Und draußen die Einsamkeit

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Für das Baby ihrer kranken Cousine will Ginny nur das Beste. Deshalb reist sie mit dem Kleinen nach Griechenland, in die wunderschöne Heimat seines Vaters. Doch Philip Lysander und seine Familie halten sie für eine Schwindlerin. Ihr feindseliges Verhalten setzt Ginny zu, und sie würde alle Hoffnung verlieren, wären da nicht ihre Gefühle für Philip …


  • Erscheinungstag 04.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775834
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Was ist passiert? Warum sind Sie nicht bei der Arbeit? Es ist bereits zwei Uhr.“

Nur widerstrebend drehte Ginny Alton sich um, als sie die weinerliche Stimme ihrer Nachbarin hörte. „Guten Tag, Mrs Rolle“, sagte Ginny so höflich wie möglich und verlagerte die schwere Einkaufstüte von einer Hüfte auf die andere.

„Bis jetzt war der Tag noch nicht besonders gut.“ Mrs Rolle klang mürrisch wie immer, und Ginny fürchtete, sie könnte zu einer langatmigen Aufzählung ihrer Probleme ansetzen, echter sowie eingebildeter. Normalerweise hörte sie ihr geduldig zu, weil die Frau ihr leidtat, aber heute hatte sie keine Zeit.

„Das ist schade“, meinte sie nur und ging unbeirrt weiter. „Aber ich kann wirklich nicht zum Plaudern bleiben. Meine Cousine wartet auf die Milch für das Baby.“ Sie klopfte leise an, um Damon nicht zu wecken, falls er schlief.

„Hat Beth Sie angesteckt? Sind Sie deswegen nicht zur Arbeit gegangen?“ Mrs Rolle sah sie mit solch einer unverhohlenen Neugier an, dass es Ginny schauderte.

„Leukämie ist nicht ansteckend.“ Sie klopfte wieder, diesmal etwas lauter, und bat Beth im Stillen, sich doch zu beeilen, bevor sie Mrs Rolle noch die Antwort gab, die sie verdiente.

„Was wissen die Ärzte schon. Als sie mir die Gallenblase rausnahmen …“

Ginny schenkte der tausendmal erzählten Geschichte keine Aufmerksamkeit, sondern zog den Schlüssel aus der Tasche ihrer engen Jeans. Warum öffnete Beth nicht? Sie war nicht kräftig genug, um die Wohnung allein zu verlassen. Reagierte sie womöglich verspätet auf die gestrige Chemotherapie und war ohnmächtig geworden?

Mit zunehmender Unruhe drehte sie den Schlüssel herum und stieß die Tür auf. Schnell setzte sie die Tüte mit den Einkäufen ab und schloss die Tür hinter sich, ohne auf Mrs Rolles empörtes Keuchen zu achten.

Ängstlich sah Ginny sich in dem großen Wohnzimmer um, aber es war leer. Ebenso die kleine Küche mit der winzigen Essecke. Gerade wollte sie in das Gästezimmer eilen, das Beth sich mit ihrem Sohn teilte, da hörte sie ein ersticktes Schluchzen. Sie verharrte erschrocken, wandte sich dann um und lief, dem Geräusch folgend, über den Flur. Es kam aus ihrem Schlafzimmer. Sie öffnete leise die Tür und sah Beth, die auf dem Bett lag und mit einer so hoffnungslosen Verzweiflung weinte, dass es Ginny das Herz brach.

„He, ist ja gut, Kindchen.“ Ginny gab sich Mühe, optimistisch zu klingen. „Der Arzt hat doch gesagt, dass du in einem Jahr wieder im Kindergarten wirst arbeiten können. Ich weiß zwar nicht, warum er dir damit droht …“

Beth lächelte nicht, wie Ginny gehofft hatte. Sie weinte nur noch kläglicher. Ein eisiger Schauer überlief Ginny. Hatte das Krankenhaus vielleicht angerufen, während sie beim Einkaufen war?

„Beth, sag mir, was passiert ist.“ Sie bemühte sich, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen. Beth hatte schon genug mit ihren eigenen Ängsten zu tun.

Sie sah jetzt hoch, und der düstere, verlorene Ausdruck in ihren Augen schnürte Ginny die Kehle zu.

„Er sagt, dass ich lüge. Er sagt …“ Sie fing wieder an zu weinen.

„Wer sagt das?“

Beth suchte nach etwas hinter sich auf dem Bett und hielt dann ein zerknülltes Blatt Papier hoch. „Creons Vater. Er schreibt, dass ich lüge. Dass Damon nicht Creons Sohn sein kann. Dass ich das nur behaupte, weil Creon tot ist und sich nicht mehr verteidigen kann. Er schreibt … Creon wäre niemals fähig gewesen, eine Frau wie mich zu lieben.“ Sie brachte die Sätze hastig und atemlos hervor.

Ginny presste die Lippen zusammen, um nicht damit herauszuplatzen, wozu ihrer Meinung nach Creon, dieser Widerling, alles fähig gewesen wäre. Es hätte Beth nur noch mehr aufgeregt, da sie völlig blind war, wenn es um ihn ging. Selbst als er sie verlassen hatte, um in seine Heimat Griechenland zurückzukehren, hatte sie immer noch geglaubt, dass er sie liebte und irgendwann heiraten würde, um mit ihr und seinem Sohn glücklich und bis an sein Lebensende zusammenzuleben. Trotz aller Tatsachen, die dagegen sprachen, hatte sie weiterhin gehofft, bis Creon vor sechs Monaten bei einem Rennbootunfall ums Leben kam.

„Zeig mal her.“ Ginny nahm ihr den Brief aus der Hand und überflog ihn. Ihre Wut stieg mit jedem Wort, das sie las.

„Damon ist sein Enkel. Warum will Mr Papas das nicht akzeptieren?“ Beths Unterlippe zitterte mitleiderregend. „Ich bitte ihn doch nur, für seine Ausbildung aufzukommen. Und ich wäre ja nicht einmal darauf angewiesen. Aber wenn ich sterbe …“ Ihre Stimme brach.

„Du wirst nicht sterben!“, sagte Ginny mit einer Entschiedenheit, als ob man nur fest genug daran glauben müsste, um es Wahrheit werden zu lassen. „Der Arzt sagt, du hast sehr gute Chancen, dich wieder vollständig zu erholen.“

„Und trotzdem gibt es die Möglichkeit, dass ich nicht gesund werde“, erwiderte Beth ernst. „Und dann werde ich nicht da sein für Damon, um ihm von seinem Vater zu erzählen und davon, wie sehr er mich liebte und wie glücklich er war, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Und dass er mich heiraten wollte, es aber nicht konnte, bevor sein Vater sich von dem Herzinfarkt erholt hatte.“ Beth kämpfte wieder mit den Tränen.

Ginny fuhr sich seufzend mit der Hand durch das schulterlange blonde Haar. Je schlechter es Beth ging, desto wichtiger schien es für sie zu sein, dass Jason Papas seinen Enkel anerkannte. Dieser Gedanke raubte ihr all die Kraft, die sie so dringend benötigte, um ihre Krankheit zu besiegen.

„Wo ist der Rest?“, fragte Ginny, als sie bemerkte, dass der Brief eine Fortsetzung haben musste.

Das zweite Blatt lag auf dem Boden neben dem Bett. Beth hob es auf und reichte es Ginny. Ginnys dunkelblaue Augen spiegelten ihre Wut wider, während sie weiterlas. „Nachdem er dich eine opportunistische Lügnerin genannt hat, will er, dass du mit Damon nach Griechenland kommst, um die Sache mit ihm zu besprechen?“

Beth nickte. „Er hat gleich zwei Flugscheine mitgeschickt. Seltsam, nicht? Ich kann nicht einmal bis zur nächsten Ecke gehen, und nun soll ich nach Griechenland fliegen, und das mit einem vier Monate alten Baby. Wahrscheinlich hätte ich ihm schreiben sollen, dass ich krank bin, aber ich wollte nicht den Eindruck erwecken … Und jetzt kann ich nicht …“ Beth zögerte, doch dann sah sie Ginny flehend an. „Aber du könntest“, sagte sie leise.

„Ich! Warum sollte ich diesen …“ Ginny wedelte verärgert mit dem Brief, „diesen Abklatsch von einem Menschen besuchen?“

„Ginny, hör zu.“ Beth ergriff Ginnys Hände und hielt sie so fest, als ob ihr Leben davon abhinge. „Du könntest hinfliegen und vorgeben, dass du ich bist. Damon würde es nichts ausmachen. Er mag dich. Und ich habe meinen Vornamen nicht in meinem Brief erwähnt. Jason Papas weiß nur, dass ich Alton heiße. Und du heißt doch auch so. Ich würde dich nicht darum bitten, aber ich mache mir solche Sorgen um Damons Zukunft, falls ich …“

„Beth, ich schwöre dir, ich werde mich um Damon kümmern, was immer auch mit dir geschieht.“

„Ja, aber was ist, wenn du heiratest? Wird dein Mann für das Waisenkind deiner Cousine aufkommen wollen?“

„Du hattest schon immer eine lebhafte Fantasie“, meinte Ginny trocken. „Ich habe noch nicht einmal einen Freund, und ganz bestimmt habe ich nicht vor, einen Geizhals zu heiraten.“

„Warte, bis du dich erst einmal verliebt hast“, wandte Beth traurig ein. „Dann wirst du gar nicht merken, ob er geizig ist oder nicht.“

So wie du nicht gemerkt hast, dass Creon Papas ein Mistkerl war, dachte Ginny schuldbewusst. Wenn sie ihn damals nicht mit nach Hause gebracht hätte, hätte Beth ihn nie kennengelernt, keine Affäre mit ihm begonnen und wäre nicht mit einem Baby sitzen gelassen worden.

Ginny kaute nachdenklich auf der Unterlippe. Sie mochte Beths Idee ganz und gar nicht, aber sie musste zugeben, dass sie in mancher Hinsicht gar nicht so unrecht hatte. Und da die Investmentgesellschaft, bei der Ginny angestellt war, ihr erlaubt hatte, während der Krankheit ihrer Cousine zu Hause zu arbeiten, war sie theoretisch frei und konnte nach Griechenland reisen.

Außerdem war sie sehr viel besser dazu geeignet, mit einem Tyrannen wie Jason Papas fertig zu werden, als die schüchterne, zurückhaltende Beth. Jason Papas würde es nicht schaffen, Ginny einzuschüchtern. Bei ihrer Arbeit als Anlageberaterin hatte sie gelernt, sich gegen Paschas und ungezogene Rüpel zur Wehr zu setzen. Und so sehr es sie auch störte, über ihre Identität zu lügen, die einzige Alternative, nämlich zuzusehen, wie Beth sich zu Tode grämte, gefiel ihr noch weniger.

Das Wissen, dass Damon ein Recht auf eine Unterstützung durch die Familie seines Vaters hatte, gab schließlich den Ausschlag, obwohl die Anerkennung durch Jason Papas Beth wahrscheinlich sehr viel mehr bedeutete als das Geld des unglaublich vermögenden Mannes.

Ginny stieß resigniert den Atem aus. Trotz ihrer Zweifel, ob es klug war, die Idee in die Tat umzusetzen, brachte sie es nicht übers Herz, ihrer Cousine die Bitte abzuschlagen. Beth brauchte unbedingt eine Verbindung zu Creons Familie, sonst hätte sie nicht die nötige Ruhe, um gesund zu werden.

„Na gut, ich werde es tun“, sagte Ginny und schauderte leicht, da es ihr vorkam, als ob ihre Worte äußerst schicksalsschwer in der Luft hingen.

Ginny sah sich in der Ankunftshalle des Athener Flughafens um, aber niemand in der Menge der wartenden Menschen schien von ihr Notiz zu nehmen. Es würde sie nicht wundern, wenn Jason Papas es nicht für nötig gehalten hatte, sie abzuholen. Außerdem passte es sehr gut zu der restlichen Reise, die von Anfang bis Ende eine einzige Katastrophe gewesen war. Wenn es etwas Anstrengenderes gab als einen vielstündigen Flug mit einem vier Monate alten Baby, dann wollte sie es jedenfalls nicht erleben.

Sehr vorsichtig, um den in seinem Kindersitz schlafenden Damon nicht zu wecken, bahnte sie sich einen Weg zu den wenigen Sitzmöglichkeiten und stellte den Kindersitz auf dem Boden ab. Zu ihrer Erleichterung rührte Damon sich nicht.

Erschöpft sank Ginny auf den Plastiksessel und sah nach der Uhr. Viertel nach zehn. Ihr Flug hatte sich nur um etwa eine halbe Stunde verspätet. Nicht so schlecht für eine Reise, die in New York begonnen hatte.

Wo bleibt Jason Papas nur, fragte sie sich gereizt. Sie musste Damons Windel wechseln, und er musste etwas essen und in ein Bett gesteckt werden. Sie selbst sehnte sich nach einer erfrischenden Dusche. Sie betrachtete resigniert ihren zerknitterten blauen Hosenanzug mit den diversen Breiflecken, die Damon im Laufe des langen Fluges darauf verteilt hatte. Konnte diese zermürbende Warterei etwa von Jason Papas geplant sein? War es eine Taktik, die ihr klarmachen sollte, wie unwichtig Damon und sie in seinen Augen waren?

Sehr gut möglich, dachte Ginny verächtlich, besonders wenn Jason Papas seinem unausstehlichen Sohn glich. Diese Art von Einschüchterungsversuchen hätten der sanften Beth jedes Selbstvertrauen geraubt, aber Ginny war nur unbeschreiblich wütend – und entschlossener denn je, dem alten Tyrannen die Stirn zu bieten.

Sie strich sich eine Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. Sie würde noch eine Viertelstunde warten, falls Jason Papas’ Verspätung auf den Verkehr zurückzuführen war, und dann würde sie ihm am Schalter der Fluggesellschaft eine Nachricht hinterlassen und sich in einem Hotel ein Zimmer nehmen.

Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte sie sich gleich viel besser, und sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Wenige Sekunden später war sie eingeschlafen, ohne sich von dem Kommen und Gehen um sie herum stören zu lassen.

Philip Lysander sah auf die schmale goldene Uhr an seinem Handgelenk. Jetzt wartete sie bereits vierzig Minuten, diese Ginny Alton, wie sie sich zumindest in ihrem letzten Brief genannt hatte. Dieser Frau, die so skrupellos war, einem kranken alten Mann vorzumachen, ihr Bastard sei sein Enkel, wollte er zeigen, was die Familie von ihr hielt. Philip leerte sein Whiskyglas und verließ die Bar des Flughafenrestaurants.

Er war fest davon überzeugt, dass er sie in der Ankunftshalle vorfinden würde. Niemand, der so unverschämt war, gab im letzten Moment auf.

Er brauchte kaum länger als ein paar Minuten, um sie in der nicht sehr großen Halle zu entdecken. Sie war die einzige Frau, die einen Säugling bei sich hatte. Er freute sich schon jetzt auf das Gesicht, das sie machen würde, wenn er ihr auf den Kopf zusagte, dass er sie für eine Lügnerin hielt. Er wusste, was für ein Mensch sie war, und würde es nie zulassen, dass sie seiner Familie Schaden zufügte.

Während er auf sie zuging, bemerkte er, dass sie schlief. Gereizt presste er die Lippen zusammen, denn es kam ihm wie eine weitere Beleidigung vor. Anscheinend war sie sich nicht darüber im Klaren, dass er sie hatte warten lassen.

Er blieb dicht vor ihr stehen und schaute angenehm überrascht auf sie hinab. Statt der billigen, ehrgeizigen Opportunistin, die er erwartet hatte, fand er eine sehr reizvolle, elegante Erscheinung vor. Der Ton ihres dunkelblonden Haares erinnerte ihn eigenartigerweise an Zitronenblütenhonig. Es sah sogar aus wie Honig, glatt, weich und fließend. Wie mochte es sich wohl anfühlen? Unwillkürlich verspürte er den Wunsch, es zu berühren.

Sein Blick wanderte tiefer, und ihm wurde der Mund trocken. Sie hatte nicht nur klassisch vollkommene Züge, sondern auch eine makellose Haut mit rosigen Wangen und weiche, volle Lippen. Philip musste schlucken, als ihn das unerwartete Verlangen erfasste, diese Lippen zu küssen.

Nur mit Mühe riss er sich von diesem Anblick los und betrachtete stattdessen die leichte Rundung ihrer Brüste unter der streng geschnittenen blauen Anzugjacke. Er runzelte die Stirn. Die Kleidung passte nicht zu ihrer herrlichen Figur. Eine so wunderbar feminine Frau sollte etwas Weiches, Schmeichelndes tragen.

Hastig rief er sich zur Ordnung. Was war nur los mit ihm? Er war schließlich kein unreifer Junge mehr, der sich durch den Anblick einer Frau, ob schön oder nicht, aus dem Gleichgewicht bringen ließ. Besonders dann nicht, wenn er genau wusste, dass sich hinter der bezaubernden Fassade ein verdorbener Charakter verbarg. Er durfte keinen Augenblick vergessen, wer sie wirklich war.

Ginny rührte sich unbehaglich, öffnete verwirrt halb die Augen und sah nach Damon. Er schlief immer noch. Sie lächelte erleichtert und gähnte herzhaft, da sah sie plötzlich ein Paar grau bekleideter Beine, die genau hinter Damons Sitz standen.

Ihr Blick wanderte langsam höher, und sie registrierte wohlwollend muskulöse Schenkel, einen flachen Bauch und eine breite Brust. Nur die strenge Miene des Gesichts gefiel ihr nicht an diesem fremden Mann. Er sah sehr entschlossen aus. Statt eines Anzugs, dachte sie, sollte er einen dieser kurzen weißen Röcke tragen wie die Männer im alten Athen. Aber noch mehr erinnerte er sie an einen Athleten aus jener Zeit, und seltsamerweise geriet sie in Erregung, als sie ihn sich ohne Kleidung vorstellte, die Haut schimmernd von dem Öl, mit dem sich die nackten Helden damals einrieben.

Doch dann begegnete sie den eiskalten schwarzen Augen des Mannes, und ihr Tagtraum verflüchtigte sich sofort. Sie richtete sich langsam auf und versuchte, ihn nicht ihre Verwirrung merken zu lassen. Ich habe ihn nur deswegen so faszinierend gefunden, weil ich übermüdet bin, dachte sie. Unter normalen Umständen hätte so ein Mann keinen Eindruck auf sie gemacht. Denn er sah sie mit solch einem Hochmut an, als ob sie eine lästige Person wäre, die er sobald wie möglich loszuwerden gedachte.

Das konnte nicht Jason Papas sein, dazu war er viel zu jung. Also nahm Ginny an, dass dieser Mann von ihm geschickt worden war, damit er sie und Damon wie zwei unwillkommene Gepäckstücke einsammelte.

Ginny schauderte leicht, als sein Gesichtsausdruck noch grimmiger wurde und sie an ein Gemälde erinnerte, auf dem der Inquisitor eines der berüchtigten Hexenprozesse von Salem abgebildet war. Er sah vollkommen gnadenlos aus. Aber Ginny wollte keine Gnade, sie wollte Gerechtigkeit für Damon und die arme Beth. Und dieser Fremde, wer immer er auch war, würde sie nicht daran hindern können.

Sie straffte die Schultern und erwiderte seinen Blick, während sie scheinbar ungerührt darauf wartete, dass er das eisige Schweigen brach.

Endlich tat er es auch. „Sie werden keinen Erfolg damit haben!“ Seine tiefe Stimme mit dem leichten Akzent klang überraschenderweise unglaublich verführerisch.

„Und womit bitte? Überhaupt, wer sind Sie eigentlich?“

„Ich bin hier, um Sie abzuholen.“

Ginny ignorierte den beleidigenden Ton in seiner Stimme und wartete darauf, dass er ihre Frage beantwortete. Aus Erfahrung wusste sie, dass es ein Fehler wäre, Männer dieser Sorte besänftigen zu wollen. Man musste ihnen mit Bestimmtheit entgegentreten.

„Nun, haben Sie nichts zu sagen?“

„Ich warte immer noch darauf, dass Sie sich mir vorstellen“, erwiderte sie mit erzwungener Ruhe, obwohl ihr Magen sich vor Nervosität zusammenzog. „Oder ist Ihr Englisch nicht so gut, und Sie haben meine Frage nicht verstanden?“

„Ich habe Wirtschaftswissenschaften in Oxford studiert, falls es Sie interessiert“, fuhr er sie gereizt an.

„Schön.“ Sie lächelte gelangweilt. „Aber das sagt mir immer noch nicht, wer Sie sind.“

„Philip Lysander, Creons Schwager. Er war mit meiner Schwester Lydia verheiratet.“

„Schwager!“ Ginny starrte ihn entgeistert an und spürte, wie sie vor Entsetzen blass wurde. Creon war verheiratet gewesen! Er war sogar noch schlimmer, als sie gedacht hatte, und sie hatte schon von Anfang an keine besonders gute Meinung von ihm gehabt.

„Creon ist vielleicht tot und kann sich nicht mehr wehren gegen Ihre Lügen, aber seine Familie wird ihn in Schutz nehmen.“

Und ich werde Beth in Schutz nehmen, dachte Ginny wütend. Etwas, was Creons kostbare Familie bald herausfinden würde.

„Na schön, Philip Lysander. Wie wäre es, wenn Sie das täten, wozu man Sie hergeschickt hat, und mich zu Jason Papas brächten?“

„Nicht bevor wir eine Abmachung getroffen haben.“

Sie sah ihn misstrauisch an. „Worüber?“

„Ich möchte nicht, dass meiner Schwester wehgetan wird.“

Ginny empfand Mitleid für die unbekannte Lydia, aber sie wappnete sich sofort dagegen. Philips Schwester hatte ihn und ihren Schwiegervater und wer weiß noch wie viele andere Verwandte, die ihr in dieser Situation zur Seite stehen würden. Die arme Beth hatte nur sie, und sie hatte nicht die Absicht, sie im Stich zu lassen.

„Jason Papas soll also seinen Enkel opfern, damit Ihre Schwester nicht erfährt, was für ein Mensch ihr lieber Ehemann war?“

„Der Junge ist nicht Creons Sohn, und Sie wissen das!“

Ginny seufzte. Sie fühlte sich auf einmal unendlich müde. „Dieses Gespräch führt zu nichts. Ich muss Damons Großvater selbst sprechen. Bitte bringen Sie mich zu ihm.“

„Erst wenn Sie meinem Vorschlag zustimmen.“

„Was für ein Vorschlag?“, fragte sie gereizt. „Bis jetzt haben Sie die ganze Zeit nichts anderes getan, als Dinge zu behaupten, von denen Sie absolut keine Ahnung haben können.“

„Jason und ich haben das Ganze besprochen und beschlossen, dass wir vorgeben werden, ich sei der Vater des Jungen und sie wären mit ihm nach Griechenland gekommen, um ihn mir zu zeigen.“

„Sie!“ Ginny schnappte entgeistert nach Luft. Sie sollte vorgeben, Philip Lysanders Geliebte gewesen zu sein? Sie musste schlucken, da ihr Mund plötzlich ganz trocken geworden war.

„Alle werden ohne Weiteres glauben, dass der Junge …“

„Damon“, warf sie ein. „Er heißt Damon.“

Philip achtete nicht auf sie. „… mein Kind ist, und Lydia wird von allem Klatsch verschont bleiben.“

„Nein!“ Ginnys Antwort kam schnell und heftig. Sie wollte mit diesem Mann nichts zu tun haben, auch nicht, wenn es nur bedeutete, eine Beziehung zu ihm vorzugeben. Er weckte ganz ungewohnte, beunruhigende Gefühle in ihr, und sie wollte es nicht riskieren, zu oft in seiner Gesellschaft sein zu müssen.

„Dann bringe ich Sie auch nicht zu Jason.“

Bei Philips arroganter Miene zuckte es ihr in den Fingern, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, und zwar eine sehr kräftige. Aber das beunruhigte sie noch mehr als die heftige Reaktion ihres Körpers auf ihn. Sie war im Grunde kein gewalttätiger Mensch, und sie verabscheute jeden, der glaubte, sich mit Gewalt durchsetzen zu können.

Ginny holte tief Luft, blickte stirnrunzelnd zu Boden und überlegte. Trotz mehrerer Versuche zu Hause in New York hatte sie es nicht geschafft, Jason Papas’ Adresse herauszufinden. Selbst Beth hatte ihren Brief an sein Büro in Athen schicken müssen. Ginny konnte zwar dem Büro einen Besuch abstatten, aber sie bezweifelte, dass seine Angestellten bereit waren, ihr ohne seine Erlaubnis weiterzuhelfen.

Wenn sie bei Philips Farce nicht mitmachte, hatte sie kaum eine Chance, Jason Papas ausfindig zu machen, und ihre Reise nach Griechenland wäre eine einzige Zeitverschwendung gewesen. Außerdem, wie sollte sie Beth gegenübertreten und ihr sagen, dass sie Jason nicht hatte sprechen können?

Da sie nun schon so weit gekommen war, durfte sie Beth nicht enttäuschen. Und sie war schließlich kein junges, naives Mädchen mehr, das sich von einem Mann von Welt, der Philip ohne Zweifel war, einschüchtern ließ. Sie war eine intelligente, erfahrene Frau von zweiunddreißig. Sie konnte es mit ihm aufnehmen.

„Schön.“ Ginny stand auf. „Ich werde das Theater mitmachen, aber ich werde niemanden direkt anlügen, falls ich gefragt werden sollte, wer Damons Vater ist.“

Philip sah sie verächtlich an. „Ersparen Sie mir Ihre heuchlerische Moral.“

„Ich würde Ihnen am liebsten meine Gegenwart ersparen! Es war nicht meine Idee, dass wir beide etwas miteinander zu tun haben sollen.“

Zu Ginnys Entsetzen packte Philip sie plötzlich und riss sie an sich. Sie fiel hart gegen seine Brust. Ihr kam es vor, als ob sie gegen eine Wand gestoßen wäre. Sie öffnete schon den Mund, um ihn anzuschreien, aber es kam kein Ton heraus. Sie fühlte sich so seltsam schwach.

„Aufhören“, flüsterte sie nur und war sich nicht sicher, ob sie sich selbst und ihre verräterische Reaktion meinte oder Philip.

Philip jedenfalls schenkte ihr keine Beachtung. Er presste sie nur noch fester an sich, sodass Ginny sich allzu deutlich seines muskulösen Körpers bewusst wurde.

Als sie verwirrt den Kopf hob, nutzte er den Moment sofort aus und küsste sie auf den Mund. Seine Lippen waren warm und weich. Er fuhr mit der Zunge über ihre Unterlippe, und Ginny erschauerte erregt.

Der Wunsch, diesen Kuss zu erwidern, war überwältigend, aber gerade die Heftigkeit ihrer Gefühle alarmierte sie. Ginny versuchte ihn von sich zu schieben, aber Philip ließ sich nicht von der Stelle bewegen. Sie wand sich, wollte sich aus seiner Umarmung lösen, aber dabei rieben sich ihre Brüste an seinem Oberkörper, und jäh aufflackernde Begierde lenkte sie von ihrem Versuch ab.

Plötzlich sah sie Lichter unter ihren geschlossenen Lidern aufblitzen, und ihr wurde sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Sie wurden fotografiert.

Sie öffnete entsetzt die Augen, sah zuerst Philips triumphierend lächelndes Gesicht und dann, wie ein Mann mit einer Kamera davoneilte. In ihrer Wut achtete Ginny nicht auf die gaffenden Leute um sie herum.

„Wer war das, und warum haben Sie mich geküsst?“, schrie sie ihn an.

„Ein Paparazzo, der glücklich war, ein lohnendes Foto zu schießen.“

Er hatte sie also nur geküsst, um die Lüge zu untermauern, dass er ihr Liebhaber und somit Damons Vater war. Aufgebracht riss sie sich von ihm los, machte einen Schritt rückwärts und stolperte fast über Damons Kindersitz.

Philip ergriff ihren Arm und stützte sie, indem er sie wieder an sich zog. Ginny erschauerte erneut vor Erregung. Wie war es nur möglich, dass er so eine Wirkung auf sie ausübte?

Verzweifelt machte sie sich von ihm frei.

Meine Nerven sind überreizt nach dem langen Flug, das ist alles, dachte sie. Es war die erste Ausrede, die ihr einfiel.

Philip bückte sich, um den Kindersitz mit Damon aufzuheben. Das Tuch, das Damon fast ganz bedeckt hatte, verrutschte dabei, und der Kopf des Jungen wurde sichtbar. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn, während er das Kind betrachtete. Es hatte das gleiche tiefschwarze Haar und den dunklen Teint wie Creon. Und wie auch er selbst. Aber Millionen von Männern hier in Griechenland besaßen dieses Haar und diese Hautfarbe. Das bewies überhaupt nichts.

„Kommen Sie“, sagte er knapp zu Ginny und ging auf den Ausgang zu.

„Was ist mit meinem Gepäck?“ Ginny beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten. „Und schwingen Sie den Kindersitz nicht so heftig“, fügte sie in scharfem Ton hinzu. „Ich möchte nicht, dass Damon aufwacht.“

„Ich habe jemanden geschickt, der Ihr Gepäck zu meinem Wagen gebracht hat.“

Also hatte sie recht gehabt. Er hatte sie absichtlich warten lassen. Aber nichts, was sie sagen könnte, würde diesem unmöglichen Menschen etwas ausmachen, also hielt sie wohlweislich den Mund und begnügte sich damit, seinen Rücken mit wütenden Blicken zu durchbohren.

Es überraschte sie nicht im Geringsten, seinen Wagen im Parkverbot stehen zu sehen. Und natürlich schien es auch keinen zu stören. Philip gehörte offensichtlich zu der Sorte Menschen, denen man sich nicht gern in den Weg stellt. Ginny kam allmählich zu der Überzeugung, dass sie ihren Mitmenschen einen Gefallen täte, wenn sie Philip klarmachte, dass die Welt nicht dazu da war, um nach seiner Pfeife zu tanzen.

Ginny musterte ihn unauffällig, während sie den Kindersitz festschnallte. Ob Philip wohl verheiratet war? Er saß hinter dem Steuer und starrte stirnrunzelnd vor sich hin. Plötzlich verspürte sie den Wunsch, ihm die Schläfen zu massieren, damit der finstere Ausdruck von seinem Gesicht verschwand. Entsetzt über sich selbst, beugte sie sich hastig wieder über Damon. Sie konnte einfach nicht verstehen, was sie so zu Philip hinzog. Sie hatte es noch nie zuvor erlebt, dass sie sich der Gegenwart eines Mannes so deutlich bewusst war, und dabei kannte sie ihn gerade erst eine halbe Stunde. Selbst Ted, den sie fast geheiratet hätte, hatte nie diese Wirkung auf sie gehabt. Aber warum?

Vielleicht, weil sie sich in einer so angespannten Situation kennengelernt hatten. Und dann war sie auch völlig erschöpft von dem langen Flug. Es war also ganz natürlich, dass sie sich so untypisch benahm. Morgen früh würde sie wieder sie selbst sein und in Philip nichts weiter sehen als den attraktiven, selbstgefälligen, selbstgerechten Mann, der er war. Bis dahin musste sie vorsichtig sein, damit er nichts von ihrem inneren Aufruhr bemerkte, denn er war sicher jemand, der jeden Vorteil rücksichtslos ausnutzen würde.

Sie gab Damon einen sanften Kuss auf die Wange und setzte sich dann auf den Beifahrersitz.

„Schnallen Sie sich an“, sagte Philip im Befehlston.

Ginny gehorchte erschrocken. Noch ein Zeichen, wie müde und überreizt sie sein musste, wenn sie sogar etwas so Wichtiges vergessen konnte.

„Ein Wunder“, sagte Philip leise und fuhr an. „Sie tut tatsächlich, was man ihr sagt, ohne zu widersprechen.“

Autor

Judith Mc Williams
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