Und immer wieder Cleo

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Cleo! Fassungslos steht Jack Devlin, der zur Beerdigung seines Vaters nach Hause zurückgekehrt ist, vor ihr. Cleo war früher wie eine Schwester für ihn, doch das kleine Mädchen ist zu einer hinreißenden jungen Frau herangewachsen. In ihren Augen liest er die Sehnsucht nach Zärtlichkeit, und liebend gerne würde er sie küssen - doch da eröffnet sie ihm, dass sein Vater sein gesamtes Vermögen ihr hinterlassen hat. Jack ist tief getroffen. Seine Hoffnung auf ein Glück mit Cleo scheint wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Hat sie ihn bewusst bei seinem Vater ausgebootet?


  • Erscheinungstag 04.05.2008
  • Bandnummer 1627
  • ISBN / Artikelnummer 9783863498634
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Heimkehr hatte Jack Devlin sich definitiv anders vorgestellt. Er schob die Sonnenbrille auf seiner Nase zurecht und betrachtete das zweistöckige Haus, in dem er die ersten einundzwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte. Während der letzten sechs Jahre hatte er sich angestrengt bemüht, nicht an dieses Haus und seine Bewohner zu denken.

Vermutlich war genau das der Grund für die emotionale Achterbahnfahrt, auf der er sich gerade befand. Jetzt, da sein Vater nicht mehr lebte, fragte Jack sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn er sich um eine Versöhnung bemüht hätte.

Heute war er nicht mehr der naive junge Mann, der damals sein Elternhaus verlassen hatte, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Dieser Jack Devlin, der das Knarren jeder einzelnen Stufe auf dem Weg zu seinem Zimmer kannte, war ein völlig anderer Mensch gewesen.

Und auch die Frau, der er gleich gegenüberstehen würde, war nicht mehr das sechzehnjährige Mädchen, das er in jener Nacht verlassen hatte.

Mit einem leichten Kopfschütteln schob er die Gedanken an seine Vergangenheit schnell beiseite. Nervös lockerte er den engen Hemdkragen und die schwarze Krawatte, die er am Flughafen von Melbourne gekauft hatte. Die Hitze des Sommertages ließ die Erinnerungen noch drückender erscheinen.

Natürlich würde sie hier sein, was immer sie seit ihrer letzten Begegnung getan haben mochte, Cleo Honeywell würde auf keinen Fall das Begräbnis seines Vaters versäumen.

Angespannt griff Jack nach seiner Reisetasche und zuckte unmerklich zusammen, als er den Schmerz in seiner verletzten Schulter spürte. So viel zur triumphalen Rückkehr des verlorenen Sohnes.

Durch die geöffneten Fenster drang der Duft von deftigem Essen und verband sich unangenehm mit dem Pfefferminzgeschmack des Kaugummis in Jacks Mund. Er unterdrückte einen Anflug von Übelkeit. Der Kopfschmerz, der ihn schon im Flugzeug gequält hatte, wurde durch dröhnende Beats verstärkt, die im Haus gespielt wurden. Der Lieblingssong seines Vaters war für seinen Geschmack alles andere als eine passende Untermalung für die Bestattung. Jack hätte wetten können, dass Cleo für die Musikauswahl verantwortlich war.

Er lehnte sich gegen einen Pfosten der Holzveranda und atmete tief ein und aus. Die Wirkung der Schmerzmittel ließ langsam nach. Was er jetzt wirklich brauchte, war Schlaf: tiefer, ungestörter, traumloser Schlaf. Aber das stand heute sicher nicht auf dem Programm. Jack nahm die Sonnenbrille ab, richtete sich wieder auf und öffnete die Tür.

Die Beisetzung lag zwei Stunden zurück, aber die Feierlichkeiten waren noch in vollem Gange.

In der Eingangshalle tanzte eine Gruppe älterer Herrschaften in schrillen Siebzigerjahre-Klamotten. Auch Ben Hargreaves war unter ihnen. Der Anwalt seines Vaters trug einen Anzug mit Schlaghose in knalligem Rot und Grün. Die Kleiderordnung dieser Trauerfeier schien sehr ungewöhnlich zu sein, und Jacks Mundwinkel zuckte leicht, als er sich der Ironie der Situation bewusst wurde.

Dann fiel sein Blick auf eine Frau im roten Kleid mit weißem Blümchenmuster. Sie tanzte mit Ben. Ihr äußerst knapper Rock umschloss einen wohlgerundeten Po und enthüllte schlanke Beine.

Die plötzlich in Jack aufsteigende Hitze hatte nichts mit dem Wetter zu tun. Die Frau war nicht sehr groß, schon gar nicht ohne die farblich zum Kleid passenden Plateauschuhe, aber ihr Körper hatte perfekte weibliche Proportionen. Als Fotograf war er es gewohnt, auf solche Dinge zu achten, doch in diesem Moment schaute er mit den Augen eines Mannes.

Als die Frau sich leicht zur Seite drehte, konnte er ihr Gesicht erkennen.

Cleo.

Die Achterbahnfahrt der Gefühle ging weiter, in rasantem Tempo. Jack stellte seine Tasche auf den Boden. Er war sich nicht sicher, wann ihn seine Kräfte endgültig verlassen würden.

Natürlich konnte er sich einreden, dass es nur am Jetlag lag oder daran, dass er das Krankenhaus in Rom gegen den Rat seines Arztes verlassen und gleich darauf das erste Flugzeug nach Australien bestiegen hatte.

Mach dir nichts vor, Devlin. Du bist nie über sie hinweggekommen.

Der leicht verhangene Blick, ihr ungebärdiges Haar, das im Mondlicht schimmerte, all das hatte er nie vergessen. Jahrelang hatte er sich immer wieder vorgestellt, dass sie neben ihm in seinem Bett lag.

Damals, mit sechzehn, war sie für ihn tabu gewesen. Wunderschön, aber ständig bereit, ihm jede Kleinigkeit übel zu nehmen. Ob Cleos Empfindlichkeit sich gelegt hatte, wusste er nicht. An Schönheit hatte sie jedenfalls nichts eingebüßt.

Sie hatte ihr Haar mit einer Spange hochgesteckt, sodass ihr schlanker Hals zu sehen war, und wirkte lässig und elegant zugleich. Jack betrachtete ihre vollen Lippen, die sie früher oft zu einem leichten Schmollmund verzogen hatte.

Jetzt schmollte sie nicht, sondern lächelte strahlend. Allerdings schaute sie Ben an, und das Lächeln würde mit Sicherheit verschwinden, sobald sie Jack erkannte.

Seine Kehle wurde trocken. In diesem Moment hätte er alles für ein kühles Bier gegeben. Oder lieber etwas weitaus Stärkeres, um die Emotionen zu überdecken, die nach all den Jahren noch genauso stark waren wie früher.

Während er Cleo anschaute, versuchte Jack, den Zorn, die Reue und vor allem das brennende Gefühl des Verlusts zu verdrängen. Der Verlust eines jungen Mädchens, aus dem inzwischen eine Frau geworden war.

Das alles war Geschichte. Je schneller es ihm gelang, die Angelegenheiten seines Vaters zu ordnen und das Haus zu verkaufen, desto schneller würde er wieder von hier verschwinden können.

Er war da.

Ein leises Kribbeln hatte Cleo die Ankunft von Jack verraten. Für einen Augenblick blieb ihr die Luft weg, und das Kribbeln zog von ihrem Kopf den Rücken hinunter bis zu ihren Beinen und verursachte eine leichte Gänsehaut.

Sie konnte den missbilligenden Blick seiner dunkelbraunen Augen förmlich spüren. Die Musik und die Kleidung der Gäste würden ihm nicht gefallen. Sein Problem. Gerry hatte sich eine bunte Feier zu Ehren seines Lebens gewünscht, und diesen Wunsch hatte sie ihm erfüllt.

Sie war vielleicht nicht seine leibliche Tochter, aber er war für sie dennoch wie ein Vater gewesen, und das gab ihr das Recht, diese Entscheidung zu treffen. Abgesehen davon hatte Gerrys leiblicher Sohn es nicht einmal für nötig befunden, sich nach den Einzelheiten der Trauerfeier zu erkundigen.

Typisch für Jack Devlin. Zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um weiter zu denken als bis zu seiner nächsten erotischen Eroberung. Cleos Mund zuckte verächtlich. Wahrscheinlich war er gerade mit einer seiner hohlköpfigen Freundinnen im Bett gewesen, als sein Vater starb.

Trotz ihrer Wut fühlte Cleo sich nicht besonders stark. Im Gegenteil, sie kam sich gerade sehr zerbrechlich vor. Mühsam rang sie sich ein Lächeln für Ben ab und küsste ihn auf die Wange. „Danke für alles. Die Feier hätte Gerry bestimmt gefallen.“

„War mir ein großes Vergnügen, Cleo. Und wenn du etwas brauchst, sag mir sofort Bescheid.“ Ben umfasste ihre leicht zittrigen Finger mit seinen warmen Händen und drückte sie.

Am liebsten hätte Cleo sich an ihm festgeklammert, aber da wanderte sein Blick auch schon zur Tür. Ihr Herz klopfte laut. „Aber … das ist doch Jack“, rief Ben.

Sie versuchte sich innerlich zu wappnen und drehte sich um.

Aber der etwas abgerissen aussehende Mann an der Tür war nicht der glatt rasierte, modebewusste Jack, an den Cleo sich erinnerte. Sicher, seine Schultern waren noch immer breit genug, um den Türrahmen auszufüllen, und er strahlte auch noch die gleiche ungezähmte sexuelle Energie aus. Aber die dunklen Augen, die wie früher heiß und kalt zugleich wirkten, waren vor Erschöpfung gerötet.

„Jack, mein Junge. Es ist so gut, dass du da bist.“

Bens laute Stimme durchbrach Cleos Trance. Noch einen Moment lang verweilte Jacks Blick auf ihr, dann wandte er sich dem Mann neben ihr zu.

„Nur schade, dass es unter so traurigen Umständen ist“, fuhr Ben fort. „Mein Beileid.“

„Danke.“ Jack nickte.

Immer noch völlig regungslos, beobachtete Cleo, wie die beiden Männer aufeinander zugingen und einander die Hände schüttelten.

Jack hatte sich nicht rasiert, er sah aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen. Sein dunkles Haar war so lang, dass es den Kragen seines Hemdes streifte, und die zerknitterte Hose machte den Eindruck, als hätte er darin geschlafen. Obwohl Cleo davon überzeugt war, dass er im Bett nichts weiter trug als seine sonnengebräunte Haut.

Ob er wohl der Meinung war, dass der Dreitagebart ihn sexy machte? Wider Willen spürte Cleo ein Prickeln in ihrer Handfläche, nur zu gern wäre sie damit über seine Wange gefahren, hätte die rauen Stoppeln an ihrer Haut gefühlt …

Röte stieg ihr ins Gesicht, aber glücklicherweise waren die beiden Männer zu sehr in ihr Gespräch vertieft, um ihre Verlegenheit zu bemerken.

Wenn der Jack, den sie gekannt hatte, sich nicht rasierte, dann weil er wusste, dass der modische dunkle Schatten ihn noch attraktiver machte und das Grübchen in seinem Kinn betonte. Dieses Grübchen hatte sie immer wieder berührt, um ihn zu ärgern, damals, als sie ihn noch als eine Art älteren Bruder und nicht als anziehenden Mann gesehen hatte.

Jack wandte sich ihr zu.

„Ich lasse euch zwei dann mal allein …“, sagte Ben und trat zur Seite.

Cleo schien es, als würden die Musik und die Gespräche im Raum auf einmal verstummen. Alles, was sie noch wahrnahm, war ein leises Summen in ihrem Ohr, das kaum zu hören war hinter dem lauten Pochen ihres Herzens. Und Jack.

Sie holte tief Luft und zwang sich, einen Schritt auf ihn zuzugehen, hielt aber einen Sicherheitsabstand ein.

Sicherheit? Wem wollte sie etwas vormachen? Mit seinen unergründlichen dunklen Augen schien Jack sie buchstäblich zu verschlingen. Sein Blick, der über ihr Gesicht wanderte, war wie eine Berührung auf Stirn, Wange, Lippen. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte Cleo geschworen, dass …

Aber nein. Er war nicht ihretwegen zurückgekommen. Der Tod seines Vaters war der Grund.

Cleo unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Hat er dich nicht schon genug verletzt? In der Vergangenheit hat er dich nicht als Frau gesehen, und das hat sich vermutlich nicht geändert.

Als sie vor ihm stand, stieg ihr sein vertrauter Duft in die Nase. Der männlich herbe Geruch, der so typisch für ihn war und der sie jahrelang bis in ihre Träume verfolgt hatte.

Damit er das Zittern ihrer Hände nicht bemerkte, verschränkte sie die Arme. Mit erhobenem Kinn trat sie einen weiteren Schritt vor. Trotz ihrer Plateauschuhe überragte Jack sie um einen Kopf. „Der verlorene Sohn kehrt also zurück.“

„Hallo, Cleo.“ Wahrscheinlich weil sie so eine Art Familienmitglied war, küsste er sie leicht auf die Wange. Als sie seine Lippen spürte, hielt sie unwillkürlich die Luft an. Aber im Gegensatz zu der Hitze ihrer Berührungen in der wilden Nacht vor sechs Jahren war Jacks Kuss heute kühl und distanziert.

Dennoch ließ er sie alles andere als unberührt.

Um ihre Erregung zu überspielen, wedelte sie vage mit der Hand. „Du bist zu spät.“

„Was für eine Ironie.“ Er stand noch immer sehr nahe bei ihr und lächelte sie an. Ein unbeteiligter Beobachter würde vielleicht denken, dass er sich freute, sie zu sehen. „Genau das hast du auch gesagt, als wir uns zuletzt gesehen haben.“

Cleo erinnerte sich nur zu gut an ihre Worte auf der Party zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Der Abend war unauslöschbar in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Sam Dentons blutige Nase, die Jack ihm durch das offene Autofenster verpasst hatte. Seine Wut, als er sie von Sams Auto weggezerrt hatte. Ihre Scham seinem Vater gegenüber, der sie überraschte, als Jack sie gerade in sein Zimmer hinaufbrachte. Gerrys entsetzter Blick auf ihre nackten Brüste unter der aufgeknöpften Bluse, die durch das Jackett seines Sohnes nur notdürftig verhüllt wurden.

Und dann diese letzte Demütigung … Jack hatte genauso reagiert, wie sie es gehofft hatte, und sie hatte den Preis dafür bezahlt. Es war ihr gelungen, ihn dazu zu bringen, sie endlich als Frau wahrzunehmen, aber gleich danach war er aus ihrem Leben verschwunden.

„Aber vielleicht hast du damals auch gelogen“, murmelte Jack jetzt.

Seine Stimme holte sie zurück in die Gegenwart, in der er nichts Besseres zu tun hatte, als ihr wieder Vorwürfe zu machen, wo er sich doch eigentlich nur nach seinem Vater erkundigen sollte.

Jack ließ sie nicht aus den Augen. „War ich’s wirklich?“

„Was denn?“

„Zu spät.“

„Wovon redest du eigentlich?“

Seine Stimme war ruhig, aber der Ausdruck in seinen Augen verriet Nervosität. „Oh, ein Gedächtnisverlust, Cleo?“

Ihr Magen verkrampfte sich. Sie wäre nur zu froh über eine kleine Amnesie. „In einem Fall warst du ganz sicher zu spät“, zischte sie.

Woher nahm er die Frechheit, sie ausgerechnet bei der Trauerfeier für seinen Vater an diesen Abend zu erinnern? „Du hast einem sterbenden Mann – einem Mann, den ich geliebt habe, auch wenn du dazu nicht in der Lage warst – seinen letzten Wunsch verweigert.“

„Und der wäre?“

„Sich von dir zu verabschieden.“

Ein Schatten huschte über Jacks Gesicht. Aber Cleo sah kein Schuldbewusstsein, auch keine Reue.

„Ich bin gekommen, sobald ich es erfahren habe.“ Seine Stimme war kühl und ebenso angespannt wie seine Kiefermuskeln.

Vermutlich stimmte das sogar, aber das war keine Entschuldigung. Sie warf ihm einen ihrer „Für wie blöd hältst du mich?“-Blicke zu, der ihn früher wahnsinnig gemacht hätte.

„Wenn es dir nichts ausmacht, Goldlöckchen …“ Und dieser Ausdruck hatte sie wahnsinnig gemacht. „… dann werde ich jetzt meine Sachen nach oben bringen und mich etwas frisch machen. Ist mein altes Zimmer immer noch mein altes Zimmer?“

Wie lange war es her, dass jemand sie bei diesem Kosenamen genannt hatte?

Sie war fest entschlossen, es ihm nicht so leicht zu machen. Achselzuckend erwiderte sie: „Wenn du den Weg noch findest.“

Als Jack sich bückte, um seine Tasche aufzuheben, wich plötzlich alle Farbe aus seinem Gesicht. Cleo musterte ihn eindringlich. Seine Lippen waren fast weiß, Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Am liebsten hätte sie ihm sofort die Hand auf die Stirn gelegt, aber sie blieb auf Distanz.

„Was ist los? Bist du krank?“, fragte sie nur.

„Mir geht’s prima.“ Langsam griff er nach seiner Tasche. „Gib mir eine Viertelstunde.“ Er verzog den Mund zu dem schiefen Lächeln, das schon Cleos Teenagerherz hatte höherschlagen lassen.

Sie hatte sich geschworen, seiner Ausstrahlung zu widerstehen, aber ihr Körper war anderer Meinung. Als befände sich irgendwo in ihr ein riesiger Magnet, der sich von Jack magisch angezogen fühlte.

Unwillkürlich presste Cleo eine Hand gegen ihren Bauch, als könnte sie auf diese Weise ihre innere Unruhe besänftigen. Zu ihrer Erleichterung wandte Jack sich in diesem Moment um und ging zurück in die Eingangshalle, gerade so, als hätte es die vergangenen sechs Jahre nicht gegeben.

Manche Dinge änderten sich eben wirklich nicht. Und Jacks Wirkung auf sie gehörte offenbar dazu. Wie hypnotisiert blickte Cleo ihm hinterher, als er durch die Tür verschwand.

Sie schloss die Augen und hätte ihm am liebsten lauter Schimpfwörter hinterhergerufen. Sie wollte ihn nicht wieder in ihrem Leben haben. Weder jetzt noch in Zukunft. Sie musste sich auf sich selbst konzentrieren, auf ihre eigenen Wünsche und Träume. Sie musste Jack vergessen.

Als von der Treppe ein lautes Krachen und gleich darauf ein unterdrückter Fluch zu hören war, öffnete sie abrupt die Augen. Wie sollte sie ihn vergessen, wenn er wie ein Betrunkener im Haus herumpolterte?

Mit einer leise gemurmelten Entschuldigung in Richtung der anderen Gäste eilte Cleo aus dem Raum und die Stufen hinauf. Am oberen Treppenabsatz blieb sie kurz stehen. Jack war kaum eine halbe Stunde da, und schon rannte sie ihm wieder hinterher. Es war zum Verrücktwerden!

Als sie durch die offene Tür in sein altes Zimmer trat, stand er mit dem Rücken zu ihr am Fenster, mit beiden Händen auf das Fensterbrett gestützt. Besorgt ging sie auf ihn zu, bevor ihr klar wurde, dass das keine gute Idee war. Seine Nähe, sein Körper, sein Duft. Es war zu viel.

Geh auf Abstand. Sofort.

Doch die warnende Stimme in ihrem Hinterkopf verhallte ungehört. Cleo bewegte sich nicht, verharrte dicht hinter Jack und sah, wie er mit schlanken gebräunten Fingern nach der aus Bronze und Emaille gefertigten Skulptur griff, die auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster stand.

„Hast du das gemacht?“

Cleo biss sich auf die Lippen. Auch ohne dass sie etwas sagte, hatte er gewusst, dass sie im Raum war. Wie früher spürte er ihre Anwesenheit. „Ja“, erwiderte sie. „Ich hab jetzt eine eigene Werkstatt hinten bei der Garage.“

„Beeindruckend.“ Er stellte die Skulptur zurück auf den Tisch und drehte sich um.

Sein Gesicht hatte wieder mehr Farbe, aber er sah noch immer etwas kränklich aus. Ihr selbst allerdings ging es auch nicht gerade gut. Sie fühlte einen leichten Schwindel, als hätte Jack den gesamten Sauerstoff im Raum verbraucht. Gierig sog sie die schwach nach Blüten duftende Brise ein, die durch das offene Fenster in das Zimmer drang. Auf keinen Fall durfte sie jetzt ohnmächtig werden.

„Ein neuer Quilt“, sagte Jack, der sich im Zimmer umgesehen hatte.

Unwillkürlich schaute Cleo auf die rot-grüne Patchworkdecke auf dem Bett und wandte den Blick schnell wieder ab. Auf keinen Fall wollte sie an dieses Bett denken.

„Ich hab ihn gemacht, als Gerry krank war“, sagte sie und rief sich ins Gedächtnis, dass Jack seinen Vater hatte sterben lassen, ohne bei ihm zu sein. „Die Arbeit daran hat mich abgelenkt.“

Trotz aller Anstrengungen schoss ihr das Bild von Jacks nacktem Körper auf der gemusterten Decke durch den Kopf … Oh nein, Schluss damit!

Hastig drehte sie sich wieder zur Seite und schaute direkt in sein Gesicht. Mit einer lässigen Geste streifte er die Krawatte ab, warf sie aufs Bett und öffnete die Manschette seines Hemdes. „In diesem alten Haus hat es ja einige Veränderungen gegeben“, meinte er nachdenklich.

„Kein Wunder, Jack. Du bist immerhin sechs Jahre fort gewesen. Und wenn ich mich recht erinnere, bist du ohne ein Wort der Erklärung davongelaufen.“

Die ohnehin bröckelige Fassade höflichen Geplauders war damit endgültig dahin. Unbehagliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Jack knöpfte den zweiten Ärmel auf, bevor er antwortete. „Erstens bin ich nicht davongelaufen“, sagte er mit leicht gepresster Stimme. „Und zweitens war es Zeit für mich, zu gehen.“

Ihre Blicke trafen sich, und Cleo wusste, dass sie beide an das Gleiche dachten. Auch wenn sie nicht wirklich verstand, warum er fortgegangen war, war die Anspielung deutlich.

„Aber ohne dich zu verabschieden?“, fragte sie nach. Sie hatten beide erlebt, wie sehr es schmerzte, wenn ein Elternteil einfach wortlos wegging, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Er kannte diesen Schmerz, und er war ihr eine Erklärung schuldig. „Zumindest das hätten wir doch verdient, dein Vater und ich.“

„Dad?“ Der Ausdruck in Jacks Augen war unergründlich. Mit einer fahrigen Bewegung öffnete er den oberen Hemdknopf. „Er hat gesagt, was er zu sagen hatte.“

Cleo spürte, wie sich ihre Kehle verengte, als sie die dünne Goldkette an seinem Hals bemerkte. Das grob geformte Medaillon auf seiner Brust war eines ihrer ersten Kunstwerke im Metallschmiede-Kurs an der Highschool gewesen.

Er trug es noch immer, und das ließ ihr Herz schneller klopfen. „Er war dein Vater, Jack. Aber du hast ihn behandelt, als wäre er ein Fremder.“

„Das hast du ja offenbar mehr als ausgeglichen.“

Die unmissverständliche Schärfe in seinen Worten traf sie. Nahm er ihr das etwa übel?

„Wo wir gerade von Eltern reden“, fuhr er in ruhigerem Tonfall fort. „Ich hab deine Mum eben gar nicht gesehen.“

Erleichtert ließ Cleo sich auf den Themenwechsel ein. „Sie hat bei der Arbeit jemanden kennengelernt und wieder geheiratet. Es geht ihr gut.“

„Schön für sie.“ Jack öffnete seinen Gürtel und warf ihn ebenfalls aufs Bett. „Sie hat ein bisschen Glück verdient.“

„Das finde ich auch. Sie sind nach Neuseeland gegangen, wo seine Familie lebt. Zum Begräbnis hat sie eine Karte geschickt. Ich bin übrigens aus der Wohnung ausgezogen, als Gerry krank wurde, damit ich mich besser um ihn kümmern konnte.“ Was dir nicht im Traum einfiel, ergänzte sie in Gedanken.

Überrascht sah er sie an. „Du hast ihn gepflegt? Hier?“

„Ja, natürlich. Außer wenn er zur Behandlung im Krankenhaus war.“

„Hattest du denn Hilfe?“ Sichtlich aufgewühlt rieb er sich mit einer Hand den Nacken. Cleo erinnerte sich an die Geste, die schon früher typisch für ihn gewesen war. „Du hast das doch nicht etwa alles alleine durchgemacht, bis zu seinem …“

Das unausgesprochene Wort „Tod“ schien zwischen ihnen in der Luft zu hängen. „Als es dem Ende zuging, ist eine Pflegerin gekommen, um mir zu helfen.“ Fast wollte sie ihn trösten, aber andererseits hatte er es verdient, ein bisschen zu leiden. „Ich habe das getan, was nötig war. Der Tod ist nun mal ein Teil des Lebens.“

Jack nickte nur und rieb sich noch immer den Nacken. „Eine ziemliche Verantwortung, die du da übernommen hast.“

Was wusste er schon von Verantwortung? Sie zuckte die Achseln. „Er war für mich nun mal wie ein Vater.“

Jack schüttelte den Kopf. „Wenn dein Vater und meine Mutter wüssten, was sie damals mit ihrem Verhalten angerichtet haben …“

„Das ist fünfzehn Jahre her. Ich bin darüber hinweg.“ Wie zum Schutz verschränkte Cleo die Arme vor der Brust. Obwohl sie gerade das Gegenteil behauptet hatte, war sie nie ganz darüber hinweggekommen, dass ihr Vater und Jacks Mutter ihre Familien verlassen hatten, um miteinander durchzubrennen.

„Sie sind es, die am meisten verloren haben. Vergiss das nicht, Goldlöckchen.“ Seine Stimme war sanft geworden, war fast wie eine Liebkosung. Cleo spürte, dass ihr Widerstand dahinschmolz. Es störte sie auch nicht mehr, dass er ihren alten Kosenamen verwendete.

Jack legte eine Hand auf ihre Schulter und schien selbst von seiner Geste überrascht zu sein. Sie merkte, dass seine Finger leicht zitterten, und schnappte leise nach Luft. Langsam schob er seine Hand über den weichen Stoff ihres Kleides bis zu ihrem Hals, seine Wärme brannte fast auf ihrer Haut.

Wie konnte sie es zulassen, dass er sie auf diese Weise berührte und ihr tief in die Augen sah? So, als würde er etwas für sie empfinden? Dafür konnte es nur einen Grund geben: Sie hatte ihren Verstand ausgeschaltet. Während ihre Sinneswahrnehmungen auf Hochtouren liefen.

Es wäre so einfach, sich einzureden, dass hinter dieser Geste mehr steckte als brüderliche Sorge. Besonders jetzt, da er seine Hand über ihren Arm gleiten ließ, dann auch den anderen Arm umfasste und sie näher an sich zog.

Ein Krachen aus dem Erdgeschoss und sich anschließendes lautes Gelächter durchbrachen den erotischen Zauber. Jack ließ die Hände so abrupt sinken, als hätte er sich an ihrer Haut verbrannt. „Du solltest deine Gäste nicht vergessen.“

Der plötzliche Stimmungswandel war für Cleo wie ein heilsamer Schock. „Unsere Gäste wolltest du wohl sagen.“

Sie rieb sich über die Arme, als könnte sie die Spur seiner Berührung auslöschen. „Dies ist dein Haus, Jack, ob es dir nun gefällt oder nicht, und diese Leute da unten sind gekommen, um sich von deinem Vater zu verabschieden.“

„Abgesehen von Ben hab ich kein einziges Gesicht erkannt. Wo ist Jeanne? Und Scotty hatte mir gesagt, er würde hier sein.“

„Jeanne musste früher gehen, und Scott hat eine Aufgabe übernommen, die eigentlich deine wäre. Er bringt Moira nach Hause. Deine Großtante“, fügte sie hinzu, als er sie verständnislos ansah.

„Oh, sicher. Die Vogeltante. Wenn ich mich recht erinnere, spricht sie genauso wie ihre Kakadus. Ich bin Scotty was schuldig“, murmelte er.

Cleo betrachtete ihn kopfschüttelnd. „Manchmal denke ich, ich kenne deine Familie besser als du selbst.“

„Ganz bestimmt. Aber das war schon früher so“, erwiderte er. „Okay, ich bin gleich unten. Aber jetzt muss ich erst einmal unter die Dusche.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er das Hemd aus der Hose und öffnete die restlichen Knöpfe. Der Anblick seiner muskulösen Brust versetzte Cleo in Unruhe, sofort war das Kribbeln in ihrem Magen wieder da. Was würde geschehen, wenn sie ihn jetzt berührte? Die Hand auf seine Brust legte, ihn mit ihren Lippen liebkoste?

Erde an Cleo: Komm zur Besinnung! Jack war tabu für sie, und zwar zu ihrem eigenen Schutz. Sie zwang sich, den Blick zu heben.

„Würdest du mich dann … entschuldigen?“ Jack verharrte, die Hände an seinem offenen Hemd.

„Sicher.“ Schnell drehte sie sich um und verbannte alle Gedanken an seinen Körper aus ihrem Kopf. „Wir sehen uns dann unten.“

Sobald die letzten Gäste das Haus verlassen hatten, streifte Cleo ihre Schuhe ab. Während sie auf Scott wartete, wollte sie aufräumen. Er hatte versprochen, noch einmal bei ihr vorbeizuschauen. Scott war Bens Sohn und Jacks bester Freund aus der Highschool-Zeit. In den vergangenen Jahren war er jedoch auch für Cleo immer da gewesen.

Eine Dreiviertelstunde später, als sie gerade die Essensreste der Party einpackte, spürte sie eine Hand auf der Schulter. Sie lächelte Scott an. „Hi.“ Endlich eine entspannte Begegnung. Kein unangenehmes Schweigen, keine zittrigen Hände oder wilden Fantasien.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Moira musste mir unbedingt noch die Voliere zeigen. Ich bin mir nicht sicher, dass das alles legal ist – all die Papageien.“

„Kakadus. Sie ist wohl einfach einsam. Nett, dass du sie nach Hause gefahren hast.“ Cleo strich ihm über die Wange. „Jack ist da.“ Sie konnte selbst hören, dass ihre Stimme unnatürlich klang. Rasch drehte sie sich um und beschäftigte sich wieder mit dem Geschirr.

Autor

Anne Oliver
Anne Oliver wurde in Adelaide in Süd Australien geboren und ist dort immer noch heimisch. Sie hat zwei erwachsene Kinder und einen Abschluss in Naturwissenschaften. Seit annähernd 30 Jahren arbeitet sie im Bereich der früh kindlichen Bildung. Anne begann 1998 mit dem Schreiben und ist Mitglied der Romance Writers of...
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