Urlaub mit dem Milliardär (3-teilige Serie)

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Für Abby, Ginger und Zoe hielt das Leben in Liebesdingen bisher eher Enttäuschungen bereit. Doch damit ist jetzt Schluss! Ein unvergesslicher Sommer verändert das Leben der drei Freundinnen für immer. Denn: Jedes Töpfchen find’ sein Deckelchen …

IM BANN DES VERFÜHRERISCHEN HERZOGS

Er zog sie näher an sich. "Mon Dieu, du weißt gar nicht, was du mir antust", flüsterte er rau. Während eines Urlaubs im Burgund lernt die hübsche Drehbuchautorin Abby den faszinierenden Schlossbesitzer Raoul Decorvet kennen. Sogar aus einer aristokratischen Winzerfamilie stammt er! Plötzlich teilt sie das Himmelbett mit diesem charmanten Traumprinzen, und mit jedem seiner heißen Küsse zeigt Raoul ihr, dass er sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen kann. Doch Abby hat nicht mit der tiefen Abneigung von Raouls Familie gerechnet, die ihre himmelstürmende Liebe auf eine harte Probe stellt …

DAS GEHEIMNIS DES VENEZIANISCHEN MILLIARDÄRS

Es ist eine Nacht zum Verlieben: Viel zu schnell schlägt Gingers Herz, als sie Hand in Hand mit dem Milliardär Vittorio Della Scalla das romantische Venedig erkundet. Das Schicksal hat sie beide zusammengeführt, und zum ersten Mal seit dem tragischen Tod ihres Mannes erlaubt Ginger sich, von Liebe zu träumen. Ein Traum, der am nächsten Tag in Vittorios prächtigem Palazzo in Erfüllung geht! Sie ahnt nicht, dass der charmante Italiener eine schwere Schuld auf sich geladen hat - die eine gemeinsame Zukunft unmöglich zu machen scheint … "Also sehen wir uns doch wieder, Signora Lawrence." Sie konnte kaum atmen. "Meine Pläne haben sich geändert." "Meine auch", entgegnete er heiser.

VERFÜHRT VON DEM GRIECHISCHEN TYCOON

Sie war dort, wo sie sein wollte. In seinem Zuhause, in seinen starken Armen. Und sie wünschte sich nichts mehr, als von ihm geliebt zu werden. Als Zoe dem attraktiven Hoteltycoon Andreas Gavras geradewegs in die Arme stolpert, glaubt die schöne Forscherin, einen griechischen Gott vor sich zu haben. Der in Scheidung lebende Milliardär gibt Zoe das Gefühl, die begehrenswerteste Frau der Welt zu sein. Auf seiner Jacht genießen sie Sonne, Meer und süße Küsse. Selbst sein kleiner Sohn schenkt ihr sein Vertrauen. Doch als Andreas‘ Noch-Ehefrau plötzlich auftaucht, überfallen Zoe schreckliche Zweifel. Um seinem Glück nicht im Weg zu stehen, muss sie den Mann ihrer Träume freigeben …


  • Erscheinungstag 14.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733739577
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Rebecca Winters

Urlaub mit dem Milliardär (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2018 by Rebecca Winters
Originaltitel: „Captivated by the Brooding Billionaire“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 172018 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Rita Koppers

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733710354

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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PROLOG

„Nigel?“

Als es an der offen stehenden Bürotür klopfte, sah Abby von ihrem Schreibtisch hoch. Während des Sommer- und Herbstsemesters an der San José State University in Kalifornien hatten sie und Nigel, der Gastprofessor aus Cambridge in England, im Fachbereich Literatur in angrenzenden Büros gearbeitet. Sie hatten sich ineinander verliebt und saßen oft gemeinsam in einem Raum, während sie ihre Hochzeit für das nächste Frühjahr planten.

„Dr. Belmont hält gerade seine letzte Vorlesung vor den Weihnachtsferien“, erklärte sie der brünetten Frau, die um die dreißig war und einen Hosenanzug trug. Vielleicht war sie eine Studentin, doch Abby kannte sie nicht. „Er ist gegen Mittag fertig. Ich bin Ms. Grant und Dozentin am selben Fachbereich. Möchten Sie eine Nachricht für ihn dalassen? Ich gebe sie ihm dann.“

„Das wird nicht nötig sein“, entgegnete die Frau in dem gleichen starken britischen Akzent wie Nigel. „Ich bin Lucy Belmont. Nigels Frau. Ich muss persönlich mit ihm sprechen. Darum warte ich, bis er zurückkommt.“

Überrascht zuckte Abby zusammen. „Ich fürchte, Sie sind falsch hier. Der Nigel Belmont, der als Gastprofessor hier ist, hat keine Frau.“

Ein schmales Lächeln zeigte sich auf Lucy Belmonts Gesicht. „Natürlich hat er eine Frau, und zwei Kinder. Sie erwarten ihn über Weihnachten zu Hause. Hier sind ein paar Fotos vom letzten Frühjahr.“

Die Frau reichte Abby ein kleines Fotoalbum. Alle Bilder zeigten Nigel mit der Frau und zwei Kindern.

Mit zitternden Händen hielt Abby das Album. Sollte das irgendeine Art Scherz sein? Könnte diese Frau eine Schwägerin sein oder eine Schwester, von der Abby bisher nichts wusste? Oder war sie vielleicht unglücklich verliebt in Nigel? Nichts von alldem ergab einen Sinn. Sie und Nigel planten doch ihre Hochzeit.

Da sie sich nicht in eine unangenehme Lage bringen wollte, beschloss sie, erst einmal mit Nigel zu sprechen, und stand auf. „Ich wusste nichts davon. Natürlich können Sie gern hier warten. Er sollte in etwa fünfzehn Minuten hier sein. Wenn Sie mich bitte entschuldigen.“

Mit klopfendem Herzen verließ Abby das Zimmer und eilte durch den Flur zur Treppe. Die Hörsäle lagen ein Stockwerk tiefer. Sie schlüpfte in den Raum, in dem etwa dreißig Studenten saßen, und setzte sich nach hinten, wo sie darauf wartete, dass Nigel seine Vorlesung beendete.

Er war beliebt bei den Studenten und sah in seiner Tweedjacke und mit den dunkelblonden, nach hinten gekämmten Haaren ganz wie ein Professor aus.

Sie wusste, dass er sie gesehen hatte, doch er sprach ruhig weiter, bis er seine Studenten in die Ferien entließ.

Als der letzte Studierende den Raum verlassen hatte, nahm Nigel seine Mappe, ging zu Abby und gab ihr einen schnellen Kuss auf den Mund. „Womit habe ich diesen unerwarteten Besuch meiner schönen Verlobten verdient?“

Eindringlich starrte Abby ihn an, da sie es immer noch nicht glauben wollte. „In deinem Büro wartet eine Frau. Sie sagt, dass sie mit dir verheiratet ist. Sie hat sich als Lucy Belmont vorgestellt und mir Fotos von sich und dir und zwei Kindern gezeigt. Sag mir bitte, dass das ein Scherz ist.“ Ihre laute Stimme hallte in dem Raum wider.

Nigel rührte sich nicht, doch das Leuchten in seinen Augen verblasste. Diese Veränderung reichte, um zu belegen, dass die andere Frau die Wahrheit gesagt hatte. Der Schmerz lähmte Abby beinahe. Sie wich vor Nigel zurück. „Dann ist sie also deine Frau!“

Er schüttelte den Kopf. „Hör zu, Abby, das ist eine lange Geschichte. Wir sind seit fast einem Jahr getrennt und lassen uns bald scheiden. Ich hätte es dir irgendwann gesagt, aber …“

„Was für ein Mann bist du eigentlich?“, fiel sie ihm ins Wort, erschüttert über sein Eingeständnis. „Wenn man bedenkt, dass wir die ganze Zeit zusammen waren, während du dein anderes Leben vor mir verheimlicht hast …“

Von einer Sekunde auf die andere zerfiel der Traum, in dem sie gelebt hatte.

Du warst in einen raffinierten, abscheulichen, hinterlistigen Betrüger verliebt.

Abby spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, und fürchtete, ihr könnte übel werden. Wie viele Frauen hatte er noch betrogen, abgesehen von ihr selbst und seiner Ehefrau? Die armen Kinder.

Sie nahm den Verlobungsring ab und warf ihn Nigel vor die Füße, ehe sie aus dem Hörsaal in den Flur rannte. Kaum war sie im Waschraum, übergab sie sich, bis nichts mehr kam.

Als sie endlich wieder in der Lage war zu stehen, ohne sich am Waschbecken festhalten zu müssen, lief sie zurück in ihr Büro, nahm ihre Handtasche und verließ den Campus. In ihrem Schmerz musste sie mit den Menschen sprechen, denen sie vertraute und die sie liebte. Statt zu ihrem Apartment in der Nähe vom Campus zu fahren, machte sie sich auf den Weg zu ihren Eltern in San José.

Abby blieb ein paar Tage bei ihren Eltern. Danach sprach sie mit Dr. Stewart, dem Rektor des Fachbereichs, über ihre Situation. Nachdem sie ihm die Wahrheit gesagt hatte, fragte sie ihn, ob er sie im nächsten Semester freistellen könne.

Zu ihrer großen Erleichterung war er einverstanden und bot ihr sogar an, dass sie bis zum Sommer in Europa Forschungsarbeiten betreiben könne. Nach dem Schmerz, den sie durchlebt hatte, wollte sie nichts lieber, als fortzugehen. Das Beste jedoch war, dass er ihr versicherte, Dr. Belmont würde nicht länger an der San José State unterrichten, sondern in Zukunft an einem College im Osten. Sie müsste ihn nie mehr wiedersehen.

Nach Weihnachten flog Abby für eine Woche nach Los Angeles, um dort mit zwei anderen Frauen an einem Projekt zu arbeiten, ehe sie ins Ausland gehen würde. Ginger Lawrence und Zoe Perkins, auch Literaturwissenschaftlerinnen von der Stanford University beziehungsweise UCLA, waren ebenfalls für das Europa-Projekt engagiert worden. Die drei, alle im gleichen Alter, verstanden sich sehr gut. Abby freute sich darauf, mit den beiden nach Europa zu reisen.

Bevor sie nach San José zurückkehrte, um ihre Sachen zu packen und nach Europa zu fliegen, beschloss sie, einen Schönheitssalon aufzusuchen, um sich rundum erneuern zu lassen.

Während Abby dort wartete, blätterte sie ein paar Zeitschriften durch. Wenig später bat eine der Friseusen sie auf einen Stuhl. Abby nahm eine der Zeitschriften mit.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich hätte gern diese Frisur.“ Abby zeigte ihr das Foto, das ihr am besten gefiel. Es war ein gestufter Bob, der bis zur Schulter ging.

„Sind Sie sicher? Soll ich wirklich Ihre langen goldenen Haare abschneiden?“ Die Frau war so schockiert, als hätte Abby um etwas Sündhaftes gebeten.

Vor drei Wochen hatte Abby Nigel Belmont so schnell aus ihrem Leben gestrichen, dass er völlig überrumpelt gewesen war. Nach Weihnachten hatte er sie noch einmal angerufen, doch sie hatte ihm wortreich erklärt, er solle zur Hölle gehen. Es war ihr ernst gewesen und hatte sich gut angefühlt.

Sich jetzt die Haare abschneiden zu lassen, war der letzte Schritt, um jede Ähnlichkeit mit der alten Abby auszulöschen. Außerdem hatte sie sich geschworen, sich nie wieder von einem Mann hintergehen zu lassen.

Die Friseuse schüttelte zwar den Kopf, kam Abbys Bitte jedoch nach. Eine Stunde später hätte sie beinahe vor Freude gejubelt, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie erkannte sich kaum wieder. Ihre apfelgrünen Augen wirkten größer, und sie sah jetzt so alt aus, wie sie war. Nämlich wie eine Sechsundzwanzigjährige und nicht mehr wie eine müde Dreißigjährige. Sie hatte etwas Schlichtes, Einfaches gebraucht, mehr nicht.

Abby gab der Friseuse ein großzügiges Trinkgeld. Bevor sie den Salon verließ, musste sie über ihre langen blonden Locken steigen, und sie tat es ohne jedes Bedauern.

1. KAPITEL

Fünf Monate später

Mit ihrem Laptop im Koffer verließ Abby das möblierte Zimmer im schweizerischen Cologny, wo sie die letzten zwei Wochen gewohnt hatte. Sie nahm ein Taxi zum Bahnhof in Genf.

Nachdem sie ihr großes Forschungsprojekt abgeschlossen hatte, begannen heute ihre Ferien. Und da sie sich nicht länger formell in Hosenanzug oder Kleid zeigen musste, hatte sie ihre Lieblingsjeans und ein kurzärmliges, schwarzweißes Oberteil angezogen. Den ganzen Juni hatte sie nun frei, bevor sie wieder nach San José zurückkehren würde.

Abby konnte es gar nicht erwarten, ihre Freundinnen wiederzusehen. Sie hatten zwar miteinander telefoniert, geskypt und sich E-Mails geschrieben, aber es war viel schöner, gemeinsam etwas zu unternehmen.

Abby war auf die Romanciers des frühen neunzehnten Jahrhunderts spezialisiert und hatte auch darüber promoviert. Zu diesem Zeitpunkt lernte sie Nigel kennen – was sich im Nachhinein als Katastrophe herausgestellt hatte.

Aber sie war nicht die Einzige mit schlechten Erfahrungen. Zoe hatte gerade eine erbitterte Scheidung hinter sich, weil ihr Mann untreu gewesen war. Sie beteuerte, nie wieder etwas mit einem Mann zu tun haben zu wollen. Abby verstand sehr gut, wie Zoe sich fühlte.

Einem Mann zu vertrauen und ihn zu lieben, nur um dann zu erfahren, dass er diese Liebe nicht erwiderte und auch nicht an die Unantastbarkeit der Ehe glaubte, war niederschmetternd gewesen. Wie sollte sie je wieder einem Mann vertrauen?

Ginger litt unter einem ganz anderen Verlust. Sie hatte ihren Mann vor einiger Zeit an den Krebs verloren. Innerhalb kürzester Zeit hatten die drei zu einer ganz besonderen Freundschaft gefunden.

Da Abby besonders guter Laune war, gab sie dem Taxifahrer ein üppiges Trinkgeld und betrat dann mit ihrem Koffer den Bahnhof. Weil sie noch fünfzehn Minuten Zeit hatte, bis der Zug kam, ging sie zu ihrem Lieblingskiosk. Hier hatte sie sich jedes Mal etwas zu essen gekauft, wenn sie mit dem Zug irgendwohin gefahren war.

Nachdem sie sechs kleine Quiches erstanden hatte, zwei für sich selbst und je zwei für ihre Freundinnen, kaufte sie sich ein Zweiter-Klasse-Ticket und stieg in den vollen Zug.

Sie fand ein Abteil und setzte sich gegenüber von einem Priester und zwei Teenagern hin, die Deutsch sprachen. Abby beschloss, mit dem Essen zu warten, bis sie die beiden anderen in etwa anderthalb Stunden in Saint-Saphorin treffen würde.

Glücklich, für eine Weile frei von jeder Verantwortung zu sein, lehnte sie sich wohlig zurück. In sanftem Rhythmus fuhr der Zug von einer malerischen Stadt zur nächsten.

Der saphirblaue Genfer See mit den schneebedeckten französischen Alpen in der Ferne faszinierte sie. Es dauerte nicht lange, dann musste sie umsteigen. Wenig später traf sie in Saint-Saphorin ein, das zwischen dem See und den terrassenförmig angelegten Weinbergen lag.

Endlich würde sie ihre Freundinnen sehen. Abby freute sich auf die beiden und auf ihre Ferien.

Am Tag zuvor war Zoe von Athen nach Venedig geflogen, um sich dort mit Ginger zu treffen, die in Italien geforscht hatte. Die zwei hatten den Nachtzug in die Schweiz genommen. Sie wollten in Montreux aussteigen, sich einen Leihwagen nehmen und die wenigen Kilometer nach Saint-Saphorin fahren.

Abby ging auf den Vorplatz des Bahnhofs, doch von ihren Freundinnen war noch nichts zu sehen. Sie setzte sich und schaute zum Jura-Gebirge in der Ferne, während sie wartete. Nach zwanzig Minuten rief sie Ginger an, konnte ihr jedoch nur eine Nachricht hinterlassen. Danach versuchte sie es bei Zoe, die den Anruf entgegennahm.

„Abby? Bist du in Saint-Saphorin?“

„Ja. Wo seid ihr?“

„Der Mietwagen, den man uns versprochen hat, steht noch nicht zur Verfügung. Zu viele Touristen haben schon vorbestellt. Ginger regelt das gerade. Da es eine Weile dauern kann, habe ich bei dem Château angerufen, in dem wir wohnen werden. Jemand kommt dich abholen. Ich habe eine Beschreibung von dir durchgegeben. Bleib einfach, wo du bist. Wir können es gar nicht erwarten, dich zu sehen.“

„So geht es mir auch“, sagte Abby, bevor sie auflegte.

Jemand würde sie abholen, aber es konnte eine Weile dauern. Also aß sie eine Quiche und genoss jeden Bissen. Sie und ihre Freundinnen konnten sich glücklich schätzen, dass ihre Vorgesetzten ihnen gegenüber so großzügig waren. Magda Collier, eine der bekanntesten Filmregisseurinnen Hollywoods, hatte die drei engagiert, um Nachforschungen für einen Film zu betreiben, den ein reicher Freund von Magda produzieren würde.

Nach Neujahr hatte Magda Abby, Zoe und Ginger nach Los Angeles eingeladen, wo sie eine Woche mit den Drehbuchschreibern verbrachten. Sie wollte einen Dokumentarfilm machen, der die positiven Aspekte des bewegten Lebens von Lord Byron hervorhob, dem bekannten britischen Dichter und wesentlichen Vertreter der englischen Romantik.

Die drei Frauen waren begeistert gewesen von dem Projekt.

Magda hatte jeder von ihnen ein anderes Gebiet in Europa für die Recherche zugeteilt. Abby war in die Schweiz geschickt worden. Nachdem sie „tolle Arbeit“ abgeliefert hatten, wie Magda sagte, hatte sie die drei mit einer Belohnung beschenkt. Die sich als Ferien in einem Château mit Weingut entpuppt hatte. Das Anwesen hieß Clos de la Floraison und lag am Ufer des Genfer Sees. Sie hätte den dreien keine größere Freude machen können.

Magda erklärte, dass sie eine dauerhafte Abmachung mit dem alten Besitzer des Weinguts getroffen habe. Von Zeit zu Zeit nutzten sie oder ihre Gäste das Château. Also konnten sie dort wohnen und sich alles in der Gegend ansehen, was sie wollten.

Da sie noch einen Monat Zeit hatten, bevor sie in die USA zurückkehren würden, hoffte Abby außerdem, vielleicht ein Gedicht von Byron aufspüren zu können, das er angeblich geschrieben haben und das Labyrinths heißen sollte. Ein Werk, das nie jemand zu Gesicht bekommen hatte, weshalb Experten es als reine Erfindung abtaten. Abby wollte unbedingt herausfinden, ob es existierte.

Kürzlich war in einer Bibliothek in New York eine Denkschrift von Claire Clairmont gefunden worden, die mit Byron durch die Schweiz gereist war. Diese Schrift hatte ein neues Licht auf Lord Byron und Shelley geworfen. Abby würde alles für einen ähnlich sensationellen Fund geben. Doch bisher hatte sie mit all ihren Recherchen keinen Erfolg gehabt.

Während Abby unter dem sonnigen Himmel saß und überlegte, wo sie und ihre Freundinnen noch nach dem Gedicht suchen könnten, solange sie hier waren, bemerkte sie einen alten schwarzen Renault, der vorfuhr und dann stehen blieb.

Ein großer, schlanker Mann stieg aus, den sie auf Anfang dreißig schätzte. Mit seinen langen, gewellten schwarzen Haaren stellte er für sie das Ebenbild des vollkommenen Mannes dar. Sie hatte nicht gewusst, dass so ein Mensch überhaupt existierte.

Sein Ausdruck glich dem des französischen Schauspielers Charles Boyer, der die Titelrolle in dem bekannten Filmklassiker Der Garten Allahs gespielt hatte.

Abby hatte den Film als Teenager zum ersten Mal gesehen und sich sofort in den Schauspieler verliebt. Er spielte einen Mönch, der aus einem Kloster in Nordafrika geflohen war und sich in eine Engländerin verliebt hatte. Sie gingen zusammen in die Wüste, doch er trug ein schreckliches Geheimnis mit sich.

Manchmal war seine Traurigkeit, gepaart mit seiner männlichen Schönheit, fast zu schmerzlich, um es ertragen zu können. Doch Abby hatte sich den Film immer wieder angesehen. Boyers Spiel schien so real, dass er sie jedes Mal gefangen nahm, und sie hatte geglaubt, dass kein Franzose so fesselnd sein könnte wie er.

Bis jetzt.

Abby schaffte es nicht, den Blick von dem Fremden abzuwenden. So etwas war ihr noch nie passiert. Weder bei Nigel noch bei dem Mann, in den sie früher verliebt gewesen war. Eine grüblerische Aura umgab ihn, die sie ansprach, obwohl sie darum kämpfte, sich nicht von ihm angezogen zu fühlen.

Wer war er? Wo kam so ein Mann her?

Der Fremde wirkte, als ob er eine schwere Last trüge. Die Linien um seine Augen und seinen Mund erzählten von Schmerz. Seine Arbeitskleidung, ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine dunkle Hose, legte nahe, dass er alles liegen und stehen gelassen hatte, um ins Auto zu steigen und hierher zu fahren.

Ist er derjenige, der mich abholen soll?

Seine Züge wirkten wie gemeißelt, und seine bronzefarbene Haut ließ die Vermutung zu, dass er in der Sonne arbeitete. Sein Blick aus mitternachtsschwarzen Augen begegnete ihrem, und Abby begann völlig ohne Grund zu zittern.

Obwohl er sie dabei erwischt hatte, wie sie ihn anstarrte, wandte sie den Blick nicht ab. Ihr Puls raste, während er zu ihr trat.

„Mademoiselle Grant?“

Seine verführerische Stimme traf sie bis ins Mark. „Ja. Und Sie müssen vom La Floraison sein.“

Er nickte. „Mir wurde gesagt, ich solle nach einer Frau mit goldenen Haaren Ausschau halten.“ Er sprach ausgezeichnet Englisch, mit schwerem Akzent.

„Sie haben mir etwas voraus. Mir wurde nicht einmal gesagt, wie Sie heißen.“

„Raoul Decorvet.“

„Ich dachte, Magdas Freund wäre viel älter.“

„Das stimmte auch. Leider ist Auguste vor einem Monat mit achtzig Jahren gestorben.“

„Oh nein!“, rief sie. „Das wussten wir nicht. Magda hat uns nichts davon gesagt.“

„Sie sollten es auch nicht wissen.“

Abby schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht.“

„Ich bin hier, um den Verkauf des Anwesens für den früheren Besitzer zu regeln. Auguste hatte Herzprobleme und wusste nicht, wie lange er noch leben würde. Louis und Gabrielle, die das Weingut führen, sagten mir, dass Sie und Ihre Freundinnen gern diesen Monat bleiben können. Ich war gerade vor Ort, als Gabrielle den Anruf von Ihren Freundinnen bekam. Da sie sehr beschäftigt ist, habe ich ihr meine Hilfe angeboten.“

„Danke, aber das geht nicht. Wir wollen niemandem zur Last fallen.“

Wieder spürte sie seinen durchdringenden Blick. „Das tun Sie nicht. Wenn Sie einsteigen, werde ich es Ihnen auf der Fahrt zum Château erklären.“

Sie war sich seiner Männlichkeit so bewusst, dass es ihr schwerfiel, sich natürlich zu verhalten. Außerdem war sie nervös. Nach ihrer Erfahrung mit Nigel machte es ihr beinahe Angst, wie sie auf diesen Mann reagierte. Er griff nach ihrem Koffer, half ihr beim Einsteigen und legte ihr Gepäck dann nach hinten.

„Tut mir leid, dass Sie meinetwegen herfahren mussten. Ich hätte auf meine Freundinnen warten können. Einen Taxiservice bereitzustellen, gehört doch wohl kaum zur Arbeit eines viel beschäftigten Immobilienmaklers.“

„Pas de problème.“

Abby war sicher, dass es nicht stimmte, doch Raoul Decorvet umgab eine entschiedene Aura von Autorität. Sie wollte sich nicht mit ihm streiten, zumal er sich ihretwegen Umstände gemacht hatte. Deshalb sagte sie nichts, als er auf die Hauptstraße fuhr und schließlich um die Stadt herum Richtung Berghang. Während der Fahrt fing sie einen blumigen Duft auf.

„Was ist das für ein herrlicher Geruch?“, erkundigte sie sich.

„La Floraison begrüßt Sie.“

Sie musterte sein eindrucksvolles Profil. „Was soll das heißen?“

„Die Blüten der Weinreben öffnen sich im Juni. Darum wollte Magda, dass Sie jetzt hierherkommen. In den nächsten fünfzehn Tagen werden sie ihren berauschenden Duft verströmen, während sie automatisch bestäubt werden. Ihre Zwitterblüten sichern das Fortbestehen der Spezies.“ Ihre Blicke verhakten sich ineinander. „Die Natur ist bemerkenswert, n’est-ce pas?“

Aus irgendeinem Grund hatte das Thema ihres Gesprächs etwas Persönliches, besonders wie er es mit seiner tiefen, weichen Stimme sagte, sodass Abbys Wangen sich röteten.

„Haben Sie schon einen Käufer gefunden?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln, und hoffte, ihre Worte würden den Bann brechen, mit dem er sie belegt hatte.

Oui. Ist bereits erledigt. Der neue Besitzer wird das Anwesen Ende Juni übernehmen.“

„Sie haben es doch nicht wegen mir und meiner Freundinnen aufgeschoben?“

„Damit wird nur ein Versprechen von Auguste eingelöst. Während Sie hier sind, wird Gabrielle sich um Sie kümmern. Sie wohnen in dem allein stehenden Bauernhaus neben dem Château. Dort wird es Ihnen sicher gefallen.“

„Ich bin sicher, dass es sehr schön ist.“

Es dauerte nicht lange, da tauchte das Château vor ihnen auf. Abby bestaunte das Gebäude aus grauem Stein. Es erinnerte sie an eine kleine Burg. In früheren Zeiten wäre es ein eindrucksvolles Wahrzeichen gewesen.

Raoul fuhr an den Weingärten entlang, die in voller Blüte standen, und passierte einen Gemüsegarten, bevor sie schließlich zu einem charmanten Bauernhaus mit einem Mansardendach kamen.

„Da ist Gabrielle. Es wird langsam spät. Sie macht Ihnen etwas zu essen, wenn Sie Hunger haben.“

„Nein, nein. Ich warte auf meine Freundinnen.“

Abby entdeckte eine Frau in mittleren Jahren, die um die Ecke des Hauses kam. Sie trug einen breiten Strohhut, eine lange Hose und eine Tunika.

„Bonjour.“

Das herzliche Lächeln der Frau gab Abby das Gefühl, willkommen zu sein. Sie mochte Gabrielle schon jetzt und stieg aus dem Wagen. „Bonjour, Madame.“

„Soyez la bienvenue.“

Merci. Danke.“

„Raoul hat Sie also gefunden.“ Die Schweizer beeindruckten Abby mit ihrer Fähigkeit, gut Englisch sprechen zu können. „Mein Mann ist oben im Weingarten, und ich habe die Reben beschnitten. Als Ihre Freundinnen mir am Telefon von ihren Problemen erzählten, hat Raoul angeboten, Sie mit unserem Wagen abzuholen.“

„Ich bin Ihnen beiden sehr dankbar.“

„Soweit ich weiß, müssten sie bald hier sein. Kommen Sie doch herein.“ Gabrielle griff nach Abbys Koffer. „Wir haben fünf Schlafzimmer mit Bad. Da Sie als Erste angekommen sind, haben Sie die Auswahl.“

„Wie aufregend. Ich freue mich schon so lange auf diese Ferien.“

Abby wandte sich an Raoul. Sie sollte erleichtert sein, sich von ihm verabschieden zu können. Denn er war etwas zu faszinierend. Dabei wollte sie lieber draußen bleiben und mit ihm reden, was verrückt war. Unfassbar, dass sie so heftig auf ihn reagierte, nachdem sie sich geschworen hatte, sich nie wieder ernsthaft auf einen Mann einzulassen.

„Danke, dass Sie mich abgeholt haben.“

Mit nachdenklichem Blick sah er sie an. Wieder spürte sie, dass er irgendwie aufgewühlt war. „Vergessen Sie das hier nicht.“ Er reichte ihr die Handtasche, die sie im Wagen gelassen hatte.

Was, um Himmels willen, ist nur los mit mir? Sie hatte die Tasche völlig vergessen und auf dem Sitz liegen lassen. Die leichte Berührung seiner Finger sandte ihr wieder einen Schauer über den Rücken.

À bientôt, Mademoiselle.“

Sie wusste, was das hieß. Bis bald. Doch seinen Worten eine Bedeutung beizumessen, wäre dumm. Aber er hatte Mademoiselle zu ihr gesagt. Vielleicht war ihm aufgefallen, dass sie keinen Ring trug. Auch bei ihm hatte sie keinen entdeckt, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutete, dass er nicht verheiratet war.

Abby drehte sich um und folgte Gabrielle ins Haus, während sie sich fragte, warum ein Immobilienmakler aus Frankreich hier geschäftlich zu tun hatte.

Vielleicht lebte er auf der französischen Seite des Genfer Sees und war befugt, in beiden Ländern zu arbeiten. In diesem Fall würde er nicht im Château bleiben. Sie überlegte, ob er bald aufbrechen würde. Gabrielle könnte ihr diese Fragen beantworten, doch wenn Abby sie fragte, würde sie den Eindruck erwecken, Interesse an ihm zu haben.

Mach das nicht, Abby. Sei nicht dumm.

Gabrielle führte sie durch die hellen Gemeinschaftsräume. Das restaurierte Bauernhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert wirkte warm und einladend. Anschließend gingen sie nach oben zu den Schlafzimmern. Jedes verfügte über einen kleinen Kühlschrank mit Getränken, und in jedem Zimmer stand eine Schale mit Obst und Schweizer Schokolade.

Abby entschied sich für ein Zimmer, das Richtung Westen ging und einen Blick über den Weingarten bot. Sie sah die Arbeiter des Anwesens. Einer von ihnen war wahrscheinlich Louis. Von Raoul war nichts zu sehen.

„Wenn Sie etwas brauchen, nutzen Sie einfach das Telefon neben dem Bett und rufen bei mir im Château an. Ihre Freundinnen wissen, dass sie direkt zum Bauernhaus kommen sollen. Ihr Frühstück steht morgens ab sieben im Speiseraum bereit.“

„Wunderbar. Könnte ich vielleicht ein Fenster öffnen? Ich liebe den Duft, der vom Weingarten kommt.“

„Natürlich.“

„Danke.“

„De rien. À tout à l’heure, Mademoiselle.“

2. KAPITEL

Nachdem Gabrielle gegangen war, öffnete Abby das Fenster. Der Duft war himmlisch. Sie packte ihren Koffer aus und stellte ihre Handtasche und den Laptop auf einen runden Tisch.

Das Badezimmer verfügte über jede Annehmlichkeit. Nachdem sie sich frisch gemacht und ihren mattiert orangeroten Lippenstift aufgelegt hatte, ging sie nach unten und trat ins Freie.

Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Während sie auf ihre Freundinnen wartete, drängte es sie, Raoul unbedingt wiedersehen zu müssen, ohne dass sie es verstand. Was hatte er an sich, dass er nach der kurzen Begegnung solche Gefühle und eine derartige Sehnsucht in ihr weckte?

Wieder fragte sie sich, ob sie noch bei Sinnen war, nach dem, was sie mit Nigel erlebt hatte. Doch bei ihm hatte sie nie so empfunden. Nicht annähernd. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war mit der Zeit durch ihre gemeinsamen Interessen gewachsen.

Nichts war vergleichbar mit der heftigen Gefühlsexplosion, seit Raoul aus dem alten Renault gestiegen und auf sie zugekommen war. Der Franzose hatte sie dazu gebracht, alles zu vergessen, was sie nach Nigels betrügerischem Verhalten gelernt zu haben geglaubt hatte.

Es machte ihr Angst, dass sie sich so stark zu ihm hingezogen fühlte. Da sie sich vor ihren Gefühlen fürchtete, hastete Abby zurück zum Bauernhaus und wartete direkt davor auf ihre Freundinnen.

Sie sah auf die Uhr. Dass es bereits fünf Uhr nachmittags war, beunruhigte sie. Als sie ihr Handy aus der Tasche holte, um sie anzurufen, entdeckte sie einen dunkelroten Wagen. Schnell steckte sie das Handy weg und lief ihnen entgegen.

„Da seid ihr ja endlich!“

Ihre Freundinnen stiegen aus und umarmten Abby. Zoe sah sie lächelnd an. „Du siehst toll aus.“

„Ihr beide auch.“

„Entschuldige, dass wir so spät kommen, aber nichts hat richtig geklappt.“

„Macht nichts. Ich bin froh, dass wir alle heil angekommen sind.“

„Offensichtlich hat man dich am Bahnhof abgeholt.“

Ein Bild von Raoul blitzte in ihrem Kopf auf. „Ihr Immobilienmakler hat mich abgeholt.“

Ginger sah sie fragend an. „Was ist denn das für ein Immobilienmakler?“

„Wollen wir nicht zu dem Restaurant mit dem Käsefondue fahren, von dem Magda uns erzählt hat? Dann kann ich euch alles erzählen. Aber zuerst bringen wir eure Sachen hoch.“

Als die beiden die traurige Nachricht über Auguste hörten, waren sie genauso traurig wie Abby.

Wieder umarmten sie sich, dann half Abby den beiden mit dem Gepäck und führte sie die Treppe hinauf. „Ihr könnt zwischen vier Zimmern wählen.“

Zoe betrat einen Raum mit einem antiken Kleiderschrank und erklärte das Zimmer augenblicklich zu ihrem Zuhause. Mit ihren dunkelblonden Haaren und den azurblauen Augen war sie eine Augenweide.

Abbys Freundinnen waren beide attraktiv. Ginger sah mit ihren grauen Augen und den kurzen schwarzen Locken wie eine Französin aus. Oder wie ein Filmstar. Sie inspizierten die anderen drei Zimmer, und Ginger entschied sich für eines mit Blick auf den See. Nachdem sie das Fenster geöffnet hatte, drehte sie sich zu den anderen um.

„Ich bin halb verhungert und würde vorschlagen, wir packen später aus und gehen erst essen.“

„Ich habe nichts dagegen.“ Abby holte ihre Handtasche und ging mit den beiden anderen nach unten.

Da Ginger die Verhandlungen wegen des Autos übernommen hatte, wurde sie zur Fahrerin bestimmt. Abby war das nur recht, denn so konnte sie Ausschau nach Raoul halten. Doch von ihm war nichts zu sehen. Sie sollte dankbar sein und nicht bedrückt, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde.

Entschlossen, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen, lehnte sie sich zurück, um die ländliche Idylle zu genießen. Aber das war einfacher gesagt als getan. Denn Raouls Bild erschien immer wieder vor ihrem geistigen Auge.

Zoe bot sich als Navigator an und holte den Zettel, den Magda ihnen gegeben hatte, aus ihrer Handtasche. „Wir müssen zu dem kleinen Ort Chexbres fahren, der etwa siebenhundert Fuß über dem See liegt. Dabei sollten wir durch die bedeutendste Weinregion der Schweiz kommen. Ihr Hauptprodukt ist offenbar ein Tafelwein.“

„Die Schweizer nennen ihn chasselas“, informierte Abby ihre Freundinnen. Sie liebte den Klang des Wortes. „Ich habe viel darüber erfahren, während ich hier gearbeitet habe.“

Sie fuhren hügelaufwärts und bestaunten die Landschaft. „Schaut euch nur all diese Reihen von Weinstöcken an, die sich den steilen Hügel heraufschlängeln“, rief Ginger. „Fantastisch.“

„Darum müssen sie ihn terrassenförmig anbauen“, erklärte Abby. „Manchmal benutzen sie Flaschenzüge und müssen sie bewässern, weil es hier im Rhonetal sehr warm und trocken werden kann.“

Zoe hatte ihre Fensterscheibe heruntergelassen. „Ich liebe dieses Klima. Riecht nur die Luft. Herrlich.“

Sie fuhren weiter, bis sie nach Chexbres mit seiner wunderschönen Aussicht kamen.

„Da ist es. Das Lion d’Or.“ Ginger parkte in der Nähe des Restaurants. Sie gingen hinein, um sich ein Käsefondue mit französischem Brot zu gönnen.

Da alle drei Heißhunger hatten, aßen sie auch noch das letzte Stückchen Brot auf und tranken chasselas.

„Bevor wir überlegen, was wir morgen machen, erzähl uns von diesem Immobilienmakler, der dich abgeholt hat. Denn du schweigst dich bisher auffällig über ihn aus.“

Abby sah Zoe an. „Ich muss euch etwas Wichtiges sagen. Ich kann es selbst nicht fassen.“

„Was denn?“, wollte Ginger wissen.

„Ich glaube, der Mann, der mich abgeholt hat, ist Immobilienmakler, weil er hier ist, um das Anwesen zu verkaufen. Er heißt Raoul Decorvet. Man hat uns erlaubt, bis Ende Juni zu bleiben, bis der neue Besitzer das Haus übernimmt. Es ist Magdas Wunsch.“

Ginger runzelte die Stirn. „Sie hat nie etwas davon gesagt. Wir können nicht weiter dort wohnen, das wäre nicht richtig.“ Zoe nickte zustimmend.

Abby hatte gewusst, dass die beiden so reagieren würden. „Ich bin derselben Meinung. Aber da wir nun einmal in Europa sind, wo würdet ihr denn gern hinfahren? Ich muss mein Geld zusammenhalten, habe aber schon mal durchgerechnet. Ich habe genug Geld, um noch zwei Wochen hierzubleiben. Was ist mit euch?“

Beide glaubten, dass sie sich nicht mehr als zwei Wochen leisten könnten.

„Wisst ihr schon, was ihr gern sehen würdet?“

Zoe atmete tief durch. „Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich sofort nach Griechenland fliegen.“

Das überraschte Abby nicht. Ihre geschiedene Freundin hatte zwar nichts gesagt, doch Abby spürte, dass ein Mann im Spiel war.

„Und wohin genau?“, erkundigte sie sich.

„Nach Patras. Ich hatte nicht annähernd genügend Zeit für die Gegend.“

„Vielleicht könnten wir auch eine kleine Rundreise machen und uns ein paar der griechischen Inseln ansehen. Was hältst du davon, Ginger?“

„Das würde ich gern machen, aber ehrlich gesagt würde ich noch lieber zurück nach Italien. Es gibt so viel dort zu sehen, und es ist wundervoll. Ich kann gar nicht genug davon bekommen.“ So wie sie klang, überlegte Abby, ob nicht auch bei ihr eine Romanze im Spiel war.

Sie selbst hatte einen geheimnisvollen Franzosen getroffen, aber es wäre besser, wenn sie ihn nie wiedersähe. „Wohin in Italien möchtest du denn, Ginger?“

„Venedig. Das ist die romantischste Stadt der Welt.“

Sieh mal einer an! Ihre Freundin hatte offenbar einen Grund, wieder nach Italien zurückzugehen, dessen war Abby nun sicher.

„Ich habe eine Idee. Vielleicht könnten wir morgen nach Venedig fahren und ein paar Tage dort bleiben, bevor wir weiter nach Rom fahren. Von dort aus können wir nach Patras fliegen und eine Woche herumreisen, bevor wir zurück nach Kalifornien fliegen. Was meint ihr?“

Ginger sah Zoe an, ehe sie fragte: „Was willst du denn machen, Abby?“

Sie wollte noch länger bleiben und sehen, ob sie das Gedicht fand, sollte es wirklich existieren. „Ich bin seit Januar in der Schweiz und bereit für ein neues Abenteuer.“ Das entsprach der Wahrheit.

„Ist dir denn kein Mann ins Auge gesprungen, für den du noch hierbleiben möchtest?“

Damit hatte Zoe sich selbst verraten.

Abby schüttelte den Kopf. „Ich bin noch nicht bereit, einen Mann kennenzulernen.“

Gingers Augenbrauen schossen nach oben. „Das wirst du, wenn der Richtige auftaucht.“

Tatsächlich war jemand aufgetaucht, aber sie musste vor ihm davonlaufen. „Lasst uns das Thema wechseln. Seid ihr einverstanden mit unseren Plänen?“

„Magda möchte, dass wir die Schokoladenfabrik in Broc besuchen“, warf Zoe ein. „Sie hat die Karten für die Besichtigung bereits für uns bezahlt. Warum machen wir nicht wenigstens das morgen, damit sie sich freut?“

Abby sah die beiden an. „Ich bin schon im März dort gewesen. Aber es lohnt sich wirklich. Ich werde inzwischen noch ein bisschen über Byron recherchieren, solange wir in Saint-Saphorin sind. Vielleicht könnt ihr mich dort an der Bücherei absetzen. Dort war ich noch nicht. Ich gehe dann zu Fuß zurück zum Bauernhaus und warte auf euch. Wenn ihr morgens losfahrt, seid ihr nachmittags zurück. Anschließend könnten wir nach Italien aufbrechen.“ Magda zahlte für ihren Mietwagen.

Alle hielten das für eine großartige Idee, und sie fuhren zurück zum Château. Sollte Raoul Decorvet am nächsten Morgen immer noch da sein, wollte Abby schon fort sein. Sie wäre verrückt, darauf zu hoffen, dass sie einander wiedersehen würden. Außerdem hatte sie Angst, sich auf einen Mann einzulassen, der sie so anzog, obwohl sie ihn kaum kannte. Das wäre ihr Untergang.

Nachdem er geduscht und sich rasiert hatte, schloss Raoul Capet Regnac Decorvet, der ältere Sohn des Duc von Vosne-Romanée in Burgund, sein Geschäft mit dem neuen Besitzer von La Floraison ab.

Dann machte er sich über das Frühstück her, das Gabrielle ihm in sein Zimmer im Château gebracht hatte. Er trank noch eine Tasse Kaffee, während er seine Angestellten anrief und in den Innenhof sah.

Die drei Frauen waren frühmorgens mit ihrem Mietwagen losgefahren und bisher nicht zurückgekehrt. Von Gabrielle wusste er, dass sie nicht ausgecheckt hatten. Mademoiselle Grant war ihm die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gegangen. Er wollte sie unbedingt wiedersehen. Was ihn sehr erstaunte, da er nur wenig Zeit mit ihr verbracht hatte. So etwas war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert.

Natürlich hatte Raoul in seiner Jugend hin und wieder eine Beziehung zu einer Frau gehabt. Doch es war seine Bestimmung gewesen, die Frau zu heiraten, die sein Vater für ihn ausgesucht hatte, für die er jedoch nichts empfunden hatte. Vor zwei Jahren waren seine Frau und sein Baby auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem war er ein Sklave seiner Arbeit.

Als er geschäftlich in die Schweiz gekommen war, hätte er sich nie träumen lassen, dort eine Frau kennenzulernen, die seinen Geist, seine Seele und seinen Körper gefangen nehmen würde. Er konnte es sich zwar nicht erklären, aber die Wirkung, die sie auf ihn hatte, brachte ihn zurück ins Leben.

Es war ein atemberaubender Anblick gewesen, als er sie auf der Bank vor dem Bahnhof gesehen hatte.

Die Sonnenstrahlen hatten ihre Haare in flüssiges Gold verwandelt. Statt eine Sonnenbrille zu tragen wie die typischen Touristen, hatte sie die Landschaft in sich aufgenommen.

Er konnte spüren, dass sie auf alles reagierte, was sie sah. Sie zu beobachten, hatte ihn vor Aufregung atemlos gemacht. Außerdem hatte sie etwas Unschuldiges an sich, das ihn ebenfalls ansprach. Ein Geschenk, das die Frauen, die seine Welt bevölkerten, nicht hatten, und ganz sicher nicht die seiner eigenen Familie. Sollten sie einmal unschuldig gewesen sein, war diese reizvolle Tugend ihnen durch ihren Lebensstil und ihr Anspruchsdenken geraubt worden.

Warum muss mir das jetzt klar werden, wo diese Frau in Kürze in die Staaten zurückkehren wird?

Sie würden sich nie wieder über den Weg laufen, es sei denn, er würde nachhelfen. Je länger er dasaß, desto mehr festigte sich sein Entschluss, sie wiedersehen zu wollen. Er musste diese starken Gefühle erforschen, sonst würde er noch den Verstand verlieren.

Während er über einer Idee brütete, die ihm die ganze Nacht durch den Kopf gegangen war, klingelte sein Handy. Es war sein Privatsekretär.

„Félix?“

„Sie hatten recht. Jules hat nicht geglaubt, dass es schon so weit ist, aber die Schwarzfäule zeigt sich wirklich im terroir im Norden.“

„Ich wusste es“, murmelte Raoul. „Es ist wärmer als üblich. Ich bin zwar morgen wieder zu Hause, aber sagen Sie ihm, dass er sofort mit dem Pilzvernichtungsmittel anfangen soll.“

„Ich kümmere mich gleich darum.“

„Lassen Sie sich auf keine Diskussion ein. Das Spray wird die Infektion stoppen. Ich habe Jules immer wieder gesagt, dass man jedes Jahr wegen des unterschiedlichen Wetters nachsehen muss. Sagen Sie ihm, dass ich morgen mit ihm sprechen werde.“

Raoul legte auf und sah, wie Mademoiselle Grant die Auffahrt entlangkam. Sein Puls raste, als er merkte, dass sie allein war. Er beobachtete, wie sie am Gemüsegarten stehenblieb, um sich ein paar Pflanzen anzusehen. Sie trug Jeans und ein kurzärmliges grünes Top, das dunkler war als ihre erstaunlichen Augen. Ihre Füße steckten in Wanderschuhen.

Er griff nach Handy und Schlüsseln und verließ das Zimmer in Jeans und T-Shirt, um sie noch zu erwischen. Auf dem Weg nach draußen erklärte er Gabrielle, nach dem Rennboot des Châteaus sehen zu wollen, um sicherzugehen, dass es dem neuen Besitzer in einem guten Zustand übergeben wurde.

Draußen sah er, dass die junge Frau einen der Wege durch den Weingarten hinter dem Gemüsegarten entlangspazierte. Er schlenderte zu ihr und bewunderte ihren wohlgeformten Körper, als sie stehen blieb und sich hinunterbeugte, um den Duft der Blumen einzuatmen.

Sie musste gespürt haben, dass er auf dem Weg zu ihr war, denn sie drehte sich zu ihm um.

„Hallo. Ich wusste gar nicht, dass Sie immer noch da sind“, meinte sie verwundert.

„Morgen fahre ich wieder nach Hause. Ich werde dort erwartet.“

„Von Ihrer Familie?“

„Ja. Nein …“ Er zögerte, wusste aber instinktiv, dass er der schönen Fremden vertrauen konnte. „Meine Frau und unser Baby sind vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Angélique war auf dem Heimweg vom Château ihrer Eltern, das nur fünf Kilometer entfernt liegt. Der andere Fahrer war schuld.“

Abby schloss die Augen. „Es muss schrecklich gewesen sein.“ Das erklärte auch den Schatten auf seinen Zügen.

„Ja, das war es. Aber es gehört der Vergangenheit an. Und was haben Sie vor?“

„Meine Freundinnen und ich werden bald abreisen. Heute Morgen haben sie mich in die Stadt gefahren. Sie sind dann weiter, um sich die Schokoladenfabrik in Broc anzusehen. Ich habe sie schon besichtigt und wollte ein bisschen recherchieren. Da sie jede Minute zurück sein müssten, wollte ich draußen auf sie warten.“

Er runzelte die Stirn. „Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt, dass Sie gern bis Ende Juni bleiben können.“

„Das stimmt, aber wir haben darüber gesprochen, und es fühlt sich einfach nicht richtig an.“

Raoul wusste, dass sie zu dem Entschluss gekommen war, als er ihr von Augustes Tod erzählt hatte. Er fand es ungewöhnlich und bemerkenswert, dass diese Frauen sich entschlossen hatten, den Vorteil nicht zu nutzen. „Heißt das, Sie fliegen zurück in die Staaten?“

„Noch nicht. Wir wollen noch zwei Wochen in Italien und Griechenland herumreisen. Danach fliegen wir nach Hause.“

„Nicht in Frankreich?“ Er wollte nicht, dass sie ging.

„Das würde ich liebend gern, aber die beiden haben seit Januar in Italien und Griechenland recherchiert. Darum wollen sie noch einmal dorthin, da sie jetzt die Möglichkeit dazu haben.“

„Und Sie?“

„Ich habe hier in der Schweiz gearbeitet.“

Er wollte sehr viel mehr über sie wissen. „Sie waren die ganze Zeit hier?“

„Ja, aber jetzt möchte ich zu gern etwas anderes machen.“

„Mademoiselle Grant …“, begann Raoul, „ich muss mit dem Boot des Châteaus über den See fahren, damit ich prüfen kann, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Wie wär’s? Kommen Sie doch mit, dann können wir unser Gespräch fortsetzen.“

„Besser nicht. Ich kann nicht schwimmen.“

Raoul spürte, dass sie sich ihm entzog, doch sein Bauch sagte ihm, dass sie mitkommen wollte. Sie hatten sich von Anfang an zueinander hingezogen gefühlt.

„Genau dafür sind ja Rettungswesten da. Glauben Sie wirklich, dass in dieser riesigen Badewanne von einem See ein Unfall passieren kann? Man hört nicht einmal eine Welle, die ans Ufer gespült wird. Warum riskieren Sie es nicht und kommen mit? Ich kann schwimmen.“

Zögernd sah sie ihn an. „Besser nicht. Ich will meine Freundinnen nicht verpassen.“

Doch er wollte nicht klein beigeben. „Sie haben doch ein Handy.“

„Ich weiß, aber …“

„Wir sind nicht lange weg. Ich muss nur überprüfen, ob der Motor richtig läuft, und würde mich über Gesellschaft freuen.“

Er hörte, wie sie tief einatmete. „Also gut.“

Hätte sie Nein gesagt, hätte er sich etwas anderes überlegen müssen, um Zeit mit ihr verbringen zu können.

Sie gingen zu dem Renault. Raoul half ihr in den Wagen und fuhr zum Pier. Das Kajütboot war schon einige Jahre alt, sah aber so aus, als wäre es noch in gutem Zustand. Raoul half Abby, ins Boot zu steigen. Das Erste, was er tat, war, ihr eine Rettungsweste zu geben.

„Danke. Und Sie?“

Macht sie sich Sorgen um mich? Der Gedanke gefiel ihm. „Sollte ich eine brauchen, hole ich mir eine.“

Er hätte ihr zu gern dabei geholfen, die Weste anzulegen. Doch da er befürchtete, sich nicht zurückhalten zu können, löste er die Leinen und ließ den Motor an. Mit dieser Frau zusammen zu sein, war, wie frische Luft zu atmen.

Sie hatte nicht die Absicht, viele Fragen zu stellen, sondern wirkte im Frieden mit sich selbst und schien die Welt um sich herum zu genießen.

„Warum setzen Sie sich nicht gegenüber von mir hin?“

Sie nahm Platz und warf einen Blick zu den Segelbooten. „Es gibt keinen Wind. Zu schade, dass sie auf den Motor angewiesen sind.“

Wenn er hier war, ging ihm regelmäßig das Gleiche durch den Kopf. „Wo haben Sie in der Schweiz gewohnt?“

Neugierig sah Abby ihn an. „Überall. In Grindelwald, Lauterbrunnen, Mürren, Interlaken, Montreux, Genf und Cologny.“

„Und warum?“

„Vermutlich wissen Sie nicht, warum unsere Chefin uns diesen Urlaub geschenkt hat.“

„Ich weiß nur, dass sie eine Filmregisseurin ist und mit Auguste befreundet war.“

„Das stimmt. Magda arbeitet an ihrem bisher wichtigsten Film. Er soll einen neuen Blick auf das Leben von George Gordon Noel Byron werfen, auch bekannt als Lord Byron. Sie braucht neue Ansätze, damit das Drehbuch authentisch wird. Meine Freundinnen und ich wurden ausgewählt, weil wir am College Vorlesungen und Seminare über Romanciers des frühen neunzehnten Jahrhunderts geben.“

Abby Grant ist eine Expertin in Sachen Lord Byron?

Dass er sie zufällig getroffen hatte, und ausgerechnet in Saint-Saphorin, wo Auguste vor Jahren seinen Fund gemacht hatte, konnte Raoul kaum fassen.

Er stellte den Motor ab, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. „Sie sind also alle drei Professorinnen an der Universität?“ Er konnte es immer noch nicht glauben.

„Wir haben noch keinen Lehrstuhl, aber das kommt auch noch irgendwann. Unser Ziel ist es, dabei zu helfen, das Skript mit neuen Fakten und einem anderen Blick zu unterfüttern. Es gibt sehr viel Material über Byron, doch Magda hofft, dass es noch mehr gibt. Und ich auch.“

„Inwiefern?“

„Ich bin auf der Suche nach einem Gedicht, das er angeblich geschrieben haben soll, als er in der Schweiz war. Doch da es in den letzten hundertneunzig Jahren niemand gefunden hat, existiert es vielleicht gar nicht.“

Diese Frau war nicht nur intelligent, sondern auch wissensdurstig, was Raoul sehr aufregend fand. Sein Herz klopfte bis zum Hals.

„Hat es einen Titel?“

„Ja. Irgendetwas wie Labyrinths, aber da fehlt noch etwas. Ich weiß es nicht genau.“

„Labyrinths of Lavaux.“ Raoul konnte ihr bestätigen, dass es existierte und wo es zu finden war. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.

„In den letzten fünf Monaten haben wir überall in Europa recherchiert, wo Byron gereist ist. Magdas Ziel ist es, Byrons Vorzüge herauszustellen und die negativen Seiten beiseitezulassen.“

„Jetzt verstehe ich“, murmelte er. „Sie sind mit Shelley und Mary Godwin seinen Spuren gefolgt.“

Ein verhaltenes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Wie ich merke, sind Sie gut informiert. Soll ich Ihnen etwas Lustiges erzählen, was er in sein Tagebuch geschrieben hat? Als er die Berge verlassen hat und wieder an den Lac Léman zurückgekehrt ist, notierte er: ‚Der stürmische Teil unserer Tour ist beendet … mein Tagebuch muss genauso flach sein wie unsere Reise.‘“

Raoul war beeindruckt von ihrem Wissen. „Genau. Zu viel Ruhe und Frieden muss ein bisschen aufgerüttelt werden. Byron hat die Natur dem Menschsein gleichgesetzt.“

„Haben Sie je Der Gefangene von Chillon gelesen? Es stellt eine Verbindung zwischen Natur und Freiheit her, während es gleichzeitig die möglichen tödlichen Aspekte der Natur aufzeigt, die sich in den rauen Wellen zeigen, die den Kerker während eines Sturms zu überfluten drohen und …“ Plötzlich verstummte sie.

„Bitte sprechen Sie weiter“, drängte er sie.

„Tut mir leid. Ich habe ganz vergessen, dass ich nicht vor meinen Studenten stehe. Obwohl ich morgen mit meinen Freundinnen weiterreisen will, wird es mir niemals leidtun, hierhergeschickt worden zu sein, um zu arbeiten. Ich habe dieses Gedicht schon immer besonders geliebt.“

„Wir sehen jetzt das Château de Chillon vor uns.“

Abby nickte. „Ein wunderschönes Château. Ich habe es mir schon ein halbes Dutzend Mal angesehen, aber seit ich den Kerker besichtigt habe, in dem der Schweizer Patriot Bonivard eingesperrt war, verfolgen mich Byrons Worte.“

„Können Sie etwas davon zitieren?“

Ihre Augen leuchteten auf. „Würden Sie mir glauben, dass ich bei einem Wettbewerb in der Highschool alle 392 Zeilen auswendig wusste?“

Ein Feuer brannte in ihr. Er lehnte sich gegen die Bootswand. „Haben Sie gewonnen?“

„Würde es wie Angeberei klingen, wenn ich ja sage?“

Sie sprach ihn in einer Weise an, die er nie für möglich gehalten hätte. „Ich wette, Sie können sie immer noch aufsagen.“

Abby schüttelte den Kopf. „Das ist zu lange her.“

Raoul beugte sich vor. „Ich weiß noch, dass ich es als Jugendlicher mit meinem Großvater gelesen habe. Er liebte Byrons Werke, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Kommen Sie. Geben Sie mir eine Kostprobe. Wir sind genau dort, wo er sich hat inspirieren lassen.“

Sie legte den Kopf schräg. „Vielleicht ein Stück aus dem ersten Teil.“

„Ich warte.“ Mon Dieu – dafür, dass er sie erst so kurz kannte, fühlte er sich viel zu sehr von ihr angezogen.

Nachdem Abby erst einmal angefangen hatte zu sprechen, bestürmte ihn eine Vielzahl beunruhigender Gefühle.

Mein Haar ist grau, nicht grau durch Jahre

Noch ward es greis

Über Nacht so weiß,

Wie Manchem Schreck gebleicht die Haare;

Mein Leib ist krumm, doch nicht durch Müh’n,

Verschrumpft in schnöder Ruh allein.

Als Beute hielt ein Kerker ihn,

Und des Unseligen Los war mein,

Dem Erd’ und Luft von guter Art

Verbannt, versperrt, verboten ward.

Für Glauben litt ich solche Not,

Der Fesseln Druck und Wunsch nach Tod;

Mein Vater auch am Pfahl verschied,

Weil er den Glauben nicht verriet,

Und drum auch ward, was ihm entstammt,

Ins Haus der Finsternis verdammt.

Während Raoul dasaß und Abby anstarrte, hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sich so stark zu ihr hingezogen fühlte Es schien ihm ein Verrat an Angéliques Andenken zu sein.

„Byron war ein großer Dichter“, sagte er mit einer Stimme, die auch in seinen Ohren belegt klang. „Danke, dass Sie seine Worte für ein paar Minuten wieder so eloquent zum Leben erweckt haben.“

Abby verlagerte ihr Gewicht, während sie auf das Château in der Ferne blickte. „Es tut weh zu wissen, wie Menschen verfolgt wurden. Byron hatte viele Probleme, körperliche und andere. Ich glaube, seine Qual wird durch dieses Gedicht deutlich.“ Raoul spürte, dass sie ebenfalls gelitten hatte – und wollte wissen, warum.

„Zweifellos. Kein Wunder, dass man Sie ausgewählt hat, um bei dem Film mitzuhelfen.“

Sie lächelte. „Ich mache es sehr gern.“

Eindringlich sah er sie an. „Gern genug, um für ein paar Tage mit mir nach Frankreich zu kommen?“

Sie erstarrte. „Was haben Sie gesagt?“

„Ich habe gefragt, ob Sie gern ein bisschen Zeit mit mir in meinem Zuhause in Burgund verbringen möchten. Sie sagten doch, dass Sie ein wenig Abwechslung brauchen. Ihre Freundinnen sind auch eingeladen.“

Seine Frage schien sie erschüttert zu haben. Es dauerte lange, bevor sie antwortete. „Sie sagen das nur, weil Sie glauben, dass der Tod von Auguste unsere ganzen Pläne vereitelt hat.“

„Aber nein. Sie sind kein Mensch, der sich von einer Veränderung erschüttern lässt. Und ich bin ziemlich sicher, Ihre Freundinnen auch nicht. Das ist nicht der Grund, warum ich Sie eingeladen habe.“

Er wollte ihr von Labyrinths of Lavaux erzählen, es aber auch langsam angehen lassen. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn er sie bat, mit ihm zu Mittag zu essen. Wenn sie etwas mehr Zeit mit ihm verbrachte, würde sie ihm wohl eher glauben, dass er in Bezug auf den Fund seines Onkels die Wahrheit sagte.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht.“

„Es gibt da etwas, das ich Ihnen gern zeigen würde. Denn ich weiß, dass gerade Sie den Wert zu schätzen wissen. Wenn Sie mit mir zu einem späten Lunch gehen, erzähle ich Ihnen Näheres.“

Raoul spürte, dass sie wieder versuchte, ihm auszuweichen. Aber nach dem Gespräch auf dem See war er getrieben von einer Idee, die ihn nicht mehr losließ.

„Wenn Sie nach unserem Lunch immer noch nein sagen, bringe ich Sie zum Château zurück.“

3. KAPITEL

Abby starrte den bemerkenswerten Mann in Jeans und T-Shirt vor ihr an. Würde man ihn auf einer Plakatwand zeigen, könnte man Millionen mit ihm verdienen, ganz egal, was er trug.

„Sie sind kein Immobilienmakler, stimmt’s?“

Wenig später hatte er angelegt und stellte den Motor aus. „Das ist Ihre Vermutung.“

„Aber Sie haben keinen Einspruch dagegen erhoben.“

Er warf ihr wieder diesen verführerischen Blick zu, obwohl sie glaubte, dass er es nicht bewusst tat. „Verzeihen Sie mir?“

Mit diesem Blick würde sie ihm alles vergeben, und wahrscheinlich noch viel mehr. Genau das machte ihr Angst.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie nach einer Weile. „Es hängt davon ab, was Sie machen, wenn Sie nicht gerade fremde Frauen an einem verlassenen Bahnhof auflesen.“

Sein kurzes Lächeln raubte ihr den Atem.

Hastig zog sie die Rettungsweste aus und stieg aus dem Boot. Abby spürte seinen Blick und wusste, dass er immer noch auf eine Antwort von ihr wartete. Ihrem Verlangen nachzugeben und seine Einladung anzunehmen, wäre himmlisch. Aber welchen Preis würde sie später dafür bezahlen, wenn er sie nicht mehr wollte?

„Wer sind Sie?“, platzte sie beinahe panisch heraus. „Was sind Sie?“

„Wäre Ihnen damit gedient, wenn ich Ihnen sage, dass ich Winzer bin?“

„Aus Burgund …“ Sie hätte es wissen müssen, doch sie war viel zu gefesselt von seiner Männlichkeit gewesen. „Es gab Hinweise. Nicht jeder Makler kennt sich so gut mit der Bestäubung aus.“

„Ein Detail habe ich in meiner Kurzfassung ausgelassen. Auguste Decorvet war ein entfernter Verwandter von mir. Die Familie Decorvet hat viele Sprösslinge, aber keiner verkauft Immobilien. Vor Jahren ist einer von ihnen in die Schweiz gegangen, um ein Weingut zu kaufen und den Kämpfen und Schwierigkeiten in der Familie zu entkommen. Einer Familie, in der jeder das Sagen haben will.“

Sie lächelte. „Das trifft leider auf einige dynastische Familien zu.“

„Aber nicht auf Ihre?“

„Nein. Meine Eltern sind ziemlich entspannt. Wenn ich etwas tue, das ihnen nicht gefällt, zeigen sie es mir durch ihre Enttäuschung. Und ich mag es nicht, sie zu enttäuschen.“

„Sie können froh sein, in so einem Umfeld aufgewachsen zu sein.“ Raouls Ton ließ sie vermuten, dass er in Bezug auf die Streitereien in seiner Familie nicht übertrieben hatte. „Während wir essen, können Sie mich alles fragen, was Sie wollen. Aber vorher muss ich wissen, welche Art von Essen mir die Antwort auf meine Frage gibt, auf die ich noch warte.“

„Leider nicht der Weißfisch, der entlang des Sees verkauft wird.“

„Sie brauchen wirklich einen Ortswechsel“, meinte er und lachte.

Während sie zum Wagen gingen, überlegte Abby, was Zoe und Ginger sagen würden, wenn sie erfuhren, dass er sie für ein paar Tage zu sich nach Frankreich eingeladen hatte. Abby hatte bisher nur ein paar Stunden mit ihm verbracht. Man verschwand nicht einfach mit einem praktisch Fremden, der Winzer war, auch wenn es noch so aufregend klang. Selbst dann nicht, wenn er mit dem früheren Besitzer des Weinguts verwandt war und ihr etwas Wichtiges zeigen wollte.

Aber war es wirklich so falsch, wenn sie alle Vorsicht in den Wind schlug, um ein Abenteuer zu erleben? Wenn sie wissen wollte, wie es war, in seinen Armen zu liegen und die Welt zu vergessen?

„Ich … ich weiß nicht, wie bald meine Freundinnen zurück sein werden.“ Sie stockte. „Wenn wir im Ort essen, können sie vielleicht dazukommen, falls sie Zeit haben.“

„Vielleicht sind sie schon wieder zurück. Wir fahren zum Château und sehen nach.“

Als sie den roten Wagen nicht entdecken konnten, fuhr Raoul zu einem Straßenbistro. Hier gab es das köstlichste escalope de veau, das Abby je gegessen hatte, mit Erbsen, die frisch aus dem Garten sein mussten. Sie hatte schon ihr halbes Dessert, eine galette framboise, gegessen, als sie ihre Gabel ablegte, weil sie bemerkte, dass er sie aus dunklen Augen musterte.

„Warum lächeln Sie?“

„Es ist ein Vergnügen, einer Frau zuzusehen, die mit Freude isst.“

„Ich fürchte, es ist nicht sehr damenhaft.“

„Sagt wer?“

Über die Antwort musste sie nicht nachdenken. „Andere Frauen.“

„Dann sind sie nur neidisch auf Ihre Figur. Entschuldigen Sie, dass ich so offen bin. Aber schließlich bin ich auch nur ein Mann.“

Ein außergewöhnlicher Mann, und er faszinierte sie immer mehr.

„Also schön. Jetzt möchte ich den wahren Grund wissen, warum Sie uns nach Frankreich eingeladen haben.“

„Lassen Sie mich Ihnen zuerst eine Geschichte erzählen.“

Abby. Es ist idiotisch von dir, hier zu sitzen und dir das noch länger anzuhören. Das muss ein Ende haben, bevor er merkt, dass du verrückt nach ihm bist.

„Raoul? Danke für das köstliche Essen. Aber jetzt sollten Sie mich besser zum Château zurückfahren.“ Sie stand vom Tisch auf, doch er blieb sitzen.

„Sie wollen also gehen, bevor Sie wissen, wo Sie Labyrinths of Lavaux finden können?“

Bei seiner Frage drehte sie sich wieder um.

„Ist es das, was Sie mir zeigen wollen?“

„Als Auguste vor fünfzig Jahren in das Château zog, hat er es in einem Notizbuch gefunden, das in irgendeiner Mappe der Bibliothek steckte. Vielleicht hat Byron im Château gewohnt, als er in der Gegend war.“

Wie bitte?

„Auguste wusste nicht, was er davon halten sollte. Da mein Großvater jedoch ausgezeichnet Englisch kann und Byrons Werke liebt – besonders die, die er während seiner griechischen Periode geschrieben hat –, hat er ihm das Notizbuch geschickt.“

Entgeistert stand Abby da und hielt sich am Stuhl fest. „Ihr Großvater hat es?“

„Richtig. Er glaubt, dass es echt ist. Offenbar war Byron so fasziniert davon, dass wir auf dem steilen Gelände den Wein terrassenförmig anbauen, dass er es Labyrinthe genannt hat. Ein weiteres Beispiel dessen, was Sie über die Schönheit, aber auch Rauheit der Natur gesagt haben.“

Abby konnte nicht länger stehen, deshalb sank sie auf ihren Stuhl. „Hat er es nie einem Experten gezeigt, um die Echtheit überprüfen zu lassen?“

„Nein. Sollte es echt sein, will er es behalten und nicht aushändigen. Ich habe es gelesen. Es sind nur zwei Seiten in dem Notizbuch. Er hat es mit Byron signiert, in seiner unverkennbar auffallenden Schrift. Da Auguste nicht mehr lebt, weiß niemand, dass er es besitzt. Niemand außer meinem Großvater selbst, meiner Großmutter, mir und jetzt Ihnen. Wenn Sie mit mir nach Frankreich kommen, würde er sich geehrt fühlen, wenn Sie es sich ansehen und ihm Ihre sachkundige Meinung sagen.“

Abby hatte sich bereits entschieden, ihn für ein oder zwei Tage nach Frankreich zu begleiten. Wenn es stimmte, was er sagte, und das Gedicht echt war, wäre es das Aufregendste, was sie je erlebt hatte.

Während sie völlig verwirrt dasaß, schrieb Ginger eine SMS, dass sie zurück seien. Abby ließ sie wissen, dass sie in ein paar Minuten da sein würde, und steckte ihr Handy in die Handtasche.

„Ich habe Ginger Bescheid gegeben, dass ich gleich komme.“ Raoul wollte ein Ja oder ein Nein von ihr, also sagte sie: „Sollten Sie die Wahrheit sagen, bin ich natürlich versucht, Ihren Großvater kennenzulernen und mir das Gedicht anzusehen, aber …“

„Aber Sie sind nicht sicher, ob Sie mir glauben können“, fiel er ihr mit einer Offenheit ins Wort, die ihr den Atem raubte. Er legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und stand auf.

Sie sah zu ihm hoch. „Ich spreche mit meinen Freundinnen.“

Raoul kam um den Tisch, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie war sich seiner Nähe schon bewusst, bevor sie seine Hände auf ihren Schultern spürte. Für einen Moment wünschte sie, er hätte sie in seine Arme gezogen.

Abby wusste, dass die beiden anderen unbedingt nach Italien und Griechenland wollten. Ihre Freundinnen würden an ihrem Verstand zweifeln, wenn sie Raouls Einladung annahm.

Und ihre Befürchtung bewahrheitete sich. Eine halbe Stunde später, nachdem sie Raoul die beiden im Innenhof vorgestellt hatte, gingen die drei Frauen hoch in ihr Schlafzimmer. Dort erzählte Abby ihnen alles, auch dass er Witwer war und sein Kind ebenfalls verloren hatte.

Mitfühlend sah Zoe sie an. „Ich verstehe, dass du dich zu ihm hingezogen fühlst. Er ist umwerfend, und keine Frau wäre seiner Männlichkeit gegenüber immun. Aber er ist ein bisschen zu clever. Nachdem du ihm von dem angeblich vermissten Werk Lord Byrons erzählt und den Titel Labyrinths erwähnt hast, war es sicher nicht schwer für ihn, das Wort Lavaux hinzuzufügen, stimmt’s?“

„Das denke ich auch“, murmelte Ginger. „Allerdings verstehe ich nicht, warum er das Gefühl hat, dich bestechen zu müssen. Ein Mann, der so attraktiv ist wie er, kann doch jederzeit bei einer Frau landen, ohne eine Ausrede benutzen zu müssen, um sie zu ködern. Offenbar wünscht er sich sehr, dass du mitkommst.“

Und ich wünsche es mir noch mehr.

„Ich glaube nicht, dass ich es tun würde“, schloss Zoe. „Aber vermutlich hängt deine Entscheidung davon ab, wie viel er dir bereits bedeutet.“

Abby wandte den Blick ab. „Ihr wärt schockiert, wenn ihr wüsstet, wie stark meine Gefühle für ihn sind.“

„Wenn das so ist, kann ich dir nur raten, dass du dir nicht von ihm wehtun lassen solltest, so wie von Nigel.“

Röte überzog Abbys Wangen. „Das ist ja mein Problem, Ginger. Ich will mich nicht auf ihn einlassen, fühle mich aber so zu ihm hingezogen, dass ich den Gedanken kaum ertrage, ihn nie wiederzusehen.“

„Klingt, als hättest du dich schon entschieden, mit ihm nach Frankreich zu fahren.“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, er sagt die Wahrheit, und er hat euch beide auch eingeladen. Wir könnten uns das Gedicht zusammen ansehen.“

„Falls es existiert“, warf Ginger ein. „Aber jetzt mal ehrlich, Abby. Du willst mit ihm zusammen sein, egal, ob er dir etwas zu zeigen hat oder nicht, stimmt’s?“

„Ja“, flüsterte sie, „aber ich brauche mehr Zeit, um darüber nachzudenken. Warum brecht ihr beide nicht schon mal nach Italien auf, damit ich euch nicht aufhalte. Ich spreche nachher noch einmal mit Raoul. Sollte ich zu dem Schluss kommen, dass es das Risiko nicht wert ist, fliege ich von Genf nach Venedig, und wir können uns dort morgen treffen. Was meint ihr?“

Zoe lächelte. „Wie auch immer du dich entscheidest, wir stehen hinter dir.“

„Sei nur vorsichtig“, bat Ginger, ehe sich die drei umarmten.

Da sie bereits am Abend zuvor gepackt hatten, gab es nichts mehr zu tun, und sie gingen hinaus zum Mietwagen.

„Wir telefonieren jeden Tag miteinander“, versicherte sich Zoe.

„Absolument“, versprach Abby ihnen und winkte ihnen hinterher. Dann ging sie zurück ins Bauernhaus und rief Raoul von ihrem Schlafzimmer aus an. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie Mühe hatte, Gabrielle zu bitten, sie zu ihm durchzustellen.

„Abby …“, erklang seine tiefe Stimme. „Ich habe mich schon gefragt, ob ich noch von Ihnen höre. Und, wie lautet das Urteil?“

Vielleicht würde sie es bereuen, doch sie konnte nicht anders. Sie sehnte sich danach, mit ihm zusammen zu sein. Alles andere spielte keine Rolle. „Die beiden sind bereits nach Italien aufgebrochen.“

„Das heißt also, sie glauben nicht, was ich Ihnen erzählt habe.“

Sie umklammerte den Hörer fester. „Sie wollen, dass ich allein eine Entscheidung treffe.“

„Und, haben Sie sich entschieden?“

„Ja. Der Vergleich der Weinberge mit einem Labyrinth klingt … nach Byron. Nicht jeder Scharlatan ist so clever.“

Für ein paar Sekunden war es still am anderen Ende. „Wie bald können Sie für die Reise fertig sein, um herauszufinden, ob diese Bezeichnung auf mich zutrifft?“

„Ich bin bereits fertig. Aber sobald ich das Notizbuch gesehen habe, breche ich nach Italien auf.“

„Ich bewundere Sie, weil Sie unvoreingenommener sind als Ihre Freundinnen.“

Oder sehr viel dümmer.

„Ich hole Sie in fünf Minuten draußen vor dem Haus ab.“

„In welchem Wagen?“

„Der Renault wird es nicht sein.“

„Da werden Gabrielle und Louis sicher erleichtert sein. Und ich auch. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob wir es noch zurück aus der Stadt schaffen.“

Abby legte auf, als er kicherte, und rief schnell Gabrielle an, um sich für alles bei ihr zu bedanken. Dann nahm sie ihren Koffer, ging nach unten und fragte sich, was in aller Welt nur mit ihr los war. Wie konnte sie so aufgeregt sein, wenn ihr doch vermutlich Kummer bevorstand? Aber der Gedanke war ihr erstaunlich egal.

Als sie die Tür öffnete, wusste Abby nicht, was sie erwarten würde. Mit dem blauen Maserati Cabrio, der mit offenem Verdeck im Innenhof stand, hatte sie jedoch nicht gerechnet.

Sie begegnete Raouls Blick. „Wo kommt der denn her?“

„Ich hatte ihn auf der anderen Seite vom Château geparkt.“ Er griff nach ihrem Koffer und legte ihn auf den Rücksitz. „Ich mag die Sonne und den Wind, aber wenn es Ihnen lieber ist, schließe ich das Verdeck.“

„Nein, bitte nicht – ich liebe Cabrios.“

Ein Lächeln breitete sich auf seinem gebräunten Gesicht aus. „Eine Frau, der es nichts ausmacht, wenn ihre Haare zerzaust werden.“

„Warten Sie es ab.“

Abby spürte seinen Blick auf ihren Beinen, als er ihr auf den Beifahrersitz half, und war froh, dass sie Jeans trug.

Während Raoul sich hinters Steuer setzte, warf er ihr einen auffordernden Blick zu. „Wir werden in drei Stunden zu Hause sein. Schnallen Sie sich an.“

Ihre Bedenken, dass sie dem Ganzen nicht gewachsen war, verstärkten sich. Doch jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. Eine Weile sprachen beide kein Wort, während sie in nordwestliche Richtung nach Frankreich fuhren. Er fuhr genauso geschickt wie ein Rennfahrer.

An der Grenze blieben sie stehen, um eine Cola zu trinken und ein paar Madeleines zu essen. Sie hätte sich außerdem die Haare kämmen können, sah jedoch keinen Sinn darin, da sie in ein paar Minuten weiterfahren würden.

„Das ist mein Lieblingsgebäck“, erklärte Raoul.

„Ich mag sie auch. Könnten Sie mir sagen, wohin genau in Burgund wir fahren?“

„Zu meinem Haus außerhalb von Vosne-Romanée. Der Ort liegt in der Nähe von Dijon. Die Regnac-Capet-Decorvet Domaine wurde vor zwanzig Generationen von meiner Familie gegründet, im Jahr 1475.“

„Wie schön, wenn man eine Familiengeschichte hat, die so weit zurückreicht.“ Dieser Mann verfügte über ein erstaunliches Erbe. Aber er trug auch einen Schmerz in sich, den er nie vergessen und von dem er sich nie ganz erholen würde.

„Nach dem Tod meines Urgroßvaters hat mein Großvater das Weingut geleitet. Aber da er und meine Großmutter inzwischen alt und krank sind, leben sie in ihrer eigenen Wohnung im Château und werden von Krankenschwestern und einer Pflegerin betreut.“

„Mein Vater hat als ältestes Kind die Leitung übernommen, doch er hat leider schwere Arthritis und sitzt im Rollstuhl. Meine Mutter und eine Pflegerin kümmern sich um ihn. Wegen seines Zustands hat er mich vor einem Jahr zum Chef gemacht.

Meine Onkel und Tanten und deren Ehemänner und Kinder waren sehr verärgert über meinen Aufstieg. Sie reden bei jedem Schritt, den ich mache, ein Wort mit.“

„Warum das?“

„Wie ich schon sagte, jeder in der Familie will das Sagen haben.“

„Aber das ergibt doch keinen Sinn.“

„Stimmt, deshalb versuchen Sie erst gar nicht, einen Sinn darin zu sehen.“

Es musste noch mehr dahinterstecken. „Es hört sich so an, als ob die Decorvet-Dynastie sehr fruchtbar ist“, bemerkte Abby. „Es ist wirklich eine große Familie. Leben alle in der Nähe?“

„Diejenigen, die nicht im Château wohnen, jedenfalls viel zu nah.“

„Welcher König war das noch, der sich bei seinem Minister darüber beschwert hat, keine Freunde zu haben? Worauf der Minister antwortete: ‚Natürlich nicht. Ihr seid der König!‘“

„Woher wissen Sie das alles?“, murmelte er.

„Haben Sie Geschwister?“

„Zwei. Meine Schwester Josette ist mit Paul verheiratet. Sie haben einen dreijährigen Sohn namens Maurice und erwarten gerade ihr zweites Kind. Mein Bruder Jean-Marc ist immer noch Single. Er arbeitet zusammen mit Onkel Pierre im Exportbüro unseres Unternehmens. Jeder ist in irgendeiner Weise im Familiengeschäft tätig, trotz der Spannungen.“

Abby erinnerte sich, dass Auguste wegen der Probleme in seiner Familie in die Schweiz gezogen war. Spannungen, das war zweifellos eine höfliche Umschreibung dessen, was im inneren Zirkel der Decorvets vor sich ging.

„Wahrscheinlich ist es ganz normal, dass es in Ihrer Familie Probleme gibt, weil alle im gleichen Betrieb arbeiten.“ Sie schüttelte den Kopf. „Bei meiner Familie würde das nie funktionieren.“

„Erzählen Sie mir von Ihrer Familie.“

„Ich habe Tanten und Onkel, von beiden Seiten“, erklärte Abby, „aber sie arbeiten nicht mit meinem Dad zusammen. Er leitet eine Versicherungsagentur, und meine Mom arbeitet in der Verwaltung eines Krankenhauses. Mein Bruder Steve hat gerade seinen Abschluss an der juristischen Fakultät gemacht, und meine ältere Schwester Nadine ist schwanger mit ihrem dritten Kind. Ich habe vier Cousins, und alle sind Freigeister. Gott sei Dank gibt es bei uns keine Geheimnisse, die unter Verschluss gehalten werden müssen, so wie ein Geheimrezept für den Wein, den Sie produzieren. Denn keiner aus meiner Familie könnte es für sich behalten“, fügte sie hinzu. Raoul lachte leise.

„Welche Art Wein produzieren Sie?“

„Die einzige Traube, die wir anbauen, heißt Pinot Noir. Nur Grand Cru.“

„Was heißt das?“

„Es bedeutet, dass es nur höchste Qualität ist und nur in bester Lage angebaut wird. Der Boden hier ist von außergewöhnlicher Reinheit.“

Abby hörte, wie stolz er klang. „Wie viel kostet Ihr Wein?“

„Leider ist er ziemlich teuer. Je nach Wetter verkaufen wir jährlich dreihunderttausend Flaschen von sieben verschiedenen terroirs.“

Sie trank ihre Cola aus. „Ist das viel?“

„Eigentlich nicht.“

Seine Antwort zeigte ihr, dass sie nichts über seine Arbeit wusste, doch sie war begeistert von all dem, was sie bisher gelernt hatte. „Man hat mir nur sehr wenig von der Vielfalt der Rebsorte chasselas erzählt.“

Er hob eine dunkle Braue. „Jedenfalls wissen Sie mehr als die meisten Touristen.“

Sie fuhren wieder auf die Autobahn. Da sie inzwischen in Frankreich waren, hatten sich die Schilder und die Architektur verändert. Als sie in Dijon ankamen, war Abby begeistert von den toits bourguignons. Raoul erklärte ihr, dass die mehrfarbigen Dächer aus glasierten Kacheln in Grün, Gelb, Schwarz aus Terrakotta gemacht und in geometrischen Mustern angeordnet waren. Abby machte Fotos mit ihrem Handy.

Sie folgten dem Schild nach Vosne-Romanée, und Raoul erzählte ihr von der Gegend. Sie fuhren an üppigen Weingärten vorbei, die an den Steilhängen der Côte d’or auf Kalkstein gebaut waren.

„Offensichtlich ist Gauguin nie hier gewesen. Er wäre begeistert gewesen und hätte die Landschaft von Vosne-Romanée gemalt, mit den Hecken, Bäumen und Gärten, die in ihrem unverwechselbaren Stil wie ein großes Patchwork gestaltet sind. Ich muss sagen, ich bin hingerissen.“

„Ich auch, über jedes Wort, das aus Ihrem Mund kommt.“

Bei seiner Bemerkung wurde ihr heiß. Abby spürte, dass sein Zauber ihr zusetzte. Es machte ihr Angst, dass sie so empfänglich war für ihn. Wenn er solch eine verheerende Wirkung auf sie hatte, wie sollte sie es da ertragen, falls sich herausstellte, dass seine Gefühle für sie schnell wieder abkühlten, da sie niemals den Platz seiner geliebten Frau einnehmen konnte?

Sie kamen zu einem verzierten Gittertor. Darüber prangte ein Schild, auf dem Regnac-Capet-Decorvet-Domaine stand. Doch was ihre Aufmerksamkeit erregte, war das Familienwappen unter der Schrift.

Ihr Blick flog zu ihm. „War dies einmal ein königlicher Besitz?“

Raoul nahm sich Zeit, bevor er antwortete: „Mein Vorfahr war ein Duc aus dem Haus Burgund.“

Allmählich setzten sich die Einzelteile zu einem so außergewöhnlichen Bild zusammen, dass es ihr für einen langen Moment die Sprache verschlug.

Als er gestern wie ein gallischer Prinz aus einem ihrer Träume aufgetaucht war, hatte sie gewusst, dass sich etwas in ihrer Welt verändert hatte.

„Sie sind ein Duc, stimmt’s?“

4. KAPITEL

„Der veraltete Titel gehört meinem Großvater.“

„Aber wenn er und Ihr Vater gestorben sind, werden Sie ihn erben.“

„Das bedeutet mir nichts.“

„Ich wette, Ihrer Familie schon.“

Du meine Güte! Raoul entstammte nicht nur einer bekannten Familie aus Burgund, sondern trug auch einen Adelstitel. Er war viel zu weit entfernt vom gewöhnlichen Leben, als dass Abby sich vorstellen könnte, zu dieser Welt dazuzugehören. Außerdem hatte er vor zwei Jahren seine Frau und sein Kind verloren. Da war es nur natürlich, dass er körperliche Bedürfnisse hatte und sich zu ihr hingezogen fühlte. Aber es hatte keine Bedeutung.

Eine kurze Beziehung wäre alles, was sich aus ihrem Zusammensein ergeben könnte. Sie würde diese eine Nacht mit ihm haben, aber morgen würde sie gehen und nach Italien fliegen, solange sie noch die Kraft hatte, sich von ihm loszureißen.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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