Traummänner und andere Wundertüten

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Nichts zählt für Elle mehr als ihre Freunde, ihre Karriere und umwerfende Schuhe - wäre da nicht Archer Hunt. Wie kann es sein, dass sich all ihre Gedanken nur noch um diesen sturen, muskelbepackten Security-Mann drehen, der ihr irgendwie noch wichtiger ist als alles andere? Und das Schlimmste: Elle weiß genau, dass es keinen Zweck hätte, ihm das zu sagen. Die einzige Lösung ist, sich mit anderen Männern zu treffen, um Archer zu vergessen - auch wenn das ein Leben lang dauern sollte …

»Bezaubernd geschrieben, Charaktere, die man einfach lieben muss, berührend, urkomisch …«
Library Journal

»Jill Shalvis enttäuscht uns nicht!«
RomanceJunkiesReviews.com

»Eine perfekte 10! Wieder einmal schenkt Jill Shalvis ihren Leserinnen eine sexy, lustige, heiße Geschichte«
RomRevToday.com

»Ein absoluter Gewinner. Die Leserinnen werden bei diesem Pageturner nicht mehr aus dem Lachen herauskommen.«
RT Book Reviews


  • Erscheinungstag 02.05.2018
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768041
  • Seitenanzahl 336
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

#BringtMichZuEuremBoss

Zum Glück liebte Elle Wheaton es, das Sagen zu haben und Leute herumzukommandieren. Genau das war es, was sie an ihrem Job so spannend fand. Wäre das nicht der Fall, würde sie definitiv zu wenig Geld verdienen, um sich mit all den Idioten abzugeben, die ihr das Leben schwer machten. »Die letzte Nacht war eine Katastrophe«, sagte sie.

Ihr Boss sah nicht einmal ansatzweise so besorgt aus wie sie und zuckte nur mit den Schultern. Seine Geschäfte waren vielfältig, unter anderem war er der Besitzer des Pacific Pier Building mitten in San Franciscos Cow Hollow District, in dem sie gerade standen. Ein Umstand, den Spence lieber für sich behielt. Um genau zu sein, wusste außer Elle nur eine einzige Person davon. Als Hauptverwalterin des Gebäudes war es Elle, die sich um alle anfallenden Aufgaben kümmerte und immer die erste Ansprechpartnerin war – eine in ihren Augen stets souveräne und fantastische Ansprechpartnerin. Auch wenn das, was in der letzten Nacht passiert war, ihre Beherrschung etwas ins Wanken gebracht hatte.

»Ich vertraue dir«, sagte er.

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Mit anderen Worten: ›Bring das in Ordnung, Elle. Ich habe keine Lust, mich darum zu kümmern.‹«

»Na gut, das auch«, antwortete er lächelnd und rückte seine Brille zurecht.

Sie versperrte sich gegen seinen Charme. Er war einer von diesen übermäßig intelligenten Nerds, die auf eine total unbewusste Art und Weise sexy waren, doch auch wenn er ihr bester Freund war und sie ihn liebte, gab es gewisse Grenzen. »Lass mich das Desaster noch mal kurz für dich zusammenfassen«, sagte sie. »Zuerst sind um Mitternacht im ganzen Gebäude die Lichter in den Notausgangsschildern ausgefallen. Deshalb konnte Mrs. Winslowe aus Apartment 3D die Stufen nicht sehen, als sie mit ihrem halbblinden Hund nach draußen wollte. Szenenwechsel zu Mr. Nottingham aus 4A, der – das sollte nicht unerwähnt bleiben – sich gerade unbemerkt aus dem Apartment seiner heimlichen Freundin schleichen wollte und dabei ausgerutscht und in einem Hundehaufen gelandet ist.«

»Besser als jeder Film«, kommentierte Spence lachend.

Vorwurfsvoll verschränkte Elle die Arme. »Mr. Nottingham hat sich den Knöchel gebrochen, und damit sind wir noch gut davongekommen. Er wurde mit dem Krankenwagen in die Klinik gebracht und wird uns sicher verklagen. Und du findest das witzig.«

»Komm schon, Elle. Wir wissen doch beide, wie hart das Leben sein kann, wenn man es lässt. Man muss die Dinge auch mal von der anderen Seite betrachten. Wir zahlen die Krankenhausrechnung und eine neue Hose für Mr. Nottingham, und dann lasse ich noch einen Wochenendausflug springen. Er kann seine Freundin mitnehmen – oder seine Frau. Oder sogar beide, falls er will. Wir kriegen das schon wieder hin.« Er grinste, als er ihren skeptischen Gesichtsausdruck bemerkte. »Besorg dir erst mal irgendwas mit Koffein. Du siehst aus, als könntest du das gebrauchen.«

»Wieso kann ich nicht einfach ein normales Leben haben?«, fragte Elle kopfschüttelnd.

»Vergiss ›normal‹. ›Normal‹ wird überbewertet. Und jetzt trink dieses widerliche grüne Zeug, ohne das du anscheinend nicht leben kannst.«

»Das ist einfach nur Tee, du Spinner. Und ich könnte problemlos ohne ihn leben, wenn ich müsste.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich kann nur nicht garantieren, dass die Leute um mich herum das auch von sich behaupten könnten.«

»Eben, wozu also ein Risiko eingehen?«

Sie verdrehte die Augen. Es nagte immer noch an ihr, was letzte Nacht vorgefallen war. Hier im Gebäude kannte sie jeden. Jede Firma in der ersten und zweiten Etage. Jeden Bewohner in der dritten und vierten. Und sie fühlte sich für jeden von ihnen verantwortlich.

Dass jemand unter ihrer Aufsicht verletzt worden war, war nicht akzeptabel. »Dir ist doch klar, dass für das Notausgang-System die Sicherheitsfirma zuständig ist, oder? Das bedeutet, dass die Firma, die du engagiert hast, versagt hat.«

Spence verstand sofort, worauf sie hinauswollte, und sah auf einmal überhaupt nicht mehr belustigt aus. Er stellte seinen Kaffeebecher ab. »Elle, nein.«

»Spence, du bist vor einem Jahr zu mir gekommen und wolltest, dass ich die Geschäftsführung übernehme. Du wolltest, dass ich dir den Rücken freihalte, und wir beide wissen, dass ich darin ziemlich gut bin. Deshalb werde ich auch mit Archer, deinem Sicherheitschef, über diesen Zwischenfall reden.«

Er verzog das Gesicht. »Dann lass mich wenigstens noch das Gebäude evakuieren, bevor ihr aufeinander losgeht.«

»Es wird keinen Streit geben.« Zumindest keinen, von dem sie ihm erzählen würde. »Ich mache nur meinen Job, und dazu gehört es nun mal auch, Archer Hunt zu beaufsichtigen.«

»Theoretisch schon«, gab Spence zu. »Aber du weißt genauso gut wie ich, dass er sich von niemandem etwas sagen lässt und dass er dich ganz sicher nicht als seine Chefin betrachtet. Er betrachtet niemanden als seinen Chef.«

Elle grinste und trank noch einen Schluck Tee – den Nektar der Götter. »Das ist sein Problem, nicht meins.«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand er auf. »Es wird ihm gar nicht gefallen, wenn du ihm um diese Uhrzeit vorschnell irgendwelche Vorwürfe machst.«

»Sehe ich so aus, als würde mich das interessieren?«

»Mich interessiert es«, erwiderte Spence. »Es ist noch zu früh, um dir dabei zu helfen, seine Leiche zu vergraben.«

Sie lachte auf. Es war kein Geheimnis, dass sie und Archer nicht die besten Freunde waren. Das Problem mit Archer war, dass er dachte, die Welt, sie selbst eingeschlossen, drehe sich nur um ihn.

Aber ihre Welt drehte sich nicht um ihn. Wenn überhaupt, dann nur um sie selbst. »Wenn jeder einfach nur seinen Job machen und mir aus dem Weg gehen würde …«, sagte sie, verstummte aber, weil Spence ihr ohnehin nicht mehr zuhörte. Stattdessen starrte er aus dem Fenster, und auf einmal war jeder Muskel seines drahtigen Körpers angespannt. Er winkte sie zu sich heran, damit sie sehen konnte, was seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Eine Frau verließ gerade das Café unten, und Spence fixierte sie mit seinem Blick. Es war seine Ex-Freundin, die ihr Möglichstes getan hatte, um ihm das Herz herauszureißen.

»Soll ich ihr Hausverbot erteilen?«, fragte Elle. »Ich könnte auch dafür sorgen, dass sie wegen irgendeines Verbrechens angeklagt wird.« Sie machte natürlich nur Witze. Oder zumindest größtenteils.

»Du musst dich nicht auch noch um meine verdammten Dates kümmern.«

Wenn man bedachte, dass er mehrere Millionen schwer war und wie übel ihm mitgespielt worden war, wären ein paar Nachforschungen über seine Dates in der Tat besser, aber Elle wollte nicht mit ihm streiten. Mit Spence zu diskutieren, war, wie eine Wand anzuschreien. Nichtsdestotrotz hatte er sich seit der Trennung von seiner Ex-Freundin mit keiner anderen Frau mehr getroffen, und das war inzwischen Monate her. Es tat ihr im Herzen weh, wie eingeschüchtert er jetzt war.

»Hey, nur für den Fall, dass du das noch nicht bemerkt hast: Heiße, superintelligente Nerds sind gerade ziemlich angesagt. Du findest eine Bessere.« Eine viel Bessere …

Er antwortete nicht, und Elle verdrehte die Augen. »Wieso sind eigentlich alle Männer solche Idioten?«

»Weil Frauen keine Gebrauchsanweisung beiliegt.« Er wandte den Blick vom Fenster ab. »Ich muss jetzt los. Keine Toten heute, Elle.«

»Schon klar.«

Spence wartete und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.

Sie seufzte. »Schön. Ich werde Archer nicht umbringen.«

Nachdem er sie allein gelassen hatte, trug sie etwas Lipgloss auf – für sich selbst natürlich, nicht für Archer – und verließ ihr Büro. Langsam ging sie den Flur hinunter. Sie liebte dieses Gebäude und konnte sich auch nach all der Zeit nicht an der einzigartigen Architektur sattsehen. Die verzierten Backsteinwände, die offen liegenden Stahlträger, die riesigen Panoramafenster auf jeder Etage. Und natürlich der gepflasterte Hof mit dem riesigen Brunnen, zu dem abergläubische Trottel aus ganz San Francisco strömten, um ihr Geld hineinzuwerfen und sich etwas zu wünschen.

Ihr Büro befand sich im zweiten Stock am nördlichen Ende des Gebäudes. An Tagen mit klarem Himmel konnte sie bis zum Marina Green Park und der Bucht sehen und mit etwas Glück sogar noch ein winziges Stückchen der Golden Gate Bridge erkennen.

Sie würde es zwar nie zugeben, aber sogar nach einem Jahr fand sie es noch aufregend, mitten im Herzen der Stadt zu wohnen. Obwohl sie nicht weit von hier entfernt aufgewachsen war, war es doch eine ganz andere Welt gewesen. Und gesellschaftlich mindestens zehn Stufen weiter unten.

Es war noch immer früh am Morgen, sodass ihr im Gebäude kaum jemand begegnete. Als sie an einem Fahrstuhl vorbeiging, öffneten sich die Türen, und eine der Haushälterinnen schob einen mit Putzmitteln beladenen Rollwagen heraus.

»Hallo, Schätzchen«, sagte Trudy mit einer Stimme, die Zeugin von drei Jahrzehnten Zigarettenkonsums war. »Brauchst du irgendetwas?«

»Nein, alles bestens.« Das war natürlich gelogen, aber sosehr sie Trudy auch mochte, sie könnte nicht einmal dann etwas für sich behalten, wenn ihr Leben davon abhinge. »Ich genieße nur den wundervollen Morgen«, erklärte sie und nippte an ihrem Tee.

»Oh, wie schade«, entgegnete Trudy. »Ich dachte, dass Sie vielleicht nach diesem heißen Typen mit dem beachtlichen Gerät suchen, der diese Sicherheitsfirma hat.«

Beinahe wäre Elle am Tee erstickt. »Beachtliches Gerät?«

»Tja, ich bin alt, nicht tot.« Trudy zwinkerte ihr kurz zu und schob dann ihren Rollwagen den Gang hinunter.

Es stimmte schon, Archer war geradezu unverschämt heiß – nicht dass sie das irgendwie kümmerte. Mit »heiß« konnte sie nichts anfangen. Mittlerweile suchte sie eher nach den Dingen, die ihr für den größten Teil ihres Lebens gefehlt hatten – Sicherheit, Geborgenheit … Beständigkeit. Drei Dinge, die selten in einem Atemzug mit Archer Hunt genannt wurden.

Sie hatte das Ende des Ganges erreicht und stand vor einer Tür, auf der ein dezenter Schriftzug verkündete: HUNT ERMITTLUNGEN

Der Erfolg der Firma basierte einzig und allein auf Archers Reputation. Werbung oder Marketing waren überflüssig. Die Männer, die für ihn arbeiteten, lösten im Grunde Probleme aller Art, sie waren unabhängige Angestellte, die sich nicht zwangsläufig den gleichen Einschränkungen unterwarfen wie die Behörden. Was Archer ziemlich gut passte. Regeln und Einschränkungen waren nie so wirklich sein Ding gewesen.

Elle öffnete die Tür und betrat den Empfangsbereich, der viel größer war als ihr eigener. Der Raum wurde von klaren, maskulinen Linien, ausladenden Möbeln und viel freier Fläche bestimmt. Eine gläserne Wand trennte den Empfangsbereich von den Büroräumen im Inneren.

Der Tisch war leer. Es war wohl noch zu früh für Mollie, die Empfangsdame. Nicht aber für die anderen Angestellten. Durch die gläserne Wand konnte sie in eins der Büros spähen und sehen, wie eine Gruppe von fünf Männern durch einen separaten Eingang hereinkam. Offensichtlich kehrten sie gerade von einem Einsatz der etwas riskanteren Art zurück, denn sie waren ausgerüstet wie Mitglieder einer Spezialeinheit.

Elle hielt inne. Sogar ihr Herzschlag setzte einen Moment aus, denn – heilige Mutter Gottes – der Trupp stand da und legte nach und nach Waffen und Kleidung ab. Alles, was sie sah, war eine Masse von muskelbepackten Körpern in sämtlichen Hauttönen, die vor Schweiß glänzten und von zahlreichen Tattoos verziert wurden.

Sie konnte den Blick nicht lösen; um genau zu sein, konnte sie nicht einmal reden, denn ihre Kinnlade war gefühlt bis auf den Boden hinuntergesackt. Ihre Füße nutzten den Umstand, dass ihr Gehirn wie eingefroren war, und bewegten sich eigenmächtig in Richtung Glastür, wo Elle am liebsten das Gesicht gegen die Scheibe gepresst hätte.

Glücklicherweise betätigte jemand den elektrischen Türöffner, bevor das geschah. Die Männer kannten sie. Es war schließlich ein Teil von Elles Job, eng mit der Sicherheitsfirma zusammenzuarbeiten, und das war auch ihr größtes und ärgstes Problem.

Eng mit Archer Hunt zusammenzuarbeiten, war auf viele, viele Arten gefährlich, nicht zuletzt wegen ihrer gemeinsamen Vorgeschichte, die sie nur mühsam aus ihrem Bewusstsein verdrängte.

Ihr schlugen verschiedene Varianten von »Hey, Elle« und »Guten Morgen« entgegen, und dann war sie auf einmal allein mit dem furchtlosen Anführer der Gruppe.

Archer.

Es war schon eine ganze Weile her, dass die beiden allein in einem Raum gewesen waren. Und das war kein Zufall, denn Elle hatte immer versucht, genau das zu vermeiden, und gemessen daran, wie erfolgreich sie damit gewesen war, hatte sie den Verdacht, dass er dasselbe getan hatte.

Archer erwiderte ihren Blick. Diese unerwartete Entwicklung schien ihn nicht besonders zu stören. Er hatte bisher weder seine Waffen noch sein Shirt abgelegt, sodass er in voller Kampfausrüstung vor ihr stand, eine Glock an einer Hüfte und einen Taser an der anderen. Eine weitere Pistole hatte er sich ans Bein geschnallt, und der Griff eines Klappmessers ragte aus einer seiner Taschen. Das alles in Verbindung mit der schusssicheren Weste und den Handschellen an seinem Gürtel verriet ihr, dass er gerade nicht in Disneyland gewesen war.

Irgendwie schaffte sie es, gleichzeitig verstört und erregt zu sein. Aber wenn sie im Leben eins gelernt hatte, dann, wie sie ihre Gedanken und Empfindungen verbergen konnte. Also riss sie sich zusammen und hob ihre Kinnlade wieder vom Boden auf. Ihre Teetasse stellte sie auf dem Tisch ab.

Der Anflug eines Grinsens schlich sich auf Archers Gesicht, so als hätte er ihre Gedanken gelesen. Aber er sagte kein Wort und schien völlig zufrieden damit, einfach dazustehen und darauf zu warten, dass sie den ersten Schritt machte. Und sie wusste aus Erfahrung, dass sie das früher oder später tun würde.

Deshalb schluckte sie schließlich ihren Stolz hinunter. »Langer Morgen?«

»Lange Nacht«, entgegnete er.

Mit ihm zu reden, war aus einer Vielzahl von Gründen unfassbar frustrierend, nicht zuletzt wegen seiner Anziehungskraft auf sie, die eine unangenehme Kombination mit dem Umstand bildete, dass sie ihm ihr Leben verdankte.

Unbeeindruckt von all dem begann Archer, seine Waffen zu entladen. Die meisten seiner Aufträge waren Routinejobs: Ermittlungen zu Versicherungs- und Betrugsfällen, dazu einige profitable Wachschutzverträge und hier und da mal ein paar Hintergrundrecherchen. Aber einige fielen auch aus der Routine heraus. Kopfgeldjagden und Regierungsaufträge, immer mit dem Risiko verbunden, verletzt oder gar getötet zu werden.

Im Vergleich dazu war seine Arbeit hier im Gebäude ungefährlich und harmlos, und Elle wusste, dass er es nur Spence zuliebe tat.

»Wir haben ein Problem«, setzte sie an.

Er hob eine Braue, womit er genauso viel ausdrücken konnte wie andere nur in stundenlangen Befragungen. Elle verdrehte die Augen und ertappte sich dabei, wie sie instinktiv eine defensive Haltung einnahm und die Hände in die Hüften stemmte. »Die Notausgang-Schilder …«

»Schon erledigt«, fiel er ihr ins Wort.

»Okay, aber Mr. Nottingham …«

»Auch erledigt.«

Sie atmete tief ein und versuchte, ruhig zu bleiben. Es war nicht leicht, ihm direkt in die Augen zu sehen, weil er so viel größer war als sie. Mit über einem Meter siebzig war sie selbst nicht gerade klein, dennoch reichte sie ihm kaum bis zur Schulter. Sie hasste es, dass er bei ihren Streits diesen Größenvorteil hatte. Und das hier war ein Streit.

»Also, was ist passiert?«, wollte Elle wissen. »Wieso sind alle Lichter auf einmal ausgegangen?«

»Eichhörnchen.«

»Wie bitte?«, fragte sie scharf.

Ihr Tonfall schien Archer nicht zu gefallen, denn seine Augen, deren Farbe ein schwer zu erfassender Mix aus Haselnussbraun und einem Hauch von Grün war, durchbohrten sie geradezu, und sie sah, dass er dem Tod ins Auge geblickt und ihn mit bloßen Händen abgewehrt hatte. Ihr war klar, dass diese Aura der Gefahr, die ihn umgab, das andere Geschlecht anzog wie Motten das Licht, aber in diesem Moment wäre sie ihm am liebsten mit voller Kraft auf die riesigen Stiefel getreten.

Als er weiterhin nicht antwortete, hatte sie genug von seinem Machogehabe und stieß ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust. Sie gab keinen Millimeter nach. Dämlicher Muskelprotz!

»Jetzt hör mal zu«, begann sie. »Ich habe aufgebrachte Bewohner, einen Mann, der im Krankenhaus liegt, und einen von dir unterschriebenen Vertrag, der die Sicherheit der Menschen in diesem Gebäude garantiert. Deshalb musst du jetzt ein bisschen mehr tun, als einfach nur groß und bedrohlich dazustehen, Archer, und mir, verdammt noch mal, erklären, was los ist. Wenn’s geht, mit mehr als einem Wort.«

»Du solltest etwas mehr achtgeben, wie du mit mir sprichst, Elle«, erwiderte er.

Dieser Mann war einfach durch und durch stur. Und es gefiel ihm nicht, sich vor irgendjemandem rechtfertigen zu müssen, das wusste sie. Aber sie wusste auch, dass der einzige Weg, ihm beizukommen, war, nicht nachzugeben. Für Feiglinge hatte er nichts übrig.

»Schön«, sagte sie. »Würdest du mir bitte sagen, was, verdammt noch mal, los ist?«

Jetzt wirkte er leicht belustigt, vermutlich, weil sie die Einzige war, die es je gewagt hatte, ihn anzufassen. »Letzten Herbst habe ich dir gesagt, dass sich auf dem Dach eine Eichhörnchenkolonie angesiedelt hat«, antwortete er. »Ich habe gesagt, dass du jemanden engagieren musst, der die Löcher verschließt, die die Spechte im Jahr zuvor verursacht haben, wenn du Probleme vermeiden willst. Du hast mir versichert, dass du dich darum gekümmert hast.«

»Weil die Gärtner mir gesagt haben, dass sie es erledigt haben.«

Er zuckte mit seinen breiten Schultern. »Entweder haben sie dich angelogen, oder sie haben es nicht richtig gemacht. Eine komplette Eichhörnchenkolonie ist in die Wände eingezogen und hat eine Party gefeiert. Letzte Nacht haben sie es dann bis in den Verteilerraum geschafft, wo sie ein paar Kabel durchgenagt haben.«

Tja, Mist. Kein Wunder, dass er sauer war. Er hatte recht. Das hier ging nicht auf seine Kappe. Es ging auf ihre.

»Was ist jetzt mit den Eichhörnchen?«

»Wahrscheinlich tot in den Wänden.«

Sie blinzelte. »Willst du damit sagen, dass ich einen Haufen kleiner Eichhörnchen umgebracht habe?«

Er grinste sie schief an. »Was glaubst du denn, was die Gärtner gemacht hätten? Sie in den Urlaub auf die Bahamas geschickt?«

»Na gut«, sagte sie und atmete tief durch. »Danke für die Erklärung.« Dann drehte sie sich um, um zu gehen.

Doch in diesem Moment schlossen sich seine Finger um ihren Ellbogen und lösten alle möglichen, ausnahmslos unerwünschten, Gefühle in ihr aus, als er sie wieder zu sich herumdrehte.

»Was?«, fragte Elle.

»Ich warte noch auf meine Entschuldigung.«

»Klar«, fing sie in versöhnlichem Tonfall an. »Die bekommst du, wenn die Hölle zufriert.«

Sie hob trotzig das Kinn und war dankbar für ihre hohen Absätze, durch die sie beinahe, wenn auch nicht ganz, auf Augenhöhe mit ihm war. »Ich bin für dieses Gebäude zuständig, Archer, was bedeutet, dass ich für alles zuständig bin, was hier drinnen passiert. Und auch, dass ich für jeden zuständig bin, der für dieses Gebäude arbeitet.«

Belustigt legte er den Kopf schräg. »Du denkst also, du kannst mein Boss sein, Elle?«, fragte er ruhig.

»Ich bin dein Boss.«

Jetzt grinste er über das ganze Gesicht, und ihr stockte der Atem. Dieses verdammte sexy Lächeln.

»Und wenn du morgen nicht ziemlich lustig gehen willst, dann lässt du besser sofort meinen Arm los.«

Das war nichts weiter als ein Bluff, und sie beide wussten es. Sie arbeitete hier erst seit einem Jahr und war mehr als überrascht gewesen, ihn ebenfalls hier vorzufinden. Eine unangenehme Überraschung. Sie hatten davor jahrelang keinen Kontakt gehabt, aber sie kannte ihn immer noch gut genug, um zu wissen, dass niemand es mit ihm aufnehmen konnte.

Er war blitzschnell und wendig, dazu noch unglaublich stark. Aber das war es nicht, was ihn für sie so gefährlich machte. Es war sein messerscharfer Verstand und seine Bereitschaft, alles Nötige für das zu tun, was er für richtig hielt. Und dann war da noch das größte Problem: dass sie sich durch ihn lebendig fühlte wie nie zuvor.

Er tat wie geheißen und trat von ihr zurück, nicht jedoch, ohne vorher lang genug zu zögern, um deutlich zu machen, wer in dieser Situation die Kontrolle hatte. Und das war nicht sie.

Niemand war so eindrucksvoll wie Archer, vermutlich könnte er im Koma liegen und trotzdem noch jede einzelne Person im Raum einschüchtern. Obwohl er nur aus Muskeln zu bestehen schien, wirkte er nicht aufgepumpt, sondern schlank und geschmeidig. Seine Haut hatte einen Karamellton, der je nach Jahreszeit variierte und es schwer machte, seine Herkunft zu bestimmen.

Und ihn verdammt sexy aussehen ließ.

Es war in seinem Job wahrscheinlich ziemlich nützlich, sich in so gut wie jede Situation einfügen zu können, vermutete sie. Aber ihr gegenüber war er vorsichtig. Distanziert. Trotzdem war ihr nicht entgangen, wie er sie manchmal ansah. Oder wie seine Hand oft ein wenig länger auf ihrem Rücken verweilte, wenn er sie beispielsweise durch eine Tür geleitete. Es lag immer ein überraschendes und rätselhaftes Verlangen in seinen Blicken und Berührungen.

Vielleicht war das alles aber auch nur Wunschdenken.

Nicht dass das einen Unterschied gemacht hätte, schließlich war er in ihrer Gegenwart stets zurückhaltend. Das Problem lag darin, dass sie dieses Verlangen spürte. Das Verlangen danach, von ihm als Frau gesehen zu werden, die dazu in der Lage war, an seiner Seite zu stehen. Aber nach all dem, was zwischen ihnen passiert war, wusste sie, dass das niemals passieren würde. Sie drehte sich um und versuchte zu ignorieren, dass das Treffen mit ihm ihren Körper wie immer in absolute Alarmbereitschaft versetzt hatte und jede Zelle unter der Oberfläche zu vibrieren schien.

Sie hätte ihm einfach eine E-Mail schreiben sollen.

Er wartete, bis sie die Tür erreicht hatte, und begann dann zu sprechen. »Ich habe einen Job, bei dem ich deine Hilfe brauche.«

»Nein«, antwortete sie.

Wortlos sah er sie an.

Ihr Job war fordernd genug und nahm ohnehin schon den größten Teil des Tages ein. Den Rest ihrer Zeit investierte sie in Online-Kurse, durch die sie endlich ihren lang ersehnten Abschluss in Rechnungswesen bekommen wollte. Eines Tages würde sie ihre eigene Wirtschaftsprüfungsfirma leiten und genauso knallhart sein wie Archer, nur auf eine andere Weise. Sie würde knallhart, Respekt einflößend und zuverlässig sein – und das alles in umwerfenden Schuhen. Aber bis dahin arbeitete sie sich halb tot, um genug Geld zum Überleben zu verdienen. Denn das Online-College war teuer, verdammt teuer sogar. Genau wie die Mieten in San Francisco. Und nicht zu vergessen die umwerfenden Schuhe. Dazu kam noch, dass gute Jobs nicht gerade an Bäumen wuchsen. Nach ihrem letzten Job, der ein absoluter Albtraum gewesen war, war sie froh, den Job als Hauptverwalterin bekommen zu haben. Und obwohl sie sehr anständig bezahlt wurde, trieben die Collegegebühren sie in den Ruin. Um sich einigermaßen über Wasser zu halten, übernahm sie ab und zu einen Job für Archer, wenn er eine Frau in seinem Team brauchte. Meistens diente sie als Ablenkung, aber manchmal benötigte er auch ihre anderen Fähigkeiten. Fähigkeiten, die sie sich vor einer gefühlten Ewigkeit angeeignet hatte.

»Das wird kein leichter Job«, sagte er. Dieser Mistkerl – er wusste genau, wie er ihr Interesse wecken konnte. »Wir brauchen eine Identifizierung, und falls das Ziel unser Mann ist, muss ihn jemand ablenken, während wir uns seinen Laptop … ausleihen. Den Laptop, den er für keine Sekunde aus den Augen lässt.«

Hmm. Das klang wirklich nicht leicht. »Ich schätze mal, er ist nicht die Art Mensch, zu dem man einfach hingehen und nach dem Namen fragen kann«, vermutete sie.

Archer lächelte leicht. »Sagen wir mal, ich bin niemand, für den er sich besonders interessieren würde.«

»Nicht? Für wen würde er sich denn interessieren?«

»Eine heiße Blondine mit endlos langen Beinen, am besten in einem kurzen Kleid.«

Sie spürte die Hitze in sich aufsteigen. Verdammt.

»Die dazu noch Finger hat, um deren Geschick sie jeder Taschendieb beneiden würde«, fügte er hinzu.

Sie lachte auf – Gott, gab es etwas Besseres als einen Mann, der einen in- und auswendig kannte? – und ging dann in Richtung Empfangsbereich. Genau in dem Moment, in dem sie nach der Klinke griff, schwang die Tür auf, und jemand rannte geradewegs in sie hinein.

Der Mann fing sie auf und bewahrte sie davor, zu Boden zu gehen. »Verzeihen Sie bitte! Geht es Ihnen gut?«

»Alles in Ordnung«, sagte sie. Der Mann war um die dreißig, etwa so groß wie sie und trug einen auffallend schönen Anzug. Er hatte auch ein sehr schönes, freundliches Lächeln, und in seinen Augen glaubte sie ein durchaus gesteigertes Interesse zu erkennen.

»Mike Penham«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. »Ich bin ein Kunde von Archer.«

»Elle Wheaton.« Sie lächelte ihn an. »Keine Kundin.«

»Ah, eine geheimnisvolle Frau«, erwiderte er und grinste.

»Nein, nur eine sehr beschäftigte.« Sie warf Archer noch einen letzten Blick zu, was sich als Fehler herausstellte, denn seine Augen fixierten sie wie immer mit einem undefinierbaren Ausdruck und brachten ihr dämliches Herz dazu, dämliche Purzelbäume zu schlagen. Als er zu ihnen in den Empfangsbereich kam, bewegte er sich trotz seiner schweren Kampfausrüstung geschmeidig wie eine Raubkatze.

»Mike«, begrüßte er seinen Kunden. »Gehen wir nach hinten.« An Elle gerichtet fuhr er fort: »Dann heute Abend?«

Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, wie sie Nein zu ihm sagen konnte. Also nickte sie, und für einen Augenblick fiel die regungslose Maske von Archers Gesicht ab, und ein warmer Glanz trat in seine braungrünen Augen, als er ebenfalls nickte.

Dann schloss sie die Tür zwischen den beiden.

2. Kapitel

#MitAbsichtAusVersehen

»Verdammt, die war ja heiß! Ist sie noch zu haben?«

Archer hörte zwar Mikes Frage, konnte den Blick aber nicht von Elle abwenden, während sie sein Büro verließ. »Nein.«

Mit einer dramatischen Geste fuhr Mike sich mit der Hand an die Brust. »Mitten ins Herz, Mann. Du hast mich mitten ins Herz getroffen. Die hat echt Feuer. Das liebe ich bei einer Frau.«

Ja, Elle hatte Feuer. Sie war wie die Sonne. Komm ihr zu nah – und du verbrennst dich … Mit einem nachdenklichen Kopfschütteln drehte Archer sich um und ging auf sein privates Büro zu.

»Mal im Ernst«, fing Mike, der ihm folgte, erneut an. »Ich kann es doch mal bei ihr versuchen, oder?«

»Nein.«

Mike lachte. Er war zwar ein guter Kunde und brachte eine Menge Geld ein, aber das bedeutete nicht, dass Archer ihn in Elles Nähe haben wollte.

Sicher, mit der verängstigten, einsamen und hilflosen 16-Jährigen, die er damals als Anfänger-Cop auf der Straße gefunden hatte, hatte sie nichts mehr gemein. Sie war weder verängstigt noch einsam, noch hilflos, sondern selbstsicher und eisenhart.

Aber sie war nicht »zu haben«. Ganz und gar nicht.

Nicht dass sie mit ihm zusammen war.

Er wollte sie. Mehr als alles andere. Aber sie hatte verflucht hart dafür gearbeitet, um dorthin zu kommen, wo sie heute war, und er wusste, dass er sie auf ewig an die lange vergangenen schlechten Zeiten erinnern würde. Deshalb würde er auf keinen Fall riskieren, dass sie durch ihn wieder abrutschte, oder ihr anderweitig schaden. Sie hatte auch ohne ihn schon genug durchgemacht. Also waren sie einfach nur Freunde. Wobei es zutreffender war zu sagen, dass sie vorgaben, Freunde zu sein.

Er betrat sein Büro und bedeutete Mike, sich zu setzen. »In deiner Nachricht stand, dass du ein Sicherheitsproblem hast.«

»Ein ziemlich großes«, erklärte er. »Ich glaube, dass unsere Technikabteilung ein Leck hat.«

»Wie kommst du darauf?«

»Wir arbeiten an zwei neuen Hightech-Kommunikationsgeräten, von denen noch niemand weiß. Es war geplant, die beiden Produkte einem exklusiven, vertraulichen Kunden zu präsentieren.«

»Wie exklusiv?«, fragte Archer. »Und wie vertraulich?«

Mike presste die Lippen aufeinander. »Wie gesagt, äußerst exklusiv und äußerst vertraulich.«

Also die Regierung, folgerte Archer. »Lass mich raten, jemand ist euch zuvorgekommen?«

»Unser größter Konkurrent«, bestätigte Mike grimmig. »Aber es ist unmöglich, dass die schneller waren als wir. Jemand muss ihnen technische Details verraten haben. Jemand aus unserem Team.«

»Das ist übel.«

»Allerdings. Und jetzt brauche ich dich, damit du diese Person findest. Machst du das?«

»Mache ich, aber …«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Mike ihn. »Keine Garantie, bla-bla. Ich kenne den Vortrag, Hunt, aber bis jetzt hast du es noch immer geschafft. Und ich zahle dir einen Haufen Kohle, damit du es auch dieses Mal wieder schaffst.«

Archer nickte knapp. »Ist erledigt.«

Nachdem Mike gegangen war, begann er mit den ersten Vorbereitungen für den Job, bevor er sich dem am Abend anstehenden Einsatz zuwandte.

Eine Versicherungsgesellschaft hatte ihn engagiert, nachdem sich einige ihrer Kunden darüber beschwert hatten, für Premium-Dienste bezahlt, diese aber nie erhalten zu haben. Es stellte sich heraus, dass die Versicherung diese Dienste nicht einmal anbot, geschweige denn Geld dafür bekommen hatte.

Auftritt »Hunt Ermittlungen«. Archer hatte ein wenig nachgeforscht und war auf einen freiberuflichen Versicherungsvertreter gestoßen, der einigen ausgesuchten – mit anderen Worten reichen – Kunden Sonderleistungen vorgestellt hatte. Alles, was sie dafür tun mussten, war, die zusätzlichen Gebühren zu zahlen. Diese Gebühren flossen dann geradewegs in die Tasche des Vertreters – natürlich ohne dass irgendwelche Leistungen dafür erbracht wurden.

Dank Joe, Archers Computerspezialisten, hatten sie den Mann ausfindig gemacht, der zahlreiche Decknamen hatte und sich momentan als Chuck Smithson ausgab. Weitere Untersuchungen hatten ergeben, dass Chuck ein Einzelgänger war und niemandem traute. Er zog von Hotelzimmer zu Hotelzimmer und trug zu jeder Zeit eine Umhängetasche bei sich, in der sich vermutlich sein Laptop befand. Durch sein nahezu paranoides Verhalten und dadurch, dass seine Daten nirgendwo gespeichert waren, wo sie sich hineinhacken konnten, waren Archer und sein Team gezwungen, sich den Laptop zu beschaffen, wenn sie Beweise haben wollten.

Während ihrer Recherche hatten sie ein weiteres Detail über den Hochstapler Chuck herausgefunden: Er trieb sich gern auf Online-Dating-Seiten herum. Nachdem Elle ihn per E-Mail informiert hatte, dass sie den Job übernehmen würde, hatte Archer umgehend ein Fake-Profil für sie erstellt. Chuck schluckte den Köder und ging jetzt davon aus, sich heute Abend mit »Candy Cunningham« zu treffen.

Alles, was Elle würde tun müssen, war, Chucks Identität zu bestätigen und ihn lange genug abzulenken, damit die anderen einen Blick in seine Tasche werfen und seine Festplatte kopieren konnten. Das wären zwar keine Beweise, die vor Gericht Bestand hätten, aber die Versicherungsgesellschaft wollte ohnehin nicht so weit gehen – nicht zuletzt, um die peinlichen Zwischenfälle nicht in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Sie wollte nur ihren Verdacht bestätigt wissen, bevor sie ihre nächsten Schritte plante.

Archer rief sein Team zusammen und wartete, während einer nach dem anderen langsam eintraf, frisch geduscht und mit dem Frühstück in den Händen.

Max war der Anführer der Truppe, und seitdem er vor zwei Monaten seine Freundin Rory kennengelernt hatte – ein persönlicher Rekord, was die Dauer einer Beziehung anging –, wirkte er unbestreitbar lebendiger und energiegeladener. Er saß am anderen Ende des Konferenztisches, neben ihm sein Dobermann Carl. Der Hund war normalerweise ein enormer Zugewinn für das Team, aber im Moment drehten sich seine Gedanken um nichts anderes als den riesigen Donut in der Hand seines Herrchens.

Max nahm einen gewaltigen Bissen von besagtem Donut. »Es ist alles vorbereitet für heute Abend, Boss«, sagte er zu Archer. »Wir überwachen die Ein- und Ausgänge, und Finn hält auch die Augen offen.«

Finn war der Besitzer und Barkeeper des »O’Riley’s«, einem Pub im Erdgeschoss des Gebäudes, in dem die Aktion über die Bühne gehen sollte. Er war zufälligerweise auch ein guter Freund.

Archer vermied es normalerweise, eine Mission so nah an seiner Basis durchzuführen, aber wenn Elle involviert war, ging er kein Risiko ein.

Niemals.

Ihre Fähigkeit, einen Mann vollkommen um den Finger zu wickeln, machte sie für das Team unglaublich wertvoll. Auch er selbst war schon mehr als einmal Opfer dieser Fähigkeit geworden, und sie hatte ihm damit schon unzählige Male Informationen beschafft, an die er sonst nicht herangekommen wäre, ohne ein kleines Blutbad zu veranstalten.

Sie behauptete zwar, dass es ihr bei diesen Jobs nur ums Geld ging, aber er wusste, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Sicher ging es ihr auch ums Geld, wie jedem, der ohne Geld aufgewachsen war, aber das war nicht der Hauptgrund. Sie arbeitete für ihn, wenn er sie darum bat, weil sie dachte, dass sie ihm etwas schuldig war.

Dabei war es in Wirklichkeit er, der ihr etwas schuldete.

Inzwischen war auch der Rest des Teams eingetroffen und machte es sich bequem. Joe, der nicht nur der Computerspezialist, sondern auch seine rechte Hand war, und dann waren da noch Lucas, Trev und Reyes. Das Besprechungszimmer war ziemlich groß, aber das waren die Männer auch, und mit jedem, der dazukam, schien es enger zu werden.

»Wieso riechst du so nach Speck und Sirup?«, wollte Joe von Max wissen.

»Weil ich einen Speck-und-Sirup-Donut esse«, antwortete der.

»Im Ernst?«

»Im Ernst.«

Joes Magen knurrte laut genug, dass es von den Wänden zurückhallte.

Mit einem resignierten Seufzen schubste Max eine weiße Papiertüte zu ihm hinüber. »Du musst aber mit Carl teilen – ich hab ihm auch einen versprochen.«

Carl bellte kurz als Bestätigung.

Die anderen Teammitglieder begannen lautstark zu protestieren.

»Warum kriege ich nichts?«

»Scheiße Mann, ich geb dir sogar Geld dafür.«

Doch Joe umklammerte die Tüte unnachgiebig und wehrte alle Angriffe der anderen ab. Als er sich in Sicherheit wägte, zog er den Donut aus der Tüte, brach ein Stück ab und warf es zu Carl hinüber, der es mit einem lauten Schnappen seiner gewaltigen Kiefer in der Luft fing.

»Junge«, tadelte Max seinen Hund. »Du hast das ja nicht mal richtig genossen.«

Carl leckte sich die Lefzen, wendete den Blick aber für keine Sekunde von seinem neuen besten Freund Joe ab.

Dieser biss in den Donut, lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und gab ein genussvolles Stöhnen von sich.

»Sollen wir dich und den Donut vielleicht kurz alleine lassen?«, fragte Archer trocken.

»Ja, bitte. Mein Gott

»Oder?«, grinste Max. »Ich will diesen Donut heiraten und einen Haufen Kinder mit ihm haben.«

Daraufhin entstand eine sehr bild- und lebhafte Diskussion darüber, wie das möglich wäre, bis Archer schließlich seinen Laptop aufklappte. Sofort erstarb das Gelächter, und alle wurden still.

Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

Etwa eine halbe Stunde, bevor es losgehen sollte, hörte Archer, wie sich die Tür zum Empfangsbereich öffnete, und dann Stimmen.

Mollie, seine Empfangsdame, begrüßte jemanden.

Wenige Sekunden später das Klicken von hohen Absätzen, die seinem Büro immer näher kamen.

Mollie trug hohe Absätze. Ebenso einige seiner weiblichen Klienten. Aber dieses Klicken kannte er zu gut. Auch ohne die Energie, die in jedem Schritt mitschwang, hätte er Elles fließenden, selbstsicheren Gang wiedererkannt.

Eine SMS von Mollie kündigte Elle genau in dem Moment an, in dem sie höchstpersönlich an seine Tür klopfte. Sie stand im Türrahmen und sah ihn schweigend an.

Sie sah … atemberaubend aus. So war Elle, sie machte keine halben Sachen. Archer hatte in seinem Leben schon viele Frauen gehabt, und er wusste, wie viel Zeit und Arbeit sie investierten, um so auszusehen. Daher erstaunte es ihn umso mehr, wie Elle das jeden einzelnen Tag schaffte. Egal ob im Job oder in ihrer Freizeit, sie war zu jeder Zeit von Kopf bis Fuß durchgestylt, und keine Strähne ihres blonden Haares saß nicht dort, wo sie hingehörte. Tatsächlich fiel ihm nur ein einziger Zeitpunkt ein, zu dem sie nicht voll auf der Höhe gewesen war, und sie wäre ihm ganz sicher dankbar, nicht an diese schicksalhafte Nacht vor langer, langer Zeit erinnert zu werden.

Heute Morgen hatte sie noch einen knallroten Hosenanzug getragen, der selbst zu dieser Uhrzeit schon unbedingten Siegeswillen ausgestrahlt hatte. Jetzt hatte sie das berühmt-berüchtigte kleine Schwarze an. Mit Betonung auf klein. Ihre Schuhe waren mit kleinen Schleifchen verziert und ihre Absätze so hoch, dass für sie die Gesetze der Schwerkraft nicht zu gelten schienen. Sie sah aus wie eine Frau, die Männer verschlang, ohne mit der Wimper zu zucken.

Archer stockte der Atem, als er langsam aus seinem Stuhl aufstand und sie sich einmal um die eigene Achse drehte. »Heilige Scheiße, Elle.«

»›Heilige Scheiße‹ war eigentlich nicht mein Ziel. Ich wollte eher so in die Richtung ›sexy-elegant‹.«

»Ja, das auch«, erwiderte er. »Aber du bist auch die volle Ladung ›heilige Scheiße‹. Und dazu noch ein wandelnder Herzstillstand. Quasi das komplette Paket.«

»Gut. Ich hatte schon Angst, dass ich ein bisschen zu sehr aussehen würde, als gehörte ich in die Post Street.«

Er musterte sie noch einmal von oben bis unten und genoss den Anblick mehr, als ihm lieb war. »Also mir gefällt Post Street.«

»Dann kann ich dir nur die Ecke Post Street und ›Leck mich‹ empfehlen«, antwortete Elle und verdrehte die Augen.

Grinsend ging Archer zu ihr hinüber. Ihr Duft war überwältigend, und er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um sein Gesicht nicht in ihrem Haar zu vergraben und ihren Duft in sich aufzusaugen. Doch er riss sich zusammen und reichte ihr ein Mini-Headset. »Benutz das. Wir stehen ständig in Verbindung und haben dich immer im Blick. Die Jungs sind schon vor Ort. Unsere Zielperson ist nicht unbedingt bekannt dafür, besonders gefährlich zu sein, aber …«

»Du willst bei mir kein Risiko eingehen, jajaja «, unterbrach sie ihn ungeduldig und nahm ihm das Headset aus der Hand. »Die Leier habe ich schon zig Mal gehört. Ich bin kein empfindliches Mauerblümchen, Archer. Wenn ich das wäre, dann wäre ich nicht hier – dann würdest du mich nicht mitnehmen.«

All das stimmte. Trotzdem könnte er eher aufhören zu atmen, als seinen Beschützerinstinkt in Bezug auf Elle zu unterdrücken. So war es schon immer gewesen.

Sie setzte das Headset ein und nickte knapp.

»Okay«, setzte er an. »Also …«

»Ich habe die Akte gelesen, die du mir geschickt hast«, unterbrach sie ihn erneut. »Ich bin Candy Cunningham, die Chuck im Internet gefunden hat und für seine Eroberung des heutigen Tages hält. Ich gehe rein, identifiziere ihn, lenke ihn so lange ab, bis ihr euer Ding mit seinem Laptop durchgezogen habt, den er hoffentlich dabeihat, und verschwinde dann wieder.«

»Und zwar schnell, Elle. Ich will nicht, dass er merkt, dass du …«

»Nicht Candy bist«, sagte sie. »Ich glaube, ich weiß inzwischen ganz gut, wie das hier geht. Können wir loslegen, oder musst du dir noch die Nase pudern?«

Über sein Headset hörte Archer das Kichern und Schnauben seiner Männer. Das Mikro war schon eingeschaltet gewesen. Er machte sich nicht die Mühe, darauf einzugehen. Von seinen Männern erwartete er bedingungslosen Respekt, aber was Elle betraf, gab er sich nicht der Illusion hin, ihr irgendetwas vorschreiben zu können.

Schweigend betraten sie den Fahrstuhl. Elle starrte die Türen an. Archer starrte Elle an. Bei jeder noch so winzigen Bewegung schien ihr eng anliegendes Kleid kurz davor zu sein, zu reißen, und es war ihm schleierhaft, wieso es das nicht tat.

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffneten sich die Fahrstuhltüren. Archer ergriff Elles Hand und wartete, bis sie ihm in die Augen sah. »Du hast fünfzehn Minuten. Dann hast du ihn entweder am Wickel, oder du verschwindest«, sagte er. »Dann gehen wir zu Plan B über.«

»Und der wäre?«

»Das ist einer, für den du keine Rolle spielst.«

»In diesem Outfit braucht sie höchstens eine Minute«, warf Joe über Funk ein. Er hatte schon im Innenhof Stellung bezogen.

»Ich wette, es sind nur fünfzehn Sekunden«, erwiderte Reyes.

»Schluss damit«, wies Archer sie zurecht, und sofort herrschte Ruhe.

Elle schnaubte und ging mit klickernden Absätzen am Brunnen vorbei in Richtung Pub.

Es dauerte einen Augenblick, bis Archer sich von ihrem Anblick losreißen konnte – so ging es ihm viel zu oft – und ihr folgte. Er würde mit ihr zusammen in den Pub gehen und auf ihren sexy Hintern aufpassen.

Das »O’Riley’s« war zur einen Hälfte eine Bar und zur anderen ein Restaurant. Die dunklen, holzgetäfelten Wände verliehen dem Raum authentischen Charme, von der Decke hingen Kronleuchter aus Messing, und die rustikalen Holztische schienen einem ins Ohr zu flüstern: »Komm, setz dich hin, bestell dir etwas Gutes zu essen und einen Schnaps, und sei einfach glücklich.«

Es war nicht besonders schwierig, Elle im Blick zu behalten, während sie zur Bar ging. Sie teilte die Menge vor sich wie Moses das Rote Meer und nahm schließlich direkt neben Chuck Smithson an der Bar Platz. Dann nickte sie kurz dem Barkeeper zu. Finn.

»Kein Alkohol«, flüsterte Archer.

Finn, der ebenfalls ein Headset trug, nickte unauffällig, obwohl sie das alles längst durchgegangen waren. Im Job war Alkohol nie erlaubt.

Geduldig wartete Elle auf ihren Drink und nippte daran, ohne die Zielperson neben sich auch nur eines Blickes zu würdigen.

Chuck war knapp einen Meter siebzig groß und drahtig. Mit seiner zerknitterten Kleidung und der dicken Hornbrille hätte er entweder als Möchtegern-Hipster oder als Harry-Potter-Imitator durchgehen können. Seine Füße reichten nicht bis zum Boden, weswegen er sie um die Beine des Barhockers geschlungen hatte, und zwischen seinen Stiefeln stand seine Umhängetasche. Er tat so, als würde er sich in der Bar umsehen, um Elle anzuschauen, oder vielmehr anzustarren, und richtete sich dann auf, bevor er ihr ein hoffnungsvolles Grinsen zuwarf.

Sie antwortete mit einem zuckersüßen Lächeln, das Archer noch nie zuvor gesehen hatte und das Chuck beinahe von seinem Stuhl fallen ließ.

»Mann, die ist schon heiß«, hörte er Joe über Funk flüstern.

»Du sabberst«, sagte Max.

»Das tun wir doch alle«, warf Lucas ein. »Sie ist ein wandelnder Ständer.«

»Ruhe«, befahl Archer, und sofort kehrte Stille ein.

Als Elle sich zu Chuck hinüberlehnte, sah sie trotz ihres sexy Outfits auf seltsame Art und Weise etwas verklemmt aus. Archer beobachtete sie genau, wohlwissend, dass sie in der Lage war, direkt vor seinen Augen etwas aus Chucks Tasche zu stehlen, ohne dass er es sehen würde.

»Chuck?«, wisperte Elle.

Obwohl auf ihrem Profil auch ein Foto gewesen war, schluckte Chuck heftig und nickte. Seine Augen leuchteten wie die eines Kindes am Weihnachtsmorgen. »Candy?«

Elle biss sich auf die Unterlippe und setzte einen schüchternen Gesichtsausdruck auf. »Würde es dir etwas ausmachen, mir deinen Ausweis zu zeigen? Du glaubst gar nicht, wie viele Durchgeknallte ich so treffe.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwiderte Chuck verständnisvoll. »Bei so einer schönen Frau wie dir.«

Dieser Typ fraß ihr längst aus der Hand. Sie musste sich nicht einmal anstrengen. Archer erwischte sich dabei, wie er bewundernd den Kopf schüttelte. Er liebte es, sie bei der Arbeit zu beobachten, wozu er nicht allzu häufig Gelegenheit hatte.

Sie machte schließlich kein Geheimnis daraus, dass sie ihn nicht besonders mochte. Und wer konnte ihr das verdenken? Er war fest mit ihrer unangenehmen Vergangenheit verbunden. Noch dazu wusste er, dass sie ihn für herrisch und einen Kontrollfreak hielt – was beides der Wahrheit entsprach.

Andererseits war sie die Letzte, die ihm deswegen Vorwürfe machen konnte.

Chuck rutschte von seinem Barhocker hinunter und zog ein Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner Jeans.

Elle, die geistesgegenwärtig genug war, beim Aufstehen ihre High Heels abzustreifen, um Chuck nicht zu sehr zu überragen, schmiegte sich an ihn, um einen Blick auf seinen Ausweis werfen zu können. Ihr Haar fiel dabei in sein Gesicht, und Archer war ziemlich sicher, dass ihre Brust auch seinen Arm berührte.

Chuck blinzelte hektisch, als Elle den Blick hob und ihn mit strahlenden Augen ansah. »Freut mich, dich kennenzulernen, Chuck Smithson.«

»Identität bestätigt«, sagte Max, der ein paar Plätze weiter an der Bar saß und völlig in das Basketballspiel auf dem Fernseher versunken zu sein schien. »Ich bin bereit, einzugreifen.«

Jetzt musste Elle nur noch Chuck lange genug ablenken, damit Max unbemerkt an seine Tasche gelangen konnte.

»Wollen wir tanzen?«, fragte sie schüchtern, fast schon ängstlich.

Archer hatte kein festes Beuteschema bei Frauen, er mochte sie in fast allen Formen und Wesensarten. Aber »schüchtern und ängstlich« war nie so wirklich sein Typ gewesen … bis zu diesem Augenblick. Obwohl er wusste, dass das alles nur Fassade und Elle nicht einmal ansatzweise schüchtern oder ängstlich war, wollte er nur noch zu ihr und sie fest in den Arm nehmen. Das Verlangen war so stark, dass er fast verpasste, was als Nächstes passierte.

»Ähm.« Chuck blinzelte zu Elle hinauf. Er war mehrere Zentimeter kleiner als sie, obwohl sie nicht einmal mehr Schuhe trug. »Ich bin kein besonders toller Tänzer …«

»Mach dir keine Sorgen«, unterbrach sie ihn. »Jeder ist tief in seinem Inneren ein toller Tänzer.«

»Aber …«

»Bitte.« Sie ließ nicht locker. Ein Blick aus ihren strahlend blauen Augen und ein gekonnter Wimpernschlag taten ihr Übriges.

Chuck stürzte seinen Drink hinunter. »Ein Schlückchen Mut«, sagte er und bedeutete Finn, ihm nachzuschenken.

»Gib ihm einen Doppelten«, sagte Archer über Funk.

»Ich führe«, versprach Elle, während Chuck auch den zweiten Drink in einem Zug leerte. Dann hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn von der Bar weg.

»Warte, meine Sachen …« Er sträubte sich und sah zu seiner Umhängetasche auf dem Boden.

»Die sind hier sicher.« Elle sah Finn an, der hinter der Bar stand.

»Absolut«, antwortete er.

»Aber …«

Kein Aber. Dieser arme Teufel wusste nicht, wie ihm geschah. Als Elle ihn mit sich auf die Tanzfläche zog, nutzte Joe die Gelegenheit, schnappte sich Chucks Tasche und verschwand.

Auf der kleinen, gut besuchten Tanzfläche angekommen, begann Elle zur Musik zu tanzen und zog Chuck – und alle anderen Männer im Raum – völlig in ihren Bann.

Bis auf Archer. Er war kurz davor zu explodieren. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie jeden Moment aus ihrem Kleid platzen.

»Joe, Statusbericht«, befahl er und rieb sein linkes Auge, dessen Lid auf einmal unkontrolliert zu zucken begonnen hatte.

»Wir sind nur eine falsche Bewegung von einem Nippelalarm entfernt«, hörte er Max ehrfürchtig und hoffnungsvoll zugleich flüstern.

Dafür würde er ihn später umbringen. »Joe.«

»Gib mir noch drei Minuten.«

Verdammt. Die Minuten zogen sich zäh dahin, während Chuck auf der Tanzfläche angefangen hatte, sich an Elle anzuschmiegen, und dabei bis über beide Ohren grinste.

»Erledigt«, sagte Joe endlich. Das waren die wohl längsten drei Minuten in Archers Leben gewesen.

»Ich hab die Festplatte kopiert«, bestätigte Joe, während er die Tasche in einer flüssigen Bewegung wieder unter Chucks Barhocker platzierte.

Und keine Sekunde zu früh. Im nächsten Moment sah Archer, wie Chuck sich auf der Tanzfläche umdrehte und seine Augen die Tasche suchten, in der sich sein halbes Leben befand.

»Alles erledigt, Boss. Der Kerl hat außer seinem Laptop auch noch einen Haufen gefälschter Ausweise bei sich. Ich hab sie alle abfotografiert.«

Volltreffer. »Elle«, sagte Archer. »Raus da.«

Im Pub war es laut, die Leute hatten eine Menge Spaß. Allen voran Chuck, dessen Schlückchen Mut eindeutig Wirkung zeigte. Etwas zu viel Wirkung, denn seine Hände waren überall auf Elles Körper, während sie sich zusammen im Rhythmus der Musik bewegten.

»Du bist so schön!«, schrie er Elle mitten ins Gesicht.

Sie lächelte.

»Ich meine, so richtig pornomäßig schön!« Er schrie noch immer. »Ich bin quasi Experte auf dem Gebiet, ich muss es also wissen! Hast du jemals darüber nachgedacht? Du würdest ein Vermögen verdienen!« Er grinste. »Ich rede immer ziemlich laut, wenn ich betrunken bin, also wirklich laut.«

»Wünschst du dir in solchen Momenten nicht manchmal, noch ein Cop zu sein?«, hörte Archer Max über Funk fragen. »Dann könntest du diesen Drecksack jetzt verhaften.«

Nein, Archer wünschte sich nicht, noch ein Cop zu sein. Er hatte mit allem, was er aus dieser Zeit vermisste – wie zum Beispiel seinen Dad –, abgeschlossen. Die einzige wichtige Frage war jetzt, wieso zum Teufel Elle immer noch tanzte. Er hatte ihr die Anweisung gegeben, die Bar zu verlassen. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge und klopfte Chuck auf die Schulter. Der drehte sich um, und sein Blick wanderte langsam immer weiter nach oben, bis er Archer schließlich ins Gesicht sehen konnte.

»Ähm«, presste er hervor. Dann schluckte er, riss die Hände von Elle zurück und verschwand, so schnell ihn seine Beine trugen. Aber nicht, ohne sich noch seine Tasche zu schnappen.

Elle bückte sich, um wieder in ihre High Heels zu schlüpfen, die sie neben die Tanzfläche gestellt hatte. Anscheinend brauchte sie die zusätzlichen Zentimeter, bevor sie sich mit Archer anlegte. Er legte ihr einen Arm um die Hüfte, um sie zu stützen, während sie die Schuhe anzog, und wartete, bis sie sich aufgerichtet hatte. »Was zur Hölle war da los?«

»Ich hab meinen Job gemacht«, erwiderte sie betont lässig.

»Seit wann ist es dein Job, dich an einem Verbrecher zu reiben?«

Jetzt kniff sie die Augen zusammen. »Du hast gesagt, dass ich nah an ihn ran soll. Du hast gesagt, ich soll seine Identität bestätigen und ihn dann ablenken, um jeden Preis.«

»Okay, stopp«, erwiderte er. »Ich habe definitiv nicht gesagt, um jeden Preis.«

Sie funkelte ihn wütend an.

»Was?«, fragte er.

»Nichts.« Ihr Tonfall war eisig.

»Oh Mann«, murmelte Joe in sein Mikro. »Wenn eine Frau ›Nichts‹ in diesem Ton sagt, dann meint sie ganz sicher nicht ›Nichts‹. Ich würde dir empfehlen, diese Unterhaltung nicht ohne Suspensorium zu führen. Ich mein ja nur.«

Archers Lid zuckte jetzt so stark, dass er Angst hatte, sein Augapfel würde ihm aus dem Schädel springen. »Ich habe gesagt, dass du abhauen sollst«, begann er in einem Tonfall, den er selbst für bemerkenswert ruhig hielt. Joes Kommentar ignorierte er, der war ohnehin ein toter Mann. »Wenn ich dir etwas sage, dann erwarte ich, dass du zuhörst, Elle.«

Durch sein Headset hörte er, wie seine gesamte Crew scharf einatmete. Er beschloss, auch das zu ignorieren.

»Wow«, sagte Elle schließlich.

»Okay«, mischte sich Max ein. »Ich hab jetzt auch eine Freundin, also kenne ich mich aus. Wenn Rory in diesem Tonfall ›Wow‹ sagt, dann meint sie das nicht im positiven Sinne. Es bedeutet eher, dass sie gerade angestrengt darüber nachdenkt, wie und wann sie mich für diese Dummheit bestrafen kann.«

»Stimmt«, pflichtete Joe ihm bei. »Sie will nur ihr Erstaunen darüber ausdrücken, dass man so ein riesiger Idiot sein kann. Mission abbrechen, Boss. Ich wiederhole: Mission. Abbrechen.«

Verdammt noch mal! Archer riss sich das Headset aus dem Ohr und tat dasselbe mit Elles, dann stopfte er beide in seine Tasche.

Sie zuckte bloß mit den Schultern und ging wortlos davon, während er auf der Tanzfläche stehen blieb. Ein seltsam beklemmendes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus, als er ihr hinterhersah. Das war der Ärger, sagte er sich. Die Frustration. Diese Frau schaffte es besser als jeder andere, ihn komplett auf die Palme zu bringen.

Und trotzdem behielt er sie ständig im Auge, passte auf sie auf. Er konnte nicht genau erklären, wieso, aber vermutlich ließen alte Gewohnheiten sich nur schwer ablegen.

Ob sie jemals über diese Nacht nachdachte? Sie hatte niemals auch nur ein Wort darüber gesagt. Und auch er hatte sie nie erwähnt, um sie nicht unnötig an ihre schlimme Vergangenheit zu erinnern.

Als er zur Bar zurückging, fand er sie dort vor. Sie packte ihre Sachen zusammen, dabei rutschte etwas aus ihrer Tasche und fiel zu Boden.

Gleichzeitig bückten sie sich, um es aufzuheben, aber Archer war schneller. Als ihm klar wurde, was er da in der Hand hielt, hob er den Kopf und starrte Elle ungläubig an.

Es war das kleine Taschenmesser, das er ihr vor all diesen Jahren gegeben hatte.

Sie dachte also wirklich noch an diese Nacht.

3. Kapitel

#Zugunglück

Elle machte Anstalten, ihm das Messer aus der Hand zu reißen, aber Archer umklammerte es mit eisernem Griff. Sie lieferten sich einen kleinen Wettstreit, bis Elle sich daran erinnerte, dass sie niemals wieder Schwäche vor anderen zeigen wollte, und sich zwang, loszulassen.

Archer hingegen ließ nicht los. »Du hast es immer noch«, sagte er, mit einer Spur von Erstaunen in seiner Stimme. Der Mann, der unmöglich zu überraschen war, war es jetzt doch.

Und ja, natürlich hatte sie das Messer noch. Dachte er wirklich, sie würde es einfach wegwerfen? Es kam nicht oft vor, dass sie rot anlief, aber in diesem Moment spürte sie die Hitze in sich aufsteigen. Teilweise Bedauern – aber hauptsächlich totale Demütigung.

Sie hatte sich mühsam beigebracht, stark und entschlossen zu sein. Und nicht mehr zurückzublicken.

Nie mehr.

Sentimentalität hatte in ihrem Leben keinen Platz. Das redete sie sich zumindest ein. Aber wieso trug sie dann noch immer dieses Taschenmesser mit sich herum, das Archer ihr damals gegeben hatte? Besonders, wenn man bedachte, wie sie es ihm zurückzahlen wollte. Oh Gott, diese Erniedrigung, als sie ihm das Einzige angeboten hatte, was sie besaß – ihren Körper –, und er sie geradewegs hatte abblitzen lassen. Der Gedanke daran trieb ihr noch immer die Schamesröte ins Gesicht. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass er danach einfach verschwunden war, als wäre nichts vorgefallen. Dabei hatte es für sie alles bedeutet.

Sie wusste nicht, wieso er sich so verhalten hatte, aber sie würde ganz bestimmt nicht ohne ihr Messer wieder gehen. Es war ein Abzeichen. Eine Erinnerung daran, wer sie einmal gewesen war und wer sie heute war.

Autor

Jill Shalvis
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