Verdacht auf Liebe

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Schlimm genug, dass Liam ihr vor Jahren in der Highschool das Herz gebrochen hat. Jetzt wirft er Natalie allen Ernstes vor, sie würde seine geliebte Ziehmutter betrügen! Aber wenn Liam Natalie wirklich für schuldig hält – warum küsst er sie dann so zärtlich?


  • Erscheinungstag 28.06.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507219
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Natalie Holt blinzelte. Sie schlug gegen den Radiowecker, aus dem laute Heavy-Metal-Klänge dröhnten. Hier in den Bergen hörte man normalerweise andere Musik, aber Natalie bekam gerade eben noch einen College-Sender herein – aus einer Stadt, die nicht allzu weit von Crimson, Colorado, entfernt lag.

Das war zwar nicht ihre Lieblingsmusik, aber bei allen anderen Stilrichtungen schlief sie einfach weiter: ob Klassik, Country oder Nachrichten. Wahrscheinlich deswegen, weil sie nachts im Schnitt bloß vier Stunden Schlaf bekam.

Gestern Nacht waren es sogar nur drei Stunden gewesen, weil sie noch in der Seniorenresidenz die monatlichen Rechnungen an die Krankenkassen schreiben musste. Für ihre Teilzeitstelle dort war sie sehr dankbar. Sie hatte noch zwei weitere Jobs, denn sie brauchte das Geld. Noch mehr Zeit konnte sie allerdings nicht opfern, sonst käme ihr neunjähriger Sohn Austin zu kurz.

Austin war das Beste, was Natalie je passiert war. Für ihn würde sie alles tun, auch wenn sie das die letzte Kraft kostete.

Aber noch fühlte sie sich einigermaßen lebendig. Also quälte sie sich aus dem Bett und streifte sich ein Sweatshirt und eine Yogahose über, in der sie schon jahrelang keine Yogaübungen mehr durchgeführt hatte. Es war Samstagmorgen. Hoffentlich schlief Austin noch. Seine Tür stand allerdings offen, und in seinem Zimmer war er nicht.

In dem alten Farmhaus, in dem sie seit einigen Monaten wohnten, war es still. Natalie ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Gerade wollte sie zum Hauptschlafzimmer weitergehen, da fiel ihr Blick durchs Fenster. Sie stutzte, öffnete die Vordertür und ging auf die Veranda, um sich das Ganze genauer anzuschauen.

Instinktiv schlang sie die Arme um den Oberkörper, denn es war ziemlich kalt geworden. Die Luft fühlte sich eisig an, und die Verandafliesen waren mit einer dünnen Schicht Puderschnee überzogen.

Vor ihr in der Auffahrt stand ein riesiger schwarzer Geländewagen. Der Anblick jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Wem gehörte das Auto? Warum kam schon so früh am Morgen jemand bei Ruth Keller vorbei, der alten Dame, der das Haus gehörte? Und wo war eigentlich Austin?

Natalie ging zurück ins Haus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Erst als sie ihren Sohn bei Ruth im Bett entdeckte, beruhigte sie sich wieder. Dort lag er und hatte sein liebstes Abenteuerbuch aufgeschlagen. „Hi, Mom! Ich lese Ruth gerade etwas vor, damit sie nicht so allein ist.“ Er grinste.

Ruth lächelte. „Guten Morgen, meine Liebe. Du hast dir hoffentlich keine Sorgen um Austin gemacht?“

„Überhaupt nicht“, log Natalie. „Sag mir nächstes Mal aber Bescheid, bevor du nach unten gehst, okay?“, wandte sie sich an ihren Sohn.

„Geht klar, Mom.“

„Und komm lieber aus dem Bett raus. Ruth braucht Platz. Ihre Hüfte muss weiter verheilen.“

Austin wollte schon aufstehen, aber Ruth legte ihm eine Hand auf den Arm. „Nein, bleib bitte hier, ich finde das schön so.“

Typisch Ruth Keller. Sie hatte ihren eigenen Kopf, auch noch mit Mitte achtzig. Und weil sie gern weiterhin unabhängig bleiben und in ihrem eigenen Haus wohnen wollte, hatte sie Natalie eingestellt.

Natalie erledigte für die alte Dame alle Einkäufe, fuhr sie zum Arzt und kümmerte sich um den Haushalt. Im Gegenzug durften sie und ihr Sohn kostenfrei in den oberen beiden Gästezimmern wohnen. Außerdem hatte Ruth darauf bestanden, ihr ein kleines Gehalt zu zahlen. Vor einigen Wochen war Ruth gestürzt und hatte sich die Hüfte geprellt, dadurch hatte Natalie sich umso intensiver um sie kümmern müssen.

Ruth hatte eine Heidenangst davor, dass sie irgendwann in die Seniorenresidenz musste. Ein Zimmer war dort bereits für sie angemietet. Aber Natalie hatte ihr versprochen, sie tatkräftig zu unterstützen, damit sie noch so lange wie möglich hier im Farmhaus wohnen konnte. Manchmal kam auch eine zweite Pflegerin vorbei, um Natalie zu entlasten.

„Wie sieht’s denn mit Frühstück aus?“, erkundigte sie sich jetzt bei Austin und Ruth.

„Das macht schon dieser Mann“, informierte Austin sie und las weiter aus seinem Buch vor.

„Hey, du hast da was übersprungen“, sagte Ruth und tippte auf eine Seite.

„Welcher Mann?“ Natalie ging einen Schritt aufs Bett zu. In diesem Moment fiel ihr der teure Geländewagen in der Auffahrt wieder ein, und sie bekam eine Gänsehaut.

„Ach, das hatte ich dir ja noch gar nicht erzählt …“ Ruth strich die Decke glatt und vermied es, Natalie ins Gesicht zu sehen. „Und jetzt will ich wissen, was als Nächstes passiert, Austin. Finden Jack und Annie den Ninja?“

Was hast du mir noch nicht erzählt?“, hakte Natalie nach und umfasste den Bettpfosten. „Wer ist dieser Mann?“

„Hallo, Natalie“, begrüßte eine tiefe Stimme sie vom Türrahmen aus.

Es war eine Stimme, die sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Sie umklammerte den Pfosten so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Liam Donovan kennst du noch, oder?“, sagte Ruth fröhlich, wich aber weiterhin Natalies Blick aus. „Ihr seid doch zusammen zur Highschool gegangen.“

Normalerweise atmete der Mensch unbewusst und ganz von selbst. Aber in diesem Moment kam es Natalie vor, als wüsste sie nicht mehr richtig, wie das Atmen überhaupt funktionierte. Angestrengt konzentrierte sie sich darauf, ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen … und die Luft wieder auszuatmen.

Langsam drehte sie sich zur Tür um und bemühte sich dabei, keine Miene zu verziehen, als sie direkt in Liams graue Augen blickte. „Hallo, Liam. Das ist ja eine nette Überraschung. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen.“

Das entsprach immerhin zum Teil der Wahrheit: Einerseits hatten sie wirklich seit mehr als zehn Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Andererseits beschrieb „nett“ nun wirklich nicht das emotionale Chaos, das sich gerade in ihr abspielte. Ihre Gefühle Liam gegenüber waren noch nie einfach „nett“ gewesen. Ihr war schwindlig, und sie fühlte sich gleichzeitig energiegeladen, unendlich traurig und voller Reue.

Liam zog einen Mundwinkel nach oben, als fände er ihre Lüge ganz amüsant. Sein Blick wurde jedoch immer kühler. „Ich wollte mal nachsehen, wie es Ruth inzwischen geht. Sie ist ja vor Kurzem gestürzt“, erklärte er. „Außerdem frage ich mich, warum ich jeden Monat Miete für ihr Zimmer in der Seniorenresidenz zahle, wenn sie immer noch hier im Haus wohnt.“ Ruth war früher Liams Kindermädchen gewesen, liebte den Jungen aber wie ihren eigenen Sohn.

„Der Sturz ist inzwischen zwei Wochen her. Inzwischen ist sie fast völlig wiederhergestellt.“ Natalie bemühte sich gar nicht erst um einen freundlichen Tonfall. „Die Sache mit ihrem Zimmer hat Ruth ausführlich mit dem Heimleiter besprochen. Ansonsten ist sie hier gut versorgt. Ich habe alles im Griff.“

Er blickte zu Austin, der schon wieder die Nase ins Buch gesteckt hatte. „Ja, das sehe ich.“

Heute sah Liam ganz anders aus als der Junge von damals, ihre erste große Liebe auf der Highschool. Der Mann, der jetzt vor ihr stand, kam ihr viel größer und beeindruckender vor, sowohl körperlich als auch von seiner Ausstrahlung her. Schon damals war Liam sehr attraktiv gewesen, aber jetzt wirkte er auch noch unheimlich verwegen und männlich. Das Haar trug er heute kürzer; den Schnitt hatte ihm offenbar ein teurer Friseur verpasst. Inzwischen war es fast schwarz, hatte aber immer noch einen leichten kastanienbraunen Schimmer.

Damals hatte sie ihm immer so gern das Haar zerzaust … und auch jetzt hätte sie es am liebsten getan. Einfach, damit sie sicher sein konnte, dass er auch wirklich hier war und nicht nur ein Traumbild.

Stattdessen strich sie sich selbst durchs Haar, das sie schon längst hätte schneiden lassen müssen, und richtete sich auf. Aber bevor sie etwas zu ihm sagen konnte, sprang Austin vom Bett und stellte sich neben sie. „Meine Mom kümmert sich um Ruth“, erklärte er und reckte das Kinn vor. „Und das macht sie richtig gut. Ruth braucht uns nämlich.“

Ob gut oder schlecht – Austin war genauso stolz und störrisch wie Natalie. Und auf seine Mutter ließ er nichts kommen. Der große fremde Mann, der ihn gerade prüfend musterte, schien ihn nicht weiter einzuschüchtern. Dabei konnte Natalie sich gut vorstellen, dass er sich mit diesem Blick selbst bei erwachsenen Männern Respekt verschaffen konnte.

Sie legte Austin eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. „Austin, lies doch mit Ruth die Geschichte zu Ende, und inzwischen machen Liam und ich Frühstück. Okay?“

„Das hört sich gut an“, meldete sich Ruth zu Wort. „Bei so schönen Überraschungen kriege ich immer Hunger.“

Die alte Frau zwinkerte ihr zu.

Austin wirkte zwar nicht besonders begeistert, seine Mutter mit dem fremden Mann allein zu lassen, kletterte aber schließlich doch zurück ins Bett.

Während Natalie neben Liam den Flur entlangging, versuchte sie so lange wie möglich die Luft anzuhalten … und trotzdem atmete sie seinen Duft ein.

„Einen netten Jungen hast du da“, bemerkte er, als sie an ihm vorbei durch die Küchentür ging.

Sofort war sie wieder ganz da. „Austin ist der beste Junge, den man sich vorstellen kann“, betonte sie. „Und wir zwei sind ein tolles Team.“

„Was ist denn mit Brad?“, hakte er nach.

Natalie zuckte zusammen, als sie den Namen ihres Exmannes hörte. „Er hat in Austins Leben nichts mehr zu suchen. Irgendwann ist er aus Crimson verschwunden und hat sich seitdem nicht mehr blicken lassen.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber mehr brauchte Liam Donovan nicht zu wissen. „Tja, so wirke ich wohl auf Männer“, fügte sie bedeutungsschwer hinzu. „Früher oder später hauen sie alle ab.“

Als sie sich zu Liam umwandte, blickte er sie stirnrunzelnd an. „Du hast ja keine Ahnung, wie du wirklich auf Männer wirkst, Natalie“, erwiderte er.

Dazu fiel ihr erst mal nichts ein. Um sich abzulenken, ging sie zum Kühlschrank und holte Eier, Käse und Saft heraus. „Und warum bist du nach Crimson gekommen? Ruth geht es doch schon viel besser mit ihrer Hüfte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du wirklich hergekommen bist, um dich um sie zu kümmern.“

„Warum nicht? Die Frau hat sich auch um mich gekümmert, bis ich elf Jahre alt war. Und ich liebe sie sehr.“

Natalie stellte eine Pfanne auf den Herd und schlug mehrere Eier in eine Rührschüssel. „Ich weiß. Aber damit hast du meine Frage noch nicht beantwortet.“

Als Liam einen Schritt auf sie zukam, fingen ihre Finger an zu zittern. Sie spürte, dass er sie beobachtete, konzentrierte sich aber ganz auf die Schüssel mit den Eiern. „Ich glaube, dass ihr irgendjemand Geld stiehlt“, sagte er schließlich.

Natalie fuhr zu ihm herum und sah ihm direkt in die Augen.

„Und ich frage mich, ob du das vielleicht bist.“

Sie legte das Ei in ihrer Hand ganz vorsichtig auf die Arbeitsplatte. „Das traust du mir also zu“, sagte sie leise und durchbohrte ihn mit ihrem Blick. „Du siehst mich also als gemeine Diebin.“

Nein, dachte er. Nein, so sehe ich dich nicht. In meinen Augen bist du immer noch die schönste Frau, die ich kenne.

Selbst ihr ausgeleiertes Sweatshirt konnte ihre perfekte Figur nicht verbergen. Das dunkle Haar hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, aber es glänzte immer noch so wie damals. Außerdem war sie vollkommen ungeschminkt, und so mochte er sie am liebsten. Bloß die dunklen Ringe unter den großen, schokoladenbraunen Augen hatte sie damals noch nicht gehabt. Irgendetwas raubte ihr also den Schlaf. Liam hätte gern gewusst, was es war und wie er ihr helfen könnte …

Aber deswegen war er wirklich nicht hier. Außerdem hatte Natalie sich schon vor zehn Jahren gegen ihn entschieden – und gleichzeitig für diese Stadt. Da wollte er jetzt bestimmt nicht wieder angekrochen kommen. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, sagte er. „Aber zwei Monate, nachdem du bei ihr angefangen hast, sind zehntausend Dollar von ihrem Konto verschwunden.“

„Hast du Ruth schon mal danach gefragt?“

„Natürlich. Nachdem mich die Bank darauf aufmerksam gemacht hatte, rief ich Ruth sofort an. Sie meinte nur, dass ich mich lieber um meinen eigenen Kram kümmern soll.“

„Aber das kam für dich wohl nicht infrage.“

„Na ja, Ruth ist zwar eine starke Frau, aber leider nicht mehr so stark wie früher. Weder körperlich noch geistig. Das weißt du wahrscheinlich selbst am besten, du kümmerst dich ja um sie. Und ich will auf keinen Fall, dass jemand sie ausnutzt.“

„Das würde ich nie tun.“ Ihre braunen Augen funkelten. „Ich habe Ruth nicht bestohlen, Liam.“ Sie sprach die Worte zwar ruhig aus, aber ihre Stimme klang schneidend scharf.

„Aber du musst doch zugeben, dass das ein ungewöhnlicher Zufall ist. Kaum arbeitest du eine Weile für sie, verschwindet Geld von ihrem Konto.“

„Weiß Ruth eigentlich, dass du ihre Finanzen kontrollierst?“

Liam atmete hörbar aus. „Jetzt ja.“ Er sah Natalie dabei zu, wie sie zwei Bagels in den Toaster steckte und die verquirlten Eier in die Pfanne gab. „Und darüber ist sie ganz schön sauer.“

„Das kannst du ihr kaum vorwerfen.“

„Ich will, dass es ihr gut geht. Inzwischen wissen viele Leute, dass ich ihr Geld überweise und sie es kaum anrührt. Eigentlich hatte ich schon viel früher damit gerechnet, dass irgendjemand versucht, ihr etwas davon abzunehmen. Darum behalte ich das Konto ja auch im Auge.“

„Ich weiß ja, dass du es gewohnt bist, anderen Menschen vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben“, gab Natalie zurück. „Aber was Ruth mit ihren Ersparnissen macht, ist allein ihre Sache.“

„Mir ist sehr wohl bewusst, dass nicht jeder nach meiner Pfeife tanzt, das kannst du mir glauben.“ Nur zu gut konnte Liam sich an diese eine Nacht vor vielen Jahren erinnern, in der Natalie ihm das Herz gebrochen hatte. „Aber als ich sie darauf ansprach, tat sie, als wüsste sie von nichts. Es scheint sie auch nicht zu stören, dass das Geld verschwunden ist. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich. Irgendetwas verheimlicht sie mir also, und ich will herausfinden, was das ist.“

„Auf jeden Fall freut sich Ruth, dass du hier bist“, sagte Natalie. „Möchtest du vielleicht oben in einem der Gästezimmer übernachten? Dann machen Austin und ich dir natürlich Platz.“

„Hey …“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie zuckte zusammen. „Ich will dich auf keinen Fall vertreiben – oder dir sonst irgendwelche Schwierigkeiten machen.“

Sie reckte sich, um mehrere Stapel Teller aus einem Hängeschrank zu holen. Dabei rutschte ihr Sweatshirt ein Stück nach oben und gab einen schmalen Streifen nackte Haut frei.

Einige Sekunden lang konnte Liam keinen klaren Gedanken fassen. Wie gebannt betrachtete er das kleine Muttermal knapp oberhalb ihres Hosenbundes. Und dann waren sie auf einmal da, die vielen Erinnerungen an damals. Erregende Erinnerungen …

„Wie bitte? Du hast mich im Verdacht, eine Frau zu bestehlen, die uns beiden nahesteht, willst mir aber keine Schwierigkeiten machen?“, empörte Natalie sich. „Wie passt das denn zusammen?“

„Es tut mir leid, aber ich musste das ansprechen.“

„Und, bist du jetzt klüger?“

„Nicht viel, aber ich finde schon raus, was dahintersteckt.“

„Na, dann viel Erfolg“, gab sie zurück. „Ich habe das Geld jedenfalls nicht.“

Mit fahrigen Bewegungen verteilte sie Rührei, Bagels und Bananenscheiben auf den Frühstückstellern.

„Und selbst wenn, wäre das nicht weiter schlimm“, warf jemand mit zittriger Stimme ein. „Dank Liam habe ich nämlich mehr als genug Geld.“

Liam fuhr herum und entdeckte Ruth und Austin, die gerade in die Küche kamen. Seine frühere Nanny stützte sich dabei auf einen Gehstock. Bei dem Anblick zog sich ihm das Herz zusammen. Als er sie vorhin begrüßt hatte, hatte sie noch im Bett gelegen. Da war ihm nicht aufgefallen, wie zerbrechlich sie inzwischen war. „Es geht aber nicht darum, ob du auch so genug Geld hast“, sagte er zu Ruth.

„Lass Natalie in Ruhe.“ Ruth richtete sich auf und zeigte zum Tisch. „Setz dich lieber hin, dann frühstücken wir alle zusammen. Im Moment freue ich mich noch über deinen Besuch, aber wenn das so weitergeht, überlege ich es mir vielleicht noch anders.“

„Es gibt doch gar nicht genug …“, begann er. In diesem Moment reichte Natalie ihm einen vollen Teller. „Ach, für mich hast du auch etwas gemacht?“

„Ich koche immer für alle, die im Haus sind.“ Sie griff nach den übrigen drei Tellern und balancierte dabei zwei in einer Hand. Mit einem Ellbogen wies sie auf eine Schublade am Ende der Kücheninsel. „Bringst du Gabeln für uns alle mit?“

Wortlos starrte Liam sie an.

„Bitte“, fügte sie hinzu.

„Ich frühstücke nie.“

„Das ist aber die wichtigste Mahlzeit des Tages.“

Ruth ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken und klopfte auf den Platz neben sich. „Komm, setz dich zu mir und erzähl mir ein bisschen was aus deinem Leben.“ Sie beugte sich zu Austin. „Liam ist nämlich ein superreicher Unternehmer, der sich ständig mit irgendwelchen hirnlosen, viel zu jungen Supermodels trifft.“

„Jetzt hör aber auf, Ruth.“

„Bist du auch ein Supermodel, Mom?“, erkundigte sich Austin.

Laut scheppernd stellte Natalie die Teller auf den Tisch. „Nein, Schatz, ich bin bestimmt kein Supermodel.“

Austin wirkte erleichtert.

Am liebsten hätte Liam ihr gesagt, dass er sie viel reizvoller fand als alle Models, die er in seinem Leben kennengelernt hatte. Sie war einfach unwiderstehlich – und das nicht nur deswegen, weil sie umwerfend aussah. Es lag auch an ihrer Ausstrahlung, ihrem Selbstbewusstsein und daran, dass sie sich von niemandem etwas vormachen ließ.

Schließlich setzte er sich neben Ruth. „Du kannst hier nicht weiter wohnen“, griff er das Thema von vorhin wieder auf.

„Das ist aber mein Haus.“

„Schon, aber das ist alles viel zu viel für dich. Am besten, du ziehst erst mal in das Haus, das ich hier angemietet habe, und wir suchen einen neuen Eigentümer für dein Farmhaus. Wenn ich wieder abreise, ziehst du in dein Zimmer in der Seniorenresidenz. Warum soll ich weiter dafür zahlen, wenn du es gar nicht nutzt?“

„Wegen der tollen Unternehmungen, die sie organisieren. Da dürfen nämlich nur Bewohner mitmachen. Ich dachte, das wäre in Ordnung, weil du doch sowieso so viel Geld hast.“ Ruths Hand zitterte sichtbar, als sie eine Bananenscheibe aufspießte.

„Wie bitte, ihr wollt das Farmhaus verkaufen?“ Entsetzt blickte Natalie von Liam zu Ruth.

„Nein“, erwiderte Ruth, während Liam ein deutliches „Ja!“ von sich gab.

„Das Anwesen ist viel zu groß und außerdem viel zu weit vom Stadtkern entfernt …“

„Darum sind Natalie und Austin ja hier“, erklärte Ruth. „Außerdem kommt Clarence jeden Tag für ein paar Stunden vorbei und kümmert sich ein bisschen um den Haushalt.“

„Clarence ist doch fast so alt wie du.“

„Jetzt werd nicht frech, Liam.“ Ruth stach heftig auf ihr Rührei ein. „Sonst sage ich Stan, dass er dir ein paar Extrahausarbeiten aufbrummen soll, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt.“

Verwirrt sah Liam zu Natalie. Die schüttelte den Kopf. Stan war Ruths Ehemann. Als Ruth vor über fünfzehn Jahren in Rente gegangen war, waren sie beide nach Colorado gezogen. Noch im selben Jahr war er gestorben.

Liam wusste nicht, ob er sie darauf ansprechen oder ihre Bemerkung einfach übergehen sollte. Schließlich seufzte er. „Ich will doch nur, dass es dir gut geht.“

„Schön, aber wenn du nur hier bist, um mir auf die Nerven zu gehen, kannst du gleich wieder abreisen.“

„Ich bin hier, weil ich dich vermisst habe. Ist das so schwer zu verstehen?“

„Für mich ist es schwer zu verstehen, dass du mich in den letzten zwei Jahren kein einziges Mal besucht hast“, gab Ruth zurück und blickte ihn herausfordernd an. Sie hatte ihn sofort durchschaut; man konnte ihr einfach nichts vormachen. Auch wenn sie eben noch davon ausgegangen war, dass ihr verstorbener Mann abends nach Hause kommen würde.

Also musste Liam ihr wohl noch eine weitere Erklärung dafür liefern, warum er hier war. „Ich stelle gerade meine eigene Software-Firma auf die Beine“, erklärte er. „Wir entwickeln ein neues Navigationssystem für Outdoor-Unternehmungen, es heißt LifeMap. Ich bin also erstens hier, um dich zu besuchen, und zweitens, weil ich einen geeigneten Standort für LifeMap suche. Dabei habe ich an Crimson gedacht. Ich weiß ja, wie sehr du die Stadt liebst, und dachte, du freust dich, wenn ich hier die Wirtschaft etwas ankurbele.“

Einige Sekunden lang betrachtete Ruth ihn schweigend. Dann umschloss sie seine Finger mit ihren von blauen Adern überzogenen Händen. „Ach, das hört sich ja gut an.“

„Was meinst du denn zu der Wohnsituation?“, wandte er sich an Natalie. „Hältst du es für sinnvoll, dass Ruth hier allein im Haus wohnt, wenn ich ihr doch ein Zimmer in Evergreen finanziere?“

„Sie ist aber nicht allein hier“, warf Austin mit vollem Mund ein. „Wir sind ja auch noch da.“

Liam hob eine Augenbraue und sah zu Natalie. „Darum geht es aber nicht.“

„Ich finde, dass Ruth entscheiden soll, wo sie wohnen will. Dass du ihr das Zimmer in der Residenz bezahlst, ist natürlich sehr großzügig von dir.“

„Dann hättest du nichts dagegen, wenn sie das Farmhaus verkauft und ganz nach Evergreen zieht?“

„Ich will das Haus nicht verkaufen.“ Ruth schob ihren Stuhl vom Tisch zurück. „Nur weil ich mir die Hüfte geprellt habe, bin ich noch lange kein Pflegefall.“

„Das habe ich auch nicht gesagt.“

„Du hast es aber angedeutet.“ Schwerfällig stand sie auf. „Austin, bringst du mich bitte ins Schlafzimmer?“

Der Junge blickte fragend zu seiner Mutter, und Natalie nickte. „Ich räume nur schnell die Küche auf, und dann helfe ich dir beim Anziehen.“

„Hör mal, Ruth …“, begann Liam.

„Nein, hör du mal, Liam. Ich weiß ja, dass du mir nur helfen willst, aber du kannst nicht einfach mein ganzes Leben umkrempeln. Seit Stans Tod wohne ich schon sehr lange allein, und daran will ich auch jetzt nichts ändern. Komm doch einfach heute Abend um sechs wieder vorbei, dann kannst du mit mir zum Samstagabend-Bingo in die Residenz fahren. Ich habe gerade eine Glückssträhne, und letzte Woche konnte ich leider nicht hin.“ Sie stützte sich auf ihren Gehstock.

Als Liam zu Natalie sah, zuckte die bloß mit den Schultern. „Wie du meinst, Ruth“, sagte er.

Die alte Frau murmelte leise vor sich hin, während sie aus der Küche ging.

„Ich habe sie wohl zu sehr bedrängt, oder?“, sagte er schließlich zu Natalie.

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