schlicht weiß, bis auf ein großes D in einer Ecke. Es war der Name auf der Rückseite der Karte, der sein Herz einen Schlag aussetzen ließ.

Valentina D’Angeli.

Sofort stieg die vertraute Wut in ihm hoch. Valentinas Bruder, Renzo D’Angeli, war sein größter Rivale auf der Rennbahn. Und zugleich sein schärfster Konkurrent in der Motorradbranche.

Vor langer Zeit jedoch waren sie beste Freunde gewesen. Damals hatten sie gemeinsam an einer Maschine getüftelt, die alles bisher Dagewesene übertreffen sollte. Bis es zu einem bitterbösen Streit zwischen ihnen gekommen war.

Es war lange her, doch es machte ihn noch immer furchtbar wütend. Und traurig.

Ein weiterer Blick auf die Karte, und Nico versuchte, sich an das Mädchen zu erinnern. Sie war noch ein Teenager gewesen, als er sie zuletzt gesehen hatte. Valentina D’Angeli. Sie müsste inzwischen Mitte zwanzig sein, überlegte er.

Valentina war ein süßes Mädchen gewesen, aber sie war unglaublich schüchtern. Ihr Bruder Renzo war davon so genervt gewesen, dass er sie in ein renommiertes Internat schicken wollte, in der Hoffnung, dass eine gute Ausbildung ihr ein wenig mehr Selbstbewusstsein verleihen würde.

Nico hatte versucht, Renzo von der Idee abzubringen. Er wusste, wie es war, wenn man von der Familie fortgeschickt wurde. Er hatte sich im Internat furchtbar einsam gefühlt, obwohl er viele Freunde hatte. Er hatte es gehasst. Dieses Gefühl, dass er seinen Eltern im Weg stand. Dass sie ihn loswerden wollten, weil er zu Hause störte.

Nico runzelte die Stirn. Er hatte damals gar nicht so falsch­gelegen mit seinen Vermutungen. Das hatte er jedoch erst Jahre später herausgefunden.

Dennoch hatte die teure Ausbildung sich bezahlt gemacht. Sicher hatte sie auch Valentina geprägt. Der Rohdiamant würde inzwischen auf Hochglanz geschliffen sein.

Aber warum war sie hier?

Zimmer 386 stand unter ihrem Namen. Eigentlich sollte er die ganze Sache ignorieren. Einfach aufstehen, hoch in sein Zimmer gehen und so tun, als wäre nichts passiert.

Aber das konnte er nicht. Er musste herausfinden, was sie von ihm wollte. Sicher hatte Renzo sie geschickt. Aber aus welchem Grund? Er hatte Renzo zuletzt beim Grand Prix in Dubai gesehen. Dieser hatte seine Karriere an diesem Tag offiziell beendet. Soweit Nico informiert war, hatte er danach seine Sekretärin geheiratet und war nun dabei, Kinder in die Welt zu setzen. Er lebte mit seiner Familie irgendwo in der Toskana.

Nico hatte ein mulmiges Gefühl. Renzo fuhr zwar keine Rennen mehr, war allerdings immer noch sein größter Konkurrent im Geschäft. Und wenn er seine Schwester zu ihm schickte, dann führte er etwas im Schilde.

Tina war nervös. Mit verschränkten Armen stand sie am Fenster und beobachtete die Autos auf der Straße unter ihr. Sie wusste nicht, ob er kommen würde. Was wäre, wenn er nicht kam? Würde sie es wagen, ihn in seinem Büro aufzusuchen? Oder sollte sie direkt zu seiner Villa fahren?

Das Problem war nur, dass er mehr als eine Villa besaß. Außerdem hatte sich in den letzten zwei Monaten, seit sie die Nacht mit ihm verbracht hatte, viel in seinem Leben verändert. Sein Vater war gestorben, und Nico war nun der Marchese di Casari. Ein wichtiger Mann. Er war nicht mehr der Junge, der damals endlos viel Zeit damit verbracht hatte, mit ihrem Bruder an Motorrädern herumzuschrauben.

Möglicherweise erinnerte Nico sich nicht einmal mehr an sie. Schließlich waren er und Renzo schon lange keine Freunde mehr. Und sie war damals so unscheinbar und schüchtern gewesen. Ein unauffälliges kleines Mädchen, das zu den Jungs in die Garage geschlichen kam und sie schweigend bei der Arbeit beobachtete. Nicht gerade jemand, an den man sich erinnerte.

Aber das alles war nun so lange her. Fast schien es, als wäre es in einem anderen Leben passiert. Und nun stand sie hier und war von ihm schwanger. Tina stiegen die Tränen in die Augen. Wie hatte das bloß passieren können? Es war doch bloß eine einzige Nacht gewesen. Eine einzige wunderbare Nacht voller Erotik und Leidenschaft, in der sie ausnahmsweise mal in eine andere Rolle geschlüpft war.

Sie hatte es damals schrecklich gefunden, so schüchtern zu sein. Und sie litt auch heute noch darunter. Sosehr sie sich auch anstrengte, selbstbewusst zu wirken, innerlich war sie noch immer dasselbe schüchterne Mädchen von damals. Und für diese eine Nacht, in der sie endlich einmal aus sich herausgegangen war, war sie sofort bestraft worden. Es war einfach nicht fair.

Hätte sie auch nur die leiseste Ahnung gehabt, um wen es sich bei ihrem mysteriösen Liebhaber handelte, hätte sie die Flucht ergriffen. Sie hätte sich niemals fallen lassen können in dem Wissen, dass der Mann, der ihr die Kleidung vom Leib riss, der war, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte.

Damals war er ihr großes Idol gewesen. Sie war vierzehn gewesen und er zwanzig und hatte wahnsinnig gut ausgesehen. Sie hatte sich in seiner Nähe nie entspannen können, obwohl er immer nett zu ihr war. Sobald er sie auch nur anlächelte, hatte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können und kein Wort mehr herausgebracht.

Und dann, als sie sich eines Tages mal wieder in die Garage schlich, um sein hübsches Gesicht zu sehen, war er nicht mehr da gewesen. Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Und Renzo hatte sich geweigert, darüber zu sprechen. Monatelang hatte sie nachts im Bett an Nico denken müssen und gebetet, dass er wiederkommen möge.

Tina zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. Ihr Herz begann zu rasen. War es überhaupt richtig, dass sie hier war? Sollte sie es ihm wirklich sagen?

Er würde ausflippen. Es wäre ein Schock für ihn. Andererseits hatte Nico das Recht, zu erfahren, dass er Vater wurde. Sie selbst hatte ihren Vater nie kennengelernt. Und ihre Mutter hatte sich geweigert, ihr zu verraten, wer er war. Das würde sie ihrem eigenen Kind nicht antun.

Entschlossen sprang Tina auf und riss die Tür auf, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Der Mann, der vor ihr stand, war groß, dunkelhaarig und unglaublich attraktiv. Eine erwachsene Ausgabe des hübschen jungen Mannes, in den sie sich vor so vielen Jahren verliebt hatte. Sofort bekam sie weiche Knie.

Er wirkte angespannt, als ihre Blicke sich trafen. Unsicher schlug sie die Augen nieder, während er sie prüfend musterte. Sie trug einen Blazer mit einem blauen Seidentop darunter, einen knielangen Rock und hochhackige Pumps. Sie wusste, dass sie in diesem Outfit elegant und erwachsen wirkte. In diesem Moment jedoch kam sie sich vor wie der verklemmte Teenager von damals.

„Valentina?“

In seiner Stimme schwang Ungläubigkeit mit. Und dieser erotische Unterton, der sie in Venedig so in seinen Bann gezogen hatte. Wie hatte sie bloß nach all den Jahren seine Stimme vergessen können? Daran hätte sie ihn doch sofort erkennen müssen. Dann wäre sie jetzt nicht in dieser unmöglichen Situation.

„Schön, Sie wiederzusehen, Signore Gavretti.“

Tina trat einen Schritt zurück, um ihn hereinzulassen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatten eine wunderschöne Nacht in Venedig zusammen verbracht, und nun stand Nico vor ihr und hatte keine Ahnung, dass sie die Frau war, mit der er geschlafen hatte. Tina hatte fast geglaubt, er würde sie erkennen, wenn er sie sah. Er würde spüren, dass sie die Frau war, die er in jener Nacht vor zwei Monaten so leidenschaftlich geliebt hatte.

Doch er erkannte sie nicht. Und für einen Moment versetzte ihr diese Erkenntnis einen Stich. Wie albern von ihr. Er war schließlich kein Hellseher.

„Kommen Sie rein“, forderte Tina ihn auf.

Als er über die Schwelle trat, rang sie unmerklich nach Luft. Seine plötzliche Anwesenheit überforderte sie. Es fühlte sich an wie in jener Nacht, als sie ihm willenlos ergeben war. Sie hatte alles gemacht, was er wollte. Hingebungsvoll und hemmungslos. Und alles andere als schüchtern.

Allein bei der Erinnerung daran wurde ihr heiß. Was er wohl von ihr denken würde, wenn er es wüsste?

„Tee?“, fragte sie und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Hand zitterte, als Tina nach der Kanne griff.

„Nein, danke“, erwiderte Nico kühl.

Schweigend schenkte sie sich eine Tasse ein – natürlich war es kein schwarzer Tee. Als sie sich wieder umdrehte, erstarrte sie und wich einen Schritt zurück. Nico stand direkt vor ihr und sah sie mit seinen grauen Augen herausfordernd an. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt, um ihm über die Wange zu streichen. So wie in der Nacht vor einigen Wochen. Mittlerweile schien es ihr, als wäre das alles in einem anderen Leben passiert.

„Du hast mich doch sicher nicht hierher gebeten, um mit mir Tee zu trinken“, erklärte er finster. „Sag mir einfach, was dein Bruder will. Dann haben wir das erledigt.“

Tina blinzelte erstaunt. Das warme Gefühl, das sich eben noch in ihr breitgemacht hatte, war bei seinen Worten sofort verflogen.

„Renzo weiß gar nicht, dass ich hier bin“, rechtfertigte sie sich. Renzo würde ausrasten, wenn er wüsste, dass sie sich mit Nico traf.

Irgendwann jedoch würde er sowieso alles erfahren. Wenn er herausfand, dass sie schwanger war, würde er wissen wollen, wer der Vater war. Und dann würde die Hölle über sie hereinbrechen.

Tina stellte die Tasse ab und presste ihre Hand an die Stirn. Was für ein Schlamassel! Und sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte.

Nicos Lächeln war eisig. Sein Blick glitt erneut über ihren Körper.

„Du bist eine hübsche junge Frau geworden, Valentina. Dein Bruder ist bestimmt sehr stolz auf dich.“

Tina hätte am liebsten gelacht. Für Renzo war sie bloß eine Last. Er kümmerte sich um sie, und sie wusste, dass er sie liebte. Aber er sah in ihr nicht mehr als die dumme kleine Schwester. Seit einer gefühlten Ewigkeit lag sie ihm damit in den Ohren, dass sie für ihn arbeiten wollte. Doch er sah ihr Potenzial einfach nicht.

„Du bist eine D’Angeli“, hatte er erklärt. „Du hast es nicht nötig zu arbeiten.“

Nein, sie musste nicht arbeiten. Aber sie wollte es. Und wenn ihr Bruder sich nicht umstimmen ließ, dann würde sie eben anfangen, sich anderweitig nach einem Job umzusehen. Dabei war sie sich so sicher, dass sie bei D’Angeli Motors am besten aufgehoben war. Immerhin hatte sie ihr Studium des Finanz- und Rechnungswesens mit Auszeichnung abgeschlossen. Und zurzeit konnte sie gar nichts damit anfangen, von kleineren Börsengeschäften mit den Auszahlungen aus ihrem Treuhandfonds einmal abgesehen. Es machte sie verrückt, ihre Kenntnisse nicht anwenden zu können.

„Hast du eine Ahnung! Du kennst meinen Bruder doch gar nicht mehr …“

Nicos Miene verhärtete sich für einen Augenblick. Tina war selbst überrascht, wie verbittert sie beim Gedanken an Renzo klang.

„Willst du mir nicht endlich sagen, was du von mir willst?“, fragte er schließlich ungeduldig.

Tina seufzte und sank auf die Couch. Sie nahm einen kleinen Schluck Tee, in der Hoffnung, dass es ihren Magen ein wenig beruhigte. Vielleicht hätte sie am Morgen doch etwas essen sollen. Aber der Anblick der verschiedenen Wurst- und Käsesorten auf ihrem Frühstückstisch hatte lediglich dafür gesorgt, dass ihr wieder übel wurde.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll, Signore“, gestand sie und schlug die Augen nieder.

„Es gab einmal eine Zeit, da hast du mich Nico genannt“, erinnerte Nico sie. „Wenn du dich mal überwunden hast, überhaupt mit mir zu sprechen.“

Die Erinnerung an damals ließ Tina erröten. Sie hatte kaum je ein Wort herausbekommen, wenn er da war. Und es ging ihr in diesem Moment nicht anders. Er wirkte angespannt und fast etwas bedrohlich, wie er da vor ihr stand und auf sie herabblickte.

Wenn er nur wüsste, wen er da vor sich hatte …

Sie musste ein hysterisches Lachen unterdrücken. Dabei war ihr gar nicht nach Lachen zumute. Gleich würde sie es ihm sagen.

„Das ist lange her“, erwiderte sie. „Damals war das Leben noch einfacher als jetzt.“

Ihr entging nicht, wie seine Gesichtsmuskeln bei ihren Worten zuckten. Doch schon im nächsten Moment hatte er sich wieder im Griff.

„Das Leben ist nie einfach, cara. Es scheint nur so, als wäre früher alles einfacher gewesen.“

„Was ist zwischen dir und Renzo vorgefallen?“

Sofort bereute sie ihre Worte. Sie wusste genau, dass er nicht darüber sprechen wollte.

„Wir sind einfach keine Freunde mehr. Das ist alles.“

Seufzend lehnte sie sich zurück. Sie hatte schon damals um jeden Preis wissen wollen, warum Nico nicht mehr zu ihnen kam. Monatelang hatte sie gehofft, die beiden hätten bloß einen Streit gehabt und würden sich schon wieder vertragen. Aber sie hatte ihn nie wiedergesehen.

Ihr Magen rumorte erneut, und sie strich sich mit der Hand über den Bauch, als könnte sie das unangenehme Gefühl dadurch ausschalten.

Überrascht sah sie auf, als Nico plötzlich vor ihr kniete. Das Grau seiner Augen erinnerte sie an Gewitterwolken. Es machte ihr Angst. Als könnte das Unwetter jeden Moment losbrechen.

Doch in diesem Moment wirkte er bloß besorgt. Irgendwie rührte sie das.

„Was ist los, Valentina? Du siehst … irgendwie grün aus im Gesicht.“

Tina schluckte und unterdrückte das Gefühl der Übelkeit mit aller Macht.

„Ich bin schwanger“, stieß sie leise hervor. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.

„Ich gratuliere.“ Sein Blick sagte ihr, dass Nico es ehrlich meinte. Wieder musste sie ein nervöses Lachen unterdrücken.

„Danke“, antwortete sie. Langsam brach ihr der Schweiß aus. Sie stellte die Teetasse auf dem Tisch ab und zog umständlich ihre Jacke aus. Er streckte den Arm aus, um ihr behilflich zu sein.

Sein Gesichtsausdruck war nun etwas sanfter. Dennoch spürte sie seine Anspannung. Ein falsches Wort, und Nico würde explodieren.

Tina schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Konzentrier dich.

„Kann ich dir irgendetwas bringen?“, fragte er höflich.

„Könntest du mir vielleicht die Schale mit den Keksen auf dem Tisch reichen?“, bat sie ihn erschöpft.

Er nickte, und sie zwang sich, einen Schokoladenkeks zu essen, um wieder etwas zu Kräften zu kommen.

„Wenn du mir jetzt vielleicht noch sagen könntest, warum wir hier sind, wäre ich dir wirklich dankbar. Wie gesagt, ich habe viel zu tun …“, begann er erneut.

„Ja“, antwortete sie. „Natürlich.“ Was würde er bloß sagen? Wäre er bereit, sie zu unterstützen? Oder würde er sich sofort aus dem Staub machen? Eigentlich war es egal. Sie war stark genug, dieses Kind allein großzuziehen.

Sie schluckte die letzten Kekskrümel hinunter und ließ sich wieder gegen die Couchlehne sinken.

„Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du geheiratet hast“, murmelte Nico.

Resigniert sah sie ihn an. „Ich bin nicht verheiratet.“

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.

„Ah“, sagte Nico schließlich und nickte.

Tina wusste genau, was er dachte. Und es machte sie wütend.

„Ich hatte es nicht geplant, falls du das jetzt denkst. Aber ich werde mich auch nicht für mein Kind schämen.“

„Das musst du auch gar nicht“, versuchte er sie zu beruhigen. Es nützte nichts. Sie wusste genau, wie Leute aus reichen Familien dachten. Die Erfahrung hatte sie schon damals im Internat gemacht, als die anderen Mädchen sie wie eine Außenseiterin behandelten, bloß weil sie keinen Vater hatte. Und weil ihre Mutter Kellnerin war und nie geheiratet hatte, obwohl sie Kinder hatte.

Diese Mädchen hatten ihr das Leben zur Hölle gemacht. Und mit ihrer Schüchternheit war sie ein leichtes Opfer für sie gewesen. Diese verdammten Snobs! Bis auf Lucia natürlich.

Verärgert krallte Tina die Finger in das Kissen neben sich. Nico gehörte auch zu diesen Leuten aus reicher, adliger Familie. Und auch er verurteilte sie. Auch wenn er es nicht zugab. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen.

Stattdessen wurde sie nun richtig wütend.

„Ich weiß genau, was du denkst. Du brauchst es gar nicht abzustreiten.“

Regungslos blickte er sie an. Er sah so unglaublich gut aus, wie er da vor ihr stand.

„Ich denke überhaupt nichts. Ich frage mich bloß, was das alles mit mir zu tun haben soll.“

Ihr Herz schien stillzustehen, während sie ihn betrachtete. Jetzt oder nie. Der Moment der Wahrheit war gekommen. Sie musste die Worte nur noch aussprechen.

„Es hat sehr viel mit dir zu tun“, stieß sie hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Doch er hatte sie verstanden. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde noch abweisender. Er war der Aristokrat, sie das uneheliche Kind.

„Ich wüsste nicht, was ich mit der Sache zu tun haben sollte. Ich habe dich fast zehn Jahre lang nicht gesehen. Und glaub mir“, erklärte er, während sein Blick über ihren Körper glitt, „ich würde mich daran erinnern, wenn es nicht so wäre.“

Tina errötete. Wieder hatte seine Stimme diesen erotischen Unterton, an den sie sich noch gut erinnern konnte. Als sie weitersprach, blickte sie ihm fest in die Augen.

„Nicht unbedingt“, sagte sie. „Es war schließlich dunkel, und wir haben … Masken getragen.“

2. KAPITEL

Er fühlte sich seltsam leer. Ungläubig sah Nico auf die Frau herab, die vor ihm auf dem Sofa saß. Es war seltsam genug, dass dies hier die kleine Schwester seines alten Freundes sein sollte. Aus dem schüchternen kleinen Mädchen von damals war eine schöne und selbstbewusste junge Frau geworden.

Aber das, was sie da gerade gesagt hatte, verwirrte ihn richtig. Oder vielmehr das, was sie nicht ausgesprochen hatte.

Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie schwanger war. Mit seinem Kind. Das war gelogen, auch wenn sie von dem Maskenball in Venedig zu wissen schien. Sie war nicht die Frau, mit der er damals die Nacht verbracht hatte. Es war ein Trick. Offensichtlich wollte Renzo ihn reinlegen, um ihre alte Rechnung zu begleichen. Nico war enttäuscht. Er hätte nicht gedacht, dass Tina genauso skrupellos sein könnte wie ihr Bruder.

Er hatte keine Ahnung, wie die beiden davon wissen konnten. Wenn sie jedoch glaubten, er würde darauf hereinfallen, dann hatten sie sich getäuscht.

Wieder ließ er den Blick über ihren Körper gleiten. Er versuchte, sich an die Frau in Venedig zu erinnern. Sie hatte draußen vor dem Palazzo am Kanal gestanden und vor Kälte gezittert. Im ersten Moment hatte er geglaubt, ihr wäre etwas passiert, aber es schien ihr gut zu gehen.

Er erinnerte sich noch genau, wie süß und unschuldig sie auf ihn gewirkt hatte. Und wie er sich zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Obwohl er sonst eher erfahrene Liebhaberinnen bevorzugte. Trotzdem hatte es ihn erstaunt, dass sie noch Jungfrau war.

Valentina D’Angeli und jene Frau konnten nicht ein und dieselbe Person sein. Valentina kannte die Frau offensichtlich, und nun nutzten Renzo und sie diese Tatsache zu seinem Vorteil aus. Alles andere wäre einfach zu absurd.

„Du lügst“, sagte Nico kalt.

Seine Worte ließen sie zusammenzucken.

„Warum sollte ich das tun?“, stieß sie hervor. „Was würde mir das bringen?“

Langsam wurde er wütend. Sie spielte ihre Rolle ganz gut.

„Ich wüsste einiges, was du dir davon versprechen könntest“, konterte er. „Ich bin reich. Ich habe einen Weltmeistertitel. Und mein Unternehmen ist D’Angeli Motors ein Dorn im Auge.“

Nun schüttelte sie den Kopf.

Er sah sie prüfend an und spürte, wie eine unwillkommene Hitze in ihm aufstieg, als Tina sich von der Couch erhob. Sie war wunderschön. Das glänzende kastanienbraune Haar fiel ihr lockig über die Schultern. Ihre glatte Haut schien zu schimmern. Und ihre Lippen waren voll und sinnlich, wie zum Küssen gemacht. Er hätte sich ganz sicher an ihre Locken erinnert. Angestrengt versuchte er, an die Nacht in Venedig zurückzudenken. Er war sicher, dass die Frau langes dunkles Haar gehabt hatte. Und es war glatt gewesen.

Entrüstet stemmte Tina die Hände in die Hüften. „Vor sechs Wochen hattest du noch keinen Weltmeistertitel. Und mein Bruder hat mindestens genauso viel Geld wie du. Außerdem interessiert mich euer Geschäftskrieg nicht die Bohne!“

Nico versuchte, sich nicht vom Anblick ihrer schmalen Taille ablenken zu lassen. Oder von ihren vollen Brüsten, die sich unter dem Seidentop abzeichneten. Es erstaunte ihn, wie sein Körper auf sie reagierte.

„Sie hatte glattes Haar“, erklärte er kühl.

Tina blinzelte. Einen Moment lang schien sie verwirrt zu sein, und er triumphierte innerlich. Jetzt hatte er sie, diese kleine Lügnerin.

Doch dann lachte sie und griff sich mit der Hand ins Haar. „Schon mal was von einem Glätteisen gehört?“

Nico verspannte sich. „Das beweist noch lange nicht, dass du es gewesen bist.“

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, und ihre plötzliche Nähe weckte ein unerwartetes Verlangen in ihm. Er ertappte sich bei der Vorstellung, wie er Tina an sich zog und den Mund auf ihre vollen Lippen presste.

Herausfordernd hob sie das Kinn. Ihre Augen blitzten vor Zorn. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie als junges Mädchen so temperamentvoll gewesen war.

„Weißt du, ich kann dir auch gern sämtliche Details von jener Nacht aufzählen, wenn du mir nicht glaubst. Angefangen mit der Situation draußen vor dem Palazzo, als du mich gefragt hast, ob alles in Ordnung sei. Ich kann dir auch dein Zimmer im Hotel Daniele haarklein beschreiben. Und wie du sämtliche Lichter ausgemacht und darauf bestanden hast, keine Namen zu nennen. Und die Masken anzubehalten. Wie du mir das Kleid ausgezogen hast und …“ Sie schluckte. „… jede freie Stelle meiner Haut geküsst hast …“

Ihre Wangen waren gerötet, als sie verstummte. Nico spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Während der letzten Jahre hatte er unzählige Frauen verführt, aber keine war so faszinierend gewesen wie die Unbekannte in Venedig. Es war ein typischer One-Night-Stand gewesen. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war sie nicht mehr da gewesen. Es hatte ihn fast ein wenig amüsiert, als er feststellte, dass er sich irgendwie benutzt und weggeworfen gefühlt hatte. Er hatte sich den ganzen restlichen Tag nach ihr gesehnt.

Und er hatte versucht, herauszufinden, wer sie war. Auch wenn er in der Nacht darauf bestanden hatte, ihre Identität nicht preiszugeben. Sie hatte irgendetwas an sich, das ihn neugierig gemacht hatte. Etwas, das er gern weiter ergründen würde. Auch wenn es nicht mehr als Sex war, was sie beide verband. Mit interessanten Frauen wie ihr verbrachte er gern mehr als nur eine Nacht.

Er hatte sich beim Portier erkundigt, in welche Richtung sie gegangen war, nachdem sie das Hotel verlassen hatte. Dieser hatte bloß den Kopf geschüttelt. Es sei etwa zwei Uhr morgens gewesen, als sie an ihm vorbeigeeilt war, mit ihrer Maske und dem blassgrünen Kleid, die Handtasche an ihre Brust gedrückt. Sie sei in eine Gondel gestiegen. Doch er erinnere sich nicht, welcher Gondoliere sie gefahren habe.

Nico war enttäuscht gewesen. Doch er hatte nicht allzu lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Schließlich hatte er überhaupt kein Problem damit, eine neue sexy Frau fürs Bett zu finden.

„Das alles hätte dir jemand erzählen können“, erklärte er. „Es heißt überhaupt nichts, dass du sämtliche Details kennst.“

Warum wurde ihm dann so heiß in ihrer Nähe? Es fühlte sich fast so an wie mit der Frau in Venedig damals.

„Das ist doch lächerlich“, protestierte Tina, bevor sie sich seufzend in die Kissen lehnte. Ihr Gesicht wirkte noch blasser als zuvor. Erschöpft schloss sie die Augen.

Ein wenig betroffen sah Nico sie an. „Möchtest du noch einen Keks? Oder noch etwas Tee?“

„Nein, danke“, entgegnete sie leise. „Ich muss bloß mal einen Augenblick sitzen.“

Dann warf sie ihm einen wütenden Blick zu. „Aber du hast natürlich recht. Ich habe mir das alles bloß ausgedacht. Renzo hat mich auf dich angesetzt, weil wir dich in eine peinliche Situation bringen wollten. Es wäre dir doch peinlich, oder? Du bist ja schließlich der Mann, auf den nach jedem Rennen ein Dutzend halb nackter Groupies wartet. Der Mann, von dem regelmäßig Schnappschüsse mit irgendeiner neuen Frau im Arm veröffentlicht werden. Und der Mann, der sich auf einer berühmt-berüchtigten Party mitten auf die Tanzfläche gestellt hat und sich von sämtlichen Frauen hat abknutschen lassen. Ja, diesem Mann wäre es furchtbar peinlich, wenn die Welt erfährt, dass er Vater wird. Und dann auch noch mit einer Frau wie mir.“

Langsam hatte er genug. Jetzt machte sie sich auch noch über ihn lustig. Und was ihn noch viel mehr ärgerte, war die Tatsache, dass Tina recht hatte.

„Woher soll ich denn wissen, was ihr für Hintergedanken habt?“, fuhr er sie an. „Vielleicht wollt ihr mich ja auch nur bloßstellen, damit die D’Angelis im Gegensatz zu mir gut dastehen. Ich weiß genau, dass Renzo mir den Weltmeistertitel nicht gönnt.“

Erstaunt beobachtete er, wie sie noch blasser wurde.

„Du bist gemein, weißt du das?“, schoss sie zurück. „Und so eingebildet! Ich weiß nicht genau, warum ich dir das mit dem Baby erzählen wollte. Ich dachte, du hättest ein Recht, es zu erfahren.“ Sie rang nach Luft. „Auf jeden Fall kannst du dir sicher sein, dass ich nichts von dir will und keinerlei Erwartungen habe. Und wenn es dir jetzt nichts ausmacht, dann würde ich mich gern etwas ausruhen. Mir ist nämlich ziemlich übel.“

Entgeistert sah Nico sie an. Es schien ihr tatsächlich nicht gut zu gehen. Fast tat sie ihm etwas leid. Allerdings konnte er auch nicht einfach vergessen, dass sie ihn hereinlegen wollte.

„Offensichtlich ist dir ein wichtiges Detail entgangen, cara. Vielleicht hat deine Informantin vergessen, es zu erwähnen, aber wir haben in der besagten Nacht verhütet. Ich bin schließlich nicht blöd.“

„Ich weiß. Ich habe es nicht vergessen. Auf der Packung steht allerdings, dass es zu neunundneunzig Prozent sicher ist, stimmt’s? Scheinbar gehören wir zu dem einen Prozent, das Pech hatte.“

Mühsam beherrscht presste er die Lippen zusammen. „Netter Versuch, bella, aber so funktioniert das nicht. Sag Renzo, er soll sich etwas anderes ausdenken.“

Mit diesen Worten ging er zur Tür und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen.

Am liebsten hätte sie Nico etwas hinterhergeworfen. Aber es war die Anstrengung einfach nicht wert. Besser, sie blieb auf der Couch sitzen, trank ihren Tee und versuchte, sich zu beruhigen.

Eigentlich sollte sie nun zufrieden sein. Sie hatte es ihm gesagt, und das war richtig gewesen. Stattdessen war Tina wütend und frustriert. Sie hätte nicht gedacht, dass er ihr so feindselig begegnen würde. Offensichtlich war er weit davon entfernt, den Streit mit Renzo zu vergessen. Damals, als sie noch fast Teenager gewesen waren.

Eine Sache war ihr jetzt allerdings klar. Sie würde Renzo auf keinen Fall erzählen, wer der Vater ihres Kindes war. Er würde sie drängen, es ihm zu sagen, aber sie würde sich hüten. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und damit alt genug, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Bisher hatte sie immer zugelassen, dass Renzo alles für sie entschied. Und nun hatte sie sich selbst in diese Situation gebracht und würde mit den Konsequenzen leben müssen. Vielleicht war es sogar das Beste für sie, wenn Nico ihr nicht glaubte. Dann brauchte sie es auch niemand anderem zu erzählen.

Ihre Mutter würde ihr ihre Entscheidung sicher nicht übel nehmen. Wie konnte sie auch? Schließlich hatte sie ihr jahrelang verheimlicht, wer ihr Vater war.

Beim Gedanken an ihre Mutter runzelte Tina die Stirn. Ihre Mutter hatte so viele Männer gehabt. Jetzt war sie gerade mit ihrem aktuellen Freund auf Bora Bora. Tina hoffte, es wäre dieses Mal der Richtige. Ihre Mutter hatte es verdient, geliebt zu werden. Sie hatte sehr hart gearbeitet und viele Opfer für ihre Kinder bringen müssen, bis Renzo schließlich mit seinen Motorrädern Geld verdient hatte.

Tina seufzte. Wenigstens hatte sie nun etwas Zeit, sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Ihre Mutter war im Urlaub, und Renzo war mit seiner Frau Faith und ihrem Kind auf einer Yacht in der Karibik unterwegs, um sich nach einer komplizierten Operation am Bein zu erholen. Auf keinen Fall wollte sie ihn mit schlechten Nachrichten aufregen.

Sie hätte zwar gern mit ihrer Schwägerin über ihre Schwangerschaft gesprochen, aber das musste wohl noch etwas warten. Jetzt würde sie erst einmal Zeit haben, sich Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen sollte.

Am Nachmittag fühlte sie sich bereits besser. Sie hatte sich vorgenommen, Rom früh am nächsten Morgen zu verlassen. Renzo besaß ein Ferienhaus auf Capri. Dort würde sie für die nächsten Tage Ruhe finden. Nach dem Treffen mit Nico hatte sie keine Lust mehr auf die hektische Großstadt. Außerdem wollte sie einfach weg. Von ihm. Zwar erwartete sie nicht, dass er sie noch einmal aufsuchen würde. Es reichte schon, zu wissen, dass er sich in derselben Stadt aufhielt wie sie. Dass er vielleicht schon in dieser Nacht wieder mit einer fremden Frau schlief, vielleicht nur einen Steinwurf von ihr entfernt.

Capri würde ihr guttun. Die frische Brise auf der Insel, der Duft der Zitronenbäume … Aber zuerst würde sie ihre alte Freundin Lucia anrufen und sie fragen, ob sie sich mit ihr zum Abendessen treffen wollte. Lucia würde die Erste sein, der sie von ihrer Schwangerschaft erzählte. Sie war gespannt auf ihre Reaktion. Lucia wusste nicht, wer ihr mysteriöser Liebhaber in Venedig gewesen war. Sie hatte ihr bloß erzählt, dass sie die Nacht mit einem Fremden verbracht hatte, und Lucia hatte sich für sie gefreut.

Tina hinterließ eine Nachricht auf Lucias Mailbox und machte sich dann auf den Weg zur Via dei Condotti, um einige Einkäufe zu erledigen. Sie würde am Pantheon vorbeilaufen. Der Weg führte an einigen der schönsten Ecken Roms entlang. Das würde sie auf andere Gedanken bringen. Schnell zog sie sich eine Jeans und Sandaletten an und band sich einen leichten Schal um den Hals.

Unterwegs kam sie an unzähligen Eisdielen und Antiquitätengeschäften mit Gemälden und eleganten alten Möbeln vorbei. An jeder Ecke gab es Trattorien, die ihre Tische und Stühle auf dem Bürgersteig aufgestellt hatten. Schließlich trat sie auf den Platz vor dem Pantheon.

Jedes Mal, wenn sie hierherkam, hielt sie einen Moment inne, so beeindruckend wirkte das alte Bauwerk vor dem strahlend blauen Himmel. Es war ihr Lieblingsort in Rom.

Sie überquerte den Platz und trat zwischen den mächtigen Säulen hindurch in das Innere des Monuments mit seiner beeindruckenden Kuppel. Es wimmelte nur so vor Touristen mit Kameras. Tina ignorierte sie, ging zielstrebig auf eine der Bänke gegenüber dem Altar zu und setzte sich hin.

Und dann legte sie den Kopf in den Nacken und beobachtete die vorbeiziehenden Wolken durch die Öffnung in der Kuppel über ihr. Es war ihr kleines persönliches Ritual. Sofort fühlte sie sich entspannt.

Sie kam hierher, seit sie denken konnte. Einmal hatte sie sich am Ende der Schulferien aus Renzos Apartment hierher geschlichen, in der Hoffnung, nicht wieder zurück ins Internat zu müssen. Stundenlang hatte sie hier gesessen, bis ein Mann des Sicherheitsteams ihres Bruders sie gefunden und nach Hause gebracht hatte.

Sie hatte das Internat damals gehasst. Bis sie ihre beste Freundin Lucia kennengelernt hatte.

„Sie hatte eine Narbe.“

Tina schrak zusammen. Die Stimme war direkt an ihrem Ohr. Sie fuhr herum, und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie den großen, dunkelhaarigen Mann neben sich erkannte. Wie jedes Mal bei seinem Anblick machte ihr Herz einen Satz.

„Eine Blinddarmnarbe“, fuhr er fort. „Genau hier.“ Er deutete auf die rechte Seite seines Bauchs.

„Ich habe mir vor vier Jahren den Blinddarm herausnehmen lassen“, erklärte sie kühl.

Der Blick aus seinen grauen Augen war undurchdringlich. „Würdest du mir die Narbe zeigen?“

„Kann ich machen“, erwiderte sie. „Aber nicht jetzt, okay?“

Sie würde nicht sofort springen, nur weil er etwas von ihr wollte.

Unverwandt betrachtete er sie. „Nehmen wir also an, dass du tatsächlich diese Narbe an der richtigen Stelle hast und die Frau bist, mit der ich vor zwei Monaten geschlafen habe. Woher weißt du, dass ich es war?“

Tina sah wieder hinauf zu der Öffnung in der Kuppel. Ein Vogel flog hoch über ihnen. Er hatte die Flügel weit ausgebreitet und schien sich vom Wind tragen zu lassen.

„Ich habe deine Maske hochgeschoben, als du geschlafen hast. Und als ich dich erkannt habe, bin ich weggelaufen“, erklärte sie.

„Woher soll ich wissen, dass du die Wahrheit sagst? Vielleicht hast du an dem Abend ja auf mich gewartet und die ganze Sache eiskalt geplant.“

Als sie ihn anblickte und das Verlangen in seinen Augen bemerkte, krampfte ihr Magen sich zusammen. Sie kannte das Gefühl. Es passierte jedes Mal, wenn sie diesen Mann ansah. Es erschreckte und beunruhigte sie gleichermaßen.

„Glaub von mir aus, was du willst“, stieß sie heftiger als beabsichtigt hervor. „Ich habe dir alles gesagt, was du wissen musst. Für mich ist die Sache damit erledigt. Ich erwarte nichts von dir, Nico. Ich dachte bloß, du solltest vielleicht wissen, dass du Vater wirst.“

Als sie aufstehen wollte, griff Nico nach ihrem Handgelenk. Die plötzliche Berührung ließ eine unerwartete Hitze in ihr aufsteigen. Verlegen riss Tina sich von ihm los und verschränkte die Arme vor der Brust. Er beugte sich so dicht zu ihr herüber, bis sie seinen Atem im Gesicht spürte.

„Wenn du wirklich mit meinem Kind schwanger bist, Valentina, dann werde ich an seinem Leben teilhaben, darauf kannst du Gift nehmen. Ich werde nicht bloß zahlen und es alle zwei Wochen sehen. Und wenn du mein Kind in dir trägst, dann gehörst auch du zu mir.“

Sein Blick schien bis zum Grund ihrer Seele zu dringen. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Nico verunsicherte sie zutiefst. Doch die Zeit im Internat hatte sie abgehärtet. So schnell wie früher würde sie nicht mehr den Kopf einziehen. Sie hatte sich lange genug gegen all die reichen kleinen Mädchen durchsetzen müssen, die dachten, sie seien etwas Besseres als sie. Und so begegnete Tina seinem Blick mit der gleichen Kälte und Entschlossenheit.

Bis sie genug hatte, nach ihrer Handtasche griff und aufstand, um zu gehen. Dieses Mal hielt er sie nicht auf. Es gab ihr ein Gefühl von Überlegenheit, auf ihn hinabzusehen. Doch schon im nächsten Moment wurde ihr klar, dass er so gefährlich wie eh und je war. Dass sie sich vor ihm in Acht nehmen musste, denn er konnte jeden Augenblick explodieren.

Und sie würde sich hüten, ihm auch nur den geringsten Anlass dafür zu geben.

„Ich bin nicht dein Besitz, Nico. Wenn du für das Kind da sein möchtest, dann werden wir schon eine Lösung finden. Ich möchte ja schließlich auch, dass es einen Vater hat. Aber ich werde mich aus der Sache zwischen dir und Renzo heraushalten. Damit will ich nichts zu tun haben.“

Jetzt hatte sie es doch getan. Sie hatte ihn provoziert. Sein Lächeln war kalt und unnachgiebig. Und mit einem Mal wurde ihr klar, dass er für diese Momente lebte. Er liebte die Herausforderung. Die Gefahr. Deswegen fuhr er Motorradrennen. Deswegen brauchte er immer wieder neue Frauen in seinem Leben. Und deswegen würde er jetzt auch keinen Rückzieher machen. Die Explosion würde stattfinden. Es war nur eine Frage der Zeit. Und das machte Tina Angst.

„Zu spät, cara“, drohte er leise. „Du steckst bereits mit drin.“

3. KAPITEL

Sie saßen im Hotelrestaurant gegenüber vom Pantheon. Draußen tummelten sich die Touristenscharen mit ihren Fotoapparaten und Rucksäcken. Vor dem Hotel stand eine Kutsche, die auf Kundschaft wartete.

Sie sehen glücklich aus, dachte Tina sehnsüchtig, während sie in dem überfüllten Restaurant auf ihre Suppe wartete.

Nico saß ihr gegenüber und hatte sein Handy ans Ohr gepresst. Sie hatte ihn zuvor im Pantheon einfach sitzen lassen wollen. Doch sie war nicht weit gekommen. Draußen hatte sie eine neue Welle von Übelkeit erfasst, und sie hatte sich gegen eine der Säulen lehnen müssen.

Im nächsten Moment war er bei ihr gewesen und hatte den Arm um sie gelegt. Und dann hatte er sie in das Restaurant geführt, damit sie etwas in den Magen bekam.

Nachdem er sein Telefongespräch beendet hatte, trank er einen Schluck Kaffee. Tina sah bewusst an ihm vorbei. Jeder Blick in seine Richtung erinnerte sie an ihre gemeinsame Nacht. Wie Nico sie zärtlich gestreichelt hatte. Und wie er Gefühle in ihr geweckt hatte, die sie noch nie zuvor gespürt hatte.

Die Nacht mit Nico war eine Offenbarung für sie gewesen. Sosehr sie sich auch wünschte, dass die Erinnerung daran verblasste, sie konnte es einfach nicht vergessen. Am liebsten würde sie das alles noch mal erleben.

Die Suppe kam, und erst jetzt merkte Tina, wie hungrig sie war. Es war ihre erste richtige Mahlzeit seit Tagen. Sie aß viel zu schnell. Doch so musste sie wenigstens nicht mit Nico reden.

Tina spürte, wie er sie beobachtete. Als sie aufsah und seinem Blick begegnete, stellte sie fest, dass er sie betrachtete, als sähe er sie zum ersten Mal. Es irritierte sie. Und es ärgerte sie irgendwie.

„Gibt’s ein Problem?“, fragte sie scharf und erschrak im selben Augenblick über ihren harschen Ton. Es war normalerweise nicht ihre Art, Streit zu inszenieren. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn jemand böse auf sie war.

Doch bei diesem Mann hier war ihr alles egal. Er war ja ohnehin bereits wütend auf sie. Was machte es schon, wenn sie ihn nun auch noch provozierte? Sie würden nie die besten Freunde sein.

Das bedeutete allerdings nicht, dass sein unglaublicher Sex-Appeal keine Wirkung auf sie hatte.

„Nichts, womit ich nicht klarkommen würde“, erwiderte Nico gelassen.

Sofort spürte Tina, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Er war einfach zu schlagfertig für sie. Am besten hielt sie den Mund und ließ ihn gewähren.

Warum hatte sie ihm überhaupt von dem Baby erzählt? Sie hätte es für sich behalten sollen. Dem Kind hätte es schon nicht allzu sehr geschadet, wenn es seinen Vater nicht kannte. Und ihre Familie wäre zumindest sicher vor diesem Mann.

Sie hatte keine Ahnung, wozu er fähig war. Aber Tina spürte seinen Hass und seine Wut. Und das machte ihr Angst. Er war nicht mehr der Mensch, den sie damals als Teenager so angehimmelt hatte.

„Vielen Dank für das Mittagessen“, murmelte sie schließlich und stieß ihren Stuhl zurück. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“

Nico warf ihr einen fast trägen Blick zu. Sie wusste genau, was das bedeutete. Er war wie eine Wildkatze, die sich in der Sonne aalte und innerhalb von Sekunden aufspringen konnte, um eine Gazelle zu reißen.

„Du gehst nirgendwohin, Valentina.“

Nico sprach sanft. Aber sie wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Er spielte mit ihr.

Stolz hob sie das Kinn. „Du kannst mich nicht davon abhalten zu gehen.“

Er warf ihr einen gelangweilten Blick zu. „Ich habe es bereits getan“, erklärte er und winkte dem Ober.

Tina holte tief Luft und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Sie war schließlich nicht Nicos Gefangene. Er konnte sie nicht aufhalten, wenn sie wegwollte.

Wortlos griff sie nach ihrer Handtasche und strebte auf den Ausgang zu, angestrengt bemüht, langsam zu gehen. Nico rief ihr weder nach, noch kam er hinterher. Als sie durch die Tür in das helle Sonnenlicht trat, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.

Ohne zu überlegen, in welche Richtung sie musste, lief sie los. Es war ihr egal, solange Nico ihr nur nicht folgte. Dieses Mal würde sie ihm entkommen. Sie würde sich einfach unter die Menschenmenge mischen und untertauchen.

Während sie durch die kopfsteingepflasterten Straßen lief, vorbei an den unzähligen Touristen, murmelte sie immer wieder vor sich hin, dass sie Nico schließlich nicht gehörte. Autos hupten, Männer pfiffen ihr hinterher. Tina kümmerte das alles nicht.

Außerdem lebten sie nicht mehr im Mittelalter. Frauen zogen andauernd Kinder allein groß. Sie brauchte keinen Mann in ihrem Leben. Und erst recht nicht diesen. Er konnte sie zu nichts zwingen, was sie nicht wollte.

Je weiter sie ging, desto mehr Menschen bevölkerten die Bürgersteige der kleinen Gassen. Schließlich hörte sie Wasser rauschen. Noch einige Schritte, und sie stand vor dem berühmten Trevi-Brunnen. Das Herz wurde ihr schwer, als sie sich umsah und überall lachende Menschen um sich herum sah. Vor ihr stand ein junges Pärchen, das gemeinsam eine Münze in das Wasser warf.

Instinktiv begann Tina, in ihrer Tasche zu wühlen, bis sie ebenfalls eine Münze in der Hand hatte. Dann schloss sie die Augen, wünschte sich etwas und warf sie ins Wasser.

Sie hatte sich gewünscht, dass Nico sie in Ruhe ließ. Und dass Renzo niemals herausfand, wer der Vater ihres Kindes war.

Zu spät, sagte eine innere Stimme. Dann hättest du es ihm nicht sagen dürfen.

Gedankenverloren starrte sie ins Wasser, bevor sie langsam die Stufen hinaufging, die hoch zur Straße führten. Oben angekommen, blieb sie abrupt stehen, als sie sah, wer sie dort erwartete.

So viel also zum Thema Wünschen.

Mit den Händen in den Taschen lehnte er lässig an einer Mauer. Tina spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Überrascht stellte sie fest, dass Nico trotz seiner Lässigkeit einsam und verloren wirkte.

Das konnte eigentlich gar nicht sein. Niccolo Gavretti war nicht der Typ Mann, der jemals einsam war. Er war reich, berühmt und gut aussehend. Und wie sie aus Erfahrung wusste, war er ein fantastischer Liebhaber.

Er konnte also nicht einsam sein.

Am liebsten wäre sie einfach an ihm vorbeigeeilt, doch als sie sich ihm näherte, stieß er sich von der Mauer ab und baute sich vor ihr auf.

„Ich habe einen Termin beim Frauenarzt für dich vereinbart“, erklärte er.

Tina seufzte. Es hatte keinen Sinn, vor ihm wegzulaufen. Sie würde ihm nicht entkommen. Genauso wenig hatte es Sinn, gegen ihn anzukämpfen. Er würde sie immer wieder aufs Neue besiegen. So hatte sie sich die Beziehung zum Vater ihres Kindes eigentlich nicht vorgestellt.

Widerstandslos ließ sie sich von ihm zu dem dunklen Mercedes führen, der auf der Straße auf sie wartete. Der Fahrer stieg aus und öffnete ihnen die Tür.

Während der Wagen sich einen Weg durch die Innenstadt Roms bahnte, war es im hinteren Bereich des Innenraums durch die Trennscheibe ganz still.

„Vielleicht könntest du mir jetzt kurz deine Narbe zeigen“, forderte Nico sie schließlich auf.

„Ich glaube, ich habe gerade keine Lust dazu“, antwortete Tina schnippisch. „Irgendwie hat es mir besser gefallen, als du noch dachtest, ich würde dich anlügen.“

Überrascht wandte er sich zu ihr um. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Valentina. Ich werde dir nicht wehtun“, versicherte er ihr.

„Auch nicht meiner Familie?“, wagte sie sich vor. Ihr war erst jetzt klar geworden, dass er Renzo durchaus in irgendeiner Weise schaden könnte.

Nico schwieg.

„Das kann ich dir nicht versprechen“, sagte er dann.

Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie sah Renzo und seine kleine Familie vor sich, und es macht sie verrückt, dass sie möglicherweise dafür verantwortlich sein würde, wenn diese wegen Nico Probleme bekamen.

„Ich tue alles, was du willst, solange du Renzo aus dem Spiel lässt“, erklärte Tina schließlich.

Aufmerksam sah Nico sie an, als wollte er prüfen, ob sie es ehrlich meinte. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er nicht doch etwas mit unserer Situation zu tun hat. Wie also soll ich ihn ignorieren?“

Es ist alles deine Schuld.

Ja, es war ihre Schuld. Diese verdammten Männer! Instinktiv legte Tina eine Hand auf ihren Bauch. Sie musste jetzt stark sein.

„Weißt du, Valentina …“, fuhr er fort. „Im Geschäftsleben muss man hart sein. Sonst überlebt man nicht.“

„Das heißt aber nicht, dass man im Privatleben ebenso hart sein muss“, widersprach sie. „Wer keine Rücksicht auf andere Menschen nimmt, ist bald allein.“

„Vielleicht ist es manchmal auch gar nicht so schlecht, allein zu sein“, murmelte er, als spräche er mit sich selbst. „Man kann sich aussuchen, wann und mit wem man sein Leben und sein Bett teilt. Und man kann wieder für sich sein, wenn man keine Lust mehr auf den anderen hat. Ich finde, es kann mitunter ziemlich anstrengend sein, mit jemandem zusammenzuleben.“

„Klingt nach einem ziemlich traurigen Leben“, gab sie zurück.

Seine Miene wurde hart. Offensichtlich hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Tina verstand nur nicht, warum er so empfindlich reagierte. Während der letzten Jahre hatte sie immer wieder in den Zeitschriften über ihn und sein Leben gelesen. Er schien alles andere als unglücklich zu sein. Gab es da eine Seite an ihm, die er vor der Welt versteckte?

„Zeig mir die Narbe“, forderte er sie wieder auf, und sofort legte sich ihr Mitgefühl für ihn.

Am liebsten hätte sie sich geweigert, aber was würde ihr das bringen? Sie war schließlich von ihm schwanger. Und nun, da er es wusste, konnte sie sich auch nicht einfach so zurückziehen und so tun, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen.

Resigniert zog sie ihr Top aus der Jeans und schob den Hosenbund gerade so weit hinunter, dass er die kleine Narbe schräg unterhalb ihres Bauchnabels erkennen konnte. Ihr entging nicht, wie er nach Luft rang. Dann streckte er die Hand aus und strich leicht über die dunkle Stelle hinweg.

Tina verharrte regungslos, denn das Gefühl seiner Finger­spitzen auf ihrer Haut weckte ein unbändiges Verlangen in ihr, das sie fast erschreckte. Hitzewellen durchfluteten ihren ganzen Körper.

Nico schien es zu spüren, denn plötzlich hielt er inne und sah sie an. Und in seinen Augen lag ein Ausdruck von Leidenschaft, der sie überraschte. Empfand er das Gleiche wie sie?

Es kostete sie sämtliche Willenskraft, seine Hand wegzustoßen und ihr Top hastig wieder in die Hose zu stecken. Ihre Wangen glühten. Sie konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen.

Eine Weile schwieg er bloß. Dann räusperte er sich. Und seine Stimme klang erstaunlich zärtlich.

„Du warst es tatsächlich.“

Sofort stiegen Tina Tränen in die Augen. Sie blickte zu ihm auf, und mit einem Mal war es ihr egal, dass ihre Gefühle ihr im Gesicht geschrieben standen.

„Ich wünschte, es wäre anders“, flüsterte sie. „Ich wünschte, das alles wäre nie passiert.“ Als sie noch ein naiver Teenager war, hatte es nichts auf der Welt gegeben, was sie sich mehr gewünscht hätte. Sie hatte davon geträumt, wie er sie küsste. Sie hatte sich gewünscht, er würde sich in sie verlieben und sie heiraten. Es war immer nur ein Traum gewesen. Damals hätte sie nie geglaubt, dass sie tatsächlich einmal mit Nico schlafen würde. Sicher, die Nacht in Venedig war wunderschön gewesen. Und fast etwas unwirklich. Aber es war ein großer Fehler gewesen.

Gerade als sie zu überlegen begann, wie sie das Thema wechseln könnte, hielt der Wagen an. Der Fahrer kam herum, um ihnen die Tür zu öffnen.

Wenige Minuten später betraten sie die Praxis des Frauenarztes. Nicos Hand lag auf ihrem Rücken. Sein Duft machte sie ganz benommen. Und erinnerte Tina schmerzlich an ihre gemeinsame Nacht.

Die Dame am Empfang sah nicht einmal auf. Wortlos reichte sie ihr ein Klemmbrett mit einem Formular für sie zum Ausfüllen.

„Wir werden erwartet“, erklärte Nico der Dame knapp. „Und ich bin ein viel beschäftigter Mann.“

Erst jetzt sah sie zu ihnen auf. Ihre Augen weiteten sich, als sie erkannte, wer da vor ihr stand.

„Signore Gavretti … Entschuldigen Sie vielmals!“ Hastig sprang sie von ihrem Stuhl auf. „Bitte folgen Sie mir.“

Nun ging alles ganz schnell. Tina wurde in den Ultraschallraum geführt und musste sich ausziehen. Nachdem der Arzt die Bilder gemacht hatte, ging es weiter in das Sprechzimmer, wo Nico bereits auf sie wartete.

Kurz darauf hatten sie die endgültige Gewissheit. Die Bilder ergaben, dass Tina schwanger war, was sie nicht wirklich überraschte. Der Arzt klärte sie ausführlich darüber auf, worauf sie zu achten hatte und was in den nächsten Wochen passieren würde.

Als sie die Praxis verließen, schwirrte Tina der Kopf. Einem Impuls folgend, legte sie die Hand auf ihren flachen Bauch, als wollte sie das winzige Leben darin beschützen.

Ein Baby. Sie würde also tatsächlich ein Baby bekommen. Auf dem Ultraschallbild hatte sie den winzigen Fötus sogar sehen können. Auch Nico hatte einen Blick darauf werfen dürfen. Er hatte im ersten Moment ziemlich geschockt gewirkt, als könnte er es noch immer nicht glauben.

Auf dem Rückweg schwiegen sie. Es herrschte dichter Feierabendverkehr, Autofahrer hupten und gestikulierten. Im Inneren des Wagens war es auffällig still. Irgendwann fiel Tina auf, dass sie nicht in Richtung ihres Hotels fuhren.

„Ich bin müde, Nico. Fahren wir nicht zum Hotel?“, erkundigte sie sich matt. „Ich wollte jetzt eigentlich packen.“

Lucia hatte ihr eine SMS geschrieben, doch Tina hatte noch keine Zeit zum Antworten gehabt. Sie war etwas enttäuscht, weil ihre Freundin keine Zeit hatte, sich mit ihr zu treffen.

Seine Miene blieb unbewegt. Er wirkte so kühl und unnahbar wie immer. Unwillkürlich begann Tina bei seinem Anblick zu frösteln.

„Deine Koffer sind bereits gepackt“, erklärte er und sah auf die Uhr. „Wahrscheinlich sind sie bereits angekommen.“

Seine Worte weckten Panik in ihr. „Angekommen? Wo? Was meinst du damit? Ich fahre morgen nach Capri. Ich brauche meine Sachen heute Abend.“

„Ich fürchte, deine Pläne haben sich geändert, cara.“ Er wandte den Kopf und sah sie durchdringend an. „Wir werden zum Castello di Casari fahren.“

Tina konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. „Ich kann nicht mitkommen“, erklärte sie hastig. „Ich bin bereits verabredet. Meine Freunde auf Capri erwarten mich.“

„Nun, ich fürchte, dann wirst du sie enttäuschen müssen“, erklärte er unbeeindruckt, während er auf seinem Handy herumtippte. „Du bist jetzt auf dich allein gestellt, Valentina. Renzo und die liebe Faith sind in der Karibik, und deine Mutter ist auch im Urlaub.“

Tina verspannte sich. „Ja, meine Familie ist gerade nicht da. Aber ich habe Freunde, die auf mich warten.“

Eigentlich waren es bloß gute Bekannte. Und sie warteten nicht wirklich auf sie. Wenn sie ehrlich zu sich war, würde es ihnen wahrscheinlich nicht einmal auffallen, wenn sie sich morgen nicht bei ihnen melden würde.

Sie war schon immer eine Einzelgängerin gewesen. Und sie wollte es auch gar nicht anders haben. Darum mochte sie wahrscheinlich Mathe und Zahlen so gern. Solange sie mit irgendwelchen komplizierten Gleichungen beschäftigt war, musste sie sich nicht um die Welt da draußen kümmern.

„Dann wirst du sie wohl anrufen und ihnen sagen müssen, dass deine Pläne sich geändert haben.“

„Ach ja? Und wie lange werde ich verhindert sein?“, fragte Tina entrüstet.

Nicos Lächeln war eisig. „Auf unbestimmte Zeit.“

4. KAPITEL

Das Castello di Casari war eine alte Familienfestung. Mit seiner isolierten Lage auf der kleinen Insel mitten im Lago di Casari galt sie als uneinnehmbar. Nico betrachtete die Anlage aus der Luft. Mächtig hob sie sich aus dem blanken Fels empor. Sofort ergriff ihn jenes überwältigende Gefühl von Einsamkeit und Verzweiflung, das er jedes Mal verspürte, wenn er hierher zurückkehrte.

Während der letzten Jahre war die Festung komplett modernisiert worden. Ihr mittelalterlicher Charakter war erhalten geblieben, aber das Gebäude verfügte nun über jeglichen modernen Komfort, den man sich nur wünschen konnte. Er war seit dem Tod seines Vaters vor einem Monat nicht hier gewesen. Was ihn jetzt dazu veranlasst hatte hierherzukommen, war ihm selbst nicht ganz klar.

Bis sein Blick auf die Frau fiel, die angespannt neben ihm saß. Die Insel war nur per Helikopter oder Boot zu erreichen – der perfekte Ort, um ein widerspenstiges weibliches Wesen zur Vernunft zu bringen. Es fiel Nico immer noch schwer, zu glauben, dass die Frau mit der Löwenmähne und den sinnlichen Lippen die kleine Valentina D’Angeli sein sollte.

So langsam gewöhnte er sich jedoch an diese Tatsache. Ebenso wie an den Gedanken, dass sie ein Kind von ihm erwartete.

Bis zum heutigen Nachmittag war er davon überzeugt gewesen, dass es nicht sein konnte. Als er sich an die Nacht in Venedig erinnerte, war ihm allerdings eingefallen, dass es da einen kleinen Zwischenfall gegeben hatte. Er hatte tatsächlich ein Kondom benutzt, aber es war gerissen. Es konnte also durchaus sein, dass er Valentina in dieser Nacht geschwängert hatte.

Und nun war sie hier bei ihm. Und er würde sie nicht mehr gehen lassen. Denn wenn er es tat, würde ihr Bruder alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um ihn von dem Kind fernzuhalten.

Das würde Nico nicht zulassen. Er ließ sich nicht einfach etwas wegnehmen, was ihm gehörte.

Der Helikopter setzte zur Landung an. Nachdem die Rotoren zum Stillstand gekommen waren, trat ein Mann auf den Landeplatz und begrüßte sie beim Aussteigen.

„Signore Marchese, wir freuen uns sehr, dass Sie da sind“, erklärte der alte Mann lächelnd.

„Ich freue mich auch sehr, Sie zu sehen, Giuseppe“, erwiderte Nico, während er Valentina die Hand reichte.

„Es tut mir sehr leid wegen Ihres Vaters, mein Herr. Der Tod des Marchese hat uns alle sehr getroffen.“

Nico klopfte dem runzeligen kleinen Mann auf die Schulter. Die Leute erwarteten von ihm, dass er Gefühle zeigte, sobald er auf den Tod seines Vaters angesprochen wurde. Tatsächlich empfand er nichts als Leere, wenn er an seinen Vater dachte. Der Mann hatte ihm sein ganzes Leben lang den Eindruck vermittelt, dass er, sein einziger Sohn, in seinem Leben unerwünscht war.

„Danke, Giuseppe. Immerhin hat er sein Leben in vollen Zügen genossen, ? Sogar kurz vor seinem Tod hatte er noch Spaß. Ich bin sicher, dass er in Frieden ruht.“

Tränen standen in Giuseppes Augen. „Sì, sì.“

Während weitere Angestellte ihr Gepäck ausluden, zog Nico Valentina zu sich heran. Er spürte, wie sie sich verspannte, als sie sich berührten, doch sie widersetzte sich ihm nicht.

„Das hier ist Signorina D’Angeli“, erklärte er. „Sie wird eine Weile bei uns wohnen.“

Giuseppe ließ sich nichts anmerken. Nico zweifelte jedoch nicht daran, dass er ihren Familiennamen sehr wohl verstanden hatte. Giuseppe wusste, wer sie war, aber er würde keine Fragen stellen.

„Signorina“, begrüßte er sie und verbeugte sich leicht. „Willkommen im Castello di Casari.“

„Vielen Dank“, erwiderte Valentina betont fröhlich.

Es überraschte Nico, dass man ihr nicht anmerkte, wie verspannt sie tatsächlich war. Stattdessen bemühte sie sich, den Eindruck zu erwecken, dass sie aus freien Stücken hier war.

„Wir würden gern in einer Stunde etwas essen“, sagte er. „Können Sie dafür sorgen, dass etwas hergerichtet wird, Giuseppe?“

Nur widerstrebend wandte Giuseppe den Blick von Valentina ab.„, mein Herr. Der Koch ist bereits an der Arbeit, seit wir die Nachricht von Ihrer Ankunft erhalten haben.“

„Wunderbar. Wir würden gern auf der Terrasse essen.“

, mein Herr.“

Mit einem weiteren Lächeln in Valentinas Richtung machte sich Giuseppe auf den Weg zurück zur Festung. Nico hielt noch immer ihre Hand, als er Valentina über den Landeplatz einige Stufen hinunter zu einer Tür führte, einem Seiteneingang zur Festung.

„Das tut mir sehr leid mit deinem Vater“, murmelte sie, während sie einen langen Gang entlangliefen. „Ich hätte das schon viel früher sagen sollen, aber ich habe gar nicht daran gedacht vor lauter Aufregung wegen des Babys.“

„Danke, ist schon gut“, erwiderte Nico mechanisch. Warum konnte er Valentina nicht einfach die Wahrheit sagen? Dass er überhaupt nicht traurig war? Dass er nichts als Wut und Zorn empfand, wenn er an diesen Mann dachte, der ihm seinen Adelstitel und damit nichts als Chaos hinterlassen hatte? Er hatte zurzeit alle Hände voll zu tun, das Familienanwesen und Gavretti Manufacturing vor dem Untergang zu bewahren.

Und nun, da er Vater wurde, war es noch wichtiger, das Imperium zu retten. Er würde sein Kind nicht in einem solchen Schlamassel zurücklassen, wie es sein Vater getan hatte.

„Ich habe gelesen, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist“, fuhr Valentina fort, während sie hinter ihm herlief.

„Ja, das stimmt.“ Nico wandte sich zu ihr um. „Er ist mit einem Lächeln auf den Lippen von uns gegangen. Im Bett seiner letzten Geliebten, die gerade mal zwanzig Jahre alt war.“

Betroffen sah Valentina ihn an, die Lippen geöffnet, als wollte sie etwas sagen. Und er verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, sie zu küssen. Noch einmal ihren süßen Mund zu spüren und damit ein wenig von dem Glück, das er in der Nacht in Venedig empfunden hatte.

„Oh!“, stieß sie hervor, und ihre Wangen röteten sich.

Nico hätte fast gelacht. Sie war so unschuldig. Noch immer. Trotz ihrer verbotenen gemeinsamen Nacht vor zwei Monaten. Heißes Verlangen machte sich in ihm breit, als er daran dachte.

Es ärgerte ihn fast, derartige Gefühle für sie zu empfinden. Für eine D’Angeli.

„Er hatte Geld, cara. Und einen Adelstitel. Frauen stehen auf so was, egal, ob sie jung oder alt sind.“

„Nicht alle Frauen“, widersprach sie.

„Also, ich habe da andere Erfahrungen gemacht.“

Sie lachte, und er fühlte sich fast ein wenig veralbert.

„Dann hast du vielleicht immer die falschen Frauen getroffen.“

„Ach, gibt es da Unterschiede?“, fragte er sarkastisch.

Valentina stieß einen entrüsteten Laut aus. „Wie habe ich bloß auf deinen Charme hereinfallen können?“

Nico blieb stehen und griff nach ihrem Arm. Im nächsten Moment strich er leicht über ihre Wange. Sie rang nach Luft, ließ ihn jedoch gewähren. Die Berührung schien ein kleines Feuerwerk in ihr auszulösen.

Ihre blauen Augen wirkten größer als sonst. Ob ihr bewusst war, dass man ihr das Verlangen nach ihm ansah? Vielleicht war es der Reiz des Verbotenen. Oder einfach nur die Tatsache, dass er ein Mann und sie eine Frau war und sie sich zueinander hingezogen fühlten.

Es musste gar nicht kompliziert sein. Und doch schien es, als wäre es die schwierigste Sache auf der ganzen Welt.

„Vielleicht“, sagte Nico sanft, „wolltest du darauf herein­fallen.“

Sie hatte keinen Empfang. Verärgert warf Tina ihr Handy aufs Bett. Sie hatte mehrfach versucht, Lucia eine SMS zu schicken, aber es war einfach zwecklos hier draußen mitten auf dem See.

Dieser Ort hier, das musste sie wirklich zugeben, war allerdings überwältigend. Sie stieß die Flügeltüren auf, die auf den Balkon hinausführten und genoss für einige Momente die warmen Sonnenstrahlen. Die Sonne stand bereits tief und tauchte die umliegenden Berge in goldenes Licht. Hier und da sah Tina vereinzelte Häuser am anderen Ufer des Sees, sicher Feriendomizile der Reichen und Berühmten. Immobilien in dieser Gegend waren für Normalsterbliche unerschwinglich. In der Ferne konnte sie einige schneebedeckte Gipfel und sogar kleine Ortschaften erkennen.

Sie seufzte. Die Zivilisation war zum Greifen nah und doch unerreichbar für sie. Die massiven Mauern und Türme der Festung erstreckten sich über die gesamte Insel. Sie saß hier fest. Unter ihr schimmerte der See in tiefstem Blau. In einiger Entfernung sah sie ein Segelboot langsam über das Wasser gleiten.

Am Balkongeländer waren in regelmäßigen Abständen Kästen mit leuchtend pinken Bougainvilleen angebracht. Ganz in der Nähe stand eine Gruppe Tische und Stühle. Tina ging hinüber und sank auf einen der Stühle. Es tat so gut, endlich mal einen Moment Ruhe zu haben.

Sie war sehr erleichtert, weil sie ein eigenes Zimmer hatte. Wobei sie eigentlich nicht wirklich erwartet hatte, dass Nico ein Schlafzimmer mit ihr teilen würde. Warum auch? Es war doch offensichtlich, dass er nichts mehr von ihr wollte, auch wenn er ihr vorhin so zärtlich über die Wange gestrichen hatte.

Er hatte ihr bloß etwas beweisen wollen, nämlich dass sie seinem Charme bewusst erlegen war. Dass sie es so gewollt hatte.

Er hatte recht. Sie hatte es so gewollt. Weil ihre Gefühle sie in jener Nacht vollkommen überwältigt hatten. Und weil sie hatte sehen wollen, wohin es führte, wenn man diesen Gefühlen nachgab und keinen Widerstand leistete.

Nico hingegen hatte sie lediglich verführt, weil sie eine Frau und willig war.

Tina lächelte verächtlich. Sein Vater war beim Sex mit einer Zwanzigjährigen im Bett gestorben. Zweifellos würde Nico eines Tages auf die gleiche Art und Weise gehen. Er würde einen tollen Vater für ihr Baby abgeben. So langsam verstand sie auch, warum ihre Mutter ihr nicht erzählen wollte, wer ihr Vater war. War ihr eigener Vater etwa auch so schlimm?

Renzo wusste, wer ihr Vater war, und das Wissen darum hatte ihm nicht gutgetan. Das hatte er ihr nie gesagt, aber ihre Mutter hatte es ihr anvertraut. Und darum wollte sie ihr auch nicht verraten, wer ihr Vater war.

Vielleicht war es tatsächlich besser so.

Tina blieb auf dem Balkon sitzen, bis die Sonne hinter den Bergen verschwunden war und es zu dämmern begann. Sie fröstelte und ging zurück in ihr Zimmer, um sich eine Jacke überzuziehen.

Jemand klopfte an die Tür. Es war der alte Mann, der sie draußen auf dem Helikopter-Landeplatz begrüßt hatte. Er lächelte sie freundlich an.

Signorina, der Herr hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass das Abendessen fertig ist. Sie können vom Balkon aus die Stufen zur Terrasse hinuntergehen.“

„Danke“, erwiderte Tina und lächelte. Eigentlich hatte sie keine Lust, gemeinsam mit Nico zu essen, aber sie war mittlerweile ziemlich hungrig. Die Medizin gegen die Übelkeit wirkte Wunder. Endlich hatte sie wieder Appetit.

Sie würde einfach ihre Jeans anbehalten. Warum sollte sie sich schick machen für das Abendessen? Schließlich war sie nicht freiwillig hier. Zur Hölle also mit den guten Manieren!

Tina runzelte die Stirn. Was ihre Freundinnen wohl sagen würden, wenn sie diese Festung hier sehen könnten? Und den Mann, der nun am Tisch auf sie wartete? Wahrscheinlich würden sie vor Neid platzen.

Als Tina die Stufen zur Terrasse hinunterging, bemerkte sie sofort den großen Tisch mit den zehn Stühlen. Von hier aus hatte man einen wirklich atemberaubenden Ausblick auf den See und die steilen Felsen der Insel.

Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Tina war beeindruckt, als sie das weiße Tischtuch, die Kristallgläser und das Silberbesteck sah. Nico stand mit dem Rücken zu ihr und blickte hinaus auf den See. In der Hand hielt er ein Glas Wein, an dem er gelegentlich nippte.

Sie wagte es nicht, sich bemerkbar zu machen, um ihn nicht in seinen Gedanken zu unterbrechen. Etwas erstaunt registrierte sie, dass er sich umgezogen hatte. Statt des Anzugs trug er nun verwaschene Jeans und ein dunkles Hemd. Sein Haar kräuselte sich noch feucht über dem Kragen. Für einen Moment hatte sie das Bedürfnis, mit den Fingern durch die dunklen Locken zu streichen.

Sofort bekam sie eine Gänsehaut. Dabei war ihr gar nicht kalt, ganz im Gegenteil. Bei seinem Anblick breitete sich eine unerwartete Hitze in ihr aus. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass er noch immer eine solche Wirkung auf sie ausübte.

Als Tina die letzten Stufen hinunterging, wandte Nico sich zu ihr um und musterte sie. Stolz hob sie das Kinn und tat so, als bemerkte sie seinen geringschätzigen Blick gar nicht.

„Wie fühlst du dich?“, erkundigte er sich.

„Besser“, gab sie knapp zurück.

Er wirkte dennoch besorgt. „Ist dir nicht mehr übel?“

Prompt verspürte sie Schuldgefühle. „Nein, kaum noch. Das Mittel, das der Arzt mir mitgegeben hat, scheint ziemlich gut zu wirken. Ich hatte deine Frage eigentlich eher auf die Tatsache bezogen, dass das hier meine erste Entführung ist.“

Zu ihrer Überraschung lächelte Nico, und es ärgerte sie, dass sie ganz weiche Knie bekam.

„Meine auch.“

„Welch ein Glück“, sagte sie eisig. „Dann können wir das Erlebnis ja gemeinsam genießen.“

Er kam zu ihr herüber und bot ihr einen Stuhl an. Sie errötete. Hoffentlich hatte er jetzt nicht gedacht, sie sei absichtlich so lange neben dem Tisch stehen geblieben.

Nachdem sie sich gesetzt hatte, strich er ihr leicht über die Schultern und das Haar. Die Berührung ließ sie zusammenzucken. Tina fühlte sich wie elektrisiert. Und sie wollte, dass er nicht aufhörte. Sie wollte seine Hände überall spüren. Es waren Gedanken, die sie sich wohl besser verkneifen sollte. Das war ihr bewusst.

Dann spürte sie seinen Atem am Ohr, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Ertragen trifft es, glaube ich, besser als genießen. Meinst du nicht?“, murmelte Nico, zog die Hand zurück und ging zurück zu seinem Platz.

Verlegen griff Tina nach ihrem Wasserglas und trank einen großen Schluck. Sie fühlte sich bloßgestellt. Als hätte er ihre Gedanken lesen können und machte sich nun darüber lustig, dass ihr Körper sie jedes Mal verriet, wenn er in ihrer Nähe war.

„Das war eigentlich ironisch gemeint“, verteidigte sie sich.

Seine Augen funkelten. „Das war mir klar. Ich habe auch bloß ausgesprochen, was du denkst.“

Sie schwiegen, als das Essen serviert wurde. Es gab Antipasti, extra dünne Spaghetti mit einer köstlichen Sauce, gebratenen Fisch und verschiedene Käsesorten. Nico füllte Tina auf und goss ihr etwas Wasser nach.

Sie wartete, während er sich Essen nahm. Bis er innehielt und sie stirnrunzelnd ansah.

„Iss, Valentina.“

„Mache ich ja gleich“, verteidigte sie sich. „Ich warte bloß auf dich.“

„Du musst nicht warten.“

„Das ist aber nicht sehr höflich.“

„Du musst auch nicht immer höflich zu mir sein. Iss einfach.“

Zögernd spießte sie eine Olive auf. „Alle nennen mich Tina“, murmelte sie. „Du kannst mich auch so nennen, wenn du magst.“

„Wenn es dir lieber ist.“

Sie zuckte die Schultern. „Eigentlich ist es mir egal. Aber so nennen mich alle meine Freunde.“

Nico zog eine Augenbraue hoch, und sie musste unwillkürlich daran denken, dass er etwas Diabolisches hatte.

„Sind wir denn Freunde?“

„Wohl kaum“, beeilte sie sich zu versichern. „Aber jedes Mal, wenn ich den Namen Valentina höre, denke ich automatisch, dass es Ärger gibt.“ Sie aß eine weitere Olive und seufzte. „Andererseits stimmt das ja auch, wenn man an unsere verfahrene Situation denkt.“

„Ach ja?“

„Na ja …“, überlegte sie. „Heute Morgen war ich noch in Rom und hatte vor, nach Capri zu fahren. Das hier ist nicht Capri. Also?“ Vorwurfsvoll sah sie ihn an.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist viel besser als Capri. Und viel exklusiver.“

Tina führte eine Gabel Pasta an den Mund. Es war köstlich. Es tat so gut, mal wieder festes Essen zu sich zu nehmen, nachdem sie die letzten Tage fast ausschließlich von Suppe und Keksen gelebt hatte. Eine leichte Brise wehte vom See zu ihnen herüber, und sie war froh, dass sie ihre Strickjacke übergezogen hatte.

„Bist du hier aufgewachsen?“, fragte sie nach einer Weile.

„Nein.“

„Deine Familie hat sicher mehrere Häuser.“

„Ja.“

„Wo hast du am liebsten gewohnt?“, erkundigte sie sich, überrascht, weil Nico mit einem Mal so wortkarg war. Bis ihr klar wurde, dass sie offensichtlich ein Thema angesprochen hatte, über das er nicht gern sprach. Sie verstand nicht so recht, warum. Schließlich hatte er als Kind alles gehabt, was er sich nur wünschen konnte. Sie hingegen hatte mit ihrer Mutter und Renzo in irgendwelchen Hinterhöfen in winzigen Apartments wohnen müssen.

„Ich habe keinen Lieblingsort“, gab Nico knapp zurück. „Die meiste Zeit habe ich sowieso im Internat verbracht.“

Mitfühlend sah Tina ihn an. Das Leben im Internat war kein Zuckerschlecken. Davon konnte sie ein Lied singen. Andererseits kam er aus einer Adelsfamilie. Er hatte es sicher viel leichter mit den anderen Kindern gehabt als sie.

„Ich auch“, erklärte sie. „Ich war seit meinem fünfzehnten Lebensjahr im Internat. Eigentlich habe ich mich damals noch viel zu jung gefühlt, um so weit weg von meiner Familie zu sein.“

Nico betrachtete sie aufmerksam und trank einen Schluck Wein. „Ich bin schon mit sechs ins Internat gekommen. Bis ich siebzehn war, bin ich nur in den Ferien nach Haus gekommen.“ Er zuckte die Schultern. „Deswegen habe ich auch kein Lieblingshaus. Ich habe viel mehr Zeit in der Schule verbracht als hier oder auf einem der anderen Gavretti-Anwesen.“

„Das wusste ich nicht“, sagte sie betroffen. „Das tut mir sehr leid.“

Sein Blick war hart. „Das braucht dir nicht leidzutun. Ich habe eine hervorragende Ausbildung genossen. Und hatte dadurch die einmalige Chance, eine der besten Universitäten zu besuchen.“

„Und die Sommer mit Renzo in der Garage zu verbringen“, fügte sie hinzu.

„Genau.“

Tina warf Nico einen prüfenden Blick zu. „Hast du die Zeit mit uns denn wenigstens genossen? Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, dass du glücklich bist … Aber ich war damals ja auch noch jung.“

Sie war unsicher, ob sie sich zu weit vorgewagt hatte. Doch er blickte bloß zu den Felsen hinüber und schwieg eine Weile.

„Ja, ich war glücklich“, antwortete er schließlich. „Ich bin völlig darin aufgegangen, den Prototyp mit Renzo zu bauen.“

„Und trotzdem hast du uns verlassen. Und Renzo spricht nicht mehr mit dir. Was ist damals passiert?“

Sein Blick wurde leer. „Das ist nicht wichtig.“

Ohne zu überlegen, griff sie nach seiner Hand. Seine Haut war warm. Die Berührung ließ Tina ein wenig schwindelig werden. Es verwirrte sie. Doch sie wollte nicht schon wieder darüber nachdenken, warum sie bei jedem Körperkontakt mit Nico so überreagierte.

„Ich finde schon, dass das wichtig ist, Nico. Ich möchte, dass du und Renzo wieder Freunde seid. Ich wünschte, es wäre wieder so wie früher.“

Sie dachte, er würde die Hand wegziehen. Stattdessen drückte er ihre. Ein warmes Gefühl durchflutete sie.

„Es wird nie wieder so sein, wie es einmal war, cara. Du bist jetzt eine Frau, kein Kind mehr. Du weißt doch, dass das Leben immer weitergeht.“

Unter ihren Lidern brannten heiße Tränen. „Ich wünschte manchmal, ich könnte die Zeit zurückdrehen“, stieß sie hervor. „Für unser Baby. Ich wünschte, ich könnte diese Sache zwischen dir und Renzo wieder in Ordnung bringen.“

Denn ganz gleich, was zwischen ihm und ihrem Bruder vorgefallen war, Nico war jetzt ein Teil ihres Lebens. Durch das Kind würden die Gavrettis und die D’Angelis immer miteinander verbunden sein. Und es machte sie traurig, dass diese erbitterte Feindschaft zwischen ihnen bestand. Ihr Kind würde es sehr schwer haben.

Er lehnte sich zurück und ließ ihre Hand los. Ein plötzlicher Windstoß ließ sie frösteln.

„Du kannst da nichts machen, Tina. Was passiert ist, ist passiert und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.“

„Das glaube ich nicht“, widersprach sie.

„Dann bist du ein wenig naiv.“

Tina betrachtete Nico eine Weile. „Auch das glaube ich nicht“, beharrte sie und schluckte.

„Glaub, was du willst. Du kannst an der Situation jedenfalls nichts ändern“, erklärte er kühl. „Und jetzt iss. Sonst sitzen wir morgen noch hier.“

Widerwillig aß sie die restliche Pasta auf ihrem Teller. Es schmeckte ihr mit einem Mal nicht mehr. Sie aß bloß auf, weil sie wusste, dass sie stark sein musste für ihr Baby.

Sie mochte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn ihr Bruder und Nico das nächste Mal aufeinandertrafen. Wahrscheinlich würde die Hölle losbrechen. Und sie wäre der Auslöser dafür. Wie gut, dass Renzo zurzeit noch in der Karibik war.

Tina schob den Teller von sich. „Ich würde gern wissen, wie es nun weitergeht“, erklärte sie. Nico hatte sie von Rom hierhergebracht. Gegen ihren Willen. Warum? Und wie lange sollte sie hierbleiben? Was hatte er mit unbestimmte Zeit gemeint?

Nico schien von ihrem inneren Tumult nichts mitzubekommen. „Als Nächstes gibt es Dessert“, erwiderte er gelangweilt.

„Du weißt genau, was ich meine.“

Der Blick, den Nico ihr zuwarf, ließ ihr fast das Blut in den Adern gefrieren.

„Sag es mir“, sprach sie weiter, als die Stille zwischen ihnen nicht mehr auszuhalten war.

„Was glaubst du denn, wie es weitergehen wird, Tina?“

Nervös biss Tina sich auf die Lippe. „Ich habe keine Ahnung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mich für die gesamte Schwangerschaft hierbehalten willst. Auch wenn du vorhin so etwas angedeutet hattest. Das wäre ja wohl lächerlich. Und völlig unnötig …“

„Tut mir leid, wenn ich dir widersprechen muss“, unterbrach er sie. „Ich halte es sogar für absolut notwendig.“

„Aber warum denn?“, fragte sie, bemüht, ihr Entsetzen zu verbergen. „Ich will doch, dass du am Leben des Babys teilnimmst. Ich werde dir das Besuchsrecht ganz bestimmt nicht verweigern.“

Zweifelnd zog er eine Augenbraue hoch. „Das sagst du jetzt. Aber was passiert, wenn Renzo wieder da ist?“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine Worte damit unterstreichen. „Nein. Das geht nicht, Tina. Du bleibst schön hier bei mir.“

Unter dem Tisch ballte sie die Hände zu Fäusten. „Du kannst mich nicht zwingen hierzubleiben“, erklärte sie in einem Anflug von Panik.

Gelassen lehnte er sich zurück und deutete mit ausgebreiteten Armen auf ihre Umgebung. „Ach nein? Wir sind hier auf einer Insel, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Ohne Boot oder Helikopter kommt man hier nicht weg. Und ohne meine ausdrückliche Genehmigung verlässt keins dieser beiden Transportmittel die Insel.“

Triumphierend lächelte er sie an, während ihr Magen rebellierte.

„Du willst mir bloß Angst machen“, stieß Tina schließlich hervor. „Renzo wird nach mir suchen. Und er wird mich finden. Das kannst du nicht verhindern.“

Nico trank einen Schluck Wein und betrachtete sie unter gesenkten Lidern. Wieder musste sie an eine Raubkatze denken, die auf ihre Beute lauerte.

Sie konnte nichts tun. Und so blieb sie einfach still sitzen und wartete auf seine nächsten Worte.

„Nein“, bestätigte er. „Ich kann Renzo nicht davon abhalten, nach dir zu suchen. Aber selbst er kann einem Mann nicht die Ehefrau wegnehmen.“

5. KAPITEL

Tina rang nach Luft.

„Du wirkst überrascht“, bemerkte Nico lächelnd.

Überrascht? Das war wohl ein wenig untertrieben.

„Ich kann dich nicht heiraten, Nico“, stieß sie hervor.

„Warum denn nicht? Weil das deinem Bruder nicht gefallen würde?“ Er lachte verächtlich. „Es wird ihm auch nicht gefallen, dass du schwanger bist. Wenn dir wichtig ist, was dein Bruder von dir denkt, dann hättest du nicht mit einem fremden Mann schlafen dürfen.“

In gewisser Weise hatte er recht. Trotzdem würde sie nicht einfach so klein beigeben.

„Aber du liebst mich nicht. Und ich kann keinen Mann heiraten, der mich nicht liebt“, protestierte sie.

Eigentlich hatte sie nie so wirklich darüber nachgedacht. In diesem Moment jedoch kamen ihr die Worte ganz automatisch über die Lippen.

Mittlerweile war die Dunkelheit über sie hereingebrochen. Im Schein der Kerzen funkelten seine Augen bedrohlich.

„Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du für mich die Beine breit gemacht hast.“

Seine Worte trafen Tina wie ein Dolchstoß.

„Das ist nicht fair!“, verteidigte sie sich. „Heutzutage haben Frauen genauso das Recht, sich Liebhaber zu nehmen, ohne gleich heiraten zu müssen.“

„Ja, aber normalerweise sind die Frauen besser vorbereitet, als du es in dieser Nacht warst“, zog Nico sie auf.

Ihr Wangen brannten vor Scham. „Ja! Es ist alles meine Schuld, was? Ich habe zumindest kein kaputtes Kondom verwendet.“

„Und ich hätte mir für mein erstes Mal keinen fremden Mann von der Straße gesucht. Du hast Glück, dass du an mich geraten bist und nicht an jemanden, der dich vielleicht nicht so rücksichtsvoll behandelt hätte.“

„Bravo! Das hast du wirklich toll gemacht“, gab sie in sarkastischem Tonfall zurück. „Deswegen heirate ich dich aber trotzdem nicht. Es gibt nämlich gar keinen Grund dafür.“

„Also mir würden einige Gründe einfallen“, konterte er. „Einer davon ist, dass ich mir meine Rechte als Vater sichern möchte. Wenn ich dich jetzt gehen lasse, dann würde Renzo alles tun, was in seiner Macht steht, damit ich aus dem Leben des Kindes ausgeschlossen werde.“

Ihr Herz raste. Sie konnte kaum noch klar denken. Passierte das hier alles wirklich?

„Ich kann deine Gedanken nachvollziehen“, sagte sie schließlich. „Wenn du möchtest, können wir eine entsprechende schriftliche Vereinbarung treffen. Ich werde alles unterzeichnen, was mir einigermaßen sinnvoll erscheint. Wir werden alles ganz genau schriftlich festhalten. Was meinst du?“

Nico warf den Kopf in den Nacken und lachte. Eine dunkle Vorahnung beschlich sie.

„Du bist wirklich lustig, cara. Und ich weiß es zu schätzen, dass du mir entgegenkommen möchtest. Aber ich verhandele nicht. Und ich traue dir und Renzo nicht.“

„Ich gebe dir mein Wort“, flüsterte Tina und wagte es nicht, ihn anzusehen.

„Dein Wort bedeutet mir nichts.“ Er schüttelte den Kopf, beugte sich zu ihr herüber und nahm ihre Hand. „Nein. Du wirst mich heiraten. Und zwar so schnell wie möglich.“

Stolz hob sie das Kinn, wenngleich sich alles in ihr zusammenkrampfte. „Selbst du hast nicht die Macht, eine Frau zur Ehe zwingen, bloß weil du es willst“, fuhr sie ihn an. „Ich mache es nicht. So.“

Nico kniff die Augen zusammen. „Weißt du eigentlich, wie unglaublich selbstsüchtig du bist, cara? Du willst deinem Kind meinen Namen verweigern? Den Adelstitel? Das Recht auf mein Erbe? Meinst du, es wird dir einmal dafür dankbar sein? Ich bezweifle es.“

Es dauerte einige Sekunden, bis Tina die Bedeutung seiner Worte erfasst hatte. Verdammt, daran hatte sie nicht gedacht! Das war tatsächlich ein gutes Argument. Sie hatte als Kind jedoch nie etwas vermisst, obwohl sie in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war, bis Renzo schließlich mit seinen Motorrädern ein Vermögen verdient hatte.

„Geld ist nicht so wichtig“, erklärte sie bestimmt. „Ich habe genug. Es wird dem Kind an nichts fehlen.“

Sie verfügte nicht nur über Mittel aus ihrem Treuhandfonds, sondern hatte während der letzten Jahre auch einige gewinnbringende Investitionen getätigt. Mittlerweile hatte sie sich eine beträchtliche Summe zur Seite legen können. Darauf war sie ziemlich stolz. Wenn ihr Bruder sie schon nicht für sich arbeiten ließ, hatte sie zumindest dafür gesorgt, dass ihr eigenes Geld für sich arbeitete.

„Ich war auch auf einem Internat, Tina. Ich weiß, wie die Kinder dort sind. Vor allem wenn man nicht aus einer reichen Familie kommt. Willst du, dass dein Kind das Gleiche durchmachen muss wie du?“

Jetzt wurde sie wirklich wütend. „Also auf eins kannst du Gift nehmen – ich werde mein Kind ganz sicher nicht auf ein Internat schicken!“

„Es geht ja auch nicht nur darum. Wenn du willst, dass ihm alle Türen offenstehen und es alle Vorteile hat, die man sich nur wünschen kann, dann wirst du wohl einsehen, dass das nur durch eine Heirat mit mir möglich sein wird.“

Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Nico hatte ja recht. Irgendwie.

Als sie schwieg, beugte er sich zu ihr herüber und griff nach ihrer Hand auf dem Tisch. Sie wollte sie wegziehen, doch er hielt sie fest.

„Es gibt allerdings einen noch viel wichtigeren Grund, meine liebe Tina. Wenn du dich nämlich gegen die Heirat entscheidest, werde ich D’Angeli Motors zerstören.“

Bei seinen Worten blieb ihr fast das Herz stehen. „Das … das kannst du nicht tun“, stieß Tina hervor. „Und wenn du es könntest, hättest du es sicher längst getan.“

Betont lässig lehnte Nico sich wieder in seinem Stuhl zurück. „Du vergisst, cara mia, dass ich nun ein viel reicherer Mann bin als noch vor wenigen Wochen. Und ich werde diesen Reichtum und die Macht, die ich durch den Weltmeistertitel habe, nutzen, um das Unternehmen deines Bruders zu ruinieren, wenn du mich nicht heiratest.“

Tina wusste vor Entsetzen nicht, wie sie reagieren sollte. Sie dachte an Renzo, Faith und den kleinen Domenico, und eine Welle von Schuldgefühlen erfasste sie. Renzo war so glücklich, seit er mit Faith zusammen war. Und er hatte aufgehört, auf der Rennpiste sein Leben zu riskieren. Die letzte Operation an seinem Bein war gut verlaufen, und wahrscheinlich konnte er bald wieder ohne Stock gehen.

Er hatte alles. Und das war nicht immer so gewesen. Es hatte Zeiten gegeben, da war es ihm sehr schlecht gegangen. Sie konnte es nicht verantworten, sein neues Glück aufs Spiel zu setzen. Renzo war immer großzügig zu ihr gewesen. Er hatte dafür gesorgt, dass sie alles hatte, was sie brauchte.

„Du bist ein richtiges Ekel, weißt du das?“, schrie Tina Nico an. Solch einen Schachzug hätte sie ihm nicht zugetraut.

Seine Miene war unergründlich. „Das Leben ist nun mal nicht fair“, erklärte er kalt, einen harten Zug um den Mund. „Und ich tue bloß, was ich tun muss, damit mein Kind es einmal gut haben wird.“

Unser Kind“, berichtigte Tina ihn.

„Ja, unser Kind.“

Sein Tonfall hatte etwas Drohendes. Unser Kind, wenn du tust, was ich dir sage.

Sie schauderte, was ihm offenbar nicht entging.

„Ist dir kalt?“

„Ein bisschen.“ Er musste ja nicht wissen, dass sie seinetwegen zitterte.

„Dann lass uns reingehen.“

Nico kam zu ihr herum und reichte ihr die Hand. Sie ignorierte es. Er blieb dennoch neben ihr stehen, während sie sich erhob. Er war ihr viel zu nah. Sie spürte seine Körperwärme, und sein Duft, eine Mischung aus Aftershave, Leder und Mann, machte sie ganz benommen. Sie fühlte sich wie beschwipst, dabei hatte sie doch bloß Wasser getrunken. Was machte Nico bloß mit ihr? Es war schon vom ersten Augenblick an so gewesen, damals am Kanal in Venedig.

Und sie erinnerte sich, dass sie sich auch als kleines Mädchen magisch von ihm angezogen gefühlt hatte. Jedes Mal, wenn sie in die Garage geschlichen kam, um ihn heimlich zu beobachten, hatte sie sich in Tagträumereien verloren.

Wie naiv und verblendet sie gewesen war! Er war alles andere als ein Traummann. Jetzt hatte er endlich einmal sein wahres Gesicht gezeigt. Er war arrogant, kaltherzig und nur darauf aus, seinen Kopf durchzusetzen. Egal, was für Konsequenzen es für alle anderen haben würde.

Sie hasste ihn. Und ihr Körper ignorierte es einfach. Sie schmolz wieder einmal dahin vor Verlangen nach Nico, stand völlig unter Strom, nur weil er ihr so nahe war.

Tina schluckte und holte tief Luft. Sie durfte es nicht zulassen, dass sie in seiner Gegenwart die Kontrolle über sich verlor. Das durfte auf keinen Fall wieder passieren. Damals hatte sie nicht gewusst, wer er war. Und nun, da sie es wusste, war sie trotzdem geneigt, sich wieder auf ihn einzulassen.

Hätte sie bloß nie seine Maske hochgeschoben!

Es fiel ihr schwer, ihm nun in die Augen zu sehen. Seinen intensiven Blick zu erwidern. Sie wollte keine Schwäche zeigen. So gut sie konnte, versuchte sie, das heiße Prickeln zwischen ihren Schenkeln zu ignorieren. Es gelang ihr nicht wirklich.

„Ich heirate keinen Mann, der meine Familie bedroht“, sagte sie mit fester Stimme.

Belustigt sah Nico sie an. „Ach ja? Ich dachte, du heiratest nur keinen Mann, der dich nicht liebt? Was denn nun, Tina? Liebe oder Pflichtgefühl?“

Tina verspannte sich. „Ich lasse mich zu nichts zwingen.“

Er schien ihre Aussage zu bezweifeln. Sein Blick glitt von ihrem Gesicht zu ihrem Dekolleté. „Vielleicht wäre es sogar das Beste für dich, cara. Denk einmal darüber nach.“

„Du bist ja sehr von dir überzeugt“, gab sie betont spöttisch zurück, obwohl ihr das Atmen schwerfiel.

„Das bin ich.“

„Renzo lässt sich nicht so leicht besiegen, das weißt du ja.“

Tatsächlich hatte sie überhaupt keine Ahnung, wie ihr Bruder reagieren würde.

Nico lächelte. „Tue ich das? Und was, wenn es mir egal ist, bella mia? Was, wenn ich zu allem bereit bin?“

Schweigend schlug sie die Augen nieder. Es gab einfach nichts mehr zu sagen.

„Komm“, forderte er sie auf und legte ihr die Hand auf den Rücken.

Er führte sie durch Flure und Räume, die sie zuvor nicht gesehen hatte. Die gewölbten Decken und Wandmalereien in leuch­tenden Farben beeindruckten sie sehr. Die Marmorböden waren mit Mosaiken aus Gold, Porphyr und Malachit verziert.

Alle Wände waren mit glänzenden Paneelen vertäfelt. An den Fenstern hingen Gardinen aus Seidendamast. Tagsüber hatte man von hier aus sicher einen fabelhaften Ausblick auf den See.

Erst als Nico vor einer der unzähligen Türen stehen blieb, wurde Tina klar, dass er sie zu ihrem Raum geführt hatte. Sie wurde etwas verlegen, als ihr bewusst wurde, dass sie sich gerade mit dem einzigen Mann, mit dem sie jemals ein Bett geteilt hatte, vor ihrem Schlafzimmer befand.

„Denk über mich, was du willst. Es gibt letzten Endes nur eine Möglichkeit für dich. Ich bin sicher, dass du für Renzo und Faith die richtige Entscheidung treffen wirst.“

„Ich habe ja gar keine Wahl“, erwiderte sie leise. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien.

Nico zuckte die Schultern. Scheinbar hatte er kein bisschen Mitleid mit ihr.

„Entweder triffst du die richtige Entscheidung, oder du zwingst mich, dafür zu sorgen, dass du die richtige Entscheidung triffst. Du kannst es dir aussuchen.“

„Wie großzügig von dir“, zischte sie.

Sein Lachen klang in dem dunklen Flur ungewöhnlich laut. „Du bist wirklich süß, cara. Ganz anders als das Mädchen, das nie ein Wort herausgebracht hat, wenn ich in der Nähe war.“

„Na und? Damals war ich ja auch noch ein Kind. Jetzt bin ich erwachsen.“

Anerkennend musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Ja, das bist du tatsächlich. Und so, wie es aussieht, sitzt alles an der richtigen Stelle.“ Sie wollte gerade eine entrüstete Bemerkung machen, als er ihr Kinn umfasste und sie zwang, ihn anzusehen.

„Zwischen unseren Zimmern ist eine Verbindungstür. Wenn du also das Bedürfnis verspürst, die Nacht in Venedig zu wiederholen, dann brauchst du nur die Tür zu öffnen und hereinzukommen.“

Bei seinen Worten wurde ihr Mund ganz trocken. „Das werde ich ganz sicher nicht“, entgegnete sie knapp. „Nie wieder.“

In der Dunkelheit sah sie seine weißen Zähne blitzen, als Nico lächelte. Sein attraktives Gesicht mit den markanten Zügen war ihrem so nahe. Es war fast zu verlockend. Nein.

„Man soll niemals nie sagen, Schätzchen“, murmelte er. Dann neigte er den Kopf.

Tina erstarrte, als sie seinen Atem an den Lippen spürte, und schloss erwartungsvoll die Augen. Sie durfte es nicht zulassen, doch er hatte sie vollkommen in seinen Bann gezogen.

Und plötzlich lachte er und trat einen Schritt zurück.

Erschrocken blickte sie ihn an und spürte dabei, wie sie errötete. Sie hatte gedacht, er würde sie küssen. Und sie war ihm nicht ausgewichen. Und er hatte es gemerkt.

„Ich will es nicht“, beeilte sie sich zu versichern. „Auf keinen Fall.“

Spöttisch lächelte er sie an. „Ich glaube, wir wissen beide, dass du dich gerade selbst belügst.“

Nico fluchte, als er noch einmal die Zahlen auf seinem Laptop prüfte. Frustriert sank er gegen die Lehne seines Stuhls und fuhr sich durchs Haar.

Selbst nach seinem Tod schaffte Alessio Gavretti es noch, ihn zu verärgern. Er hatte jahrelang versucht, den Mann zu beeindrucken, der sich von nichts beeindrucken ließ. Es sei denn, es trug einen kurzen Rock und hatte große Brüste. Sein Vater war ihm gegenüber sein Leben lang gleichgültig und kühl gewesen.

Nichts, was er tat, schien seinen Vater auch nur im Geringsten zu interessieren. Immerhin war er einige Male zu seinen Rennen gekommen. Das war aber auch schon alles gewesen. Damals hatte er gehofft, seinen Vater überreden zu können, dass er in Renzos Prototyp investierte. Aber dieser hatte nichts davon hören wollen.

„Warum soll ich in das Unternehmen eines anderen Mannes investieren, wenn du in der Lage wärst, dein eigenes zu gründen, Niccolo? Wenn du die Motorräder selbst baust, bin ich gern bereit, dich zu unterstützen. Aber bitte mich nicht um Geld für jemand anderen.“

Nico runzelte die Stirn, als er sich daran erinnerte. Es war ein Schlüsselmoment in seinem Leben gewesen, auch wenn es ihm damals noch nicht bewusst gewesen war. Er hatte also sein eigenes Unternehmen aufgebaut. Und dadurch hatte er den einzigen Freund verloren, den er je gehabt hatte. Es tat ihm immer noch weh. Und die Frau in seinem Gästezimmer war schuld daran, dass heute Nacht wieder alte Schuldgefühle hochkamen.

Seufzend stand Nico auf und schlenderte durch das dunkle Zimmer hinaus auf den Balkon. Es war ganz still draußen, und der Duft von Bougainvilleen und Lavendel lag in der Luft. Weit unter ihm glitzerte das Wasser des Sees im Mondlicht.

Nico genoss die friedliche Stimmung. Gleichzeitig machte es ihn nervös. Wenn er nicht aufpasste, würde er das alles hier verlieren. Alessio Gavretti hatte sein Geld mit beiden Händen ausgegeben. Ebenso seine Frau.

Seine Eltern hatten sich vor vielen Jahren getrennt. Seitdem hatte sein Vater Unmengen an Geld für Frauen ausgegeben, während seine Mutter es in Kleidung, Schmuck und Häuser gesteckt hatte. Über die Jahre hatten sie es geschafft, sich hoch zu verschulden.

Und nun tat er, Nico, alles, damit die Welt nicht erfuhr, was tatsächlich bei den Gavrettis los war. Er hätte fast gelacht. Da drohte er Tina, ihren Bruder zu ruinieren, wenn sie ihn nicht heiratete. Dabei stand er selbst kurz vor dem Ruin. Renzo D’Angeli würde Gavretti Manufacturing sofort aufkaufen, wenn er davon erfuhr. Und dann würde er, Nico, das Unternehmen für einen lächerlichen Betrag abstoßen.

Und er könnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Er würde wahrscheinlich das Gleiche tun.

Nachdenklich lehnte er sich auf die Brüstung und betrachtete die vereinzelten Lichter am Seeufer. Er musste dafür sorgen, dass nicht herauskam, wie es um ihn stand. Und er würde Tina dazu bringen, ihn zu heiraten. Sonst hätte er kein Recht auf sein Kind. Vor allem, wenn sie ihn nicht offiziell als Vater anerkannte.

Warum war das eigentlich so wichtig?

Er hatte eigentlich nie eine Familie gewollt. Sein Leben gefiel ihm, wie es war. Wenn er Tina gehen ließ, konnte er sich in Ruhe um den Nachlass kümmern und sich irgendwann eine vernünftige Frau suchen.

Nico stieß einen verächtlichen Laut aus. Was verstand er darunter? Seine Mutter war eine vernünftige Frau gewesen. Zumindest war sie von der Familie seines Vaters ausgesucht worden. Und was war aus den beiden geworden? Zwei verbitterte, egoistische Individuen, die zusammen ein Kind bekommen hatten, das sie gar nicht gewollt hatten.

Sofort spürte er die vertraute Wut über seine einsame Kindheit in sich hochsteigen. Oh ja, finanziell hatte es ihm nie an etwas gemangelt. Er hatte sich alles kaufen können, was er nur wollte. Aber eine Sache gab es für kein Geld der Welt: Liebe.

Vielleicht hatte er sich deswegen bei den D’Angelis immer so wohlgefühlt. Ihr Haus war immer voller Lachen und Wärme gewesen.

Er warf einen kurzen Blick auf die Balkontür, die in Tinas Zimmer führte. Sie war geschlossen. Die Vorhänge waren zugezogen. Allerdings drang ein leichter Lichtschimmer hindurch. Vielleicht sah Tina noch fern.

Der Gedanke an sie erfüllte ihn mit Sehnsucht. Am liebsten würde er jetzt zu ihr gehen, sie in die Arme ziehen und sich in ihr verlieren. Er wusste, es war der Stress der letzten Wochen, der ihn schwach machte. Dennoch war sein Verlangen nach ihr kaum zu ignorieren.

Wenn sie jetzt noch in Rom wären, würde er einfach für einige Stunden in einen Club gehen oder eine seiner Frauen anrufen. Er würde eine ganze Nacht lang Sex haben. Und hätte am nächsten Morgen den Kopf frei, um sich wieder um seine Probleme zu kümmern.

Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Liebe gab es nicht in seiner Welt. Er war dreißig Jahre alt und hatte noch nie in seinem Leben tiefere Gefühle für einen anderen Menschen empfunden.

Bis Valentina D’Angeli wieder in sein Leben getreten war und ihn mit der Nachricht geschockt hatte, dass er Vater wurde. Seitdem war irgendetwas mit ihm passiert. Nico verstand es selbst nicht. Er wusste nur, dass er sie nicht gehen lassen würde. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, sie zu heiraten. Aber anders würde es wohl nicht gehen.

Und damit konnte Renzo ihm auch nicht gefährlich werden, falls er von seinen finanziellen Problemen erfahren sollte. Schließlich würde er nicht dem Mann schaden wollen, der mit seiner Schwester verheiratet war.

Tina würde sich ihm fügen müssen. Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Das Einzige, was ihn verwirrte, war das seltsam unwirkliche Gefühl der Hoffnung, das sie in ihm geweckt hatte.

6. KAPITEL

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Tina aufwachte. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, wo sie war. Dann fiel es ihr ein. Unvermittelt setzte sie sich auf. Sie war gefangen auf einer Insel mitten im See, entführt von einem gefährlichen Mann, der sie zwingen wollte, ihn zu heiraten.

Ein Blick auf das Handy auf ihrem Nachttisch sagte ihr, dass sie noch immer keinen Empfang hatte. Seufzend ließ sie sich zurück in die Kissen fallen.

Was würde sie denn machen, wenn sie telefonieren konnte? Sie würde Lucia eine Nachricht schicken, klar. Aber sie würde sicher nicht Renzo oder ihre Mutter anrufen. Was sollte sie ihnen schon sagen? Sie konnte doch nicht einfach mit der Wahrheit herausplatzen.

Gähnend stieg sie aus dem Bett und öffnete die Vorhänge. Es schien ein schöner Tag zu werden. Weit draußen auf dem See sah sie einige Windsurfer und in der Ferne die grünen Berge. Der Ausblick war wirklich fantastisch.

Nach dem Duschen warf sie einen Blick in den begehbaren Kleiderschrank. Nicos Mitarbeiter hatten ihre Sachen bereits säuberlich eingeräumt und aufgehängt. Sie entschied sich für eine rote Seidenhose und ein enges schwarzes Oberteil. Dazu zog sie hübsche Riemchensandaletten mit hohen Absätzen an, um dem Outfit einen Hauch von Eleganz zu verleihen.

Im Haus war noch alles ruhig. Aus der Küche jedoch drang ein köstlicher Duft. Der Koch und seine Gehilfen waren bereits am Werk.

„Der Signore wartet bereits auf der Terrasse auf Sie, Signorina. Das Frühstück wird in einigen Minuten serviert.“

Tina bedankte sich und ging nach draußen zu dem Tisch, an dem sie am Abend zuvor gegessen hatten. Nico hatte seinen Laptop auf den Tisch gestellt und telefonierte. Einen Augenblick hielt sie inne und beobachtete ihn. Die Sonne schien ihm ins attraktive Gesicht, sein dunkles Haar glänzte. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen.

„Teil es dir gut ein“, sprach er in sein Handy. „Die nächste Überweisung kommt erst im nächsten Quartal.“

Eine Sekunde später knallte er das Handy wütend auf den Tisch. Tina zuckte zusammen. Sie wollte gerade wieder hineingehen, damit er nicht merkte, dass sie alles mitbekommen hatte, als er ihren Namen rief. Langsam wandte sie sich um und ging zum Tisch, um sich zu ihm zu setzen.

„Wie kommt es, dass du hier draußen Empfang hast?“, erkundigte sie sich.

„Ich bin bei einem anderen Anbieter“, erklärte er knapp.

„Ich nehme an, ich darf dein Handy nicht benutzen?“, fragte sie zögernd.

Er zuckte die Schultern. „Warum nicht? Du bist schließlich eine intelligente Frau, Tina. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du deinen Bruder anrufen würdest, damit er kommt und dich rettet.“

Seine Worte machten sie schon wieder wütend. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“

Nico betrachtete ihr frisch gewaschenes offenes Haar. Es machte sie nervös.

„Jetzt sind deine Haare glatt“, murmelte er.

„Siehst du? Ich habe es dir doch gesagt“, sagte sie triumphierend.

„Ihr Frauen habt eine Menge Tricks auf Lager, was?“

Tina lachte bloß. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“

„Doch, das habe ich. Ich weiß, dass du deinen Bruder sehr liebst. Du würdest ihm ganz sicher nicht den Urlaub vermiesen wollen. Gerade jetzt, wo er mit seiner neuen Frau und dem Kind so glücklich ist.“

Ihr Puls raste. Sie fühlte sich, als könnte Nico in ihre Seele blicken. Das war natürlich Unsinn. Aber er hatte ziemlich gut geraten.

„Außerdem“, fuhr er fort, „bist du nicht in Gefahr. Du bist bloß in einer schwierigen Situation, in die du dich selbst gebracht hast.“

„Es gehören immer zwei Leute dazu, ein Baby zu machen“, erinnerte sie ihn und schenkte der Frau, die ihr den Kaffee brachte, ein Lächeln.

Sein Handy klingelte erneut, doch er drückte den Anrufer weg. Wer dieser wohl sein mochte? Eigentlich konnte es ja nur eine Frau sein. Einen Geschäftspartner würde er nicht einfach ignorieren.

Der Gedanke löste ein seltsames Gefühl in ihr aus. Sie mochte es gar nicht näher ergründen. Bisher hatte sie sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, dass Nico auch ein Liebesleben hatte.

Seit ihrer gemeinsamen Nacht vor zwei Monaten hatte sie jedenfalls nichts über ihn in den Klatschzeitschriften gelesen. Das hieß natürlich nicht, dass bei ihm gerade nichts lief.

Leichte Übelkeit stellte sich bei ihr ein, und Tina schob die Kaffeetasse von sich. Dieses Mal waren ganz sicher nicht die Schwangerschaftshormone schuld.

„Du kannst ihn trinken“, ermutigte Nico sie. „Er ist entkoffeiniert.“

Erstaunt sah sie auf. Er hatte daran gedacht. Aus irgendeinem Grund berührte es sie. Dabei hatte er sicher keine romantischen Ambitionen gehabt. Es war eine rein praktische Maßnahme gewesen.

„Danke, dass du mitdenkst.“

Das Lächeln, das er ihr schenkte, ließ sie noch unsicherer werden. Wie sollte sie es bloß auf Dauer schaffen, in seiner Nähe nicht die Kontrolle zu verlieren? Er bedrohte sie und ihre Familie. Und sie entwickelte romantische Gefühle für ihn. Es war einfach absurd. Und es durfte nicht sein.

„Ich habe heute Morgen mal ein paar Stunden lang über Schwangerschaft recherchiert. Ich muss ja zugeben, dass ich bisher keinen blassen Schimmer hatte, worauf man da alles achten muss.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. Er schien sich wirklich Sorgen zu machen.

„Geht mir genauso“, gab sie zurück. „Ich wollte mich eigentlich mal mit Faith darüber unterhalten.“

Nico schien zu überlegen. „Es gibt da ein Forum für Schwangere“, informierte er sie schließlich. „Da kann man Fragen stellen und die verschiedenen Phasen der Schwangerschaft nachverfolgen. Es ist ziemlich interessant.“

Tina trank einen Schluck Kaffee. Jetzt war sie wirklich beeindruckt. Dass er so besorgt um sie war, löste Wärme in ihr aus. Es gefiel ihr eigentlich überhaupt nicht. Es passte nicht zu dem Nico, der ihr mit einem Kampf um das Sorgerecht und der Zerstörung von Renzos Unternehmen drohte. Doch wenn er so mit ihr sprach wie jetzt, dann musste sie sofort an den alten Nico denken, der alle Ferien bei ihnen in der Garage verbracht hatte. Damals war er so nett und lustig gewesen.

Sie würde es so gern sehen, dass er und Renzo wieder Freunde wurden. War ihr Streit wirklich so schlimm gewesen, dass man einander nicht verzeihen konnte?

„Ich werde es mir einmal ansehen“, erwiderte sie und mied dabei seinen Blick.

Das Frühstück wurde serviert, und Tina aß mit gutem Appetit.

„Ich hatte schon befürchtet, das Frühstück verschlafen zu haben“, meinte sie nach einer Weile. „Ich habe heute so unglaublich lange geschlafen.“

Nico lächelte sie an. „Solange du hier bist, wirst du nie das Frühstück verpassen, cara. Es wird nämlich erst dann serviert, wenn du so weit bist.“

Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. Dabei gab es überhaupt keinen Grund dafür. Niccolo Gavretti ging es nicht um sie, es ging ihm um sein Kind, das war alles.

Trotzdem war sie es nicht gewohnt, so im Mittelpunkt zu stehen. Ihre Mutter und Renzo liebten sie, das wusste Tina. Aber es war immer Renzo gewesen, um den sich alles drehte. Weil er der Mann in der Familie war. Weil er älter war. Weil er erfolgreich war. Sie hatte immer in seinem Schatten gestanden. Sie hatte nie richtig die Gelegenheit gehabt, auch einmal zu glänzen.

„Danke“, sagte sie ein wenig befangen.

Wieder klingelte sein Handy, wieder drückte Nico den Anrufer weg. Die Person am anderen Ende tat ihr fast etwas leid.

„Eine schwangere Frau braucht viel Schlaf. Mach dir also keine Gedanken, wenn du mal etwas später aufstehst. Wir werden auf jeden Fall mit dem Frühstück auf dich warten.“

Die Art, wie er schwangere Frau ausgesprochen hatte, ließ Tina erröten. Warum eigentlich?

„Außerdem bin ich eine Nachteule“, fuhr er fort. „Ich schlafe selbst gern aus.“ Er griff nach einem Brötchen. „Wir sollten das vielleicht noch etwas ausnutzen. Bald müssen wir uns schließlich um ein Neugeborenes kümmern. Soweit ich weiß, halten sie einen die ganze Nacht auf Trab.“

Seine Worte verblüfften sie. „Du scheinst dich ja schon gut eingelesen zu haben.“

Doch das war es gar nicht, was sie erstaunte. Es war die Andeutung, dass sie beide sich um ein Neugeborenes kümmern müssten. Hieß das, er würde ebenfalls mitten in der Nacht aufstehen, um das Baby zu füttern?

Schnell verbannte sie das Bild aus ihrem Kopf. Sie würde sich nicht von seinem Gerede einlullen lassen.

Als das Handy ein drittes Mal klingelte und er es ignorierte, hielt sie es nicht mehr aus.

„Warum gehst du nicht dran?“, fragte sie ungeduldig.

Fast bereute sie ihre Worte, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah.

„Weil es nichts bringt“, erklärte Nico. „Manche Frauen wollen einfach nicht verstehen.“

Tina verspannte sich. Sie hatte also richtig getippt.

„Es ist leider so, dass jeder Mann eine Frau in seinem Leben hat, die er nicht abschütteln kann“, fügte er hinzu.

Die Insel war größer, als Tina am Vortag gedacht hatte. Am anderen Ende der Festung befand sich ein großer Garten mit einer komplett von Wein bewachsenen Laube, kleinen gepflasterten Wegen und leuchtend bunten Blumen und Kräutern. Es gab auch einen kleinen Felsenteich mit ganz klarem Wasser, der aussah, als stammte er aus der Antike.

Seit dem Frühstück waren einige Stunden vergangen. Sie hatte ein wenig Zeit damit verbracht, die Festung zu erkunden. Und als sie entdeckte, dass es einen Garten gab, hatte sie ihre Sandaletten gegen feste Schuhe getauscht und war wieder hinaus in die Sonne gegangen.

Nun schlenderte sie über den Rasen auf die weinberankte Laube zu. Diese sah so friedlich und einladend aus, und sie konnte etwas Ruhe gebrauchen.

Sie hatte Nico seit dem Frühstück nicht mehr gesehen. Aber sie hatte die ganze Zeit an ihr Gespräch denken müssen. Es ist leider so, dass jeder Mann eine Frau in seinem Leben hat, die er nicht abschütteln kann.

Wie zum Beispiel eine Frau, die von ihm schwanger war? Je mehr Tina darüber nachdachte, desto unwohler fühlte sie sich. Er duldete sie nur wegen des Babys in seinem Leben. Wäre ihr irgendwann so zumute wie der Frau, die versucht hatte, ihn anzurufen?

Vor der Laube blieb sie stehen und ließ die Finger durch ein hohes Ziergras gleiten. Die flauschigen Spitzen kitzelten an ihren Händen. Er würde so oder so von ihr genervt sein, ob sie nun heirateten oder nicht. Schließlich würden sie zusammen ein Kind haben. Dadurch wären sie automatisch ständig miteinander in Kontakt.

Sie würde in seinem Leben sein und er in ihrem – für immer. Was für eine seltsame Vorstellung! Irgendwie fand Tina es sogar aufregend.

Doch dann musste sie daran denken, wie sehr sich ihr Leben in wenigen Monaten verändern würde. Ein Baby änderte einfach alles. Es bedeutete eine enorme Verantwortung. Für einen Moment musste Tina sich an einem der Laubenpfosten festhalten. Tränen traten ihr in die Augen. Was hatte sie sich da bloß eingebrockt?

Wie sollte sie damit fertigwerden? Es war alles zu viel. Viel zu viel …

Sie musste an Faith und Renzo denken. Und das Baby, das die beiden so liebten. Jedes Mal, wenn sie sie traf, sah sie den Stolz in ihren Blicken. Das Kind bedeutete ihnen alles. Und sie würden alles dafür tun, es zu beschützen.

Tina trat unter das Dach der Laube und musste unter Tränen lächeln, als sie die hübsche Rattangarnitur entdeckte. Die Couch mit den vielen bunten Kissen wirkte sehr einladend. Es war der perfekte Platz, um sich zusammenzurollen und ein Buch zu lesen. Oder um in Ruhe nachzudenken. Genau das, was sie jetzt brauchte.

Seufzend ließ sie sich auf das weiche Polster fallen und lehnte den Kopf in die Kissen. Ihre Gedanken kreisten noch immer um ein und dasselbe Thema. Nico liebte sie nicht. Und sie liebte ihn nicht. Aber sie hatten dieses winzige Leben geschaffen. Dieses kleine Wesen, das so viel Aufmerksamkeit von ihnen fordern würde.

Natürlich könnte sie ein Kindermädchen engagieren. Und sie könnte sich ein eigenes Haus kaufen und dafür sorgen, dass ihr Kind eine Rundumbetreuung erhielt. Sie würde es zweifellos allein schaffen, da war sie sich sicher.

Aber war es dem Kind gegenüber fair, wenn es gezwungen war, ständig zwischen zwei Elternteilen hin- und herzupendeln?

Nachdenklich fuhr Tina sich mit der Hand über den Bauch und versuchte, sich nur auf ihre Atmung zu konzentrieren.

Dann wanderten ihre Gedanken wieder zu Renzo. Wenn sie ihm durch ihre Heirat ersparen konnte, dass Nico D’Angeli Motors zerstörte, blieb ihr keine Wahl. Dann musste sie Nico heiraten.

Das Sonnenlicht schien warm zwischen den Weinranken über der Laube hindurch. Die zarten hellgrünen Blätter sorgten für ein gedämpftes Licht. Es hatte etwas sehr Beruhigendes, hier zu liegen, in dieser grünen Höhle, weit weg vom Rest der Welt. Schläfrig sah sie hinaus in den Garten mit seinem bunten Blumenmeer und den unzähligen exotischen Bäumen. Es gab sogar ein Wäldchen mit Oliven- und Zitronenbäumen.

Irgendwann fielen ihr die Augen zu. Als sie aufwachte, fröstelte sie. Die Sonne war weitergezogen, und die Laube lag im Schatten. In den Bäumen zwitscherten die Vögel. Aus der Ferne drang das Geläut von Kirchenglocken aus einem der Dörfer am Seeufer zu Tina herüber.

Sie hatte von Nico geträumt. Von dem Nico, der vor vielen Jahren mit Renzo in der Garage herumgebastelt hatte. Er hatte so viel gelacht damals. Er hatte schon immer Ecken und Kanten gehabt, aber er hatte nicht so furchteinflößend gewirkt wie heute.

Inzwischen war sie vollkommen davon überzeugt, dass er vor nichts zurückschrecken würde. Er würde über Leichen gehen, um zu bekommen, was er wollte.

„Du hast Giuseppe einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, erklang mit einem Mal eine Stimme. „Er hat dich überall gesucht.“

Tina fuhr zusammen und sah sich um. Der Mann, von dem sie geträumt hatte saß ihr gegenüber in einem der Sessel. Sein forschender Blick rief bei ihr ein sehnsüchtiges Prickeln hervor und machte ihr gleichzeitig Angst.

„Tut mir leid“, gab sie zurück. „Ich bin wohl eingeschlafen.“

„Das habe ich gemerkt.“

Langsam setzte sie sich auf und streckte sich wie eine Katze, die gerade aus tiefstem Schlaf erwacht war. „Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. Es war so warm und gemütlich hier, dass ich die Augen gar nicht offen halten konnte.“

Nico ließ den Blick durch die nunmehr dunkle Laube schweifen. Erst jetzt wurde Tina bewusst, dass sie hier ganz für sich waren. Man musste schon direkt vor der Laube stehen, um zu sehen, dass jemand darin saß.

Kein Wunder, dass Giuseppe sie nicht hatte finden können. Er tat ihr fast ein wenig leid. Der kleine Mann war von Anfang an so unglaublich freundlich zu ihr gewesen. Er hatte ihr die ganze Zeit das Gefühl gegeben, dass sie hier willkommen war. In seiner Gegenwart fühlte sie sich immer wie ein Gast, nicht wie eine Gefangene.

„Ja, das hier ist ein wunderbarer Ort für einen Mittagsschlaf“, murmelte Nico versonnen. „Ich erinnere mich, dass ich hier mal als kleiner Junge eingenickt bin.“

Tina musste lächeln, als sie sich vorstellte, wie er wohl als Kind gewesen sein mochte. Sicher hatten seine Eltern sich wahnsinnige Sorgen gemacht, als er plötzlich verschwunden war. Oder hatten sie gewusst, dass er öfter hierherkam, und ihn schlafen lassen?

Sein Blick war abwesend. Er schien über irgendetwas nachzudenken. „Es ist Zeit, Tina“, sagte Nico dann.

Nervös schluckte sie. „Zeit für was?“

Er vermied es sie anzusehen. „Zeit, eine Entscheidung zu treffen.“

Ihr Herz schien kurz auszusetzen. Und plötzlich musste sie an das Frühstück denken.

„Wer war die Frau, mit der du heute Morgen telefoniert hast?“, erkundigte sie sich ärgerlich.

Seine Augen wurden dunkel. Fast glaubte sie, er würde nicht antworten. Und dann überraschte er sie.

„Meine Mutter. Wir hatten einen Streit.“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Seine Mutter also. Keine Geliebte, wie sie angenommen hatte. Damit hatte sie nicht gerechnet.

„Tut mir leid“, murmelte Tina schließlich und sah zu Boden. „Es geht mich ja eigentlich gar nichts an.“

Sie spürte, wie Nico sie beobachtete.

„Ich verstehe, dass du es wissen wolltest“, beruhigte er sie. „Du hast mich mit einer Frau streiten hören. Du hast mitbekommen, wie ich ihre Anrufe ignoriert habe. Und dann frage ich dich, ob du mich heiraten willst. Es ist dein gutes Recht, unter den gegebenen Umständen neugierig zu sein.“

„Na ja“, warf sie ein und begegnete seinem Blick, „gefragt hast du mich ja eigentlich nicht. Du zwingst mich dazu.“

Nico sah so gut aus, wie er da lässig vor ihr auf dem Sessel saß mit seinen langen Beinen, einen Arm über die Lehne gelegt. Er trug dunkle Jeans und ein weißes Hemd, das er oben offen gelassen hatte, sodass sie ein wenig von seiner gebräunten Haut erkennen konnte. Sie erinnerte sich, wie sie sie geküsst hatte in Venedig, zuerst zögernd, dann fordernd.

Er zog eine Augenbraue hoch, während er sie betrachtete. Sie wusste, ihr war schon wieder das Blut ins Gesicht gestiegen. Was er wohl dachte? Dabei war es ja eigentlich völlig egal. Er war ihr egal.

Gedankenverloren trommelte er mit den Fingern auf der Sessellehne. „Macht das einen Unterschied?“, meinte er dann. „Das Ergebnis wird ja das Gleiche sein.“

„Herrje! Eine Frau möchte gefragt werden, Nico. Das gehört nun einmal dazu“, antwortete Tina ungeduldig.

„Heißt das, du bist endlich vernünftig geworden?“

Vernünftig? War sie überhaupt noch in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen? Hatte sie nicht bereits vor zwei Monaten den Verstand verloren?

„Versprich mir, weder meiner Familie noch D’Angeli Motors irgendeinen Schaden zuzufügen“, forderte sie ihn auf. Sie war furchtbar nervös. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen.

Spöttisch verzog Nico den Mund. „Solange Renzo mich in Ruhe lässt, werde ich ihm auch kein Haar krümmen.“

Tina schloss die Augen. Innerlich begann sie zu zittern. Sollte sie sich wirklich darauf einlassen?

Natürlich. Sie hatte keine andere Wahl. Nico kam aus einer adligen Familie, war unglaublich reich und hatte einen Weltmeistertitel. Und nun, da er das Erbe seines Vaters angetreten hatte, übte er viel mehr Macht aus. Zweifellos könnte er Renzo mit dem kleinen Finger auslöschen, wenn er wollte.

„Dann frag mich“, bat sie ihn.

Sie hatte eigentlich nicht erwartet, dass er es auf die konventionelle Art tun würde. Ehe sie sich’s versah, kniete er vor ihr auf dem steinernen Boden und legte ihr eine Hand an die Wange, während er mit der anderen nach ihrer Hand griff und sie an sein Herz führte. Es war eine große Geste, auch wenn sie nicht aufrichtig gemeint war.

Instinktiv schmiegte Tina die Wange an seine Hand, obwohl sie es gar nicht wollte. Aber seine Berührung war so zärtlich, so warm. Und sie hatte sich seit ihrer gemeinsamen Nacht danach gesehnt, ihn zu spüren. Die Erkenntnis erstaunte und erschreckte Tina zugleich.

Verdammt, was passierte hier bloß mit ihr?

„Valentina D’Angeli“, murmelte er und strich ihr sanft über Nacken und Schulter. „Willst du mich heiraten?“

Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Sie musste verrückt sein. Verrückt, dass sie sich auf diese Sache einließ.

Aber es war das einzig Richtige. Für ihre Familie. Für ihr Baby.

„Ja“, flüsterte sie. „Ja, ich will.“

7. KAPITEL

Tina schloss die Augen, als Nico sich zu ihr herabbeugte. Bereitwillig hob sie das Kinn, in der Erwartung, dass er sie küssen würde. Oh, wie sehnte sie sich danach! Es war nicht richtig, sie wusste es, und doch … Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie seine Lippen gespürt hatte.

Aber sie hatte sich zu früh gefreut. Er küsste sie nicht. Jedenfalls nicht auf den Mund. Seine Lippen streiften bloß sanft ihre Wange.

Enttäuscht sah sie zu ihm auf, während er sie zu sich hochzog.

„Komm, wir haben viel zu tun, tesoro“, erklärte er. „Und du musst noch packen.“

Tina blinzelte verwirrt. „Packen? Warum? Fahren wir weg?“

Nico legte ihr die Hände auf die Schultern und ließ sie dann über ihre bloßen Arme gleiten, sodass ein erregendes Prickeln sie überlief. „Wir fahren nach Gibraltar“, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. „Gibraltar?“

„Du weißt doch, warum Paare dorthin fahren, oder, Tina?“, fragte er ungeduldig.

Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie die Antwort wusste. Die Bedeutung seiner Worte wurde ihr erst jetzt klar.

„Ich … Ja, ich weiß, warum“, sagte sie stockend. „Aber warum müssen wir denn …? Ich dachte …“

Sein mitleidiger Blick sagte ihr, dass Nico genau wusste, was sie gedacht hatte. Sie hatte damit gerechnet, ganz konventionell zu heiraten. Sie würde ein Kleid aussuchen. Dann würden sie Blumen und eine Hochzeitstorte bestellen. Und ihre Familien einladen.

Sie war eben eine junge Frau. Und sie träumte wie alle jungen Frauen von einer typischen Märchenhochzeit.

Aber es sollte nicht sein. Sie würde einen Mann heiraten, den sie kaum kannte. In Gibraltar. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wäre sie Signora Gavretti. Nein, die Marchesa di Casari.

Ihre Knie wurden weich. Hätte Nico sie nicht gehalten, wäre Tina fast auf die Couch hinter ihr gesunken.

Er zog sie zu sich heran. „Es gibt keinen Grund, es aufzuschieben“, murmelte er an ihrem Ohr.

„Aber meine Familie …“, protestierte sie schwach.

Seine Augen funkelten. „Ich bin jetzt deine Familie, Tina.“

Bei Einbruch der Dunkelheit saßen sie bereits in Nicos Privatjet und flogen hoch über dem Mittelmeer in Richtung Gibraltar. Nico saß ihr gegenüber und arbeitete an seinem Laptop vor ihm auf dem Tisch. Tina hingegen konnte sich nicht auf ihr Buch konzentrieren, das sie sich für den Flug eingesteckt hatte. Stattdessen sah sie mit leerem Blick aus dem Fenster.

Ihr Leben war komplett auf den Kopf gestellt worden. Noch vor zwei Monaten hatte sie sich zusammen mit Lucia auf den Maskenball gefreut. Ihr Leben war zu dem Zeitpunkt herrlich unkompliziert gewesen. Sie hatte bloß ein bisschen Spaß haben wollen. Mal in eine andere Rolle schlüpfen.

Und dann war sie Niccolo Gavretti über den Weg gelaufen. Verstohlen warf sie ihm einen Blick zu. Sofort schlug ihr Herz einige Takte schneller, wie jedes Mal, wenn sie ihn ansah. Er sah einfach zu gut aus. Selbst jetzt, als er die Stirn runzelte und konzentriert auf seinem Laptop tippte.

Sie fühlte sich gleichzeitig zu ihm hingezogen und von ihm abgestoßen. Noch nie zuvor hatte sie sich so zerrissen gefühlt.

Nico schien zu spüren, dass sie ihn beobachtete. Als er sich zu ihr umwandte, hielt sie seinem Blick stand. Warum sollte sie ihm jetzt noch etwas vormachen? Er klappte den Laptop zusammen.

„Ich weiß, du hast es dir nicht so vorgestellt“, sagte er und warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Aber so ist es am besten für alle Beteiligten, denke ich.“

„Was ist mit deiner Mutter?“, fragte sie, bemüht, sich nicht wieder aufzuregen. „Meinst du nicht, sie wäre gern dabei, wenn ihr einziger Sohn heiratet?“

Sein Lachen überraschte sie. Und ließ sie ein wenig schaudern.

„Meine Mutter interessiert sich nicht sonderlich für mein Leben. Das Einzige, was für sie zählt, ist Geld. Deswegen ist sie auch gerade nicht gut auf mich zu sprechen. Ich glaube, wenn ich verdurstend vor ihrer Tür liegen würde, wäre sie zu faul, mir Wasser zu bringen.“

Betroffen betrachtete sie ihn. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass sein Verhältnis zu seiner Mutter derart schlecht war.

„Vielleicht ist sie ja immer noch geschockt wegen des Tods deines Vaters“, meinte sie zögernd.

Nico winkte ab. „Sie ist nicht traurig, tesoro. Jedenfalls nicht, weil er tot ist, sondern weil ich jetzt über sein Geld verfüge.“

„Das tut mir leid“, erwiderte sie leise. Sie wusste nicht, was sie sonst noch dazu sagen sollte. Es war einfach unfassbar.

„Nicht in allen Familien geht es so liebevoll zu wie in deiner.“

Tina runzelte die Stirn. Das mochte zwar stimmen, aber sie verstanden einander auch nicht immer. Renzo würde es zum Beispiel niemals nachvollziehen können, warum sie sich auf die Heirat mit Nico eingelassen hatte. Er würde ausflippen, wenn er davon erfuhr.

Es dauerte nicht mehr lange, und das Flugzeug setzte zur Landung an. Es war stockdunkel, als sie ausstiegen. Tina bedauerte, das Meer nicht sehen zu können, doch sie musste lächeln, als ihr der Geruch von Seetang und Salz in die Nase stieg.

Auf dem Flugplatz wartete bereits ein Wagen auf sie, der sie in ein exklusives Hotel in den Bergen hoch über der Stadt brachte. Sie checkten in die Penthouse-Suite ein, die, wie ihnen die Empfangsdame versicherte, atemberaubende Ausblicke über die Bucht von Gibraltar und das spanische Festland bot. Selbst die Berge Marokkos könne man vom Balkon aus erkennen.

Als sie die Suite betraten, hatte Tina jedoch ganz andere Sorgen.

„Wir brauchen ein zweites Schlafzimmer“, erklärte sie.

Sie war nicht darauf vorbereitet, die Nacht mit Nico zu verbringen, jedenfalls nicht unter diesen Umständen. Hätte er sie am Nachmittag in der Laube richtig geküsst, würde es vielleicht etwas anders aussehen.

Aber das hatte er nicht getan. Er war durch und durch Geschäftsmann. Kaum hatte sie zugesagt, hatte er alles in Bewegung gesetzt, um das Geschäft abzuschließen, bevor irgendjemand ihm einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Es ging hier nicht um Gefühle. Für ihn war sie bloß eine weitere Investition.

Was hattest du denn erwartet?

Nico antwortete nicht. Schweigend durchquerte er das Wohnzimmer und öffnete die Balkontüren. Unter ihnen lag die dunkle Bucht, die nur durch die Lichter vereinzelter Boote erhellt wurde. Am anderen Ende konnte man die Umrisse der spanischen Stadt Algeciras erkennen.

„Es gibt nur ein Schlafzimmer, cara“, sagte er, als sie neben ihn auf den Balkon trat.

Demonstrativ verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ihr Herz klopfte, als hätte sie gerade drei Kaffee hintereinander getrunken.

„Mir geht das alles zu schnell, Nico. Ich habe erst heute Nachmittag in die Heirat eingewilligt. Und jetzt sind wir schon hier. Und dann erwartest du auch noch, dass ich im selben Zimmer mit dir schlafe.“

Er warf ihr einen seltsamen Blick von der Seite zu, den sie nicht deuten konnte. Wahrscheinlich war er genervt, weil sie ihm schon wieder Ärger machte.

„Das war die einzige freie Suite, Tina. Wir werden schon klarkommen, oder?“

Seine Stimme klang kalt und distanziert. Es kam Tina nicht so vor, als würde er auch nur ansatzweise daran denken, in dieser Nacht mit ihr zu schlafen. Ganz im Gegensatz zu ihr. Sie erinnerte sich unwillkürlich an ihre letzte gemeinsame Nacht in einem Hotel. Ihre Wangen begannen zu glühen.

Dieser Raum hier war mit all dem modernen Chrom und Glas, den Flokatis und den schwarzen Ledersofas zwar nicht mit dem eleganten Zimmer zu vergleichen, das sie in Venedig gemietet hatten. Dennoch konnte sie an nichts anderes denken als an diesen perfekten Moment, in dem sie zu der Erkenntnis gelangt war, wie süchtig guter Sex machen konnte.

„Immerhin gibt es eine große Couch“, murmelte sie.

Seine Miene verriet nichts. „Ja, immerhin.“

Tina hoffte, ihr Gesicht war nicht so rot, wie es sich anfühlte. „Da kann ich drauf schlafen“, bot sie an. „Ich bin kleiner als du.“

Mit einem Mal stieß Nico sich vom Balkongeländer ab und kam auf sie zu. Unwillkürlich wich sie zurück, als er vor ihr stehen blieb. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufzusehen, und ärgerte sich, weil sie nicht ihre Stilettos trug.

Sie zuckte zusammen, als er den Arm hob und mit einer ihrer Strähnen zu spielen begann.

„Willst du das denn wirklich?“

Schnell nickte sie.

Er schien nicht überzeugt zu sein.

„Ich … ich habe dich nur geheiratet, damit du meine Familie in Ruhe lässt“, erklärte sie stockend.

Nico lachte und wickelte die Strähne um seine Hand, bis Tina gezwungen war, einen Schritt auf ihn zu zu machen.

„Ich verstehe. Du gibst dich mir als Opferlamm hin, richtig?“

„Nein!“, protestierte sie.

„Hast du etwa geglaubt, wir würden nach unserer Hochzeit nicht miteinander schlafen?“

In seiner Stimme schwang ein harter Unterton mit, der ihr Angst machte.

„Das habe ich nie gesagt. Aber es sind zwei verschiedene Dinge, oder? Nur weil wir eine Zweckehe eingehen, heißt es nicht automatisch, dass wir ein konventionelles Eheleben führen, mit allem, was dazugehört, oder? Schließlich kennen wir uns fast gar nicht“, stieß sie hastig hervor.

„In Venedig kannten wir uns auch nicht. Soweit ich mich erinnere, war es gerade deswegen so aufregend. Ich kann uns ja zwei Masken besorgen, wenn es dann einfacher für dich ist.“

Schnell senkte sie den Kopf, damit Nico ihren Gesichtsausdruck nicht sah. Nicht weil sie sich schämte, sondern damit er ihr die Erregung, die seine Worte ausgelöst hatten, nicht anmerkte.

„Das war etwas anderes“, murmelte sie schließlich verlegen.

„Ich verstehe nicht, warum Sex in einer Nacht anders sein sollte als Sex in einer anderen Nacht“, meinte er.

Sie konnte ihm nicht sagen, was sie wirklich dachte. Dass sie ihm schon jetzt verfallen war. Wenn sie noch eine Nacht mit ihm verbrachte, was würde dann mit ihr passieren? Dann hätte sie in seiner Gegenwart überhaupt keine Kontrolle mehr über sich.

„Ich … ich bin einfach noch nicht so weit“, stieß sie hervor und wagte nicht, ihn anzusehen. „Es liegt nicht an dir, sondern an mir.“

Er schwieg einen Moment und schien über ihre Worte nachzudenken. „Das ist ja interessant“, murmelte er.

Autor

Lynn Raye Harris

Lynn Raye Harris las ihren ersten Harlequin Mills & Boon Roman als ihre Großmutter mit einer Kiste Bücher vom Flohmarkt zurück kam. Sie wusste damals noch nicht, dass sie eines Tages selber Schriftstellerin werden wollte. Aber sie wusste definitiv, dass sie einen Scheich oder einen Prinzen heiraten und ein so...

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Carole Mortimer
<p>Zu den produktivsten und bekanntesten Autoren von Romanzen zählt die Britin Carole Mortimer. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman, inzwischen gibt es über 150 Romane von der Autorin. Der Stil der Autorin ist unverkennbar, er zeichnet sich durch brillante Charaktere sowie romantisch verwobene Geschichten aus. Weltweit...
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Lynne Graham
<p>Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen. Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem Schreiben....
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Lee Wilkinson
<p>Lee Wilkinson wuchs im englischen Nottingham als einziges Kind sehr liebevoller Eltern auf. Nach dem Abschluss auf einer reinen Mädchenschule versuchte sie sich in verschiedenen Berufen, u.a. war sie Model für Schwimmbekleidung. Mit 22 traf sie Denis. Sie heirateten ganz traditionell in Weiß, verbrachten ihre Flitterwochen in Italien und führen...
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Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert? Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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