Vater gesucht - es ist nie zu spät für das Glück 1

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DADDY GESUCHT

Der Schriftsteller David Hartford hat ein luxuriöses Strandhaus geerbt - allerdings muss er, wie die ehemalig Besitzerin, jedes Jahr einen Maskenball veranstalten. Zu dem rauschenden Fest lädt er auch seine beiden Freunde Trevyn und Bram ein - wie er ehemalige CIA-Agenten. David ahnt nicht, dass die schönen Drillingsschwestern Athena, Alexis und Augusta Ames sich - in zauberhafter Verkleidung - auf seinen Ball schleichen. Sie wollen herausfinden, warum David und nicht sie, das Haus ihrer Tante geerbt hat. Jede von ihnen umgarnt in dieser turbulenten Nacht einen der drei Freunde. Auch Stunden später weiß David nicht, wer die schöne Fremde war, die ihn so in Versuchung führte ...

NIE ZU SPÄT FÜR DAS GLÜCK

Eine Nacht wie aus Samt am Strand von Acapulco. In übermütiger Urlaubsstimmung lässt sich die sonst so zurückhaltende Abby von einem faszinierenden Fremden zu leidenschaftlichen Liebesstunden verführen. Zurück in Los Angeles, denkt die ehrgeizige Immobilienmaklerin noch oft an diesen Mann, der längst verschüttete Gefühle in ihr geweckt hat, und dem sie wohl nie mehr begegnen wird. Und dann sieht sie ihn doch wieder! Auf einem Bankett stellt er sich vor: Er ist Jeffrey Addams Logan III. Millionenschwerer Erbe einer Hotelkette! Abbys Herz klopft wie rasend, als er ihr zeigt, wie viel sie ihm bedeutet, aber erst Tage später wagt sie ihm zu gestehen, dass sie sein Baby erwartet ...

DADDY GEFUNDEN

Augusta ist total verwirrt! Sie genießt Brams zärtliche Küsse, obwohl er wie ein Fremder für sie ist. Als man sie vor einiger Zeit nach einem Mordanschlag hochschwanger aus dem Wasser fischte, hatte sie ihr Gedächtnis verloren. Bram erzählt Gusty, wie alles begann: sie und ihre Drillingsschwestern Athena und Alexis waren die umschwärmten Stars eines Maskenballs. Heiß flirteten sie mit frei Freunden - den ehemaligen CIA-Agenten David, Trevyn und Bram. Längst sind aus Athena und David und aus Alexis und Trevyn glückliche Paare geworden. Und Bram? Kann ihm Gusty überhaupt vertrauen? Warum waren die Drogenhändler hinter ihm und ihr her? Ist er wirklich ihr Ehemann und der Vater ihrer kleinen Tochter Sadie? Gusty möchte es gern glauben, denn sie hat sich leidenschaftlich in Bram verliebt. Doch dann kehrte ihre Erinnerung plötzlich wieder zurück ...

DREI FRAUEN FÜR MACK

Für Heather ist es Liebe auf den ersten Blick, als sie Mack Marshall, den Halbbruder ihres verstorbenen Mannes, kennen lernt. Der berühmte Fotojournalist, der sich nach einer Verletzung eine berufliche Auszeit genommen hat, kümmert sich in den nächsten Wochen rührend um sie und ihre beiden kleinen Mädchen. Heather genießt es sehr, endlich jemanden zu haben, der ihr einen Teil der Sorgen abnimmt. Doch als sie sieht, wie Melissa und Emma ihn schon als Vater eingeplant haben, erkennt sie, in welcher Gefahr sie sich befindet ...

SPÄTES GLÜCK IN OREGON

Tür an Tür mit Tyler geht Brianne jeden Tag auf dünnem Eis. Denn so sehr sie ihr Herz verschließt, weil er sie damals verließ, so stetig wächst das Verlangen, wieder in seinen Armen zu liegen. Doch da ist ihr Sohn Daniel, den Tyler für seinen Neffen hält - und dessen Zukunft Brianne zu zerstören glaubt, wenn sie gesteht, wer der Vater ist ...

KÜSS IHN, MAMI!

Heimlich hat ihr Sohn nach seinem Daddy gesucht! Nick Purcell, der auf Bobbys Geburtsurkunde aufscheint, steht auf einmal zu Chessas Erstaunen vor der Tür - überglücklich, einen Sohn zu haben! Nur dass Chessas Eltern sie damals zu einer Falschangabe gezwungen haben …


  • Erscheinungstag 01.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735524
  • Seitenanzahl 780
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Muriel Jensen, Mollie Molay, Joan Elliott Pickart, Janelle Denison, Diana Whitney

Vater gesucht - es ist nie zu spät für das Glück 1

IMPRESSUM

Daddy gesucht erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2000 by Muriel Jensen
Originaltitel: „Father Fever“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1298 - 2001 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: M. R. Heinze

Umschlagsmotive: GettyImages_David De Lossy

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733754570

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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PROLOG

Februar

„Ich fühle mich wie eine Mordverdächtige“, sagte Alexis Ames zu ihrer Schwester Athena. „Wie in der letzten Szene eines Krimis, in der der Detektiv zahlreiche Personen in einem Raum versammelt und sagt: Ich habe Sie alle heute hier zusammengerufen …

Athena lächelte, als ihre Schwester einen bekannten Fernsehdetektiv imitierte. Das nüchtern eingerichtete Konferenzzimmer des Anwaltsbüros drückte jedoch sofort wieder ihre Stimmung.

Sie saßen an einem langen Glastisch. Die Wände waren so grau wie der winterliche Himmel über Oregon. Zusätzlich waren sie wegen Tante Sadies Tod deprimiert.

„Solche Szenen spielen sich für gewöhnlich auf einer sagenhaften Yacht oder in einer gemütlichen Bibliothek mit Kamin ab“, entgegnete Athena. Hier gab es nicht einmal Vorhänge, sondern nur Jalousien – ebenfalls grau.

„Und wir sind auch nur zu dritt“, wandte Augusta, die dritte Schwester, leise ein. „Das kann man kaum als zahlreiche Personen bezeichnen.“

Alexis seufzte. „Ich weiß, ich weiß, und es gab auch keinen Mord, nur einen Todesfall. Wisst ihr noch, wie Tante Sadie immer sagte, sie wollte im Bett sterben?“

Athena lächelte bei der Erinnerung. „Ja, und dann fügte sie noch hinzu: in Mel Gibsons Bett.“

Alle drei lachten zum ersten Mal, seit sie sich gestern Nachmittag im Flughafenhotel getroffen hatten.

„Es ist nur ein kleiner Trost“, meinte Alexis, „aber sie starb bei einer ihrer Lieblingstätigkeiten. Hawaii war ihr bevorzugter Aufenthaltsort. Und sie liebte es, sich in Lahaina zu erholen und nach Oahu zum Einkaufen zu fliegen.“

Athena fand es nicht tröstlich, dass eine Frau Anfang sechzig nun im Wrack eines kleinen Flugzeugs auf dem Grund des Pazifiks lag.

Sadie Richmond, frühere Tänzerin am Broadway, hatte den Drillingen stets die Liebe geschenkt, zu der ihre Schwester, die Mutter der drei, unfähig war. Athena und ihre Schwestern hatten die Ferien im Frühjahr und im Sommer in ihrem Strandhaus verbracht und waren von ihr umsorgt und zu allem Möglichen ermuntert worden.

„Ich kann noch nicht glauben, dass wir sie nie wieder sehen werden“, flüsterte Augusta. Sie war die sensibelste von den dreien und unterrichtete in der dritten Klasse. Zu einem bodenlangen geblümten Kleid trug sie Riemchensandalen. Das lange rote Haar hatte sie locker hochgesteckt. Einzelne Strähnen fielen auf die Wangen und in den Nacken.

„Ich male dir ein Porträt von ihr“, versprach Alexis, um Augusta zu trösten. „Sofern ich es jemals wieder schaffe.“ Alexis war eine Künstlerin, die nach eigenen Angaben im Moment unter einer Sperre litt. Zu einer weißen Seidenbluse mit weiten Ärmeln trug sie eine schwarze Hose und Stiefel. Das Haar war dunkelrot wie bei ihren Schwestern und fiel ihr bis auf den Rücken.

„Du erlebst nur eine Flaute. Niemand bringt ständig Höchstleistungen.“ Athena schlug den gleichen überzeugenden Ton an wie im Gerichtssaal. Sie dachte stets praktisch und suchte auf alles eine Antwort.

Alexis warf ihr einen zweifelnden Blick zu und betrachtete skeptisch Athenas blaues Kostüm, die schlichte weiße Bluse und den Knoten, zu dem sie das Haar im Nacken geschlungen hatte. Es war klar, dass sie ihrer Schwester kein Verständnis für eine Künstlerin zutraute.

Athena schwieg dazu. Ihre Art, sich zu kleiden, half ihr bei Verhandlungen und Streitigkeiten, bei denen sie es hauptsächlich mit Männern zu tun hatte. Frauen, die sich im Gerichtssaal stilvoll kleideten, wurde meistens vorgeworfen, sie wollten ablenken und verwirren.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich dieser nüchterne Stil auch auf ihr Privatleben auswirken würde. Nachdem sie jedoch ihre eigene Kanzlei eröffnet hatte, blieb ihr ohnedies kaum Zeit für ein Privatleben, und das wenige verbrachte sie meistens mit anderen Anwälten. Allerdings war das reizlose Kostüm ungewollt zu einem Spiegelbild ihrer Persönlichkeit geworden.

Während sie ihre schönen und femininen Schwestern betrachtete, verglich sie deren Aussehen und Wesen mit ihrem eisernen Willen zum Erfolg. Die beiden hatten jene Fraulichkeit erreicht, die sie selbst stets bei Sadie bewundert hatte.

Schon als Kind hatte Athena Anwältin werden wollen, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass es außer Arbeit nichts in ihrem Leben geben würde.

„Achtung“, flüsterte Alexis, als ein Mann mit Schnurrbart und beginnender Glatze die Tür öffnete. „Monsieur Poirot höchstpersönlich.“

Der Schnurrbart des Mannes war ziemlich schlicht und konnte sich nicht mit Poirots raffiniert gezwirbeltem Bart vergleichen, doch die Ähnlichkeit reichte aus. Athena war für die Aufmunterung in einem so traurigen Moment dankbar.

Der Mann trat an den Tisch und legte einen Stapel Papiere ab. „Guten Tag“, sagte er mit einem leichten Akzent, der ihn noch mehr wie Poirot wirken ließ. „Willkommen in Portland. Ich bin …“ Offenbar vergaß er seinen Namen, als er Alexis, Athena und Augusta der Reihe nach betrachtete. „Ich bin … ich …“

„Sie sind Bernard Pineau.“ Athena machte sich zur Wortführerin. Da sie neunzehn Minuten vor Alexis und siebenunddreißig Minuten vor Augusta auf die Welt gekommen war, hatte sie sich stets als Älteste betrachtet. „Hat Tante Sadie Ihnen nicht gesagt, dass wir eineiige Drillinge sind?“

„Doch, sicher“, erwiderte er verlegen lachend. „Entschuldigen Sie bitte meine Überraschung.“

Athena und ihre Schwestern waren von Kindheit an daran gewöhnt, mit ihrer unglaublichen Ähnlichkeit die Leute zu verwirren. Da sie jetzt an völlig verschiedenen Orten lebten, kam es nicht mehr so häufig vor. Athena stellte sich und danach Lex und Gusty vor.

Pineau gab ihnen die Hand und setzte sich. „Sie sind vermutlich die Anwältin aus Washington, D.C.“, sagte er zu Athena. „Sadie war sehr stolz auf Sie.“

„Danke.“

Er betrachtete die beiden anderen Schwestern und lächelte Alexis zu. „Sie haben das Atelier in Rom?“

„Allerdings“, bestätigte Alexis.

„Ihre Madonna 4 hängt bei mir daheim im Arbeitszimmer. Sadie hat sie mir zum Geburtstag geschenkt. Meine Frau und ich schätzen sie sehr.“

„Das freut mich“, erwiderte Alexis überrascht. „Tante Sadie rührte stets für mich die Werbetrommel und betätigte sich auch als Verkaufsagentin.“

„Das stimmt“, meinte er und wandte sich an Augusta.

„Ich bin die Lehrerin“, sagte sie. „In Pansy Junction in Kalifornien. Dritte Schulstufe. Ich liebe meine Arbeit.“

Pineau lächelte ihr freundlich zu. Augusta entlockte allen Menschen ein Lächeln. „Möchten Sie Kaffee, bevor wir beginnen?“, erkundigte er sich.

Alle drei lehnten ab.

„Wir haben gerade erst zu Mittag gegessen“, erklärte Athena.

Er nickte. „Ich möchte Ihnen zuerst mein Beileid zum Tod Ihrer Tante aussprechen. Vor einem Jahr lernte ich sie kennen, als wir uns um das Testament kümmerten, und ich fand sie ganz reizend und äußerst klug.“

Athena wollte antworten, brachte jedoch keinen Ton hervor.

„Danke“, sagte Alexis. „Das war auch unsere Meinung.“

Pineau griff nach den Unterlagen und begann zu lesen. „Ich, Sadie Richmond, im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte …“

Athena und ihre Schwestern wechselten immer wieder betrübte Blicke. Bei ihnen gab es keine Habgier. Es war unwichtig, was Sadie wem hinterlassen hatte. Sie konnten nur noch immer nicht glauben, dass ihre Tante nicht mehr lebte, und waren bereit, ihre letzten Wünsche zu erfüllen.

Der Anwalt blätterte weiter. „Athena vermache ich meine Tiffany-Uhr mit der Diamant-Lilie in der Hoffnung, dass ihr dies den ewigen Zeitdruck etwas verschönert. Außerdem vermache ich ihr meine Brosche aus Diamanten und Aquamarin, weil sie zu ihren schicken Kostümen passt.“

Athena schloss die Augen und sah ihre Tante, wie sie die Brosche an dem schicken schwarzen Kleid, auf dem dunkelroten Wollkostüm und auf dem blauen Blazer bei der Regatta in Dancer’s Beach getragen hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Alexis hinterlasse ich alle meine Hüte“, fuhr Pineau fort, „weil sie ihr stets an mir gefallen haben und sie der richtige Typ dafür ist. Ich möchte auch, dass sie den Degas aus dem Korridor im ersten Stock bekommt, weil sie dafür Modell gestanden haben könnte.“

Athena kannte die Ballerina im vergoldeten Rahmen und hielt das Geschenk für sehr passend, weil Alexis sich wie eine Tänzerin vom Ballett bewegte.

Alexis lief eine Träne über die Wange. Augusta drückte ihr die Hand.

„Augusta hinterlasse ich meine Puppensammlung und den Teddybären, den sie immer an sich presste, wenn sie ihre Schwestern nicht mehr ertrug.“

Gusty nickte und war den Tränen nahe. Alexis tätschelte ihr den Rücken.

„Ich wünsche, dass die Mädchen meine Kleidung und meinen Schmuck nach Belieben unter sich aufteilen. Den Rest möchte ich einem Frauenhaus spenden. Leider befindet sich nicht viel Geld auf meinem Konto, aber die Mädchen wissen, wie gern ich reiste. Dieses Geld soll unter ihnen zu gleichen Teilen aufgeteilt werden.“ Pineau legte eine kleine Pause ein. „Und David Hartford hinterlasse ich Cliffside mit dem gesamten Mobiliar.“

Athena wandte sich ruckartig an ihre Schwestern, die genauso überrascht waren wie sie. Sekundenlang herrschte Stille, ehe sie wie aus einem Mund fragten: „Wem?“

„David Hartford“, wiederholte Pineau. „Offenbar ein Freund.“

„Von dem habe ich noch nie gehört“, sagte Alexis. „Ein Freund? Aus Dancer’s Beach?“

Pineau schüttelte den Kopf. „Sie hat mir nicht erklärt, woher sie ihn kannte.“

„Uns gegenüber hat sie ihn nie erwähnt.“ Augusta sah ihre Schwestern an, die jedoch die Köpfe schüttelten.

„Sie haben sich doch bestimmt mit ihm wegen des Testaments in Verbindung gesetzt, Mr. Pineau“, bemerkte Athena misstrauisch. „Also wissen Sie, wo er wohnt. Wieso ist er nicht hier?“

„Er wohnt in Chicago, konnte jedoch nicht kommen. Darum habe ich ihm alles, was ihn betrifft, gefaxt und das Haus auf seinen Namen überschrieben.“

Augusta und Alexis waren sichtlich fassungslos.

„Wann hat Tante Sadie das Testament geändert?“, fragte Athena. „Als wir vor zwei Jahren zu Weihnachten zusammentrafen, wollte sie Cliffside uns dreien hinterlassen. Es geht uns nicht um den Besitz an sich, aber das Haus gehört zu unserer Familie. Wer ist denn dieser Mann?“

„Dieses Testament …“, setzte Pineau an.

„Tante Sadie erzählte uns von Dancer’s Beach“, fiel Augusta ihm ins Wort. „Sie lebte sehr ruhig. Manchmal stellte sie Cliffside für örtliche Veranstaltungen zur Verfügung, weil das Haus so groß ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemanden so gut kennen lernte, ohne uns davon zu berichten. Wir haben nie ein Wort über ihn gehört.“

Pineau schüttelte bedauernd den Kopf. „Es ist nicht meine Aufgabe, mich über die Begünstigten aus einem Testament zu erkundigen. Ich sorge nur dafür, dass die Wünsche der Verstorbenen ausgeführt werden.“

„Wann hat sie das Testament geändert?“, fragte Alexis noch ein Mal.

„Wie ich schon sagte“, erwiderte Pineau geduldig, „haben wir dieses Testament vor einem Jahr aufgesetzt.“

Athena stand erregt auf. Alexis ging unruhig auf und ab.

„Ich verstehe das nicht“, sagte Augusta. „Wo soll sie diesen Hartford kennen gelernt haben?“

„Vielleicht auf einer ihrer Reisen“, erwiderte Alexis. „Er könnte ein Gigolo sein, der es auf ältere Frauen und ihre Ersparnisse abgesehen hat … oder auf ihr Haus.“

„Meine Damen, Sie sind wegen Cliffside natürlich enttäuscht“, sagte Pineau. „Ihre Tante war jedoch sehr ruhig und selbstsicher, als sie diese Verfügung traf. Ich bin überzeugt, dass sie Mr. Hartford das Haus unbedingt hinterlassen wollte. Und ich denke, sie war zu klug, um auf einen Betrüger hereinzufallen.“

„Einen Beweis gibt es dafür aber nicht“, wandte Athena ein. „Sie haben schließlich keinerlei Ermittlungen angestellt.“

Alexis schlug die Hände zusammen. „Vielleicht will er Cliffside wegen der Schmugglertreppe! Ich meine, abgesehen davon, dass es ein wunderbares Haus ist.“

„Richtig!“, bestätigte Augusta.

„Was für eine Treppe?“, fragte Pineau verwirrt.

„Als wir noch Kinder waren“, erklärte Athena, „entdeckten wir im Keller von Cliffside eine Tür zu einer Treppe, die durch die Klippe zum Strand führt. Sadie hielt sie verschlossen. Sie erzählte uns, dass während der Prohibition zu Großvater Richmonds Zeiten auf diesem Weg Alkohol geschmuggelt wurde. Vielleicht will Hartford das Haus für einen ähnlichen Zweck – zum Beispiel für Drogen.“

„Meine Damen …“, rief Pineau.

„Ich weiß, ich weiß“, fiel Athena ihm ins Wort. „Es ist nicht Ihre Aufgabe, diesen Mann zu überprüfen, aber die unsere. Überlegen Sie doch. Unsere Tante stirbt beim Absturz einer kleinen Maschine, kurz nachdem sie den Familiensitz einem völlig Fremden vermacht hat!“

„Das Testament wurde schon vor einem Jahr geändert“, wandte Pineau ein. „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich bei dem Absturz nicht um einen Unfall handelte. Und für Ihre Tante war Hartford kein Fremder.“

Athena achtete nicht auf ihn. „Solange das Wrack nicht gehoben und einwandfrei ein Unfall festgestellt wird, sollten wir uns diesen Hartford genauer ansehen. Was meint ihr?“

Augusta nickte. „Das machen wir. Ich habe ohnedies zwei Wochen Urlaub.“

Alexis griff nach ihrer Umhängetasche. „Ich bin dabei. Über meine Zeit kann ich schließlich frei verfügen. Wo fangen wir an?“

„Wie lautet Hartfords Adresse?“, fragte Athena den Anwalt.

Pineau deutete auf die Dokumente auf dem Tisch. „Cliffside, Dancer’s Beach, Oregon.”

1. KAPITEL

David Hartford betrachtete das große Wohnzimmer seines neuen Zuhauses. Es wirkte behaglich, auch wenn es keinen bestimmten Stil aufwies. Einige der geerbten Möbelstücke hatte er in Aufbewahrung gegeben, um Platz für seine Sachen zu schaffen. Später wollte er entscheiden, was damit geschah.

Vor zehn Tagen hatte ihn Tantchens Anwalt angerufen, weil er einen zwei Morgen umfassenden Besitz am Pazifischen Ozean geerbt hatte. Noch heute konnte er es kaum glauben. Er war in einem Haus aufgewachsen, das drei Mal so groß war wie dieses hier, doch darin hatte er sich nie so wohl gefühlt wie hier schon nach einer knappen Woche.

Zum Erbe gehörten neben diesem Haus im Kolonialstil ein Gästehaus, eine Wohnung über der Garage für vier Autos und ein kleiner Wald, der sich hinter dem Besitz halbmondförmig hinzog. Vor dem Haus erstreckte sich dreißig Meter weit eine Wiese bis zum Rand der Klippe, die fünf Meter über dem Meer aufragte. Am Klippenrand wuchsen Büsche, die er nicht kannte.

Das alles verdankte er einer Frau, die er nie persönlich kennen gelernt hatte, einer CIA-Agentin mit dem Decknamen Tantchen. Bei zahlreichen Einsätzen für die CIA hatte sie mit ihm den Kontakt per Telefon und Funk aufrechterhalten. Er hatte mitgeholfen, sie zu retten, als sie in Afrika in den Vormarsch einer Rebellentruppe geriet. Allerdings hatte er nur Söldner verständigt. Genau genommen hatten daher sie Tantchen das Leben gerettet. Das war für sie allerdings laut ihres Anwalts nicht entscheidend gewesen.

Natürlich war auch David dankbar. Diese Erbschaft hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Nach dem Fiasko in Afghanistan hatte für ihn und seine Kameraden die Tätigkeit für die CIA an Reiz verloren. Alle drei versuchten sich jetzt als Zivilisten.

Die Möbel aus seiner Chicagoer Wohnung standen also nun zwischen einem kleinen runden Mahagonitisch und einem Klavier aus der Zeit der Jahrhundertwende. Auf dem Regal hatte er seine Sammlung handgeschnitzter Entenköder untergebracht. Der große Schrank aus dem Schlafzimmer diente als Unterhaltungszentrum. Der Anwalt hatte ihm eine Liste der Dinge gefaxt, die anderen vermacht worden waren. David hatte diese Gegenstände bereits weggeschickt.

Er musste niesen. Bisher hatte er nie unter Allergien gelitten, aber ausgerechnet hier in Oregon im Winter setzten ihm Feuchtigkeit und Schimmelpilze zu.

Trevyn McGinty und Bram Bishop kamen herein, beide mit Klappstühlen, die sie aus dem Saal des Rathauses geholt hatten.

„Hilfst du uns?“, fragte Trevyn und ging ins Esszimmer weiter. „Oder willst du nur herumstehen und dich beglückwünschen, weil du dich schon mit dem Bürgermeister von Dancer’s Beach angefreundet hast?“

„Er steht nur herum“, scherzte Bram. „Nur weil er uns eine Weile bei sich wohnen lässt, hält er sich für was Besseres. Kannst du uns eigentlich verraten, wieso wir eine Party für zweihundert Leute ausrichten, obwohl wir hier niemanden kennen?“

David folgte den beiden und half ihnen beim Aufstellen der Stühle. „Tantchen spielte jedes Jahr die Gastgeberin für den Maskenball der Gesellschaft für Denkmalschutz. Durch ihren Tod standen sie zehn Tage vor der Party ohne die nötigen Räumlichkeiten da.“

Trevyn und Bram hatten ebenfalls mit Tantchen zusammengearbeitet. Trevyn sah sich seufzend um. „Im Job war sie cool“, meinte er lächelnd. „Seltsam, dass sie so ein schönes Zuhause hatte, es aber trotzdem bereitwillig verließ, um … Ja, warum eigentlich? Uns ging es ums Abenteuer, aber was sucht eine Sechzigjährige?“

„Vielleicht eine gewisse Erfüllung“, bemerkte Bram. „Bei ihr hat man gemerkt, dass sie keine Frau war, die nichts weiter im Leben tat, als Golf zu spielen.“ Er klappte den nächsten Stuhl auf. „Gibt es denn in der Stadt keine geeignete Halle? Muss das Fest hier stattfinden?“

„Die Einladungen waren bereits verschickt“, erklärte David, „viele davon an Leute, die nur im Sommer in Dancer’s Beach wohnen. Sie alle zu verständigen, wäre zu schwierig gewesen. Darum hat sich der Bürgermeister an mich gewandt, und da wir drei in dieser Stadt leben wollen, habe ich zugestimmt.“

Trevyn stellte den letzten Stuhl auf. „Weißt du etwas über die Typen von der Gesellschaft für Denkmalschutz?“

David betrachtete ihr Werk. „Nicht viel. Wahrscheinlich sind alle ungefähr in Mrs. Beasleys Alter, also Mitte sechzig. Hofft nicht auf hübsche junge Dinger. Wahrscheinlich kommen sie aber als Kunden für dein Fotostudio in Frage.“

„Das hoffe ich“, sagte Trevyn. „Unglaublich, dass Tantchen dir das alles hinterlassen hat. Und wir haben Glück, dass du dich noch immer um uns kümmerst, obwohl wir nicht mehr gemeinsam auf Einsatz gehen.“

David schob eine Stehlampe beiseite, um Platz zu schaffen. „Wir haben so oft gemeinsam die Köpfe hingehalten, dass wir jetzt auch gemeinsam neu beginnen sollten.“

In den vergangenen Jahren waren sie einander näher gekommen als Brüder, während sie die Schmutzarbeit für die Regierung erledigten. Mehr als einmal hatten sie sich gegenseitig das Leben gerettet.

„Wieso bekommt eigentlich er das Gästehaus?“, fragte Bram, „und ich lande über der Garage und muss täglich Abgase einatmen?“

Bram meinte es nicht ernst. Er hatte auch beim letzten Einsatz, bei dem alles schief lief, keine Angst gezeigt. Er war älter als Trevyn und David und hatte auch mehr erlebt, und er war alles andere als selbstsüchtig.

„So bist du uns zwischen den Füßen weg“, erwiderte David. „Du weißt schon, wie der verrückte Verwandte, über den man nicht gern spricht.“

„Willst du lieber das Gästehaus?“, fragte Trevyn.

Bram lachte. „Du bist unglaublich leicht reinzulegen. Nein, ich will es nicht. Ich brauche keine Dunkelkammer und auch keinen Platz für Geräte wie du. Ich habe mein Büro in der Stadt, und wenn ich heimkomme, brauche ich nur noch einen Fernseher, eine Kaffeekanne und ein Bett.“

Zu dritt gingen sie zu dem Wagen hinaus, mit dem sie die Stühle gebracht hatten, von denen noch ein Dutzend abgeladen werden musste. Aus dem grauen Himmel fiel Regen. Der Wind war kalt.

„Ich habe übrigens schon einen Fall“, sagte Bram und kletterte auf den Lastwagen. „Es ist nur eine Überwachung in einer Scheidungssache, aber als Detektiv muss man irgendwie anfangen.“

„Wenigstens hast du ein Büro gefunden und es auch innerhalb von drei Tagen eröffnet.“ Trevyn nahm zwei Stühle auf jeden Arm und kehrte zum Haus zurück. „Ich habe ein Fotostudio, aber es dauert noch Wochen, bevor ich bereit bin.“

David sah ihm besorgt nach. Er wusste, welche Bürde Trevyn trotz des sorglosen Auftretens mit sich herumschleppte.

„Er kommt schon wieder auf die Beine“, sagte Bram und reichte David zwei Stühle vom Wagen herunter.

„Er spricht nicht über den Einsatz“, wandte David ein. „Das ist nicht gut.“

„Weil du schreibst“, sagte Bram grinsend, „musst du alles verstehen. Du musst jedes Detail kennen und wissen, wie alles zusammenhängt. Aber nicht alle sind so. Manche lassen es einfach laufen. Er erholt sich. Er hat keine Albträume mehr und bringt Ort und Zeit nicht mehr durcheinander. Mach dir keine Sorgen.“

David kehrte mit den Stühlen ins Haus zurück. Hoffentlich hatte Bram recht. Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst vor zwei Monaten hatten sie in Chicago in Davids Apartment gewohnt. Er und Bram waren mehrmals von Trevyns Albträumen wegen des letzten Einsatzes geweckt worden.

David und Trevyn waren von der CIA schon vor Jahren zusammengespannt worden, ein Autor und ein Fotograf, die bestens geeignet waren, Informationen zu beschaffen. Zwischen den einzelnen Einsätzen waren sie normalen Berufen nachgegangen. David hatte eine Kolumne für die Chicago Tribune geschrieben, und Trevyn hatte als Fotoreporter gearbeitet. Der Verleger, ein Veteran, wusste über ihre Arbeit für die Regierung Bescheid.

Der letzte Auftrag hatte sie nach Afghanistan geführt, wo sie Raisu, einen berüchtigten Terroristen, im Paghman-Gebirge nördlich von Kabul aufspüren sollten. Bram, fünfzehn Jahre lang Sicherheitsexperte beim Militär und fünf bei der CIA, hatte für ihren Schutz gesorgt.

Einen jungen Einheimischen hatten sie als Führer und seine Schwester als Dolmetscherin angeheuert. Bram wollte sich eigentlich auf keine Außenseiter verlassen, doch Gebiet und Sprache ließen ihnen keine andere Wahl.

Trevyn hatte zu Farah, der Dolmetscherin, eine besondere Beziehung entwickelt. Als sie vorausgehen wollte, um als Ablenkung zu dienen, während David sich mit der Gruppe näherte, hatte Trevyn ihr das verboten. Sie hatte es trotzdem getan.

Bei der Ankunft war alles schief gelaufen, und Farah war als Erste gestorben.

Die Flucht war qualvoll gewesen. Als sie endlich in Pakistan in Sicherheit waren, hatte Trevyn tagelang nicht gesprochen. Danach hatten sie alle drei ihren Abschied genommen.

Bram hatte nie ein ziviles Leben gehabt. Trevyn schien zwar wiederhergestellt zu sein, doch er wirkte auf seine Freunde noch ziemlich zerbrechlich. Alle drei hatten sich geeinigt zusammenzubleiben, bis sie endgültig über ihr weiteres Leben entschieden.

Die Chicago Tribune wollte, dass David seine preisgekrönte Kolumne fortsetzte, doch das konnte er nicht mehr. Früher hatte er mit scharfem Geist, Erbe von seinem Vater, und mit Charme freundlich und warmherzig über das Leben in Amerika geschrieben, als gäbe es auf der Welt nichts Wichtigeres. Doch seit Afghanistan verfolgte es ihn, was Menschen einander antaten. Jetzt neigte er eher zu dem Roman, an dem er seit anderthalb Jahren in seiner Freizeit schrieb. Darin verarbeitete er persönliche Erfahrungen, ohne dabei Geheimnisse der CIA zu verraten.

Im Haus nahm Trevyn ihm die Stühle ab und ging zur großen Küche. „Stellen wir sie da hinein?“

„In Ordnung.“ David zeigte zu der Ecke, in der ein Sofa und eine Lampe eine kleine Lesenische bildeten. „Dort sind sie nicht im Weg.“

Bram kam mit den letzten Stühlen und stellte sie neben das Sofa.

„Kommen wirklich keine allein stehenden Frauen zu dem Fest?“, fragte Bram.

„Vielleicht“, erwiderte David. „Die ganze Stadt ist eingeladen. Kann sein, dass schöne und ungebundene Frauen an einem verregneten Samstagabend nichts Besseres zu tun haben, als zu einem Fest der Gesellschaft für Denkmalschutz zu gehen. Dann könnte auch deine Traumfrau dabei sein.“

„Wie muss die denn sein?“, erkundigte sich Trevyn. „Schwarzer Gürtel? Jahrgangsbeste am Schnellfeuergewehr?“

„Ich suche eine Frau, die sich an den Spruch Make love not war hält“, sagte Bram lachend. „Vom Kämpfen habe ich genug.“

„Ganz meine Meinung“, bestätigte Trevyn. „Ich will eine, die mich unwiderstehlich findet.“

„Von welchem Planeten soll die denn kommen?“, fragte David.

„Eigentlich ist das eine Beleidigung“, stellte Trevyn fest. „Aber du bist mein Vermieter. Gibt es noch etwas zu tun?“

„Nein“, erwiderte David. „Ruh dich aus. Passt das Kostüm?“

„Ganz gut. Die Ärmel sind etwas kurz, aber die Rüschen verdecken das. Kaum zu glauben, dass ich das für dich mache.“

„Du machst es für dich selbst. Denk daran, dass du durch diese Leute gut ins Geschäft kommst. Die haben alle Enkelkinder und wollen sie fotografieren lassen. Passt dein Kostüm, Bram?“

„Ja. Da es unter meinen Vorfahren keinen Orang-Utan gibt, sind auch die Ärmel lang genug.“

„Sehr witzig.“ Trevyn ging zur Tür. „Wann kommt der Partyservice?“

„Ungefähr eine Stunde vorher“, erwiderte David. „Etwa um sechs.“

Bram folgte Trevyn ins Freie. „Du suchst ein Traummädchen, das auch gleichzeitig toll kochen kann?“

Trevyns Antwort war nicht mehr zu verstehen, weil er die Haustür schloss.

David ging nach oben, um zu duschen, blieb jedoch am Schlafzimmerfenster stehen und blickte aufs Meer hinaus. Er hatte ein Traummädchen gehabt. Im letzten Sommer hatte ihn diese Frau verlassen – eine sagenhafte Brünette, intelligent und elegant, aber von ihrer Arbeit als Redakteurin besessen.

Es war zu einem hässlichen Streit gekommen, als ihn seine jüngeren Brüder besuchten und seine Freundin das als unerträgliche Belastung für ihren gesellschaftlichen Terminkalender betrachtete. Damals war ihm klar geworden, dass er für sie nicht viel mehr war als ein Begleiter, den die Leute beachteten.

Jetzt wünschte er sich eine ganz andere Frau. Sie sollte warmherzig, sanft und fröhlich sein, und sie sollte nicht jeden verachten, der nicht elegant war.

Aber was für eine Frau wollte ihn schon haben?

Im Lauf der letzten Jahre hatte er sich stark verändert. Es gab dunkle Flecken auf seiner Seele, und mit manchen Erinnerungen konnte er nur schwer leben. Und er hatte gelernt zu hassen.

In Dancer’s Beach bekam er die Gelegenheit, das alles zu ändern. Und seine Freunde konnten ihm dabei helfen.

Vielleicht hatte er bei der Suche nach einer Frau Glück.

Alles war möglich.

2. KAPITEL

„Ich halte das für verrückt.“ Gusty saß auf dem Rücksitz des Wagens, den Athena bei der Ankunft in Portland gemietet hatte. „Ich will wie ihr die Wahrheit über diese Kerle herausfinden, aber ich weiß nicht, ob ich den Plan durchziehen kann.“

Athena seufzte. Gusty war schon immer ehrlich gewesen und konnte nicht schwindeln. Im Moment wirkte sie wie Scarlett O’Hara mit schlechtem Gewissen, während sie sich in einem grünen Reifrock in die Ecke drückte und mit den Bändern ihres grünen Häubchens spielte. Das Kostüm gehörte zum Plan.

„Gus“, sagte Athena geduldig, „wir müssen zu dem Fest gehen, sonst finden wir nie heraus, ob Tante Sadie einem Unfall zum Opfer fiel. Wir müssen wissen, ob sie Hartford das Haus freiwillig hinterließ oder dazu gezwungen wurde. Du schaffst das.“

„Es ist unehrlich.“

„Das sind diese Typen auch.“

Gestern hatte Athena ein Fax von Patrick Connelly erhalten, einem Detektiv, der für ihr Büro arbeitete und den sie gebeten hatte, David Hartford zu überprüfen. Das Fax war eingetroffen, nachdem sie eine Woche mit ihren Schwestern in einem Hotel in der Stadt gewohnt hatte.

David Hartford, vierunddreißig, Absolvent der exklusiven Claremont School und der University of California in Los Angeles. Diplom in Soziologie, seit 1991 Kolumnist bei der „Chicago Tribune“. Wohnt seit einer Woche in Cliffside zusammen mit zwei Freunden oder Partnern.

Trevyn McGinty, 32, Diplom in Journalismus an der Cornell University. Freier Fotoreporter, bis er 1993 von der „Chicago Tribune“ eingestellt wurde.

John Bramston Bishop, 37, geboren in Boston, mit achtzehn der U.S.-Army beigetreten, diente zehn Jahre. Keine weiteren Informationen.

Bei allen dreien seltsame Informationslücken innerhalb der letzten Jahre. Ungeklärte Abwesenheit. Über gewisse Zeiträume scheinen die drei nicht existiert zu haben. Mehr in so kurzer Zeit nicht herausgefunden.

Hartford spielt Gastgeber für den jährlichen wohltätigen Maskenball der örtlichen Gesellschaft für Denkmalschutz. Laut Lokalzeitung bat ihn Bürgermeister Beasley darum, weil durch den Tod Ihrer Tante keine geeignete Örtlichkeit zur Verfügung gestanden hätte. Entweder macht Hartford auf Säule der Gemeinde und will dazugehören, oder er ist ein äußerst geschickter Schwindler.

Informieren Sie mich, falls ich weitermachen soll.

Pat

„Oje“, hatte Lex gemurmelt, die über Athenas Schulter hinweg mitlas. „Jetzt sind schon drei in Cliffside?“

„Was heißt ungeklärte Abwesenheit?“, fragte Gusty. „Waren sie vielleicht im Gefängnis?“

„Das wäre hier aufgeführt“, wehrte Athena ab. „Verbrecher, die ihre Spuren verwischen, werden nicht geschnappt. Verdammt!“ Sie brauchte mehr Informationen und musste sie sich selbst beschaffen. Das war der Grund, aus dem sie jetzt zum Maskenball unterwegs waren.

In einem Laden für Kostüme in Lincoln City hatten sie sich eingedeckt, und die redefreudige Verkäuferin hatte ihnen eine wichtige Auskunft gegeben. „Die Gastgeber gehen als die drei Musketiere.“

„Damit kommen wir nicht durch“, klagte Augusta jetzt wieder. „Vielleicht erkennt uns jemand von früher.“

„Wir sind doch maskiert“, redete Athena ihr zu. „Als Erwachsene waren wir nur selten und sehr kurz hier, und wir waren nie in der Stadt. Wären wir jetzt identisch gekleidet, könnte man uns erkennen, aber wir haben unterschiedliche Kostüme und maskieren das Gesicht.“

„Was spielt es denn für eine Rolle, ob man uns erkennt oder nicht?“, fragte Alexis.

„Erkennt man uns“, erwiderte Athena ungeduldig, „wissen Hartford und seine Freunde, wer wir sind und nehmen sich vor uns in Acht.“

Alexis seufzte. „Und du meinst, wenn sie uns nicht kennen, werden sie uns bereitwillig erzählen, dass sie eine alte Frau dazu zwangen, Hartford ihr Haus zu vermachen?“

„Nein“, erwiderte Athena, „aber wenn sie von Frauen umschmeichelt werden, die ihnen jedes Wort von den Lippen lesen, werden sie vielleicht unvorsichtig und verraten sich.“

„Ich hasse das alles“, sagte Gusty stöhnend.

„Eines muss ich dir lassen.“ Alexis klopfte Athena auf die Schulter. „Der Plan könnte von unserer trickreichen und manipulierenden Mutter stammen. Du erinnerst mich ohnedies in letzter Zeit ein wenig an sie, wenn du so ein strenges Gesicht machst und …“

Das reichte. Athena hielt am Straßenrand und sah Alexis finster an. „Ich habe nicht die geringste Ähnlichkeit mit Mom“, sagte sie heftig. „Aber wenn du anderer Meinung bist, kannst du gern aussteigen!“

Alexis sah sie verblüfft an. „Beruhige dich. Es war nur eine harmlose Bemer…“

„Du bist nie harmlos!“, rief Athena. „Immer vergleichst du mich unterschwellig mit Mom, und du weißt, dass ich das nicht leiden kann!“

Alexis presste die Lippen aufeinander und entriegelte ihre Tür. „Na gut, dann kann ich ja …“

Gusty schloss die Tür wieder. „Komm schon, Athena, Lex hat es nicht so gemeint. Du weißt doch, wie sie ist.“

„Ich weiß es aber nicht“, erwiderte Alexis. „Wie bin ich denn?“

„Du willst uns die Schuld daran geben“, sagte Gusty ruhig, „dass Mom nicht die Mutter war, die du dir gewünscht hast. Du bist überzeugt, dass sie dich geliebt hätte, wenn es nur dich gegeben hätte. Du meinst, wir wären zu viel für sie gewesen, aber das stimmt nicht. Sie hatte gar keine Liebe in sich.“

Alexis verschränkte die Arme und starrte durch die Windschutzscheibe. „Das ist ja wohl etwas zu einfach ausgedrückt.“

„Fast alles lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen“, erwiderte Augusta.

Athena lehnte sich seufzend zurück.

„Auf Athena hackst du am meisten herum“, fuhr Augusta fort, „weil Mom sie am meisten geliebt hat – so weit sie dazu überhaupt imstande war. Dich hielt sie für eine Träumerin, mich für einen Feigling. Mit uns fing sie nichts an.“

Athena schloss die Augen und versuchte, nicht an die schöne Frau zu denken, die sie alle stets enttäuscht hatte. „Was sagt es über uns, dass unser Verhalten untereinander sogar nach so vielen Jahren noch immer von ihr diktiert wird?“

„Das wir normale Menschen sind“, erwiderte Augusta. „Viele Menschen haben niemanden, mit dem sie die Vergangenheit aufarbeiten können.“

Alexis machte ein finsteres Gesicht. „Ich hasse es, wenn ich mich ärgere und du alles wieder mit Logik und Verständnis glättest.“

„Nein, du hasst es nicht“, sagte Augusta lächelnd. „Du liebst Athena und mich. Du lässt nur deine Enttäuschung an uns aus. Wir sind aber trotzdem für dich da.“

Alexis wandte sich an Athena. „Seit wann ist unsere Schwester so klug?“

Athena beruhigte sich wieder. „Ich bin nicht wie sie“, murmelte sie und brauchte nicht genauer auszuführen, wen sie meinte.

„Ich weiß“, versicherte Alexis. „Ich bin nur … eifersüchtig.“

„Worauf?“, fragte Athena erstaunt.

„Auf deine Fähigkeit, mit allem fertig zu werden. Ich frage mich noch immer, was ich bei Mom falsch machte.“

„Das Gleiche wie wir auch“, erwiderte Athena. „Wir gefährdeten ihre Stellung als schönste und am meisten bewunderte Frau. Wir wollten es nicht, aber wir hatten ihr Aussehen geerbt, und wir waren Kinder. Also stahlen wir ihr die Schau, und das hat sie uns nicht verziehen.“

„Und sie konnte uns nicht lieben“, fügte Augusta hinzu. „Das lag nicht an uns. Je früher wir uns damit abfinden, desto früher können wir Beziehungen eingehen und ein Leben voll Liebe führen.“

„Erst, nachdem wir den Gentlemen in Cliffside die Wahrheit entlockt haben“, sagte Athena und streckte ihren Schwestern die Hände hin. „Abgemacht?“

„Abgemacht.“

„Abgemacht.“

Sie legten die Hände in dem alten Ritual eines gemeinschaftlichen Eides übereinander – ganz in der Tradition der drei Musketiere.

Athena stand auf der breiten Stufe von Cliffside und zog am Ausschnitt ihres Kleides im Empire-Stil. Unter der mit Perlen bestickten Haube stahlen sich wenige rote Haarsträhnen hervor. Durch den Schnitt des Kleides wurden ihre Brüste hochgedrückt, und Athena wünschte sich einen passenden Schal zum Kostüm.

Lex schob Athenas Hand weg und zog das Kleid wieder tiefer. „Du wolltest ihn doch so bezaubern, dass er dir alles erzählt. Wenn du Busen zeigst, erreichst du bei einem Mann dein Ziel.“

„Du hast leicht reden.“ Athena hielt die weiße Seidenmaske vor die Augen und deutete auf Alexis’ schlichtes Kleid mit dem relativ kleinen Ausschnitt. „Du bist ja angezogen.“

Lex tastete nach dem Saum, der nur bis zum halben Schenkel reichte. „Würde ich noch mehr Bein zeigen, wäre das ein Minikleid.“

Gusty zupfte an den Riemen ihrer Tasche und blickte nervös zum Fenster, durch das man lachende und tanzende Gäste sah.

„Entspann dich!“, befahl Athena. „Du siehst so süß und unschuldig aus, dass dein Opfer dir alles erzählen wird.“

Die Tür wurde von einer hübschen, aber schon ziemlich reifen Marie Antoinette geöffnet. „Ihr seid bestimmt die Mädchen aus dem Büro der Handelskammer“, sagte sie lächelnd.

Athena, Lex und Gusty erwiderten das Lächeln.

Marie Antoinette öffnete die Tür ganz und winkte sie herein.

Athena sah sich wehmütig um. Das Haus war ihr vertraut – und auch wieder nicht. Sie erkannte den Schrank aus dem ersten Stock und den kleinen runden Mahagonitisch, aber Sofa und Sessel waren neu, ebenso die Bilder an den Wänden. Auch die Entenköder.

Sie ärgerte sich, und das war gut so, weil sie sich dadurch besser auf ihr Ziel konzentrieren konnte. Nur ein gemeiner Mann jagte Enten! So ein Mann betrog auch eine hilflose alte Frau um ihr Haus!

„Das Büfett findet ihr im Esszimmer.“ Marie Antoinette zeigte mit einem japanisch wirkenden Fächer in die Richtung und sah sich um. „Mal sehen, ob ich einen der Gastgeber entdecke.“

„Ach, kein Problem“, sagte Athena. „Gehen Sie nur zu den anderen.“

„Ich kann euch doch nicht …“, setzte sie an, als es an der Tür schellte.

„Gehen Sie nur.“ Lex scheuchte sie zum Eingang. „Wir kommen zurecht.“

„Ich nicht“, jammerte Gusty leise, während Marie Antoinette öffnete. „Ich habe Angst.“

„Folge dem Plan“, drängte Athena. „Befreunde dich mit einem der Kerle und horche ihn aus. Klappt es nicht, lässt du ihn einfach stehen. Wir treffen uns beim Wagen.“

Lex deutete zum anderen Ende des Wohnzimmers. Dort wurde ein Musketier von zwei Cowgirls, Abraham Lincoln und Captain Picard aus Star Trek umringt. „Da ist einer“, flüsterte sie.

„Los, Gusty“, sagte Athena, „bevor du den Mut verlierst.“

Gusty schloss die Augen, holte tief Atem, raffte die Röcke und schwebte davon.

„Sie macht es“, stellte Lex überrascht fest. „Damit habe ich nicht gerechnet.“

„Natürlich macht sie es. Für uns tut sie immer alles. Sie ist nur nicht so albern wie wir. Sieh mal!“ Athena drehte ihre Schwester zur Küche, aus der ein Musketier mit einem Sektglas in jeder Hand kam.

Lex versperrte ihm den Weg. „Hallo! Ist eines davon für mich?“

Der Musketier reichte ihr das Glas und schenkte ihr die volle Aufmerksamkeit, als sie ihn unterhakte und zum Sofa führte.

Athena suchte im Esszimmer und in der Küche nach dem dritten Musketier. Auch wenn sie es nicht zugegeben hatte, war der Plan doch riskant. Anders fanden sie aber nicht heraus, wer David Hartford war und ob er etwas mit Sadies Tod zu tun hatte.

David schluckte noch eine Tablette gegen die Allergie, obwohl das nichts helfen würde. Seit Beginn des Festes nieste er ununterbrochen. Wahrscheinlich zerstörte er damit das heroische Bild, das ein Musketier bieten musste.

Er setzte die kratzige Perücke auf, rückte Bart und Schnurrbart zurecht und legte die Maske an, ehe er den Hut aufsetzte.

Von der Treppe aus entdeckte er die Frau. Von dem erhöhten Standpunkt aus sah er die Spitze einer kleinen Nase und schöne Brüste im Ausschnitt des Kleides. Er hielt den Atem an und rührte sich nicht von der Stelle.

Dann drehte sie sich um, als hätte sie seinen Blick gefühlt. Die Augen blieben hinter der Maske verborgen, doch ihr angedeutetes Lächeln schien zu sagen, dass sie auf ihn gewartet hatte.

David ging zu ihr hinunter, nahm wie in den Filmen den Hut mit einer weit ausholenden Bewegung ab und verbeugte sich. „Mademoiselle, D’Artagnan zu Ihren Diensten.“

„Genau genommen gehörte D’Artagnan nicht zu den drei Musketieren“, erwiderte sie lächelnd.

„Wir sind heute Abend aber nicht genau, sondern fantasievoll.“

„Ich entschuldige mich, Monsieur.“ Sie knickste anmutig. „Ich bin … Constance.“

Nicht schlecht. D’Artagnans Liebe. Sie ging auf das Spiel ein. Alles an ihr war so schön, wie er das schon von oben festgestellt hatte. Volle Lippen, ein zierliches Kinn. An einem schwarzen Band um den Hals trug sie eine Gemme. Rote Haarsträhnen hatten sich aus der perlenbestickten Haube gelöst.

„Blaue oder grüne Augen?“, fragte er und warf einen Blick in die Sehschlitze der Maske. „Aha, blau. Dunkelblau. Keine Sommersprossen bei diesem Haar?“

„Zum Glück nicht“, erwiderte sie lachend. „Allerdings habe ich einige am Rücken.“

„Die müssen Sie mir unbedingt zeigen“, scherzte er.

Sie drehte sich gehorsam um und senkte den Kopf. Die zierlichen Schultern waren tatsächlich mit zarten Sommersprossen bedeckt.

David musste sich zurückhalten, um nicht die winzige Narbe zu küssen, die er ebenfalls entdeckte. Er lebte nun schon ziemlich lange enthaltsam, merkte aber erst jetzt, wie lange das tatsächlich schon war.

„Haben Sie Hunger, Constance?“

„Heißhunger.“

„Dann kommen Sie mit.“ Er bot ihr den Arm an, führte sie ans Büfett im Esszimmer und reichte ihr einen Teller.

Die Auswahl war beeindruckend. Es gab Langusten auf Eis, Fleisch, frisch gebackene Brötchen, Obstsalate, Rohkost und cremige Süßspeisen.

Während Constance noch wählte, holte David aus der Küche zwei Gläser und eine offene Flasche Sekt. Als er zurückkehrte, hatte sie auf dem Teller nur einige wenige Krabben und rohes Gemüse. Er führte sie ein Stück die Treppe hinauf und setzte sich mit ihr auf eine teppichbelegte Stufe.

„Sagen Sie, Constance.“ David stellte die Gläser auf die Stufe und schenkte Sekt ein. „Gehören Sie zur Gesellschaft für Denkmalschutz?“

Sie biss in eine Krabbe und schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich freue mich, zufällig hier zu sein.“

„Sie leben nicht in Dancer’s Beach?“

„Ich … bin zu Besuch hier.“

„Familie?“

„Freunde.“

„Freunde sind wichtig“, versicherte er. „Ich schätze die meinen.“

„Die beiden anderen Musketiere?“

„Das ist Ihnen schon aufgefallen?“, fragte er lachend. „Wir fanden die Kostüme für uns passend.“

„Um gegen Despotie und alles Böse zu kämpfen?“

„Nichts dermaßen Nobles“, entgegnete er. „Es ging mehr um Freundschaft, Besäufnis, Völlerei und Fleischeslust.“

„Fleischeslust ist ungesund“, wandte sie ein.

„Ja, aber wie die meisten Männer rede ich mehr darüber, als wirklich etwas zu machen.“ Er nahm einen Schluck Sekt und betrachtete die Fremde, während sie sich die kunstvoll geschnitzte Treppe ansah.

„Ich erinnere mich nicht, dass die Musketiere in einer so eleganten Umgebung gelebt hätten“, bemerkte sie.

„Wenn wir keine Musketiere sind“, erwiderte er und schenkte nach, „brauchen wir ein bequemes Haus.“

„Aber es ist sehr groß.“

„Ich weiß. Es verlangt nach Kindern und Festen.“

„Haben Sie welche?“

„Kinder?“, fragte er lächelnd. „Nein, auch noch keine Frau, aber ich suche eine.“

„Aha.“ Sie nahm noch einen Bissen. „Vielleicht ist die zukünftige Mrs. D’Artagnan ja heute Abend hier.“ Sie deutete auf eine sehr attraktive Cleopatra. „Die Herrscherin von Ägypten ist äußerst anziehend.“

„Ja, aber diese vielen Palastintrigen! Und ich habe gehört, dass etwas zwischen ihr und einem römischen Feldherrn läuft. Sind Sie solo?“

Die Fremde nickte. „Kennen Sie die Geschichte dieses herrlichen Hauses?“

„Nur flüchtig.“ Er wollte nicht über das Haus, sondern über sie sprechen. „Es wurde vor der Jahrhundertwende von jemandem erbaut, der in die Buckley-Familie einheiratete, die Dancer’s Beach gründete.“

„So ein Haus mit Geschichte ist schön. Sie sind der Eigentümer?“

„Ich bin erst vor kurzem mit zwei Freunden eingezogen. Wir haben uns noch nicht ganz eingerichtet.“

„Und was machen Sie beruflich, Mr. …?“

„D’Artagnan, Verteidiger Frankreichs und …“ Als sie ihm die Hand auf den Arm legte, traf es ihn mitten ins Herz.

„Nein, was machen Sie wirklich?“

Etwas an der Frage störte ihn, doch die Fremde lächelte reizend. Bestimmt war er nach den Jahren als Geheimagent zu misstrauisch. Die Musiker waren eingetroffen und stimmten die Instrumente. Etwa hundert Gäste unterhielten sich und lachten. Plötzlich wünschte er sich mit dieser Frau weg von hier, wo man sich kaum noch ungestört unterhalten konnte.

„Möchten Sie mit mir nach oben kommen?“, fragte er. „Nein, nein“, versicherte er, als ihn durch die Maske ein scharfer Blick traf. „Ich meinte das Wohnzimmer im ersten Stock. Hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht.“

Sie betrachtete ihn weiterhin verhalten.

Er dachte daran, dass sie sich für das Haus interessierte. „Ich hätte Ihnen da noch so einiges zu erzählen.“

„Und was?“, fragte sie steif.

„Über das Haus … und wieso ich hier bin.“

Sie überlegte, griff nach dem Teller und stand auf. „Also gut, ich möchte gern mehr hören.“

Endlich, dachte Athena. Sie stieg vor ihm die Treppe hinauf und ließ ihm dann den Vortritt. D’Artagnan ging an mehreren Zimmern vorbei zu dem Wohnzimmer, das gleich neben dem Schlafzimmer lag. Dabei fiel ihr auf, dass er unsicher ging. Er hatte zwar mehrere Gläser Sekt getrunken, während sie auf der Treppe saßen, doch es waren kleine Gläser. Allerdings hatte er nichts gegessen.

Das mit Goldbrokat bezogene Sofa war durch einen grünen Futon ersetzt worden. In diesem Zimmer hatte ihre Tante ihnen Gutenachtgeschichten vorgelesen. Athena stellte den Teller auf einen niedrigen Bambustisch und setzte sich.

Er füllte die Gläser erneut, setzte sich zu ihr auf den Futon und hob sein Glas. „Auf neue Entdeckungen.“

„Entdeckungen?“

„Sie.“ Er stieß mit ihr an. „Ich habe Sie gesucht.“

Ob er ihren Plan kannte? Das war doch unmöglich. „Tatsächlich? Wieso?“

Behutsam strich er über ihr Häubchen. „Weil ich Sie brauche“, flüsterte er. „Wo … waren Sie bisher?“

Aus seinen Augen traf sie ein offener Blick, und seine Berührung war unbeschreiblich zärtlich. Instinktiv reagierte Athena. Sie stellte das Glas weg und rief sich ins Gedächtnis, wieso sie hier war. Dies mochte der Mann sein, der ihrer Tante ihr Zuhause abgeschwatzt hatte und vielleicht sogar für ihren Tod verantwortlich war. Er konnte Hartford oder einer von dessen Freunden sein.

Sie nahm eine Krabbe von ihrem Teller und hielt sie ihm an die Lippen. „Sie sollten etwas essen. Kommen Sie schon, beißen Sie ab.“

Er gehorchte. „Die schmecken nur so gut, weil Sie sie berührt haben.“

„Sie wollten mir mehr über das Haus erzählen.“ Athena trank, damit er ihrem Beispiel folgte. In vino veritas.

„Es ist ein Haus für viele Kinder und Großeltern, die zu Besuch kommen, für Freunde, die hier übernachten, und für Partys und fröhliche Weihnachtsfeiern.“

Athena schwieg. So hatte auch sie stets gedacht, doch nur Tante Sadie und eine Haushälterin hatten hier gelebt. Darum hatte sie sich darauf gefreut, gemeinsam mit ihren Schwestern und ihren Familien eines Tages dieses Haus mit Leben zu erfüllen.

Gehörte es ihm? War er Hartford? „Es ist also Ihr Zuhause?“

Er schien sie gar nicht gehört zu haben.

„Ich hatte nie so etwas“, fuhr er fort, nahm ihr das Glas ab und stellte es unsicher auf den Tisch. „Mein Haus war leer. Es gab gar nichts. Es war drei Mal so groß wie dieses.“ Seufzend schloss er die Augen. „Kein Lachen, keine Musik, keine Stimmen in der Dunkelheit.“

Athena war von seiner Beschreibung gerührt. Sie hörte förmlich die Stille und sah einen kleinen Jungen allein in einem großen dunklen Haus.

Und sie fühlte seine Einsamkeit.

Er zog an ihrem Häubchen. „Könnten wir das abnehmen?“

Sie dachte an ihr Ziel, nahm die Haube ab und ließ das Haar frei fallen.

„Schön“, flüsterte er, zog sie in die Arme und rieb seine Wange an der ihren. Athena wollte nichts von seiner einsamen Kindheit wissen und kein Mitgefühl für diesen Mann empfinden. Sie wollte erfahren, ob ihm das Haus gehörte und wieso er es bekommen hatte.

„D’Artagnan“, sagte sie scharf.

„Ich bin hier, Constance.“ Er ließ sich nach hinten sinken und zog sie mit sich. „Ich bin der deine“, flüsterte er, legte ihr die Hände an die Wangen und küsste sie.

Obwohl er beschwipst war, küsste er sehr gut, heißblütig und zärtlich zugleich. Und während sie abgelenkt war, hob er ihre Maske an und betrachtete lächelnd ihr Gesicht.

„Ich wusste es“, hauchte er. „Schön … schön …“ Er zuckte zusammen, schloss die Augen und murmelte eine Verwünschung.

„Was ist?“, fragte Athena besorgt.

Er rieb sich übers Gesicht. „Ein Medikament gegen Allergien“, murmelte er und schüttelte benommen den Kopf. „Und Sekt. Sehr schlecht.“ Seufzend hielt er ihre Hand fest und versuchte, sich aufzusetzen.

Sie wollte ihm helfen, hatte jedoch nicht genug Kraft. Er hielt sich an ihr fest, fiel jedoch wieder zurück und riss ein großes Stück Seide von ihrem Kleid ab.

„Aufwachen!“ Athena stieß ihn gegen die Schulter. „Ich will mit Ihnen reden!“

Langsam öffnete er die Augen, hielt ihre Hand fest und küsste sie. Dann war er total weggetreten.

Athena hätte vor Frust weinen können.

Sie griff nach seiner Maske, um wenigstens zu wissen, wie er aussah, doch dann hörte sie Stimmen vor der unverschlossenen Tür. Angesichts des Zustandes ihres Kostüms und ihres Gastgebers und der Tatsache, dass sie gar nicht eingeladen war, hielt sie Rückzug für das Klügste.

„Hallo!“ Jemand klopfte gegen die Tür.

Athena floh durch die Balkontür auf die Veranda, von der Stufen zum Garten führten. Wegen der regnerischen Februarnacht hielt sich dort bestimmt niemand auf. Während sich hinter ihr die Zimmertür öffnete, lief sie schon die Straße zu ihrem Wagen entlang.

Früher hatte sie diesen Weg unzählige Male genommen, doch bis heute hatte sie nie den Kuss eines Mannes auf den Lippen gefühlt, eines Mannes, der noch ein Stück ihrer Kleidung in der Hand hielt.

3. KAPITEL

September

Wie sollte er weitermachen?

David las zum sechsten Mal auf dem Monitor die drei Absätze.

Jake starrte missmutig aus dem Taxi, als es zu Janies Bungalow einbog. Seit Monaten hatte er keinen Brief erhalten, aber er hatte ihr auch nicht geschrieben. Dafür war das Leben zu hart gewesen.

Das Taxi hielt. Jake bezahlte den Fahrer und stieg aus.

Janie saß mit einer Tasse Kaffee und einem Buch auf den Stufen. Sie blickte hoch, erstarrte und ließ Buch und Tasse fallen.

Der Cursor blinkte am Beginn des nächsten Absatzes, während David auf eine Inspiration wartete.

Lief sie ihm entgegen? Oder er ihr? Ging sie ins Haus und schlug die Tür zu? Hämmerte Jake gegen die Tür?

David hatte nicht die geringste Ahnung. Er schrieb am letzten Kapitel seines Romans und versuchte die Träume des Helden zu verwirklichen, nachdem er den armen Kerl dreihundert Seiten lang durch die Hölle geschickt hatte.

Wie würde Janie reagieren, nachdem Jake sie umworben und verführt hatte und dann dem Ruf der CIA gefolgt war, obwohl er versichert hatte, nie wieder für die Agentur zu arbeiten?

Wie David das seit Monaten täglich tat, dachte er an das Kostümfest im Februar und an die Frau, die wie ein wahr gewordener Traum in seinem Wohnzimmer erschienen war.

Er erinnerte sich an ihr Lächeln und Teile der Unterhaltung, doch er hatte Lücken. Sekt, Medikamente und nur vier Stunden Schlaf in der Nacht davor hatten ihn umgehauen. Doch ihr Gesicht hatte er nicht vergessen, auch nicht ihre Augen und dieses Lächeln, bei dem er Herzklopfen bekam … oder die Brüste, die in ihrem Kleid à la Kaiserin Josephine hochgedrückt wurden.

Noch jetzt dachte er an diesen würzigen Duft nach Rosen, der in der Luft hing, als er wieder erwachte. In der Hand hatte er ein Stück Seide gehalten.

Er wusste nicht, was geschehen war, konnte es sich jedoch vorstellen. Er hatte sie verführen wollen. Hoffentlich hatte er sie nicht beleidigt.

Er hatte sie gesucht, kannte jedoch weder ihren Namen noch irgendwelche Freunde. Nicht einmal Mrs. Beasley konnte ihm helfen, obwohl sie sich an das Kleid erinnerte. Die Frau wäre mit Freundinnen gekommen, sagte sie.

Seufzend stand er auf, ging in die Küche, nahm sich Kaffee, setzte sich mit der Zeitung ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Dotty, seine Haushälterin, war für einige Tage nicht hier. Trevyn hielt sich irgendwo in Kanada in den Bergen auf und schoss Fotos für einen Kalender. Bram war wegen eines Falles seiner bereits gut laufenden Detektivagentur in Mexiko. Cliffside war still wie ein Grab.

Der Wetterbericht in der Zeitung versprach für die Küste Oregons eine weitere Woche Altweibersommer. Dann sagte der Nachrichtensprecher: „Wir zeigen das Bild noch einmal für alle, die erst jetzt eingeschaltet haben. Diese Frau wurde bei Astoria im Columbia River gefunden. Sie liegt in stabilem Zustand im Columbia Memorial Hospital in Astoria, erinnert sich jedoch an nichts. Sie weiß nicht ihren Namen, wo sie wohnt oder wie sie in den Fluss geriet. Der Küstenwache liegen keine Meldungen über gekenterte Boote oder andere Unglücksfälle vor.“

David blickte hoch. Das Herz blieb ihm stehen. Er sprang auf und verschüttete dabei den Kaffee.

Das körnige Foto einer Frau war zu sehen, während der Sprecher alle, die diese Frau kannten, bat, sich mit der Polizei in Astoria in Verbindung zu setzen.

Die Frau lag auf einer Trage. Langes rotes Haar klebte nass auf dem Kissen. Die Augen hielt sie geschlossen. Die Gesichtszüge waren nicht gut zu erkennen, wohl aber die Gesichtsform und das zierliche Kinn. Das war Constance! Und der deutlich angeschwollene Leib unter der Decke verriet, dass sie hochschwanger war.

David konnte kaum atmen. Um Himmels willen!

Nur unklar erinnerte er sich an jene Nacht im Februar, aber die Frau hatte auf ihm gelegen, und sie hatte die Kappe abgenommen, die ihr Haar festhielt. Und er hatte sie begehrt! Doch so sehr er sich auch bemühte, er wusste nicht, was dann geschehen war.

Allerdings hatte er ein Stück ihrer Kleidung in der Hand gehalten, als er erwachte …

„Wer etwas weiß, möge sich bitte an die Polizei in Astoria wenden.“

David griff nach den Schlüsseln, dem Handy und der Jacke und lief zur Garage, stieg in den silber-blauen Wagen zwischen Trevyns Geländewagen und Brams Jeep, wählte die Nummer aus dem Fernsehen und jagte Richtung Highway.

Zwischen dem Polizisten, zu dem der Anruf durchgestellt wurde, und ihm entwickelte sich eine verrückte Unterhaltung.

„Ich rufe wegen der jungen Frau an, die aus dem Columbia River gefischt wurde“, sagte David.

„Ihr Name, Sir?“

„David Hartford aus Dancer’s Beach. Geht es ihr gut?“

„Ich glaube schon. Sie wissen, wer sie ist?“

„Ja.“ Sie war die Frau aus seinen Träumen.

„Und wie lautet ihr Name?“

„Ich … also … das weiß ich nicht.“

„Sagten Sie denn nicht, Sie kennen sie?“

„Ja. Sie kam zu einem Fest in meinem Haus, aber wir alle trugen Masken.“ Erst jetzt wurde ihm klar, wie das für den Polizisten klingen musste. „Es handelte sich um das Maskenfest der Gesellschaft für Denkmalschutz.“

„Verstehe. Und diese Frau nannte Ihnen nicht ihren Namen?“

„Nein. Ich war als Musketier verkleidet, und sie …“ Er merkte, wie unglaubwürdig sich das alles anhörte. „Nein, sie nannte mir nicht ihren Namen.“

„Verstehe. Wie wollen Sie uns dann helfen?“

Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. „Ich könnte mich um sie kümmern, bis Sie herausfinden, wer sie ist.“

„Wenn Sie kein Verwandter sind, Sir, können wir Ihnen diese Frau nicht anvertrauen.“

„Aber wenn Sie nicht wissen, wer sie ist, kennen Sie auch keine Verwandten. Was wird denn aus ihr, wenn sie das Krankenhaus verlassen kann?“ David war bereits auf dem Highway und musste sich auf den morgendlich dichten Verkehr konzentrieren.

„Das muss ich erst klären, Sir.“

„Danke“, erwiderte David. „Ich bin in drei Stunden bei Ihnen.“

Athena lehnte sich im Taxi zurück, das sie vom Flughafen zum Columbia Memorial Hospital brachte. Kaum zu glauben, dass sie ihre Schwester in den Nachrichten gesehen hatte – blass, bewusstlos, schwanger und wie ein alter Schuh aus dem Fluss gefischt. Was war da bloß geschehen?

Dabei wusste sie nicht einmal, um welche ihrer Schwestern es sich handelte. Seit dem gescheiterten Maskenball im Februar hatte sie mit Alexis und Augusta einmal in der Woche telefoniert, beide jedoch nicht wieder gesehen. An jenem Abend hatten sie sich wie geplant am Wagen getroffen. Lex und Gusty waren überzeugt gewesen, dass die Musketiere nichts Verbotenes getan hatten.

„Er war zu aufmerksam“, hatte Lex von ihrem Musketier behauptet.

„Meiner war zu … süß“, hatte Gusty seufzend versichert.

Am folgenden Tag waren sie heimgekehrt. Athena hatte weiterhin nach Belastungsmaterial gegen David Hartford gesucht und Patrick eingesetzt. Trotzdem hatte er nichts gegen Hartford und seine Freunde gefunden.

„Hartford scheint ein vorbildlicher Journalist zu sein, Bram wurde beim Militär mehrfach ausgezeichnet, und McGinty ließ sich einfach treiben, wenn er nicht gerade tolle Fotos machte.“

„Und was ist mit diesen Zeiträumen, für die Sie kein Material finden?“, hatte sie gefragt.

„Athena, ich habe alles Mögliche getan. Es gibt einfach keine Informationen.“

„Wie kann das sein? Ich dachte, dass in der heutigen Zeit dank des Internets jedermann durchschaubar ist.“

„Ich weiß es nicht. Ich suche weiter, aber es könnte länger dauern.“

Das war vor sieben Monaten gewesen. Athena versuchte, sich damit abzufinden, dass ihre Tante Hartford das Haus freiwillig hinterlassen hatte.

Und dann hatte sie in den Zehn-Uhr-Nachrichten ihre Schwester gesehen. Das Foto war körnig. Klar erkennbar war nur die Schwangerschaft.

Sie hatte Gusty angerufen, sie aber nicht erreicht. Und in der Schule war um diese Zeit niemand mehr.

Danach hatte sie Lex in Rom angerufen. Die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter besagte, dass sie ungefähr für eine Woche nicht erreichbar war, weil sie auf Motivsuche ging.

Wer war aus dem Fluss gezogen worden? Und was hatte ihre Schwester in Oregon getan? Noch dazu hochschwanger?

Nach einem Anruf im Krankenhaus hatte sie alle Termine für die nächsten Tage abgesagt, die erste Maschine nach Portland und einen Verbindungsflug nach Astoria genommen.

Das Taxi hielt vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Athena bezahlte den Fahrer und stieg aus, während er ihre Reisetasche aus dem Kofferraum holte. Dann lief sie an die Anmeldung und erklärte der sichtlich verblüfften Angestellten, wer sie war.

„Wir haben Sie schon erwartet, Miss Ames“, sagte die Angestellte und rief nach jemandem.

Ein hoch gewachsener Polizist Ende dreißig erschien gleich darauf. „Officer Holden. Wenn Sie bitte mitkommen würden.“

„Ich passe auf Ihre Tasche auf“, bot die Angestellte an und nahm sie über den Tresen hinweg entgegen.

„Geht es meiner Schwester gut?“, fragte Athena den Polizisten. „Gestern hieß es in den Nachrichten, dass ihr Zustand stabil ist.“

„Nun, es ging ihr gut, als die Schwester kurz nach sechs nach ihr sah“, erwiderte er.

„Das klingt, als hätte sich ihr Zustand verändert“, stellte Athena fest und folgte ihm durch den Korridor.

„Ich würde sagen, sie fühlt sich bestimmt viel besser, sonst wäre das nicht passiert.“

„Was wäre nicht passiert?“

Er öffnete die Tür von Zimmer 115 und gab den Blick auf ein leeres ungemachtes Bett frei. „Sie ist weggelaufen“, sagte Officer Holden.

Athena starrte auf das Bett.

„Sie müssen eine Zwillingsschwester sein“, sagte der Polizist. „Ich sprach gestern Abend mit ihr. Sie sehen ihr zum Verwechseln ähnlich.“

Athena nickte geistesabwesend. Warum war ihre Schwester verschwunden? Wohin war sie geflohen? Und welche war es – Gusty oder Lex?

Und vor allem – wer war der Vater des Kindes, und wieso hatte sie ihren Schwestern die Schwangerschaft verschwiegen?

Dann hörte sie einen Mann mit Officer Holden sprechen und nahm an, es wäre der Arzt. Doch er war es nicht. Der Mann trug eine Jeans und einen grauen Sweater. Er machte ein angespanntes Gesicht, bis er sie erblickte und lächelte. Mit zwei Schritten war er bei ihr und packte sie an den Armen.

„Es geht Ihnen ja doch gut!“, sagte er und zog sie an sich. „Sie wirkten im Fernsehen so blass und schwach, dass ich dachte …“

Sie war so überrascht, dass sie sich nicht wehrte.

Er schob sie ruckartig von sich und betrachtete sie eingehend. „Sie sind nicht schwanger“, sagte er verwirrt.

Er sah ihr tief in die Augen, und dieser Blick berührte etwas in ihr.

„Miss Ames“, sagte der Polizist, „das ist David Hartford, ein Bekannter Ihrer Schwester. Mr. Hartford, Athena Ames, die Zwillingsschwester der geheimnisvollen Frau.“

Hartford! Athena rang sich ein höfliches Lächeln ab und reichte ihm die Hand. Der Musketier, dem Sadies Haus gehörte!

„Wo ist die Frau aus dem Fluss?“, fragte er.

Holden zeigte auf das leere Bett. „Fort. Tut mir leid.“

„Woher kannten Sie meine Schwester?“, fragte Athena.

Hartford trat ans Fußende des Betts. Er hatte dunkles Haar, dunkle Augen und einen schlanken, aber sehr kräftigen Körper mit breiten Schultern und beeindruckenden Oberarmen. „Ich kannte sie nicht gut“, erwiderte er bedauernd. „Sie war im Februar in meinem Haus bei einem Fest.“

Athena ließ sich auf die Bettkante sinken. „Ich begreife nicht, was mit ihr geschehen ist.“ Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem Fest in Dancer’s Beach in dem Haus, das ihre Tante diesem Mann hinterlassen hatte, und einer Kleinstadt, die ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer weiter nördlich an der Küste lag? Wieso war ihre Schwester aus dem Fluss gezogen worden? Und weshalb war David Hartford jetzt hier?

„Was heißt, sie ist fort?“, fragte David Hartford den Polizisten. „Wie kann eine Patientin einfach aus einem Krankenhaus verschwinden?“

Holden zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich geschah das, während das Personal Medikamente verteilte oder das Frühstück servierte.“

„Eine Frau, die nicht weiß, wer sie ist, woher sie kommt und wohin sie gehen soll, irrt also jetzt durch die Straßen?“

„Wir haben den Fernsehsender gebeten, immer wieder das Foto zu zeigen. Wir geben es auch an die Zeitung weiter. Wenigstens wissen wir nun, wer sie ist.“ Er zog ein Notizbuch hervor. „Wie lautet der Vorname Ihrer Schwester, Miss Ames?“

Athena traf eine Entscheidung. Da sie nicht wusste, welche Rolle Hartford in dieser Sache spielte, half es vielleicht, wenn er nicht wusste, dass sie noch eine dritte Schwester hatte. Da Lex vermutlich irgendwo in Europa war und Gusty sich diese Woche noch nicht wie gewohnt bei ihr gemeldet hatte, erwiderte sie: „Augusta. Augusta Amelia Ames.“

„Alter?“ Er lächelte, als sie zögerte. „Wir sind Gentlemen und werden Ihr Alter sofort wieder vergessen.“

„Neunundzwanzig“, erwiderte sie.

„Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?“

Athena schüttelte den Kopf. „Sie lebt in Kalifornien nördlich von Sacramento in einer Kleinstadt namens Pansy Junction. Dort ist sie Lehrerin. Ich weiß nicht einmal, was sie hier tat. Vielleicht versucht sie, nach Hause zu gelangen. Aber wenn sie nicht weiß, wo sie lebt …“

Hartford legte ihr die Hand auf die Schulter. Die sanfte Geste überraschte sie.

Ein Mann mit Glatze und Brille in einem weißen Kittel über der Jeans kam herein. Laut Namensschild war er Dr. Stoddard. Sobald er Athena sah, blieb er verblüfft stehen.

„Das ist die Zwillingsschwester Ihrer Patientin, Doktor“, sagte Holden. „Miss Ames, Dr. Stoddard hat gestern Abend Ihre Schwester behandelt.“

Der Arzt schüttelte erstaunt den Kopf. „Eineiige Zwillinge.“ Als Athena nickte, setzte er sich neben sie. „Tut mir leid, niemand hat Ihre Schwester weggehen gesehen. Morgens ist bei uns viel los.“

„Aber weshalb ist sie weggegangen?“ Es fiel Athena schwer, ruhig zu bleiben. „Sie weiß doch gar nicht, wohin sie soll.“

„Vermutlich die Aufregung“, erwiderte er. „Wahrscheinlich hat ein Schlag gegen die Stirn den Gedächtnisverlust ausgelöst. Ich selbst hatte noch keinen solchen Fall, aber ich habe mich noch gestern Abend kundig gemacht. Es kommt oft vor, dass ein Patient in dieser Lage wegläuft. Falls sie erwachte und keine Antworten bezüglich ihrer Lage fand, könnte es sein, dass sie diese Antworten anderswo sucht.“

„Sagte meine Schwester etwas über den Vater des Kindes?“

„Nein“, entgegnete der Arzt. „Wenn sie nicht einmal weiß, wer sie selbst ist, erinnert sie sich sicher auch nicht an ihren Ehemann oder Freund.“

„Sie wissen es auch nicht?“, fragte Holden und machte sich Notizen.

„Ich wusste nicht einmal, dass sie schwanger ist.“ Athena wandte sich erneut an den Arzt. „Glauben Sie, meine Schwester hatte einen Unfall? Oder wurde sie niedergeschlagen und ins Wasser geworfen?“

„Schwer zu sagen. Vielleicht ist sie mit der Stirn gegen das Lenkrad geprallt, als sie mit einem Wagen von der Brücke stürzte.“

„Es gab an der Young’s Bay Bridge keinen Hinweis auf einen Unfall“, wandte Holden ein. „Und einen Sturz von der Astoria-Megler Bridge hätte sie nicht überlebt. Das ist die große Brücke nach Washington. Bisher haben wir keinen Wagen gefunden. Natürlich könnte er irgendwo im Fluss liegen. Ihre Schwester wurde in der Dunkelheit bei Flut geborgen.“

Dr. Stoddard wurde über Lautsprecher ausgerufen und stand auf. „Tut mir leid wegen Ihrer Schwester, Miss Ames, aber abgesehen von der Amnesie befindet sie sich in guter gesundheitlicher Verfassung. Und die Polizei von Astoria ist sehr tüchtig und wird sie schon finden.“

„Was ist mit dem Kind?“, erkundigte sich Athena.

„Auch alles in Ordnung. Ein Spezialist hat sich darum gekümmert. Ihre Schwester ist in der neunundzwanzigsten Woche.“

Holden begleitete Athena und David Hartford auf den Korridor. „Wir tun unser Bestes, Miss Ames. Das Foto wird in den Nachrichten gezeigt, und wir geben es an unsere Leute und an die Staatspolizei weiter.“

Athena nickte. Das war herzlich wenig, wenn man bedachte, dass ihre Schwester ganz allein war, keinen Namen, keine Vergangenheit und keinerlei Bezugsperson hatte. Hoffentlich stieß Gusty nichts zu – sofern es Gusty war.

„Wo kann ich Sie erreichen?“, fragte Holden.

„Das weiß ich noch nicht“, entgegnete Athena. „Ich kam mit einem Taxi direkt vom Flugplatz hierher. Vielleicht nehme ich mir gar kein Zimmer, sondern miete einen Wagen und suche Gusty auf eigene Faust. Ich gebe Ihnen aber die Nummer meines Handys.“

„Der Zeitpunkt für einen Besuch in Astoria ist ungünstig“, sagte der Polizist. „Wegen des Fish Festivals sind die Hotels ausgebucht. Wahrscheinlich bekommen Sie auch keinen Wagen.“ Er wandte sich an Hartford. „Und wo erreiche ich Sie?“

Hartford nannte ihm Adresse und Telefonnummer.

Holden steckte das Notizbuch ein. „Gut, ich melde mich bei Ihnen.“

Athena holte ihre Reisetasche bei der Angestellten an der Anmeldung ab und trat ins Freie. Hartford folgte ihr.

„Was mache ich jetzt, wenn ich keinen Wagen und kein Zimmer bekomme?“, fragte sie unsicher.

„Ich wüsste da etwas“, sagte David Hartford.

David vermutete, dass er Athena Ames mit seinem Vorschlag in die Flucht schlug, doch sie sah seiner Constance zu ähnlich, als dass er sie hätte im Stich lassen können.

„Ja?“, fragte sie vorsichtig.

„Ich wohne südlich von hier an der Küste.“ Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Dabei irrte die geheimnisvolle Frau, mit der er ein Kind gezeugt hatte, allein und verängstigt durch eine ihr unbekannte Gegend. „Wir könnten an der Küste entlang fahren und in allen Orten nach Ihrer Schwester suchen. Dann bleiben Sie bei mir, bis wir mehr erfahren. Zu zweit erreichen wir mehr als einzeln.“

Damit handelte er sich genau jenen Blick ein, mit dem er gerechnet hatte. Daher sah er sich zu einer Erklärung genötigt.

„Das Kind ist von mir.“

Athena starrte ihn ungläubig an. „Sie sind ihr Freund?“

„Nicht direkt, aber für mich ist das alles sehr wichtig. Bei mir sind Sie in Sicherheit, ganz bestimmt. Ich habe ein sehr großes Haus mit sechs Schlafzimmern und einem Arbeitszimmer. Sie können das Zimmer haben, das am weitesten von meinem entfernt ist. Ich kann Ihnen auch einen Wagen zur Verfügung stellen.“

„Wieso sagten Sie Officer Holden nicht, dass das Kind von Ihnen ist?“, fragte sie misstrauisch.

„Weil die Einzelheiten sehr verschwommen sind.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich erkläre es Ihnen während der Fahrt nach Cliffside. So heißt das Haus in Dancer’s Beach.“

„Ein großes Haus für einen allein stehenden Mann“, stellte sie fest.

„Ich habe gern viel Platz zur Verfügung“, erwiderte er. „Auf dem Grundstück wohnen noch zwei Freunde, aber sie sind im Moment nicht da.“

„Wie praktisch“, sagte sie.

„Ein Zufall“, verbesserte er sie.

Sie sah ihm in die Augen, und dieser Blick kam ihm sehr vertraut vor. Das war jedoch kein Wunder. Sie war schließlich Con… Augustas Zwillingsschwester.

„Also schön“, entschied sie. „Aber ich warne Sie. Ich bin Anwältin. Kommen Sie auf falsche Ideen, gehört mir im Handumdrehen Ihr gesamter Besitz.“

Er griff lächelnd nach ihrer Reisetasche. „Ich mag scheue und zurückhaltende Frauen. Kommen Sie. Mir gehört der Wagen da drüben.“

Athena ließ sich auf den Beifahrersitz sinken, während er ihre Tasche auf den Rücksitz legte und einstieg. „Sehr elegant“, stellte sie fest und strich über das blaue Leder. „Ein Haus mit sechs Schlafzimmern, ein teurer Wagen mit echtem Leder. Sind Sie Arzt?“

„Nein, Autor.“

„Journalist?“

„Früher. Jetzt schreibe ich Romane.“

„Hoffentlich Kriminalromane, damit wir dank Ihres kriminalistischen Verstandes Gusty finden.“

„Gusty?“

„Augusta, die Frau, die ein Kind von Ihnen erwartet. Wie ist das eigentlich passiert?“

Er sah sie ironisch an. „Ich kannte ihren Namen nicht. Und ich muss wohl kaum erklären, wie Kinder gemacht werden, oder?“

„Ich meine, wieso wurde es so … intim, wenn Sie nicht einmal ihren Namen kannten?“

„Es geschah auf einem Kostümfest“, erwiderte er. „Wir trugen Masken.“

„Und deshalb habt ihr auf eine Vorstellung verzichtet?“

„Nein.“ Er verließ den Parkplatz. „Dadurch wurde es nur leichter, in eine Rolle zu schlüpfen.“

Gusty hatte sich von David Hartford lieben lassen? Ihre sonst so scheue Schwester? Athena konnte sich das nicht vorstellen. Zu Lex hätte das eher gepasst.

„Es sieht Gusty nicht ähnlich“, stellte sie fest. „Ich kann das kaum glauben.“

„Das kommt daher, dass Sie ihre Schwester sind.“ An der nächsten Ampel bog er auf den Highway und fuhr Richtung Stadtzentrum. „Bestimmt hat sie Ihnen nicht alles erzählt. Sie war reizend, aber auch sinnlich und verführerisch.“

„Sinnlich?“, fragte Athena überrascht, während sie die Bürgersteige im Auge behielt. „Soll das ein Scherz sein? Verführerisch?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie wollte es wohl so sehr wie ich, und ich war egoistisch genug, um die Gelegenheit zu ergreifen. Sie war die wunderbarste Frau, die ich jemals kennen gelernt habe.“

Plötzlich fiel Athena ein, wie sie herausfinden konnte, um welche ihrer Schwestern es sich gehandelt hatte. „Welches Kostüm trug sie?“, fragte sie beiläufig.

„Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll“, erwiderte er. „Hoch angesetzte Taille, kurze Puffärmel. Napoleons Frau Josephine hätte so ein Kleid tragen können.“

Beinahe hätte Athena sich verraten. David Hartford war kein anderer als ihr Musketier!

4. KAPITEL

Athena war völlig durcheinander. David Hartford hielt sie für sinnlich und verführerisch, und er war überzeugt, sie geschwängert zu haben!

Sinnlich und verführerisch. Lächelnd betrachtete sie die Fußgänger. Sie war sinnlich und verführerisch? So hatte sie sich selbst noch nie gesehen.

Was hatte er noch gesagt? Sie bekam Herzklopfen. Sie war die wunderbarste Frau, die ich jemals kennen gelernt habe. Für einen Moment verschwanden alle Sorgen, während sie das ungewohnte Lob genoss. Doch hier ging es um ihre Schwester.

„Also“, begann sie vorsichtig, „ihr beide hattet einen wildromantischen Abend?“

Er warf ihr einen Blick zu. „Offenbar.“

„Sie sind sich nicht sicher?“

„Ich hatte Antihistamine genommen und trank Sekt. Offenbar war ich eine Zeit lang weggetreten. Als ich erwachte, hielt ich ein Stück Seide in der Hand und duftete nach ihr. Mein Hemd und meine Hände. Rosen und irgendeine würzige Note.“

„Aber Sie erinnern sich nicht genau?“

Lächelnd legte er die Hand aufs Herz. „Hier drinnen weiß ich es. Anders kann ich es nicht erklären.“

Sie sah ihn ungläubig an, doch er merkte es nicht, weil er durch das Stadtzentrum kreuzte und sich die Fußgänger genau ansah.

„Wenn sie im Krankenhaus nicht gefrühstückt hat“, sagte er, „könnte sie irgendwo einen Kaffee trinken und etwas essen.“

„Aber sie hat kein Geld. Das nehme ich wenigstens an. Sie hatte nichts bei sich, als sie aus dem Wasser gezogen wurde.“

Er bog auf den Parkplatz einer Bäckerei. „Nachsehen schadet nicht. Haben Sie etwas gegessen?“

„Nein.“ Sie löste den Sicherheitsgurt. „Auf dem Flug von Chicago nach Portland hatte ich nur Erdnüsse.“

„Ich lade Sie ein.“

In der Bäckerei war viel los. An vier Tischen drängten sich Jogger und Geschäftsleute. Von Gusty war nichts zu sehen. Athena und David versorgten sich mit Kaffee und Gebäck. Anschließend sahen sie noch in einigen anderen Lokalen in der Gegend nach, ohne etwas zu erreichen.

„Tut mir leid“, sagte Hartford, als sie wieder auf dem Bürgersteig standen. „Wir finden sie bestimmt.“

„Ich weiß“, erwiderte sie möglichst zuversichtlich. „Ich fühle mich für sie verantwortlich.“

„Warum?“, fragte er. „Sie haben sie nicht in den Fluss gestoßen.“

„Ich war immer die ältere Schwester.“

„Sie sind doch Zwillinge.“

„Ich wurde siebenunddreißig Minuten vor ihr geboren. Sie war stets die Sanfte, und ich bin …“

„Die Kämpferin“, fiel er ihr ins Wort. „Ihre Eltern haben das offenbar erkannt und Sie deshalb Athena genannt.“

„Möglich.“ Sie wollte nicht über ihre Eltern sprechen. „Hat der Beruf des Autors Sie eigentlich darauf vorbereitet, kritische Situationen wie diese so ruhig zu ertragen?“

„Liefertermine härten einen sicher ab“, bemerkte er, während sie zur Commercial Street gingen. „Aber ich habe auch andere Situationen erlebt, in denen man Stresskontrolle lernt.“

„Was für Situationen?“, erkundigte sie sich.

„Ermittlungen.“

Sie blieb auf dem Bürgersteig stehen. „Soll das heißen, dass Sie Detektiv sind?“

„So ungefähr“, erwiderte er und ging weiter.

„Wie können Sie so ungefähr ein Detektiv sein?“

„Bevor ich Romane schrieb, hatte ich eine Kolumne in der Chicago Tribune. Beobachtungen über die Gesellschaft, Berichte über die Vorgänge in der Stadt. Das ist Detektivarbeit ähnlich.“

„Ach so“, sagte sie enttäuscht. „Und ich dachte schon, Sie könnten einen Trupp Geheimagenten zu Hilfe holen.“

„Mein Freund, der über der Garage wohnt, ist Detektiv. Ich wollte mir bei ihm einen Rat holen, aber ich kann ihn nicht erreichen. Er arbeitet im Moment in Mexiko.“ Sie hatten den Wagen erreicht. Hartford öffnete ihr die Tür.

„Was hat Sie nach Oregon geführt?“, fragte sie beiläufig.

„Meine Freunde und ich waren am Scheideweg angelangt, beruflich und privat.“ Er ging um den Wagen herum und stieg ein. „Wir suchten etwas Neues. Eine Freundin hinterließ mir das Haus, in das ich Sie bringen werde. Für Bram, Trevyn und mich war es ein Geschenk des Himmels, obwohl es uns lieber wäre, unsere Freundin würde noch leben.“ Er zeigte in die entgegengesetzte Richtung des Flusses. „Wir suchen noch einige Straßen ab. Danach fahren wir die Küste entlang.“

„Eine Freundin?“, erkundigte sich Athena möglichst harmlos. „Ihre persönliche Freundin?“

„Nein, eine … Kollegin.“

Eine Kollegin? Hatte er mit Sadie zu tun gehabt, während er monatelang verschwunden war? Oder meinte er die Arbeit bei der Zeitung? Nein, das war nicht möglich. Patrick hatte herausgefunden, dass er seit 1991 bei der Chicago Tribune arbeitete, und Sadie hatte seit den sechziger Jahren in Dancer’s Beach gelebt. Also kannte er Sadie aus den Zeiten, in denen er und seine Freunde verschwunden gewesen waren. Oder David log, und das erschien Athena sehr wahrscheinlich.

Sie suchten die Ufergegend und anschließend die Künstlergemeinde Cannon Beach ab. Am Nachmittag fanden sie in einem Restaurant, das wie ein Blockhaus eingerichtet war, einen ruhigen Tisch. Athena rieb sich die Stirn, während sie die Speisekarte las.

„Kopfschmerzen?“, fragte David.

„Manchmal nach einem anstrengenden Tag. Es schmerzt, wenn ich das Haar hochstecke.“

„Können Sie es nicht offen tragen?“

„Das sieht nicht sonderlich ordentlich aus. Darum mache ich es nur an Wochenenden.“

Er sah sich um. „Wir sind hier nicht im Gerichtssaal. Und ist die Jacke nicht unbequem? Oder die Schuhe?“

Athena lächelte müde. „Gehört alles zur Anwältin. Ich bin daran gewöhnt.“

„Dort ist der Waschraum. Falls Sie etwas Bequemes mitgebracht haben, könnten Sie sich umziehen.“

Bei der Gelegenheit konnte sie in Gustys Schule anrufen.

„Wir haben noch etwa zwei Stunden Fahrt vor uns“, warnte er.

„Falls Gusty zu Fuß geht, sind wir schon an ihr vorbei.“

Er nickte. „Aber falls sie eine Fahrgelegenheit fand, könnte sie schon weit vor uns sein. Schwer zu sagen. Vielleicht zieht es sie nach Dancer’s Beach.“

„Sie denken dabei an sich?“

„Nein, das weniger. Sie erzählte mir, sie hätte Freunde dort, mit denen sie zu dem Fest kam. Wissen Sie, wer das sein könnte?“

Athena selbst hatte diese Freunde erfunden, um ihre Anwesenheit auf dem Fest zu erklären. „Nein. Und sie sagte Ihnen nichts?“

„Mrs. Beasley sah sie mit Freundinnen kommen, kannte sie aber nicht. Ich fragte sie gleich am Tag nach dem Fest, weil ich Ihre Schwester unbedingt finden musste. Ich hatte aber kein Glück bis zu dieser Nachrichtensendung. Ich erkundigte mich auch in der Handelskammer, weil Bürgermeister Beasley dachte, ihre Freundinnen könnten dort arbeiten. Die Mitarbeiterinnen der Handelskammer kamen aber gar nicht zu dem Fest.“ Seufzend betrachtete er die Speisekarte. „Sagen Sie mir, was Sie haben wollen, und ich bestelle, während Sie sich umziehen.“

Das tat Athena und eilte zum Wagen, rief in der Schule an und erfuhr von einer besorgten Sekretärin, dass Gusty heute nicht zum Unterricht gekommen war. Athena informierte die Frau, hinterließ ihre Telefonnummer und bat um einen sofortigen Anruf, sollte Gusty sich melden. Danach zog sie sich im Waschraum um. Jetzt wusste sie wenigstens, welche ihrer Schwester vermisst wurde.

David war tief von Athenas Schönheit berührt. Sie saß ihm in einem hellblauen Sweater und einer Hose gegenüber. Das lange Haar war in der Mitte geteilt und fiel wie Seide auf ihren Rücken, während sie sich hungrig über ein Truthahn-Sandwich hermachte. Die Ähnlichkeit mit Augusta war unglaublich.

„Haben Sie und Augusta als Kinder anderen Leuten Streiche gespielt?“, fragte er. „Ich meine, indem sich die eine für die andere ausgab?“

„Ein paar Mal in der Schule“, erwiderte sie lächelnd. „Ich machte für Gusty die Prüfung in Mathe, und sie trat für mich in Gemeinschaftskunde an.“ Lex hatte für sie beide die Prüfung im Kunstunterricht abgelegt, doch David wusste nichts von Lex.

„Wie haben Ihre Eltern Sie auseinander gehalten?“, fragte er. „Wie soll man denn Kinder erziehen, wenn man nicht weiß, wer wer ist?“

Früher oder später mussten sie ohnedies darüber sprechen. „Das war kein Problem“, gestand sie seufzend. „Unser Vater war nett, aber er reiste ständig. Er war Baseballspieler, ein Profi. Unsere Mutter und ihre Schwester wurden als Kinder sehr verwöhnt, weil sie so hübsch waren. Unser Vater liebte meine Mutter sehr und verwöhnte sie auch – bis wir kamen. Danach verwöhnte er uns, und das verübelte sie uns.“

„Tut mir leid“, warf er behutsam ein.

„Das spielt keine Rolle mehr.“ Athena nahm einen Schluck Kaffee. „Beide leben nicht mehr. Ich war noch auf dem College, als sie einen Autounfall hatten.“

„Es spielt immer eine Rolle, weil wir eine unglückliche Kindheit mit uns herumschleppen.“ David füllte ihre Tasse nach. „Und Tod verstärkt die Probleme noch, anstatt sie zu verbessern.“

Sie staunte, dass er das so gut verstand.

„Wir drei …“ Athena stockte. „Gusty und ich haben uns gegenseitig geholfen. Unsere Mutter bemühte sich um des äußeren Scheins willen um uns, aber wir waren ihr lästig. Und Dad zeigte sich nur wenig, weil es so einfacher war.“

„Und ich hielt meine Familienverhältnisse stets für schlecht“, meinte David mitfühlend. „Im Vergleich zu Ihnen war meine Kindheit ja das reinste Paradies.“

„Sie haben mir zugehört“, sagte Athena. „Ich würde den Gefallen gern erwidern.“

Nachdenklich tauchte er ein Pommes frites in Ketchup. „Meine und Ihre Mutter könnten ebenfalls Zwillinge gewesen sein, die bei der Geburt getrennt wurden, nur war meine reicher als schön. Das war ihr auch stets das Wichtigste. Mein Dad war toll, aber er starb, als ich neun war. Meine Mutter hatte danach etliche Freunde und Ehemänner. Dabei vergaß sie mich völlig. Zum Glück kümmerten sich die Hausangestellten um mich.“

„Geschwister?“, erkundigte sie sich.

„Ja, zwei Halbbrüder, zehn und zwölf. Sie verbringen die Ferien bei mir, und es ergeht ihnen jetzt ähnlich wie früher mir.“

„Bei solchen Erfahrungen haben Sie viel Stoff zum Schreiben.“

Er nickte. „Und wie verwerten Sie Ihre Erfahrungen?“

„Ich bin Strafverteidigerin und kämpfe für die kleinen Leute, so gut ich kann.“

„Was macht Gusty?“

Athena wurde plötzlich eifersüchtig, weil er sich für ihre Schwester interessierte. David war ihr Musketier gewesen, nicht der ihrer Schwester. „Sie ist Lehrerin. Dritte Schulstufe. Sie liebt Kinder und bemüht sich vor allem um Problemfälle. Außerdem ist sie der Typ der traditionellen Hausfrau. Sie backt, versorgt den Garten und ist gern daheim. Man kann zu jeder Tages- und Nachtzeit zu ihr kommen – es wird immer perfekt aufgeräumt sein. Ich bemühe mich zwar, aber bei mir sieht es aus, als hätten die Wandalen gehaust.“

„Das verstehe ich sehr gut. Hätte ich keine Haushälterin, würde ich in Unordnung versinken.“

Nach dem Essen fuhren sie durch Arch Cape, Manzanita, Rockaway, Tillamook und einige andere kleine Orte, gingen jeweils die Hauptstraße entlang, blickten in Seitenstraßen und überprüften Restaurants, Cafés und andere Lokale, fanden Gusty jedoch nicht. Erst als es dunkel wurde, fuhr David nach Hause.

„Wenn sie schon so weit gekommen ist, finden wir sie ohnedies nicht“, meinte er und blickte auf die dunkle kurvenreiche Straße. „Von meinem Haus aus können wir am Morgen die Suche fortsetzen.“

„In Ordnung.“ Athena lehnte sich an die Kopfschütze und schlief ein.

David stellte den Wagen in der Garage ab, öffnete die Beifahrertür und rüttelte Athena leicht. „Sind Sie wach?“

Sie öffnete die Augen, sah ihn an und sagte laut und deutlich: „Ja.“ Dann schloss sie die Augen wieder und schlief weiter.

Er versuchte es noch ein Mal. „Athena.“

„Ja?“

„Wir sind daheim.“

„Ja.“

„Können Sie ins Haus gehen?“

„Ja.“

„Gut, dann sollten …“ Er verstummte, als sie tief und gleichmäßig atmete.

David holte den Hausschlüssel hervor, hob Athena aus dem Wagen und ging zur Hintertür. Sie legte ihm die Arme um den Nacken und drückte den Kopf an seine Schulter.

„Sind Sie wach?“, fragte er erneut.

„Ja“, erwiderte sie und schnarchte leise.

„Also, wäre ich bei dem Fest mit Ihnen zusammengetroffen“, sagte er, während er sich damit abmühte, sie festzuhalten und gleichzeitig die Tür aufzuschließen, „gäbe es wahrscheinlich kein Kind. Sie wären wie ich weggetreten gewesen.“

Er schaltete das Licht ein, trug Athena die Hintertreppe hinauf und legte sie in dem Zimmer, das er ihr versprochen hatte, aufs Bett. Danach zog er ihr die Schuhe aus und deckte sie zu.

Ihr Haar war praktisch überall – unter ihr eingeklemmt, auf dem Kissen, auf ihrem Gesicht und sogar in ihrem Mund. Behutsam zog er es zwischen den Lippen hervor, strich es ihr aus dem Gesicht, hob ihren Oberkörper an, holte das Haar unter ihr hervor und breitete es auf dem Kissen aus.

Der Duft von Rosen stieg ihm entgegen, jener Duft, den er von Augusta her kannte.

In diesem Moment öffnete sie die Augen, blickte sich um und sah ihn an. „Danke“, sagte sie etwas schleppend. „Ich schlafe wie ein Murmeltier.“

„Das habe ich bemerkt. Ist es so bequem?“

„Ja.“

„Gut. Ich bin am anderen Ende des Korridors.“

„Sie halten ein Versprechen“, stellte sie lächelnd fest.

„Jedes. Könnten Sie noch einen Moment wach bleiben?“

„Warum?“

„Bleiben Sie einfach liegen.“ Er holte seine Digitalkamera. Athena setzte sich misstrauisch auf, als er damit zurückkam. „Keine Angst. Ich habe einen Freund, der uns bei der Suche nach Gusty helfen könnte, aber er braucht ein Foto, und da Sie eineiige Zwillinge …“

„Ach so.“ Sie entspannte sich und ließ sich fotografieren. „Sagen Sie ihm, dass sie sanfter wirkt als ich. Sie trägt lange Röcke und lächelt ständig. Jetzt vermutlich nicht“, fügte sie seufzend hinzu.

„Machen Sie sich keine Gedanken.“ Er stellte die Kamera auf die Kommode und deckte Athena zu. „Ruhen Sie sich aus. Am Morgen machen wir weiter.“

„Gut.“ Sie lächelte schwach. „Danke. Gute Nacht, David.“ Danach drehte sie sich auf die Seite und schlief auf der Stelle ein.

Vom Arbeitszimmer aus rief er Henry Wren an, einen Agenten, mit dem er im Irak zusammengearbeitet hatte. Henry hatte die CIA verlassen und arbeitete auf eigene Faust als verdeckter Ermittler. Bei seiner Erfahrung und seinen Kontakten konnte er alles herausfinden und jeden aufspüren.

„Davey, bist du das wirklich?“, meldete Henry sich am Telefon.

David lächelte. Es überraschte ihn nicht, dass Henry wusste, wer anrief, obwohl er die elektronische Identifizierung seiner Rufnummer ausgeschaltet hatte. „Hey, Henry, wie geht es dir?“

„Ich bin alt, gebrechlich und solo. Könnte kaum schlimmer sein.“

„Du bist erst fünfundfünfzig“, erwiderte David lachend.

„Kommt drauf an, was man hinter sich hat. Häng du mal in einem irakischen Gefängnis eine Woche lang mit dem Kopf nach unten. Dann wirst du schon sehen, wie alt du dich fühlst.“

„Es waren nur zwei Stunden, und wir haben dich herausgeholt. Hörst du nicht auf, darüber zu jammern?“

„Muss ich wohl, wenn ich so kein Mitgefühl mehr schinden kann. Was willst du?“

„Einen Gefallen.“

„Nachdem du mir vorgeworfen hast, ich würde jammern?“

„Wer hat dich damals in dem Gefängnis losgeschnitten?“

Henry seufzte dramatisch. „Musst du ständig darauf herumreiten? Also, worum geht es?“

„Du musst jemanden finden.“ David erklärte die Situation mit Gusty. „Ich faxe dir ihr Foto und Informationen, die dir helfen können.“

„Muss eine persönliche Geschichte sein“, sagte Henry. „Du bist schließlich nicht mehr im Geschäft.“

„Richtig. Ach ja, sie ist im siebenten Monat schwanger.“

„Aha, und warum suchst du sie nicht selbst? Du bist auf dem Gebiet auch nicht schlecht.“

„Ihre Zwillingsschwester wohnt bei mir, bis wir sie finden“, erwiderte David. „Ich kann mich daher nicht so frei bewegen, wie es nötig wäre. Wir sehen uns hier in der Gegend um, aber da sie nicht weiß, wer sie ist und wohin sie gehört, könnte sie überall auftauchen. Machst du es?“

„Sicher, aber du weißt, wie schwierig es ist, wenn die Spur schon kalt ist.“

„Klar. Aber du bemühst dich?“

„Ich tue mein Bestes.“

David faxte Henry das Foto und die versprochenen Informationen und ging dann zu Bett.

5. KAPITEL

Athena erwachte erst nach elf Uhr vormittags. Tasche und Schuhe standen neben dem Schrank, die Jacke hing darin. David Hartford war ordentlicher, als er von sich behauptete.

Auf Strümpfen ging sie den Korridor entlang und entdeckte sofort die leere Stelle an der Wand, an der Sadies Degas gehangen hatte, den jetzt Alexis besaß.

Sie betrat das Zimmer, in das David sie während des Festes geführt hatte, und rechnete damit, dass er dort arbeitete. Es war jedoch leer. David war auch nicht in der Küche. Es duftete allerdings nach frischem Kaffee, und an der Kanne lehnte eine Nachricht.

Athena,

ich suche da weiter, wo wir gestern Abend aufhörten, und arbeite mich nach Hause vor. Sie schliefen so tief, dass ich Sie nicht wecken wollte. Nehmen Sie sich, was Sie möchten. Am Nachmittag sollte ich wieder da sein.

Ich habe Augustas Beschreibung in Astoria verteilt. Sollte jemand anrufen, notieren Sie es bitte. Und fühlen Sie sich wie zu Hause.

David

P. S.: Ich habe Ihnen einen Wagen versprochen, aber warten Sie lieber auf mich, falls Sie weg wollen. Der Geländewagen gehört Trevyn, der nicht viel auf Instandhaltung achtet. Den Jeep hat Bram frisiert. Ich möchte den Geländewagen lieber überprüfen lassen, bevor Sie ihn benutzen. D.

Verärgert stellte sie fest, dass er ihr nicht zutraute, den frisierten Jeep zu fahren. Sie öffnete einen Schrank und holte eine dunkelblaue Henkeltasse heraus. Bester Liebhaber der Welt stand darauf. Ob das zutraf? Welche Frauen bevorzugte er? Schlanke Brünette oder kühle Blondinen? Letztlich ging es sie nichts an.

Da David nicht hier war, überprüfte sie die Schmugglertreppe. Bestimmt war sie in der letzten Zeit benutzt worden. Im Keller umrundete sie einen Stapel Umzugskartons und betrachtete verblüfft die neue Ziegelwand.

Es gab keine Tür mehr.

Die Schmugglertreppe war verschlossen worden. Seltsam. Verwirrt ging sie wieder nach oben, um zu duschen. Eigentlich hielt sie David Hartford nicht für einen Verbrecher und konnte sich daher nicht vorstellen, dass seine Freunde welche waren. Doch sie war daran gewöhnt, sich nur an Fakten zu halten.

Sie rief noch einmal bei Lex an, erreichte jedoch wieder nur den Anrufbeantworter und bat ihre Schwester, sich so bald wie möglich zu melden.

Danach rief sie Patrick Connelly an und schilderte ihm, was mit Gusty geschehen war. „Die Polizei sucht nach ihr, aber könnten Sie sich auch darum kümmern?“

„Sicher“, erwiderte er.

Um sich abzulenken, entschied sie, einen der Wagen zu nehmen und sich in Dancer’s Beach umzusehen. Vielleicht hatte Gusty ja doch hergefunden.

Athena fand sehr schnell heraus, dass unter der Motorhaube des Jeeps tatsächlich eine Menge Kraft steckte. Wäre sie nicht darauf vorbereitet gewesen, hätte sie womöglich die Kontrolle verloren. Voll konzentriert fuhr sie die kurvenreiche Straße entlang, bis sie endlich das gerade Stück zur Stadt erreichte.

Im Stadtzentrum hielt sie Ausschau nach Gustys rotem Haar und ihrem betont femininen Gang. Lex dagegen bewegte sich wie eine Tänzerin.

Athena sah im Eissalon nach, den Gusty stets geliebt hatte, im Drugstore, in dem es noch immer eine Essenstheke gab, und im Café im Erdgeschoss des Buckley-Arms-Apartmenthauses. Keine Spur von Gusty.

Gleich neben dem Hotel kontrollierte sie die Antiquitätengeschäfte und Souvenirläden, fand jedoch in einem der Läden nur ein älteres Paar, das die hässlichste Lampe betrachtete, die Athena jemals gesehen hatte.

Im Vertrauen darauf, dass sie und David Gusty finden würden, suchte und fand sie den altmodischen Schneebesen mit Holzgriff, den Gusty sich schon seit einem Jahr wünschte und den sie ihr genau beschrieben hatte.

Während sie noch den Schneebesen, der wie ein aus fünf Drähten bestehender Löffel aussah, betrachtete, bemerkte sie, dass die Frau sie aufmerksam ansah. „Meine Schwester sucht das schon lange“, erklärte sie leicht verlegen.

„Dann haben Sie ja Glück.“ Die Frau kam zu ihr und gab ihr die Hand. „Ich bin Peg McKeon, und das ist mein Mann Charlie.“ Sie deutete auf den Mann, der die hässliche Lampe in der Hand hielt.

„Athena Ames. Ich nur zu Besuch hier.“

„Wir auch“, erklärte Peg. „Unsere Kinder besitzen hier ein Sommerhaus, aber jetzt sind alle daheim, und darum sind wir eine Weile im Haus. Sie machen einen besorgten Eindruck.“

Athena hätte beinahe die ganze Geschichte erzählt, hielt sich jedoch zurück. „Danke, alles in Ordnung. Ich bin nur von der Reise müde. War nett, Sie kennen zu lernen. Wollen Sie die Lampe kaufen?“

Sie war über einen Meter hoch. Ein reich verzierter Cupido hielt eine massige Öllampe. Der rote Seidenschirm war mit einer zwanzig Zentimeter breiten und mit bunten Blümchen bestickten Chiffonborte geschmückt. Schauerlich!

„Ein Schnäppchen, nicht wahr?“, sagte Charlie stolz. „Wir stellen sie ins Haus als Überraschung für die Kinder.“

„Wir versuchen ständig, etwas Besonderes für sie aufzutreiben“, erklärte Peg. „Wir haben drei Söhne, die mit wunderbaren Frauen verheiratet sind, und sie versorgen uns laufend mit Enkelkindern.“

„Und wir haben eine Tochter“, fügte Charlie bedauernd hinzu, „die sich bisher noch nicht entscheiden konnte. Sogar ihr Freund hat bereits aufgegeben.“

„Sie wird schon jemanden finden“, meinte Athena. „Das trifft schließlich auf jeden zu.“

„Auch auf Sie?“, fragte Peg.

Lächelnd ging Athena zur Kasse. „Nein. War nett, mit Ihnen zu plaudern.“

„Ganz meinerseits, meine Liebe. Besuchen Sie uns doch. Wir wohnen im alten Buckley-Haus. Jeder hier kann Ihnen sagen, wo das ist.“

„Danke“, erwiderte Athena, „aber ich bleibe wahrscheinlich nicht lange.“

Sie bezahlte, winkte den McKeons zu und verließ den Laden.

Auf der Heimfahrt war Athena so in Gedanken versunken, dass sie die Kurve zu spät bemerkte. Zum Glück gab es keinen Gegenverkehr, als sie von der Straße abkam und der Jeep umkippte.

Sie stieß einen Schrei aus, hing im Sicherheitsgurt und bekam einen Moment keine Luft. Erst nachdem sie festgestellt hatte, dass ihr nichts geschehen war, öffnete sie den Gurt und kletterte aus dem Wagen.

Dem Handy war zum Glück auch nichts passiert. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wen sie anrufen sollte. Sie hatte sich nicht einmal Davids Nummer aufgeschrieben.

Widerstrebend wählte sie schließlich 9-1-1.

David ahnte Schlimmes, als er das Garagentor öffnete und sah, dass der Jeep fehlte. Bram war bestimmt noch nicht hier. Er verstaute die Steaks, die er für das Abendessen besorgt hatte, im Kühlschrank und durchsuchte das Haus. Athena war nicht da und hatte auch keine Nachricht hinterlassen. Dabei hatte er sie ausdrücklich vor den Wagen gewarnt!

Es war fast schon sechs Uhr, als das Telefon klingelte.

„Mr. Hartford, hier ist die Notrufzentrale. Ihrer Besucherin geht es gut“, versicherte die Anruferin. „Sie hatte allerdings einen Unfall.“

„Wo ist sie?“

„Noch beim Wagen. Der Abschleppwagen ist unterwegs. Das Auto ist in einer Haarnadelkurve zwischen Ihrem Haus und Dancer’s Beach umgekippt.“

„Bin schon unterwegs“, sagte er und legte auf.

Wieso war er eigentlich zornig? Athena ging ihn schließlich nichts an. Nur Gusty war wichtig. Aber vielleicht kam Athena ihm gerade recht, weil er Gusty nicht finden konnte.

Als er die Stelle erreichte, hing der Jeep schon hinter dem Abschleppwagen. Etliche Polizisten kümmerten sich darum. Athena in weißer Bluse und blauer Hose wirkte deprimiert.

Davids Ärger ließ auf der Stelle nach. Athena sah ihm abweisend entgegen, und er amüsierte sich über ihren verwirrten Blick und fragte bloß, ob ihr etwas geschehen war.

„Mir geht es gut“, erwiderte sie und deutete zum Jeep. „Natürlich bezahle ich den Schaden.“

„David!“, rief der Fahrer des Abschleppwagens.

David zeigte auf seinen Wagen. „Steigen Sie ein“, sagte er zu Athena. „Ich komme gleich.“ Er hatte Rusty Browning schon kennen gelernt, als dieser Trevyns Wagen abgeschleppt hatte.

„Sieht nicht schlimm aus“, meinte Rusty, ein riesenhafter Mann mit rotem Haar. „Soll ich ihn zu Beach Mechanics bringen?“

„Ja, danke.“

Rusty deutete zu Athena. „Brams Mädchen?“

„Nein. Sie hat nur seinen Wagen genommen, während er weg ist.“

„Aha.“ Rusty grinste. „Ihr Mädchen.“

„Nein.“

„Wie auch immer.“ Rusty zwinkerte ihm zu. „Sie sollte vorsichtiger sein, aber wahrscheinlich hat es keinen Sinn, ihr das zu sagen. Rothaarige. Sie wissen schon.“ Er deutete auf sein rotes Haar, soweit es unter der Baseballkappe zu sehen war. „Die beißen einem gleich den Kopf ab.“

David lachte verständnisvoll. „Danke, Rusty.“ Er wandte sich an einen der Polizisten, die soeben in ihren Wagen stiegen. „Kann sie heimfahren?“

Der Polizist nickte. „Sie wollte sich nicht ins Krankenhaus bringen lassen. Sagt, dass sie nicht einmal einen blauen Fleck abbekommen hat. Ihr Wagen?“

„Er gehört einem Freund, der ihn bei mir zurückgelassen hat“, erwiderte David. „Ich habe ihr erlaubt, ihn zu benutzen.“

„In Ordnung. Guten Abend, Mr. Hartford.“

„Guten Abend, Officer.“ David ging zu seinem Wagen zurück.

„Tut mir leid“, wiederholte Athena, als er einstieg. „Ich kam damit gut klar, aber dann dachte ich an Gusty und alles andere und …“

„Sie haben den Zettel gelesen“, sagte er ruhig und startete den Motor. „Ich habe Sie gebeten zu warten.“

„Meine Schwester ist verschwunden!“, fauchte sie ihn an. „Ich wollte nicht warten!“

„Und darum haben Sie Ihr Leben riskiert, ein fremdes Fahrzeug beschädigt und viele Leute belästigt!“

„Sie meinen sich selbst!“, schrie sie ihn an. „Die Polizisten und der Fahrer des Abschleppwagens waren nämlich sehr höflich und haben nur ihre Arbeit erledigt. Nun, es tut mir leid, dass Sie sich herbemühen mussten, um mich zu holen. Sie haben mich zwar zu sich eingeladen, aber das klappt nicht. Heute Morgen sind Sie ohne mich verschwunden. Und jetzt verübeln Sie mir, dass Sie ein kurzes Stück fahren und mich holen mussten!“ Sie stieß die Tür auf. „Ich werde Sie informieren, wohin Sie meine …“

Er zog sie wieder in den Wagen und dachte an Rustys Warnung. „Ich ließ Sie schlafen, weil Sie die Ruhe brauchten.“

Sie presste die Hand vor den Mund und schloss die Augen, hatte sich im nächsten Moment aber schon wieder unter Kontrolle. „Tut mir leid wegen des Wagens“, wiederholte sie.

„Schon gut. Es scheint nicht viel passiert zu sein. Brauchen Sie wirklich keinen Arzt?“

„Sicher nicht.“

Er wendete. „Wo waren Sie?“

„Ich dachte, Gusty könnte vielleicht bis Dancer’s Beach gekommen sein.“ Sie schloss ihr Fenster und rieb sich die Arme. „Darum habe ich mich dort umgesehen.“

David warf einen Blick in den Rückspiegel, fuhr ganz langsam, zog das Sweatshirt aus und reichte es ihr.

„Danke, aber ich brauche nicht …“

„Ziehen Sie es an. Jetzt glauben Sie noch, dass alles in Ordnung ist, aber morgen früh wird Ihnen einiges weh tun.“

Er fuhr langsam weiter, während sie ihren Gurt öffnete, das Sweatshirt anzog und sich wieder anschnallte. Erst danach beschleunigte er.

Athena lehnte sich zurück und lächelte matt. „Danke, so ist es schon besser.“

Er warf einen Blick auf ihre Lederpumps mit den breiten Absätzen und die elegante Hose. „Sie brauchen geeignete Kleidung für die Detektivarbeit. Wenn wir morgen nach Süden fahren, kaufen wir unterwegs etwas.“

„Die Sachen sind bequem“, widersprach sie.

„Haben Sie keine Jeans und Tennisschuhe?“

„Nein, ich kann sie nirgendwo anziehen. Beruflich muss ich professionell wirken. Meine spärliche Freizeit verbringe ich mit denselben Leuten, die ich bei der Arbeit sehe. So ist das eben in Washington, D.C.“

„Glauben Sie mir, in Jeans werden Sie sich richtig entspannen.“

„Ich bezweifle, dass das von der Kleidung abhängt.“

„Wieso nicht? Wenn Sie sich in einem Kostüm für eine Gerichtsverhandlung gut vorbereitet fühlen, können Sie sich in entsprechender Kleidung auch entspannen, finden Sie nicht?“

Sie schloss die Augen. Dieser Mann stellte entschieden zu viele Fragen.

David grillte Steaks und machte einen Salat, während Athena den kleinen runden Tisch in einer Ecke der Küche deckte und Steaksoßen aus dem Kühlschrank holte.

„Salatdressing?“, fragte sie.

„Oberstes Regal“, erwiderte er und legte die Steaks auf die Teller. „Ganz hinten.“

Athena brachte Kaffee und aß hungrig, weil sie das Mittagessen hatte ausfallen lassen. Jetzt erzählte sie David von Peg und Charlie McKeon. „Sie haben eine schrecklich hässliche Lampe gekauft und waren auch noch stolz darauf. Ein Geschenk für ihre Kinder, das sie im Sommerhaus zurücklassen. Aber es sind reizende Leute.“ Sie seufzte. „Wie es wohl ist, solche Eltern zu haben?“

„Ich weiß es nicht“, entgegnete David, „aber mein Baby wird es wissen.“

Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie hart es ihn treffen würde herauszufinden, dass das Kind nicht von ihm war.

„Sind Sie sicher, dass das Baby von Ihnen ist?“, fragte sie.

„Ja“, erwiderte er zuversichtlich. „Der Arzt sprach von der neunundzwanzigsten Woche. Also war ich es.“

„Aber Sie … Sie waren nur einmal mit Gusty zusammen. Sie könnte doch daheim in Pansy Junction jemand anderen getroffen haben.“

„Pansy Junction“, wiederholte er lächelnd. „Ich habe gehört, wie Sie Holden den Namen nannten. Klingt wie ein Name aus einem Kinderbuch.“

Athena musste ebenfalls lächeln.

„Sie haben selbst gesagt, dass Sie nichts von einem Freund Ihrer Schwester wissen“, fuhr er fort.

„Ich wusste aber auch nicht, dass sie schwanger ist. Vielleicht hat Gusty ganz andere Vorstellungen, wie ihr Kind aufwachsen soll. Ich meine, wenn sie nicht einmal Sie als Vater des Kindes verständigte …“

„Das spielt keine Rolle. Jetzt weiß ich Bescheid und lasse mich nicht mehr abschieben.“

Athena fürchtete schon den Tag, an dem er die Wahrheit herausfand. Und sie bekam ein schlechtes Gewissen, während sie nach dem Essen abräumte und über den Tisch wischte. David stellte das Geschirr in die Spülmaschine.

„Waren keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter?“, fragte Athena. „Von Holden oder sonst jemandem?“

„Nichts.“

Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Gusty ging immer gern ins Einkaufszentrum in Lincoln City.“

„Wirklich?“

Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie seltsam es ihm vorkommen musste, dass Gusty hier eingekauft hatte, obwohl sie in Kalifornien lebte. Er wusste schließlich nichts von ihren Sommerferien in Cliffside.

„Ja“, erwiderte sie. „Wenn sie hier ihre Freundinnen besuchte, fuhren sie immer einen Tag nach Lincoln City.“

Das akzeptierte er zwar, aber er fragte trotzdem erstaunt: „Wieso sollte sie einkaufen gehen, obwohl sie nicht weiß, wer sie ist und wohin sie gehört?“

„Vielleicht erinnert sie sich an die Örtlichkeit“, meinte sie hoffnungsvoll. „Der Einkaufstrieb einer Frau könnte stärker als Amnesie sein“, sagte sie lächelnd und fügte nüchtern hinzu: „Oder ist das zu unwahrscheinlich?“

Er legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. „Das weiß ich nicht, aber es wäre eine Möglichkeit. Gleich morgen früh fahren wir hin und sehen in allen Läden nach.“

Athena richtete den Blick in ihre Kaffeetasse. „Wissen Sie, worüber ich mir Sorgen mache? Was Sie nachts macht. Sie kennt doch niemanden und hat kein Geld.“

„Ich weiß.“ David strich über ihren Rücken. „Aber machen Sie sich nicht verrückt. Überall entlang der Küste gibt es Notunterkünfte. Hoffentlich hat jemand sie zu einer geschickt.“

„Ja, hoffentlich.“

Er deutete zur Hintertreppe. „Sie könnten ein Bad nehmen, um die Muskulatur zu entspannen, und dann zeitig zu Bett gehen.“

„Ich habe keine Wanne in meinem Bad.“

„Benutzen Sie meine. Ich bleibe noch gut zwei Stunden hier unten und arbeite.“

„Meinen Sie das ernst?“

„Aber ja, gehen Sie nur.“

David versuchte zu arbeiten, dachte aber an Gusty, die womöglich allein war und fror, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie einen Helfer fand. Nach einer Stunde gab er schließlich auf und ging nach oben. Athenas Zimmertür stand noch offen. Das Bett war leer.

Als er das Arbeitszimmer betrat, rechnete er damit, sie im Bad zu hören, doch alles blieb still. Die Tür stand einen Spalt offen. Licht fiel heraus.

„Athena?“, rief er.

Keine Antwort.

Er ging näher an die Tür heran. „Athena?“, wiederholte er lauter.

Nichts.

Er warf einen Blick hinein und sah ihren Kopf auf dem Rand der alten frei stehenden Wanne. Ihr langes Haar hatte sie locker zum Knoten geschlungen.

Leise trat er ein. Athena schlief. Möglichst ohne den schlanken Körper unter der dünnen Schaumschicht zu beachten, tauchte er die Finger ins Wasser. Es war bereits kalt. Am Haken an der Tür hing der kurze Bademantel, den er ihr gestern Abend gegeben hatte, doch sie brauchte jetzt einen langen und wärmenden Mantel.

David holte einen aus seinem Schrank, kniete sich neben die Wanne und hob Athenas Kopf an. Dabei kostete es ihn eine gewaltige Anstrengung, ihre Brüste zu ignorieren.

„Athena!“, sagte er laut.

Sie riss die Augen auf. „Was ist?“

„Sie sind eingeschlafen, und das Wasser ist schon kalt.“ Er half ihr beim Aufstehen und wickelte sie in den Bademantel. Sie lehnte sich an ihn und schlief schon wieder.

Er hob sie hoch. Offenbar litt sie unter ständiger Erschöpfung. Bisher hatte er noch niemanden kennen gelernt, der im einen Moment wach war und im nächsten Moment schlief.

Er trug sie in ihr Bett. Sie war erst vierundzwanzig Stunden hier, aber das wurde schon zur Gewohnheit. Nachdem er sie mit dem Bademantel abgetrocknet hatte, deckte er sie zu und zog den feuchten Mantel unter der Decke hervor. Ohne aufzuwachen, rollte Athena sich auf die Seite.

David entfernte noch die Haarnadeln. Mehr ertrug er an diesem Abend nicht. Er griff nach dem Bademantel, verließ das Zimmer und schloss die Tür.

6. KAPITEL

Athena erwachte von dem verlockenden Duft nach gebratenem Speck und Kaffee und sprang aus dem Bett. Auf dem Weg zum Bad blickte sie an ihrem nackten Körper hinunter. Sie hatte in der Badewanne gelegen, aber dann … Lieber Himmel! David hatte sie aus der Wanne geholt und zu Bett gebracht! Wie peinlich.

Nachdem sie hastig geduscht hatte, fühlte sie sich gut, zog eine graue Hose mit Nadelstreifen und einen rosa Pulli mit Schalkragen an, bürstete das Haar und steckte es im Nacken mit einer handgemachten Silberspange fest, einem Geschenk von Lex.

Es musste etwas mit Oregon zu tun haben. Daheim hatte sie stets alles unter Kontrolle, im Gerichtssaal und auch außerhalb. Manchmal war sie das zwar leid, aber so war sie eben. Es gefiel ihr gar nicht, dass sie mit einem Wagen verunglückte, der ihr nicht gehörte, ständig einschlief und sich zum Narren machte. Am besten schaffte sie diesen Punkt so schnell wie möglich aus der Welt.

„Guten Morgen“, grüßte sie energisch, als sie die Küche betrat. David stand am Herd. „Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Ihnen wieder unter den Händen eingeschlafen bin.“

Er drehte sich um und betrachtete sie amüsiert, hütete sich jedoch zu lächeln.

Na schön, das hatte zweideutig geklungen. „Ich meinte …“

„Sie brauchen nichts zu erklären und sich auch nicht zu entschuldigen. Möchten Sie die Eier lieber weich oder fest?“

„Fest, bitte.“ Gut, dann entschuldigte sie sich eben nicht. Sie warf einen Blick zum Tisch und holte Besteck.

„Ich habe noch nie erlebt, dass jemand dermaßen tief schläft wie Sie“, sagte David.

Darüber hatte sie schon mit ihren Schwestern gelacht, als sie noch Kinder waren. „Sagen Sie bitte, dass ich nicht schnarche.“ Athena füllte Tassen mit Kaffee.

Er wendete die Spiegeleier und brachte Sahne und Zucker an den Tisch.

„Zumindest nicht laut“, erwiderte er lächelnd und kehrte an den Herd zurück. „Sie schlafen so gut, dass Sie ein reines Gewissen haben müssen.“

Darüber ging sie lieber hinweg, weil sie sich gerade jetzt ziemlich schuldig fühlte. Noch musste sie vorsichtig sein, weil sie nicht alles durchschaute.

Er holte einen Teller aus dem Backofen, füllte ihn und stellte ihn auf den Tisch. „Vorsicht, der Teller ist heiß. Sie geben sich doch nicht die Schuld an Gustys Verschwinden?“, fragte er und brachte auch seinen Teller.

„Ich habe mich schon immer für die beiden verantwortlich gefühlt.“

„Die beiden? Ich dachte, Sie wären nur zu zweit.“

Vorsicht! „Ich meinte meine Schwester und meinen Vater.“ Möglichst lässig bestrich sie eine Scheibe Toast mit Brombeermarmelade. „Jemand musste ihn vor der Welt schützen.“

„Niemand ist für die ganze Welt verantwortlich.“ David biss in ein Stück Frühstücksspeck. „Damit zerstört man sich nur selbst. Mir erging es früher so. Man muss aber seine Grenzen erkennen, sonst dreht man durch.“

„Arbeiten Sie deshalb nicht mehr als Reporter?“, fragte Athena.

„Ja“, erwiderte er zögernd. „Jemand, der Trevyn und mir wichtig war, starb, weil uns jemand verriet, dem wir vertrauten. Ich hätte es vorhersehen müssen.“

„Wer kann schon einen Verrat vorhersehen? Dagegen kann man sich nicht schützen.“

„Im normalen Leben vielleicht“, sagte David, „aber bei dieser … dieser Arbeit muss man alles vorhersehen, weil es sonst … nun ja, es ist eben zu gefährlich.“

„Ich wusste gar nicht, dass die Arbeit eines Reporters so gefährlich ist und Menschen in seiner Umgebung sterben“, bemerkte sie herausfordernd.

„Ich auch nicht.“

„Tut mir leid.“ Es ärgerte sie, dass er ihr nicht mehr verriet. Außerdem wollte sie wissen, was ihn bedrückte. „War es jemand, den Sie liebten?“

„Wir alle haben sie geliebt“, sagte er und starrte in seine Tasse. „Sie war schön und tapfer, aber sie war Trevyns Mädchen.“

„Gibt er Ihnen die Schuld?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich gebe mir die Schuld. Ich hatte das Kommando.“

„Ach, Sie predigen Wasser und trinken Wein?“

„Wie bitte?“

„Niemand ist für die ganze Welt verantwortlich“, wiederholte sie seine Worte. „Damit zerstört man sich nur selbst. Man muss aber seine Grenzen erkennen, sonst dreht man durch. Gilt das für Sie nicht?“

Er setzte schon zu einer Antwort an, deutete dann jedoch lächelnd mit der Gabel auf ihren Teller. „Essen Sie“, verlangte er.

Ein Punkt für sie.

Am Vormittag erreichten sie Lincoln City und arbeiteten sich im Einkaufszentrum von einem Laden zum nächsten vor. Vielleicht hatte Gusty versucht, hier Arbeit zu bekommen. Doch am späten Nachmittag hatten sie noch immer keine Spur von ihr gefunden.

David war bitter enttäuscht, wollte Athena jedoch nicht mit seiner bedrückten Stimmung belasten.

„Kommen Sie.“ Er nahm sie am Arm. „Kaufen wir die Jeans und die Tennisschuhe, von denen wir gestern gesprochen haben.“

Sie stimmte halbherzig zu.

David führte sie in ein Kaufhaus und ging in die Campingabteilung, während Athena verschiedene Jeans probierte. Als er nach ihr sah, stand sie gerade in einer schmal geschnittenen Jeans, die sich schmeichelhaft um Hüften und Schenkel schmiegte, vor dem Spiegel. Das Haar hatte sie hochgesteckt.

„Probieren Sie den grauen Pullover“, riet die Verkäuferin. „Der passt wunderbar zu Ihrem Haar.“

Athena wandte sich zweifelnd an David. „Die Jeans ist zu eng, nicht wahr?“

„Absolut nicht“, versicherte er. Eine solche Frage sollte man keinem Mann stellen, der eine Schwäche für einen hübschen Po hatte. Er ging wieder in die Campingabteilung.

Als er eine halbe Stunde später zurückkehrte, stand Athena mit dem Rücken zum Spiegel. Die Angestellte schloss soeben ein langes Baumwollkleid mit zierlichen Blümchen auf dunkelblauem Hintergrund. Es schmiegte sich um Athenas Brüste und fiel locker bis zu den Knöcheln.

„Das bin nicht ich“, wandte sie ein, während die Verkäuferin sich mit einem Knopf abmühte. „Ich bin nicht …“

„Warten Sie, bis Sie es sehen“, drängte die Verkäuferin und strich die Schultern glatt. „Es wird Ihnen gefallen. Sie sind nur nicht an weiche Kleider gewöhnt.“

Athena entdeckte David. „Ich und weiche Kleider!“

„Mir gefällt es“, versicherte er, weil sie reizend aussah.

„Ich werde darüber stolpern.“ Schon wollte sie sich umdrehen, als sie etwas entdeckte. „David!“, flüsterte sie überrascht.

„Was ist?“ Er drehte sich rasch um, sah jedoch nur andere Kunden.

„Gusty!“, schrie sie und rannte los.

Während die Leute zu ihnen starrten, folgte er ihr. Sie stieß Kunden beiseite, wich Kindern aus und lief weiter. David war größer als sie und sah sich um, entdeckte jedoch niemanden.

Dann begriff er plötzlich, was geschehen war.

Sie näherten sich einer Spiegelwand in der Nähe der Umkleidekabinen für Männer. Athena sah sich selbst in dem ihr fremden Kleid. Wenige Meter vor den Spiegeln blieb sie vor Enttäuschung wie erstarrt stehen.

David führte sie an etlichen neugierigen Frauen vorbei in eine offene Kabine, zog den Vorhang zu, damit sie ungestört waren, und nahm Athena in die Arme.

„Das war ich!“ Athena lehnte sich weinend an David und schlug mit der Faust gegen seine Schulter. „Ich dachte, ich würde sie sehen, aber das war nur ich!“

Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Daher hielt er sie einfach fest und ließ sie minutenlang weinen. Dabei krallte sie sich an seinem Sweater fest, als fürchtete sie, er könnte weglaufen.

So hatte Athena nicht mehr seit dem Tod ihrer Eltern geweint. Seit damals hatte sie Fälle und Freunde verloren, hatte ihre Schwestern, ihre Tante und den Mann ihres Lebens vermisst, auch die Kinder, die sie nie haben würde – doch niemals hatte sie deshalb so geweint.

Erst nach einer Weile fühlte sie die Arme, die sie festhielten. Allmählich versiegten die Tränen. David drückte die Wange gegen ihr Haar und streichelte sanft ihren Rücken. Und ständig redete er auf sie ein, dass alles gut werden und sie Gusty finden würden. Sie sollte ihm nur vertrauen.

Es war schön, dass ausnahmsweise jemand sie tröstete. Sie schaltete alle Gedanken aus und genoss es, dass David so groß und stark war, dass sie sich in seinen Armen vor der Welt verstecken konnte.

Schlagartig veränderte sich alles. Sie fühlte, wie warm und hart sich die Muskeln seiner Arme anfühlten, wie stark seine Schenkel waren, mit denen er sie stützte, und wie zärtlich er sie trotzdem berührte. Und sie stellte sich vor, wie es wäre, hätte er sie nicht sanft, sondern leidenschaftlich gestreichelt und …

Seufzend drückte sie sich fester an ihn und ließ ihre Gedanken weiterwandern. Und nun merkte auch er, dass sich etwas geändert hatte. Er spannte die Arme an und schob Athena ein Stück von sich.

Sie wollte ihm alles erklären, doch wie sollte sie das in einer winzigen Umkleidekabine eines Kaufhauses, in dem sich die Kunden drängten, machen?

Er reichte ihr ein Taschentuch und wirkte dabei verwirrt und verärgert. „Ich bringe Sie zum Wagen. Danach gehe ich zurück und bezahle Ihre Sachen.“

„Ich habe meine Handtasche auf dem Tisch liegen lassen“, erwiderte sie.

„Gut, gehen wir.“ Er führte sie energisch zwischen den neugierigen Leuten zur Tür und zum Wagen. „Ich komme gleich wieder“, erklärte er und schloss von außen ab.

David wusste nicht genau, ob er Athena einschloss oder sich selbst ausschloss. Diese ganze Geschichte lief nicht gut. Es lag wohl daran, dass er die Zwillinge miteinander verwechselte, doch es wurde schlimmer anstatt besser.

Er begehrte Athena jetzt sogar noch mehr als Gusty während des Festes.

Was für ein Fehler! Gusty trug sein Kind unter dem Herzen, und er hatte Athena versprochen, sie könnte bei ihm bleiben, bis sie Gusty fanden. Schlimmer konnte die Situation nicht sein.

Wie sehr er sich geirrt hatte, merkte er erst, als sie heimkamen und seine beiden kleinen Brüder mit Rucksäcken und einem großen schwarzen Hund vor dem Haus saßen.

7. KAPITEL

Der Hund stand vor den Jungen und bellte drohend, während David neben einem Taxi hielt.

Der zwölfjährige Brandon hielt den Hund am Halsband fest und befahl ihm, Platz zu machen. Der zehnjährige Brady lief David entgegen.

Brady hatte dunkle Augen, gelocktes dunkles Haar und ein strahlendes Lächeln. Er entstammte der Verbindung seiner Mutter mit dem Kapitän ihrer Yacht, die vor der mexikanischen Küste lag.

„Hi, Dave!“, rief er und umarmte David. „Schön, dass du da bist. Wir dachten schon, du wärst verreist.“

„Freut mich auch, euch zu sehen, Jungs“, sagte David und drückte Bram an sich. „Ich habe mit euch aber erst zu Weihnachten gerechnet.“

Brandon trat hinter Brady, und der Hund folgte ihm. „Wir mussten jetzt kommen, bevor sie uns wegschicken.“

Brandon hatte dichtes und glattes silberblondes Haar und hellblaue Augen. Er war der Sohn eines skandinavischen Industriellen, der ordentlich dafür zahlte, um nichts mehr mit der Mutter des Jungen zu tun zu haben. Arne Bjork war Ehemann Nummer drei gewesen.

Brandon war verhaltener als sein Bruder. Er ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Gefühlskälte seiner Mutter traf, doch er konnte niemanden täuschen. David hatte sich jahrelang genau so verhalten und verstand ihn nur zu gut.

„Wegschicken?“, fragte David. „Du meinst, sie hat ihren Freund geheiratet?“ Die Jungen mochten den derzeitigen Liebhaber von Jordana Hartford Meyer Bjork Sullivan Venturini nicht und fürchteten schon seit Jahresbeginn, sie könnte ihn heiraten.

Brandon nickte. „Vor drei Wochen in Vegas. Jetzt glaubt er, über uns bestimmen zu können.“

Normalerweise hätte jeder Familienberater den Jungen zugeredet, ihrem neuen Stiefvater eine Chance zu geben. David kannte zwar Jordanas Ehemann Nummer sechs noch nicht, doch angesichts ihrer bisherigen Auswahl lagen die Jungen mit ihrer Einschätzung vermutlich richtig.

Brandon streichelte den großen schwarzen Hund. „Er hat Ferdie ins Tierheim gebracht, weil er Schmutz in die Küche schleppte.“

David erkannte den Schmerz über die Trennung in Brandons Augen. „Wann habt ihr Ferdie bekommen?“

„Vor ungefähr einem Monat ist er uns aus dem Park nach Hause gefolgt.“

„Ist das nicht blöde, ihn wegzubringen?“, fragte Brady. „Man kann den Fußboden doch aufwischen. Und Darby muss es ohnedies nicht machen. Mom auch nicht.“

David ließ den Hund an seiner Hand schnüffeln. Er wirkte wie eine Mischung aus Dänischer Dogge und Bernhardiner mit einem schwarz-weißen Gesicht und einem massigen Körper. Irgendwie sah er aus, als wäre er aus nicht passenden Teilen zusammengesetzt worden.

„Ich habe ihn im Park gefunden“, berichtete Brandon. „Und Mom sagte, dass ich ihn behalten kann.“

„Ja“, bestätigte Brady, „aber das war noch, bevor sie Darby heiratete. Er ändert jetzt alles.“

Ferdie beschnüffelte Davids Hand und wedelte mit dem Schwanz.

David streichelte den Hund, der ihm dafür die Hand leckte. „Braver Junge, Ferdie. Du bist ein guter Freund.“

Der Hund richtete sich auf, stützte sich mit den Vorderpfoten gegen Davids Brust und leckte ihm das Gesicht. Eine so lange und breite Zunge hatte David noch nie gesehen.

„Entschuldigung“, sagte der Taxifahrer, ein älterer Mann, der David misstrauisch betrachtete. „Die Jungs haben behauptet, dass Sie die Fahrt vom Flughafen hierher übernehmen. Wenn das nicht stimmt …“

Brady legte seinen ganzen Charme hinter sein Lächeln, und Brandon sah David um Entschuldigung bittend an.

„Mache ich.“ David holte die Brieftasche hervor. „Wie viel?“

Die Summe war atemberaubend.

„Wow!“, rief Brady.

David gab dem Taxifahrer zusätzlich noch einen Zwanziger. „Danke, dass Sie die beiden sicher hergebracht haben. Das hätte nicht jeder an Ihrer Stelle gemacht. Und danke, dass Sie gewartet haben.“

Der Fahrer tippte an den Mützenschirm. „Ich habe keine Kinder, aber hätte ich welche, würde ich sie nicht allein herumreisen lassen.“

„Absolut richtig“, bestätigte David. „Nochmals vielen Dank.“

Der Mann stieg lächelnd ein und fuhr weg.

David wandte sich wieder an die Jungen. „Weiß eure Mutter, wo ihr seid? Wann seid ihr überhaupt aufgebrochen?“

„Heute Morgen, als Mom noch schlief“, erwiderte Brandon. „Wir sind mit den Fahrrädern zum Tierheim gefahren, sobald es öffnete, und holten Ferdie. Dann haben wir da die Fahrräder stehen lassen und sind mit einem Taxi zum Flughafen gefahren. Es hat mich das ganze Bargeld gekostet, das ich fürs Weglaufen gesammelt hatte, um die Tickets zu kaufen und Ferdie zu verfrachten.“

„Und wie habt ihr Tickets bekommen?“, fragte David.

Brandon zuckte die Schultern. „Taylor Parks Dad arbeitet im Reisebüro. Taylor kann den Computer bedienen. Ich zahle dir das Taxi zurück.“

„Brandon kommt erst mit achtzehn an seinen Treuhandfonds heran“, erklärte Brady und meinte damit die Millionen, die Brandons Vater auf dem Konto hinterlegt hatte. „Sonst wären wir nach Frankreich geflogen.“

Die Frage war im Moment unwichtig, aber David stellte sie trotzdem. „Wieso nach Frankreich?“

„Wegen der Tour de France“, erwiderte die Jungen gleichzeitig. Fahrräder waren ihr Leben.

„Können wir eine Weile bei dir bleiben?“, fragte Brady ernst. David sah ihm an, dass sie Angst hatten und nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten.

Brandon sah seinen jüngeren Bruder unwillig an. „Es war abgemacht, dass ich ihn frage.“

Brady ließ sich nicht beeindrucken. „Wo liegt der Unterschied?“

„Man fragt nicht einfach, sondern bietet gleichzeitig etwas an“, erklärte Brandon.

„Nun mal langsam.“ David legte Brandon den Arm um die Schultern. „Hier geht es um mich und nicht um unsere Mutter, klar?“

Brandon nickte. „Ich weiß, aber als wir in den letzten Ferien hier waren, hast du an deinem Buch gearbeitet. Wir sind dir bestimmt im Weg, und Ferdie macht Schmutz und …“ Er stockte, als er Athena entdeckte, die noch immer neben dem Wagen stand. Erschrocken sah er David an. „Du hast eine Freundin!“

David winkte Athena zu sich heran. „Nein, nicht, wie du denkst. Das ist Athena Ames. Athena, das sind Brandon und Brady.“

Athena schenkte den Jungen ein herzliches Lächeln.

Brady lächelte zurück und schüttelte ihr die Hand. Brandon betrachtete sie kühl, gab ihr die Hand und zog sie schnell wieder zurück.

Der Hund kam zu ihr, winselte, wedelte mit dem Schwanz und leckte ihr die Hand, als sie ihn streichelte.

„Wohnen Sie hier?“, fragte Brady.

„Nur vorübergehend“, erwiderte sie.

„Ich helfe ihr bei der Suche nach jemandem“, erklärte David und hoffte, damit weiteren Fragen auszuweichen. Er hätte es besser wissen müssen.

„Wen sucht ihr?“, wollte Brady wissen.

„Ihre Schwester“, erklärte David.

„Wart ihr deshalb am Flughafen?“, fragte Brandon.

David schüttelte den Kopf. „Ich war nicht am Flughafen.“

„Nein, ich meine sie.“ Brandon deutete auf Athena. „Ich habe sie am Flughafen gesehen.“

Einen Moment wusste David nicht, was er sagen sollte. Dann erinnerte er sich daran, wie klug und aufmerksam Brandon war, und er hörte, wie Athena tief Atem holte. „Bist du sicher? Athenas Schwester sieht nämlich genau wie sie aus. Sie sind Zwillinge.“

„Ja, natürlich“, bestätigte Brandon.

„Du hast sie heute gesehen? Auf dem Flughafen von Portland?“

„Ja“, erwiderte Brandon. „Sie war mit so einem unheimlichen Kerl zusammen. Eigentlich ist sie mir nur aufgefallen, weil sie einen langen Jeansmantel trug, wie Mom einen hat, und ich dachte schon, Mom hätte Brady und mich erwischt.“

David bekam Gänsehaut. „Mit einem unheimlichen Kerl?“

„Na ja, er hat sich ständig umgesehen, als wollte er nicht, dass jemand was merkt. Darum dachte ich ja, die Frau wäre Mom. Aber dann drehte sie sich um.“

„Wirkte sie verängstigt?“

„Nein.“

„Ach, David“, flüsterte Athena.

Er reichte ihr die Hand, brauchte aber unbedingt noch genauere Informationen. „Wo wart ihr? An welchem Terminal?“

„Am Nordwest-Terminal.“

„Und wo war sie, als du sie gesehen hast?“

„An diesem Ding für das Gepäck.“ Er führte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung aus.

„Am Gepäckkarussell.“

„Ja, gleich an dem neben uns.“ Brandon zeigte auf den Schläger, der aus dem Rucksack in Davids Hand ragte. „Wir hatten die Rucksäcke bei uns in der Maschine, aber den Schläger musste ich aufgeben. Die dachten wohl, das könnte eine Waffe sein.“

„Lieber Himmel.“ Athena drückte Davids Arm. „Das war sie. Sie hat so einen Mantel! David!“

„Ganz ruhig“, warnte er. „Ihre Habseligkeiten gingen im Fluss verloren, also konnte sie diesen Mantel gar nicht haben. Brandon, wie spät war es?“

„Wir landeten um halb eins mittags.“

„Wie sah dieser unheimliche Kerl aus? Erinnerst du dich? Groß? Klein? Dunkel?“

Brandon überlegte. „Ich habe nicht so genau auf ihn geachtet, aber er war groß, wenn auch nicht so groß wie du. Das Haar war heller. Die Augen waren so richtig unheimlich, als ob er zornig wäre. An mehr erinnere ich mich nicht.“

„David!“ Athena zerrte an seinem Arm.

„Schon gut, beruhigen Sie sich.“ Er legte den Arm um sie. „Gehen Sie ins Haus und rufen Sie Officer Holden an. Ich komme gleich nach.“

„Wohin ist ihre Schwester denn geflogen?“, fragte Brady.

„Das wissen wir nicht.“ David hob ihre Rucksäcke auf. „Sie hatte einen Unfall und verlor dabei das Gedächtnis. Jetzt wird sie vermisst.“

„Vermisst?“ Brady riss die Augen weit auf. „Entführt?“

„Das wissen wir nicht.“

„Wow!“

Brandon versetzte ihm einen Stoß. „Das ist schlimm und nicht aufregend, Dumpfbacke.“

Brady gab ihm den Stoß zurück. „Ich habe eben noch nie jemanden getroffen, dessen Schwester vermisst wird. Und solltest du vermisst werden, würde ich dich bestimmt nicht suchen.“

„Ach nein? Ich hätte dich nicht mitnehmen müssen, aber ich habe es trotzdem getan.“

Man sah Brady an, dass er tatsächlich gefürchtet hatte, zurückgelassen zu werden. „Ja. Ich kann nichts dafür, dass ich keinen Treuhandfonds habe. Du hast eben Glück.“

„Sicher, von wegen viel Glück“, sagte Brandon verächtlich, während sie mit David ins Wohnzimmer gingen. Athena zog sich in die Küche zurück, und David schloss die Tür. Brandon zeigte auf seinen Bruder. „Kann er nach oben gehen, während wir über das Geschäft reden?“

„Geschäft?“, fragte David.

„Na ja, ein Familiengeschäft.“

David reichte Brady seinen Rucksack. „Läufst du schon mal hoch, Sportsfreund, damit wir ungestört sind?“

Brady verdrehte die Augen und griff nach seinem Rucksack. „Kann ich vorher einen Apfel oder sonst was haben? Ich verhungere.“

David nickte, und er verschwand in der Küche.

„Hier gefällt es mir“, bemerkte Brandon. „Das ist besser als in Chicago. Ich bin froh, dass du nicht verreist warst.“

„Ja, ich auch“, bestätigte David. Brandon hatte so leise gesprochen, als ginge es um ein Geheimnis. David blieb daher mit ihm in der kleinen Nische neben der Tür stehen. Der Hund legte sich zu ihren Füßen. „Was gibt es?“

Brandon zog ein dünnes Buch aus der Jackentasche und reichte es David.

„Was ist das?“

„Mein Treuhandfonds.“ Brandon verschränkte die Arme. Er wirkte müde und mitgenommen. Die Reise war für Brady ein Kinderspiel gewesen, doch Brandon hatte alles geplant und ausgeführt. Es war ihm sichtlich schwer gefallen und hatte ihm wahrscheinlich auch Angst gemacht. Er sah David direkt in die Augen. „Niemand kommt an das Geld heran, bis ich achtzehn bin, wie Brady schon gesagt hat. Aber du kannst es an meinem achtzehnten Geburtstag haben, wenn wir bis dahin bei dir bleiben dürfen. Wenn du willst, unterschreibe ich auch was.“

David war über diesen Vorschlag nicht allzu sehr erstaunt. Bei jedem Besuch hatten die Jungen ihn bedrängt, länger bleiben zu dürfen. Anfangs waren sie in den Osterferien und zu Weihnachten zu ihm gekommen, dann auch für einen Monat im Sommer. Die Tränen in Brandons Augen überraschten ihn allerdings schon.

„Ich habe die beiden reden hören“, fuhr Brandon fort. „Sie wollen uns ins Internat schicken, mich in ein teures irgendwo in New York und Brady in eines im Mittleren Westen, das nicht so viel kostet. Er hat ja keinen Treuhandfonds. Sie wollen uns nicht nur trennen, sondern ich könnte auch Ferdie nicht mitnehmen. Dave, das könnte ich nicht ertragen!“ Brandon versuchte, die Tränen zurückzuhalten, schaffte es jedoch nicht.

„Ich rufe sie an“, versprach David, legte den Arm um ihn und gab ihm sein Taschentuch. Der Junge lehnte sich an ihn. „Mal sehen, was wir erreichen.“

Brandon putzte sich die Nase und holte tief Atem. „Ich meine es ernst mit dem Geld. Du kannst alles haben, wenn wir bleiben dürfen.“

„Wir sind doch Brüder“, erwiderte David und drückte ihn an sich. „Keine Geschäftspartner. Ihr braucht mir nichts anzubieten, um bleiben zu dürfen. Ihr seid hier willkommen.“

„Und Ferdie?“

„Auch Ferdie.“

„Aber wenn die Lady uns nicht mag?“

„Wie sollte jemand euch zwei nicht mögen?“

„Mom mag uns nicht“, murmelte Brandon.

„Mom hat Probleme“, erwiderte David. „Das habe ich dir schon mal erklärt. Sie ist nicht gern Mutter wie andere Frauen.“

„Und warum bekam sie dann drei Kinder?“

Das war eine gute Frage, auf die David lieber eine schönere Antwort gegeben hätte. „Weil sie etwas braucht, es aber nicht findet. Sie sucht es bei Ehemännern und Freunden. Als sie noch jünger war, bekam sie schnell ein Kind, denn sie fürchtete verlassen zu werden. Sie dachte, der Mann würde dann bei ihr bleiben. Trotzdem sind alle von ihr gegangen.“

Brandon boxte ihn in die Seite. „Aber bin ich froh, dass sie dich bekommen hat. Brady und ich würden sonst tief in der … du weißt schon … sitzen.“

„Ja. Komm, wir rufen sie an. Wahrscheinlich sorgt sie sich schon.“

„Ja“, sagte Brandon und folgte ihm zusammen mit Ferdie. „Der Treuhandfonds hat die Flucht ergriffen. Darby will, dass sie ihm das Kommando übergibt, damit er ans Geld kommt. Ich will aber, dass du es kriegst.“

David seufzte lautlos, während er Brandon und Ferdie zur Treppe führte. Es kam nicht täglich vor, dass ein Mann die Mutter seines ungeborenen Kindes suchte, ihrer Schwester half, die so durcheinander war, dass sie sich selbst im Spiegel nicht erkannte, mitten in diesem Chaos zwei pubertierenden Brüdern ein neues Zuhause bot und gleichzeitig mehr als zweieinhalb Millionen Dollar ablehnte.

Ob Brandon tatsächlich Gusty gesehen hatte? Und wenn ja, wohin war sie geflogen? Und wer war der unheimliche Mann bei ihr?

Athena rief von der Küche aus an und wartete ungeduldig, während jemand Officer Holden suchte. Erst nach einer Weile merkte sie, dass hier etwas kochte. Es duftete wunderbar.

Noch während sie versuchte, alles auf die Reihe zu bringen und herauszufinden, wieso Essen auf dem Herd stand, obwohl David und sie fort gewesen waren, kam jemand zur Hintertür herein. Es war eine kleine, rundliche Frau mit grauem gelocktem Haar. In der Hand hielt sie einen Bund Schnittlauch.

Bei Athenas Anblick blieb sie stehen. Brady stürmte in diesem Moment in die Küche.

„Dotty!“, rief er und lief zu ihr. Sie legte den Schnittlauch auf die Theke und nahm den Jungen in die Arme.

Die Frau war nicht viel größer als er. „Na, Brady“, sagte sie und drückte ihn fest an sich. „Du bist ja früher hier als erwartet. Wo steckt Brandon?“

Brady deutete mit einem Kopfnicken zum Wohnzimmer. „Er macht mit Dave ein Geschäft.“

„Ein Geschäft?“

„Er glaubt, dass er ihm Geld bieten muss, damit Dave uns bei sich behält. Brandon war schon zu lange mit Mom zusammen.“

Die Frau sah Athena an, als wäre es ihr peinlich, dass der Junge vor einer Fremden über Familiengeheimnisse sprach.

„Mom und Darby wollen uns in verschiedene Internate schicken“, sagte Brady zu Dotty. „Und Brandon könnte Ferdie nicht mitnehmen.“

„Wer ist Ferdie?“

„Unser Hund.“

Dotty strich ihm übers Haar und lächelte. „Wahrscheinlich ist das kein sehr kleiner Hund.“

„Nein, er ist ein Mischling, und er ist ziemlich groß.“ Brady erzählte die Geschichte von Ferdie und dem Tierheim. „Wenn er hier in der Küche Schmutz macht, wische ich auf, damit du das nicht machen musst.“

Dotty küsste ihn auf die Stirn. „Braver Junge.“

„Officer Holden!“

„Ach, Officer!“, rief Athena und dämpfte ihre Stimme. „Hier Athena Ames. Meine Schwester wurde auf dem Flughafen von Portland gesehen!“ Sie wiederholte Brandons Bericht und beschrieb auch den Mann, der Gusty begleitet hatte. „Die Jungen landeten heute Mittag um halb eins.“

„Das könnte uns helfen.“ Er klang nicht so begeistert, wie sie gehofft hatte. „Können Sie die beiden morgen Vormittag herbringen, damit ich mit ihnen spreche?“

„David ist im Moment nicht hier, aber ich denke schon, dass es möglich ist. Glauben Sie, wir finden meine Schwester?“

„Es könnte uns helfen“, wiederholte er.

„Aber …“ Sie hielt sich zurück. „Jetzt wissen wir wenigstens, wo sie vor einigen Stunden war.“ Im selben Moment wurde ihr klar, was viel wichtiger war. Sie mussten herausfinden, wo Gusty sich jetzt aufhielt. Ihre Schwester war in Portland gelandet. Nun musste man sie nur noch unter fünfhunderttausend Menschen aufspüren. „Der Junge sagte, der Mann hätte unheimlich gewirkt“, fügte sie hinzu.

„Wir werden die Passagierlisten überprüfen“, versicherte Holden. „Wir finden sie schon.“

„Da sie sich nicht an ihren Namen erinnert, wird er nicht in den Listen auftauchen.“

„Vielleicht stellen wir fest, welchen Namen sie benutzt hat. Ein Taxifahrer oder ein Angestellter auf dem Flughafen könnte sich an sie erinnern. Wir sehen uns dann morgen?“

„Ja, vielen Dank, Officer.“ Sie legte auf. Die Aufregung von eben war verflogen.

Dotty kam zu ihr. „Hallo, Athena“, sagte sie und ergriff ihre Hände. „Ich bin Dotty Jones, Davids Haushälterin. Brady hat mir das mit Ihrer Schwester erzählt. Machen Sie sich keine Sorgen. David wird bei der Suche helfen. Wissen Sie, ich bin schon bei ihm, seit er für sich allein lebt, und ich bin ihm von Chicago hierher gefolgt. Früher arbeitete ich für seine Mutter.“ Sie seufzte vielsagend. „Aber das ist eine andere Geschichte. Also, Sie sind hier zu Gast, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich war einige Tage bei Freunden.“

„Ja.“ Die herzliche Aufnahme half Athena, ihre Sorgen vorerst zu vergessen. Sie betrachtete den lächelnden Jungen und erinnerte sich daran, dass nicht nur sie Probleme hatte. „Vielen Dank, Dotty. Hoffentlich habe ich Sie vorhin nicht erschreckt.“

„Natürlich nicht!“, wehrte die Haushälterin lachend ab. „Wenn man lange genug einem Mann den Haushalt führt, erschreckt einen nichts mehr.“

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

Dotty reichte ihr einen Stapel sauberer Handtücher, die auf der Arbeitstheke lagen. „Könnten Sie die bitte nach oben ins Bad bringen? Und wenn Sie schon oben sind, könnten sie aus dem Wäscheschrank für die Jungen zwei Decken nehmen?“

„Natürlich.“

„Brady, kommt herunter, wenn ihr eure Sachen weggeräumt habt. Ihr bekommt von mir dann was, damit ihr bis zum Abendessen durchhaltet. Wie immer um halb acht.“

Brady strahlte. „Ich bin so froh, dass du hier bist, Dotty!“

Athena begleitete ihn nach oben. Sein Zimmer lag nach vorne hinaus.

„Ich schaue gern zu, wenn Autos kommen oder wegfahren“, erklärte er und warf den Rucksack auf das Bett.

Als Kind hatte Athena mit ihren Schwestern in diesem damals leeren Zimmer Verkleiden gespielt. Sie hatten dann auf die Zufahrt hinuntergeblickt und so getan, als würden sie auf die Kutsche warten, die sie zum Ball brachte.

Brady breitete den kärglichen Inhalt des Rucksacks auf dem Bett aus – eine Jeans, ein verknittertes Sweatshirt, zwei Paar Socken, Unterwäsche und ein elektronisches Spiel. Athena holte ihm eine Decke und legte sie aufs Fußende des Betts. Er hängte Jacke, Jeans und Sweatshirt in den Schrank und wirkte dabei sehr zufrieden.

„Ich werde mal Mechaniker, wenn ich groß bin“, verkündete er und trat ans Fenster. „Dann kann ich alles reparieren.“

„Das hätten wir gestern gebraucht“, erwiderte Athena und schilderte ihm den Unfall.

„Zu hohe Geschwindigkeit und zu viel Kraft in der Kurve“, stellte er wissend fest.

„Ist das nicht cool?“ Brandon tauchte in der Tür auf. Ferdie stand schnüffelnd neben ihm. „Wir sind für immer hier. David sagt, dass wir bleiben können, wenn Mom einverstanden ist.“

Brady folgte ihm in sein Zimmer auf der anderen Seite des Korridors. Von da blickte man aufs Meer. Dort hatte früher Lex gewohnt. Sie hatte die Kreidetafel ans Fenster gestellt und immer wieder den Ausblick gezeichnet.

„Athena holt dir eine Decke“, sagte Brady zu seinem Bruder.

Genau das tat sie auch und brachte noch eine für Ferdie mit, die sie am Fußende des Betts auf den Boden legte.

„Danke“, sagte Brandon. „Hier, Ferdie, die ist für dich.“ Der Hund beschnupperte die Decke, drehte sich im Kreis und legte sich hin. Brandon streichelte ihn. „Braver Junge.“

Der Hund genoss sichtlich das Lob und streckte sich aus.

„Dotty sagte, ihr sollt nach unten kommen.“ Athena verließ das Zimmer. „Sie gibt euch etwas zu essen.“

Brandon nickte. „Danke für die Decken.“

Athena lächelte. Diesen verlorenen Ausdruck in seinen Augen kannte sie nur zu gut. „Gern geschehen.“

David telefonierte, als Athena in die Küche kam.

„Ich weiß, ich weiß“, sagte er beruhigend, „aber sie haben sich wegen des Hundes aufgeregt. Seien wir doch ehrlich, Jordana. Du bist nicht unbedingt die Person, an die sie sich wegen einer solchen Geschichte wenden würden, nicht wahr? Übrigens, herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit.“

Er warf Athena einen nüchternen Blick zu und wandte sich zum Fenster. Draußen wurde es bereits dunkel. Athena fühlte sich plötzlich bedrückt.

Dotty stand am Herd und rührte in einem Topf. David kümmerte sich um die familiäre Krise, in die seine Brüder ihn gestürzt hatten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich auf seine Wärme und Offenheit verlassen hatte. Doch jetzt, da es endlich etwas Neues über Gusty gab, musste sie womöglich allein weitermachen.

Sie holte Geschirr aus dem Schrank und deckte den Tisch, um wenigstens das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden und dazuzugehören. Nachdem sie David mit seinen Brüdern beobachtet hatte, glaubte sie nicht mehr, er könnte ihre Tante betrogen oder gar verletzt haben.

„Natürlich war das gedankenlos“, versicherte er. „Ja, ich kann mir vorstellen, dass du außer dir warst.“

Dotty drehte sich zu ihm um, und die beiden wechselten einen amüsierten Blick.

„Nein“, sagte er. „Sie kommen hier vorerst gut zurecht. Ja, ich weiß, dass sie das sollten, aber in Dancer’s Beach gibt es eine großartige Schule.“

Sogar Athena hörte den schrillen Widerspruch aus dem Telefon.

„Sieh mal, Jordana“, sagte David nach einer Weile. „Die beiden haben doch nur einander, aber du willst sie auf verschiedene Schulen schicken. Außerdem weißt du, dass Brandon den Hund nicht mitnehmen kann. Warum willst du ihnen das antun?“

Erneut drang die schrille Stimme aus dem Hörer.

„Ja, aber sie sind noch lange nicht fürs College bereit. Sie sind einfach Jungen, die … die sich unter den gegenwärtigen Umständen nicht sonderlich wohl fühlen“, fuhr er behutsam fort. „Sie würden lieber erst einmal hier bleiben. Warum sollten wir es nicht versuchen? Sicher, frag Darby. Ich warte.“

Dotty unterbrach ihre Tätigkeit und wartete ebenfalls auf die Antwort.

Athena stellte zu ihrer Überraschung fest, dass es auch ihr wichtig war, obwohl es die Lösung ihrer Probleme beträchtlich erschwerte.

„In Ordnung“, sagte David schließlich. „Du schickst mir ihre Kleidung und andere Dinge, die ihnen wichtig sind, und ich liefere dir regelmäßig Berichte, wie sie sich machen.“

Dotty faltete die Hände und warf einen dankbaren Blick zum Himmel, bevor sie sich wieder dem Herd widmete.

David legte soeben auf, als Poltern auf der Treppe die Jungen ankündigte.

„War das Mom?“, fragte Brady.

David nickte.

„Was hat sie gesagt?“, erkundigte sich Brandon hoffnungsvoll.

„Ich kann euch hier in der Schule anmelden“, erwiderte David, „und dann werden wir sehen, wie es läuft.“

Brady warf sich mit einem Jubelschrei auf David. David fing ihn auf, und Athena bedauerte, dass Gustys Baby nicht von ihm war. Er war zum Vater geboren.

„Ich kann den Müll rausbringen und den Rasen mähen“, schlug Brady vor, der sich nun offenbar doch der Einstellung seines Bruders anschloss, dass man für alles etwas anbieten musste.

„In Ordnung“, erwiderte David und stellte ihn wieder auf den Boden. „Obwohl ihr euch im Herbst wegen des Rasens keine Gedanken machen müsst.“

Brady zeigte auf die Apfelbäume im Garten. „Bald gibt es viel Laub, und später kann ich Dotty beim Spülen helfen.“

Brandon war sichtlich ein gewaltiger Stein vom Herzen gefallen. „Danke, Dave.“

David ging auf seinen klaren Wunsch ein, alles etwas herunterzuspielen, und nickte bloß. „Gern geschehen.“

„Und Ferdie darf im Haus bleiben? Er ist sauber.“

„Klar.“ David klopfte Brandon auf die Schulter. „Du solltest mich begleiten, wenn wir Hundefutter besorgen. Dann kannst du mir zeigen, was Ferdie mag. Brauchst du etwas, Dotty?“

Die Haushälterin lächelte ihm zu. „Alles unter Kontrolle.“ Sie gab Brady einen Pfirsich und warf Brandon auch einen zu. „So, damit haltet ihr bis zum Abendessen durch.“

„Das Essen sieht schon großartig aus“, berichtete Brady. „Hühnchen und Bratkartoffeln und … na ja, und Gemüse, aber man kann schließlich nicht zu viel verlangen. Darf ich zum Einkaufen mitfahren?“

„Klar, komm nur.“ David wandte sich an Athena. „Brauchen Sie etwas?“

„Nein, danke. Officer Holden möchte morgen mit den Jungen sprechen.“

David reichte Brandon die Autoschlüssel. „Wollt ihr mit der Polizei über die Frau sprechen, die ihr auf dem Flughafen gesehen habt?“

Beide nickten. „Aber wir haben dir schon alles erzählt“, wandte Brandon ein.

„Er will es wohl direkt von euch hören. Setzt euch in den Wagen, aber fahrt nicht weg.“

Während die Jungen lachend hinausliefen, ging David zu Athena und betrachtete sie eingehend. „Ist wirklich alles in Ordnung?“

Es freute sie, dass er sich um sie kümmerte, obwohl er im Moment so viel um die Ohren hatte. „Ich bin zäh“, versicherte sie.

„Sagte Holden sonst noch etwas?“

„Er wird die Passagierlisten überprüfen und mit den Angestellten auf dem Flughafen sprechen, aber vielleicht wollte er mir nur Mut machen.“

David streichelte ihren Arm. „Hört sich doch gut an. Sie brauchen übrigens nicht zu befürchten, dass die Jungen unsere Suche behindern. Wir finden Ihre Schwester.“

„Die beiden werden Sie brauchen“, wandte Athena ein. „Vielleicht sollte ich …“

„Ich bin doch auch noch hier“, warf Dotty ein, formte Brötchen und legte sie auf ein Backblech. „Ihr beide habt völlig freie Hand, und tagsüber sind die Jungen ohnedies in der Schule.“

„Damit wäre das geklärt“, meinte David. „Und machen Sie sich keine allzu großen Sorgen wegen dieses unheimlichen Kerls. Sie wissen doch, wie Kinder sind. Vielleicht hat er nur angestrengt über etwas nachgedacht, und das wirkte auf Brandon finster.“

Athena hatte unzählige Fragen. Wer war der Mann? Wieso begleitete er Gusty? Doch sie sagte nichts, weil David im Moment andere Probleme hatte.

„Vielen Dank.“

Die Jungen hupten in der Einfahrt. David schüttelte den Kopf. „Das kann ja heiter werden. Wir sind zum Abendessen wieder da.“

„Das möchte ich euch auch geraten haben“, entgegnete Dotty lächelnd, „sonst essen Athena und ich alles allein auf. Es gibt Kürbiskuchen zum Nachtisch.“

David öffnete amüsiert die Hintertür. „Ich möchte nicht in eurer Haut stecken, wenn ihr den Jungs sagt, dass es keinen Nachtisch mehr gibt. Wir beeilen uns.“

Sobald sich die Tür hinter ihm schloss, ging Athena nach oben und rief Patrick an, um ihn über die neueste Entwicklung zu informieren.

Autor

Diana Whitney
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Muriel Jensen

So lange Muriel Jensen zurückdenken kann, wollte sie nie etwas andere als Autorin sein. Sie wuchs in einer Industriestadt im Südosten von Massachusetts auf und hat die Menschen dort als sehr liebevoll und aufmerksam empfunden. Noch heute verwendet sie in ihren Romances Charaktere, die sie an Bekannte von damals erinnern....

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Joan Elliott Pickart
Joan Elliott Pickart ist eine berühmte amerikanische Schriftstellerin, die seit 1984 über 100 Liebesromane veröffentlicht hat. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Robin Elliott. Joan Elliott Pickart ist Mitbegründerin der Autorenvereinigung Prescott, einem Mitglied der Romance Writers of America (RWA).
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Mollie Molay
Nachdem sie einige Jahre in einem Logistikzentrum eines Lufttransportunternehmens gearbeitet hatte, entdeckte Mollie Molay, dass ihr das Schreiben von Liebesromanen, was sie nebenbei verfolgte, viel mehr Freude bereitete als ihre bisherige Tätigkeit. Also versuchte sie, ihr Hobby zu ihrem Beruf zu machen.
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Janelle Denison
Zusammen mit ihrem Mann, einem Ingenieur, lebt Janelle im sonnigen Südkalifornien. Für seine Unterstützung ist sie ihm dankbar und noch dankbarer dafür, dass er nie ein Wort darüber verliert, wenn das Abendbrot verspätet – oder auch gar nicht – auf den Tisch kommt, weil sie über ihre Arbeit am Computer...
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