Verdacht: Liebe

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Erst küsst Bryce sie heiß, dann ist er wieder ganz der kühle Detective. Hält er Mari etwa für schuldig? Dabei hat sie nichts aus dem Krankenhaus gestohlen! Warum glaubt er ihr nicht - wo er sie scheinbar genauso begehrt wie früher, als sie ein glückliches Paar waren?


  • Erscheinungstag 23.09.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753290
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Was tut der denn hier?“

Mari Bingham zog sich die Handschuhe aus und funkelte den Detective an, der sie durch die Glasscheibe hindurch anstarrte. Selbst hier in der Entbindungsklinik, deren Direktorin sie war, schien er sie zu beschatten. Hätte er nicht seine goldene Dienstmarke gehabt, hätte sie ihn längst wegen Belästigung angezeigt.

„Er will Sie sprechen.“ Die junge Frau am Empfang senkte die Stimme, und ihre Miene war besorgt. „Ist alles in Ordnung, Dr. Bingham?“

„Natürlich, Heather. Alles bestens.“ Mari rang sich ein Lächeln ab. Sie war um zwei Uhr morgens in die Klinik gerufen worden, und jetzt war es mitten am Vormittag. Auch wenn sie die Direktorin war, kümmerte sie sich noch immer persönlich um Patientinnen. Das Glück, einem gesunden Baby auf die Welt zu helfen, war den versäumten Schlaf mehr als wert, aber diese Entbindung hatte lange gedauert. Außerdem hatte sie ein paar schwierige Wochen hinter sich.

Mari beschloss, Detective Collins zur Rede zu stellen, aber nicht hier, nicht jetzt und erst recht nicht ohne vorher eine Dosis Koffein zu sich genommen zu haben.

Auf der Suche nach anständigem Kaffee war sie direkt aus dem Entbindungszimmer hergekommen, ohne sich frisch gemacht zu haben. Sie musste schlimm aussehen – das Gesicht blass und glänzend, das Haar zerzaust, der hellgrüne Overall verschmutzt und zerknittert.

Aus Erfahrung wusste sie, dass weder ein sorgfältiges Make-up noch ein gepflegtes Outfit ihre Laune verbessern würden. Der Mann verfolgte sie mit der Verbissenheit eines Raubtiers, das Beute gewittert hatte. Und das seit Wochen.

Trotz der Gerüchte, deren Gegenstand sie war, weigerte Mari sich strikt, die Rolle des Opfers zu spielen. Sie wollte, dass die Ermittlung abgeschlossen, der wahre Schuldige gefasst und ihr guter Ruf wiederhergestellt wurde.

„Bitte bringen Sie den Detective in mein Büro“, sagte sie zu Heather, während dieser gerade beinahe über ein Kleinkind gestolpert wäre, das einen winzigen Einkaufswagen durch den Warteraum schob. „Ich werde in einer Minute dort sein.“

Mari war es egal, wie lange er schon auf sie gewartet hatte. Sie brauchte jetzt dringend einen Kaffee und einen Bagel und konnte nur hoffen, dass vom Frühstück noch etwas übrig war. Seit gestern Abend hatte sie keinen Bissen mehr zu sich genommen.

Sollte Heather sich doch seiner Einschüchterungstaktik aussetzen. Es wäre für das Mädchen eine gute Übung.

Auf dem Weg nach hinten unterdrückte Mari ein Gähnen. Es war kein Wunder, dass sie nicht gut geschlafen hatte. Selbst in den wenigen Nächten, in denen bei ihren Patientinnen keine Wehen einsetzten, machte sie kaum ein Auge zu. Die Frage, wer in der Klinik Betäubungsmittel stahl und ihr die Schuld dafür in die Schuhe schob, rieb sie langsam, aber sicher auf. Das Letzte, was sie heute brauchte, war ein weiterer Besuch von Bryce Collins.

Sie wusste, dass er schon vor langer Zeit aufgehört hatte, sie zu lieben. Aber war er noch immer so nachtragend, dass er sie ins Gefängnis bringen würde – für etwas, das sie nicht getan hatte?

Detective Collins hatte Mari durch die Glasscheibe hindurch beobachtet. Er sah, wie die junge Frau mit dem blau gefärbten Haar ihr erzählte, dass er auf sie wartete. Als er aufstand, traf sein Blick sich mit Maris. Selbst mit gestrafften Schultern wirkte sie zutiefst erschöpft.

Lag es nur an ihrem Beruf? Ärztin und Geburtshelferin zu werden war ein Ziel gewesen, bei dem er sie nicht unterstützt hatte. Im Gegenteil, als sie beide noch jünger gewesen waren, hatte Bryce alles getan, um sie davon abzubringen. Offenbar zahlte sie jetzt den Preis für ihre Entscheidung.

Natürlich konnten auch die Ermittlungen – seine Ermittlungen – dafür verantwortlich sein. War es das schlechte Gewissen, das sie nachts nicht schlafen ließ? Empfand sie Mitleid mit den Opfern des Medikamentenmissbrauchs, oder war es nur die Angst, als Drogenhändlerin überführt zu werden, die sie nicht so strahlen ließ, wie sie es sonst immer zu tun schien?

Seine eiserne Entschlossenheit, Antworten zu bekommen, war der Grund dafür, dass er jetzt schon eine komplette Stunde auf sie gewartet hatte. Umgeben von plappernden Müttern, zappelnden Babys und weinerlichen Kleinkindern, von denen eins gerade einen zermatschten Keks auf Bryce’ Hose geschmiert hatte.

Hätte er die Wahl, würde er lieber einen Verdächtigen durch eine dunkle Gasse voller Pitbulls verfolgen.

Anstatt ihn zu sich zu winken, ging Mari wieder davon. Fast hätte er zwei kleine Kinder umgerannt, als er ihr leise fluchend nacheilte.

Das Klemmbrett an die Brust gepresst, baute sich die blauhaarige Angestellte vor ihm auf, während Mari um eine Ecke verschwand. Bryce beherrschte sich und warf einen Blick auf das Namensschild der jungen Frau.

„Heather, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Dr. Bingham sprechen muss“, sagte er mit einem gequälten Lächeln.

„Sie sollen in ihrem Büro warten. Ich bringe Sie hin. Dr. Bingham wird gleich bei Ihnen sein.“

Bisher hatte ihm dieser Tag nur den Keks am Knie eingebracht. „Großartig“, erwiderte er verärgert. „Es ist ja nicht so, als hätte ich Besseres zu tun.“

Unter dem Silberring an Heathers gepiercter Braue wurden die schwarz umrandeten Augen groß. Mit einem trotzigen Schnauben drehte sie sich auf dem Absatz um, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Dieser Fall erregte viel zu viel Aufmerksamkeit, und da er in Merlyn County aufgewachsen war, erkannte man ihn natürlich. Heute ignorierte er die neugierigen Blicke der Patientinnen und die tadelnden Mienen des Personals und konzentrierte sich auf seinen Job.

Die Sekretärin öffnete die Tür zum Zimmer der Direktorin und trat ein. Heathers frostiges Gesicht taute nicht auf, aber eigentlich passte ihre Miene ganz gut zum eisblauen Haar.

„Sie können hier warten“, sagte sie. „Möchten Sie einen Kaffee?“

Was immer sie hier in der Klinik servierten, konnte nur besser sein als das ungenießbare Gebräu in der Polizeistation. Eine Sekunde lang war er versucht, das Angebot anzunehmen, aber er durfte sich durch nichts ablenken lassen.

„Nein danke“, murmelte er.

Mit der Hand auf dem Türknauf zögerte Heather. Offenbar befürchtete sie, dass er in Maris Unterlagen schnüffeln wollte. Erst als er sich vor den Schreibtisch setzte und sein Notizbuch aus der Jacke holte, ging sie hinaus.

Leider war die Loyalität ihrer Mitarbeiter kein Beweis für Dr. Marigold Binghams Unschuld. Tatsache war, dass jemand aus der Klinik Orcadol stahl und das starke Schmerzmittel auf der Straße an Drogenabhängige verkaufte. Weil Bryce Mari schon so lange kannte, konnte er kaum glauben, dass sie etwas so Verbrecherisches tun würde. Aber als Detective bei der Polizei von Merlyn County hatte er die Pflicht, jene Spur zu verfolgen, die unerbittlich in ihre Richtung führte.

Er rieb sich die Wange. Wegen eines anderen Falles hatte er im Morgengrauen aufstehen müssen und war nicht dazu gekommen, sich zu rasieren. Manchmal stank ihm sein Job wirklich.

Sheriff Remington wurde immer ungeduldiger. Erst heute Morgen hatte er um einen Bericht gebeten, aber Bryce hatte noch keinen Erfolg vermelden können.

Im Laufe seiner Karriere hatte er immer wieder gesehen, welchen Schaden Drogen anrichteten. Zerstörte, verschwendete Leben. Beschaffungskriminalität. Auseinandergerissene Familien. Entwurzelte Kinder. War es wirklich möglich, dass jemand wie Mari, die einen Eid geschworen hatte, Leben zu retten, dazu beitrug, die Süchtigen mit Orcadol zu versorgen? Mit Orchidee, wie es auf der Straße genannt wurde?

Bryce überraschte nichts mehr. Gier war ein starkes Motiv, und man munkelte, dass Mari dringend Geld brauchte, um ihr Lieblingsprojekt, ein biomedizinisches Forschungslabor, zu verwirklichen. Die Frage war, wie weit würde sie dafür gehen?

Er hatte keine Wahl. Er musste seine persönlichen Bedenken vergessen und sie so behandeln wie jeden anderen Verdächtigen. Besser, er tat es als Hank Butler, der zweite Detective von Merlyn County. So würde sie wenigstens nicht das Opfer einer schlampigen Ermittlung, fragwürdiger Methoden oder gar gefälschter Indizien werden.

„Dr. Bingham auf die Neugeborenenstation. Dr. Bingham, bitte!“

Mari stand in der Tür ihres Büros, als sie die Durchsage hörte. Bryce hatte den Kopf gehoben und sah ihr entgegen.

„Entschuldige, aber ich muss ins Krankenhaus“, sagte sie. Milla Johnson, eine der Hebammen, hatte ihr vorhin von einer ihrer Patientinnen erzählt.

Die junge Frau war erst in der vierundzwanzigsten Woche und hatte stechende Schmerzen. Milla hatte äußerst besorgt geklungen.

„Bleib hier!“, sagte Bryce, bevor sie sich umdrehen konnte. „Ich habe lange genug gewartet.“

„Offenbar nicht, Detective“, erwiderte sie. „Ich bin zurück, sobald ich kann.“ Sie ignorierte seinen gemurmelten Fluch und eilte über den Korridor zum Verbindungsgang zwischen der Klinik und dem Krankenhaus.

Es gab eine Zeit, da hatte er sich strikt geweigert, auf sie zu warten, also war es nur fair, dass er sich jetzt in Geduld üben musste.

Bryce ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, blätterte in seinen Notizen und wünschte, er hätte den Kaffee nicht abgelehnt. Er nahm das Handy heraus, erledigte ein paar Anrufe und marschierte im Büro auf und ab wie ein Bär im Käfig. Nach einer Weile ging er nach vorn, um zu fragen, wie lange Mari noch brauchen würde.

Statt Heather saß jetzt eine ältere Frau am Empfang.

„Ist Dr. Bingham schon aus dem Krankenhaus zurück?“

„Ich fürchte, nicht“, erwiderte sie mit einem Blick auf die Dienstmarke, die Bryce ihr vor die Nase hielt. „Eine unserer Patientinnen ist wegen verfrühter Wehen auf die Intensivstation gebracht worden. Dr. Bingham wird dort gebraucht.“

Bryce sah auf die Uhr. „Schätze, ich hole mir etwas in der Cafeteria“, murmelte er. „Wenn Sie Dr. Bingham sehen, sagen Sie ihr, dass ich sie suche.“

Falls die Frau den Grund dafür ahnte, so ließ sie es sich nicht anmerken. „Das werde ich, Detective. Lassen Sie sich Ihr Essen schmecken.“

Als er nach einem halbwegs anständigen Frikadellen-Sandwich mit Pommes frites in die Klinik zurückkehrte, trat Bryce wieder an den Empfangstresen.

„Dr. Bingham ist noch im Krankenhaus, aber Sie können gern dort warten“, sagte die Sekretärin. „Nehmen Sie einfach den Durchgang dort.“

Bryce dankte ihr und schlug den Weg ein, den sie ihm beschrieben hatte. Er musste verhindern, dass Mari ihm auswich, wenn sie fertig war. Der Sheriff hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er Ergebnisse sehen wollte, wenn er sich das nächste Mal nach dem Stand der Ermittlungen erkundigte.

„Verdammt, wäre es doch nur noch ein oder zwei Wochen dort geblieben, wo es war“, murmelte Mari traurig, als sie das Neugeborene betrachtete.

Es war so früh zur Welt gekommen und angesichts der vielen unterentwickelten Organe nicht lebensfähig gewesen. Das Team hatte alles versucht, aber das Ende war schnell gekommen.

Maris Hals war von den Tränen, die sie nicht weinen durfte, wie zugeschnürt. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr und gab endgültig auf. „Ich danke allen“, sagte sie leise.

Milla schluchzte. Ein Assistenzarzt fluchte, ein Kollege ging wortlos hinaus und ließ die Tür hinter sich zufallen.

Mari achtete nicht darauf. Bevor sie ihren eigenen Gefühlen freien Lauf lassen durfte, gab es noch etwas zu tun.

„Die Eltern müssen informiert werden“, sagte sie zu Milla und sah der jungen Hebamme in die Augen, als würde sie ihr damit Kraft geben können. „Traust du dir das zu?“

„Ja.“ Milla blinzelte heftig.

Mari nickte ihr zu und ging voran. Die Eltern hofften noch immer auf ein Wunder, das ihren Sohn retten würde. Wie oft hatte sie Menschen wie ihnen die traurige Nachricht überbringen müssen, die ihnen das Herz brach?

Das Krankenhaus und die Geburtsklinik, die ihre Großmutter gegründet hatte, verfügten nicht über das, was nötig war, um in solchen Fällen Leben zu retten. Was Merlyn County in Kentucky daher dringend brauchte, war das neue Forschungszentrum, das Mari so sehr am Herzen lag.

An der Tür zum Entbindungsraum blieb sie stehen und sah Milla an.

„Okay?“, fragte sie. Natürlich würde sie sofort eingreifen, wenn die Hebamme zu aufgewühlt war. Die Eltern brauchten Trost und Unterstützung, keine Tränen. Davon würden sie selbst genug haben.

„Ja.“ Millas Augen waren trocken, die Stimme leise, aber fest.

Mari ließ ihr den Vortritt, atmete tief durch und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie, dass Bryce mit verschränkten Armen an der gegenüberliegenden Wand des Korridors lehnte. Offenbar hatte er sie beobachtet. Wie eine Katze eine Maus, dachte sie wütend.

Ihre Blicke trafen sich, und Mari wurde heiß. Sie wusste, dass ihm ihr Moment der Schwäche nicht entgangen war, und ließ ihm eine stumme Warnung zukommen, bevor sie Milla folgte und die Tür hinter sich zumachte.

Die Frau hatte sich im Bett aufgesetzt, der Ehemann hielt ihre Hände in seinen. Mrs. Jenkins’ Gesicht war gerötet, die Augen verquollen, doch als sie die beiden Frauen sah, erhellte sich ihre Miene ein wenig.

Sie brachte ein mattes Lächeln zustande. „Wie geht es unserem Jungen?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Es tut mir so leid“, erwiderte Milla sanft. „Wir haben alles getan, was wir konnten, aber er war einfach noch zu schwach. Er hat es nicht geschafft.“

Der Rest ihrer Erklärung ging in Mrs. Jenkins’ lautem Schluchzen unter.

Draußen auf dem Korridor wartete Bryce ungeduldig darauf, dass Mari herauskam. Er fragte sich, wie lange sie ihm noch aus dem Weg gehen wollte.

Hinter der geschlossenen Tür ertönte ein lang gezogener, klagender Laut, der ihn zusammenzucken ließ. Offenbar musste bei der Entbindung, zu der Mari gerufen worden war, etwas schiefgegangen sein.

Kein Wunder, dass sie so grimmig ausgesehen hatte. Vermutlich hatte sie ihn gar nicht wahrgenommen.

Bei mehr als einer Gelegenheit hatte er einer Familie mitteilen müssen, dass ein Angehöriger Opfer eines Unfalls oder Verbrechens geworden war. Es war nie leicht.

Bryce hatte immer angenommen, dass Ärzte, genau wie Cops, die Fähigkeit entwickeln mussten, sich gegen die tragischen Seiten ihres Berufs zu immunisieren. Maris Fell musste so dick wie eine Betonwand sein, wenn sie es fertigbrachte, einerseits mit dem Leid der Menschen umzugehen und andererseits Drogenabhängige mit Orchidee zu versorgen.

Entschlossen biss er die Zähne zusammen. Wenn sie schuldig war, würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um sie vor Gericht zu bringen.

Mari wusste aus trauriger Erfahrung, dass das, was Milla und sie gerade den entsetzten Eltern erklärt hatten, auf taube Ohren stieß. Schon nach den ersten Worten der Hebamme hatten die beiden aufgehört, ihr zuzuhören, und versucht, den Schock zu verarbeiten. Erst später würden sie unzählige Fragen stellen, um mit den Vorwürfen fertig zu werden, die sie sich – vermutlich zu Unrecht – machten.

Mari überließ es Milla, sie zu trösten, und schlüpfte leise hinaus. Bryce lauerte noch immer auf sie, aber im Moment war sie viel zu erschüttert, um sich mit ihm abzugeben. Äußerlich ruhig, wütete sie innerlich gegen ein grausames Schicksal, das Eltern erst ein Kind schenkte und es ihnen sofort wieder entriss.

Bryce stieß sich von der Wand ab, als sie in die andere Richtung eilte. „Dr. Bingham!“

Sie ignorierte ihn.

„Mari! Warte.“

„Nicht jetzt“, rief sie über die Schulter.

Zu ihrem Erstaunen hielt er sie nicht auf.

Sie verschwand in ihrem Büro, schloss die Tür, lehnte sich dagegen und ließ endlich den Tränen freien Lauf. Nach einer Minute bekam sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle, nahm sich den Karton mit Papiertüchern vom Schreibtisch und trocknete sich das Gesicht ab. Wenn sie weinte, lief ihre Nase immer rot an, und die Haut wurde fleckig. Ihre Augen sahen vermutlich aus, als hätte sie seit drei Tagen nicht mehr geschlafen, also würde sie sich noch eine Weile verstecken.

Es klopfte. Bevor sie antworten konnte, ging die Tür auf und Bryce streckte den Kopf herein. „Bist du okay?“

„Verschwinde“, fauchte sie.

Anstatt zu gehorchen, trat er ein und machte die Tür hinter sich zu. „Wir müssen reden.“

War er blind oder nur gleichgültig?

Mari griff nach dem Telefon. „Ich rufe den Sicherheitsdienst an“, warnte sie.

Die Drohung beeindruckte Bryce nicht. Er hatte schon gefährlichere Gegner gehabt als eine unbewaffnete Frau mit einer Hand voll zerknüllter Taschentücher. Es war der Anblick ihren tränenfeuchten braunen Augen, der ihn wie angewurzelt stehen ließ.

„Bitte, Mari.“ Er streckte die Hand aus.

Sie zögerte, und er nutzte seine Chance. Er ging zu ihr, legte die Arme um sie und schob ihren Kopf unter sein Kinn. Als er den Duft ihres Shampoos einatmete, blitzten unwillkommene Bilder in ihm auf. Hastig wehrte er sich gegen die Erinnerungen und seine spontane Reaktion darauf.

Maris schlanker Körper erstarrte, die Handflächen an seine Brust gepresst. Mit angehaltener Luft wartete er darauf, dass sie sich losriss, doch stattdessen seufzte sie und sank zusammen. Bevor sie zu Boden gleiten konnte, nahm er sie auf die Arme.

Es schockierte ihn, wie wenig sie wog. War seine Ermittlung daran schuld?

Sie hielt sich an ihm fest wie ein kleines Kind und schluchzte leise. Er fühlte, wie ihre Brüste sich an ihm rieben, und schloss die Augen, um sich diesen Moment einzuprägen.

Was fiel ihm ein? Er war im Dienst. Sie war eine Verdächtige und er hier, um sie zu befragen, nicht, um sie an sich zu drücken und es auch noch wie ein Teenager zu genießen.

Sein stummer Tadel an die eigene Adresse half nicht.

„Psst, Baby“, murmelte er und ignorierte seinen rasenden Puls. „Es ist gut.“

Ihr Kopf zuckte hoch. Die dunklen Wimpern waren verklebt, die Augen gerötet, die Haut darunter wächsern.

Als sie die Lippen öffnete und einen Protestlaut von sich gab, wurde sein Mund trocken. Er musste schlucken. Sie starrten einander an. Keiner bewegte sich. Verzweifelt suchte er nach einem überzeugenden Argument, warum es eine schlechte Idee wäre, sie zu küssen. Eine sehr, sehr schlechte Idee.

„Ich finde, du solltest mich jetzt loslassen“, sagte sie plötzlich.

„Natürlich.“ Vorsichtig stellte er sie auf die Füße.

Sofort ging sie hinter den Schreibtisch und nahm mit ordentlich gefalteten Händen Platz.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte sie kühl, als wäre nichts Weltbewegendes passiert.

Bryce war wütend auf sich. Wie hatte er sich nur so gehen lassen können? Seine Berufserfahrung sagte ihm, dass er ihre Erschöpfung ausnutzen sollte – nicht als Mann, sondern als Detective. Er durfte ihr keine Zeit lassen, sich wieder in den Griff zu bekommen.

„Du wirst mich zur Polizeistation begleiten müssen“, erwiderte er und versuchte, nicht in ihre dunklen, verwundet blickenden Augen zu schauen. „Es gibt ein paar Fragen, die ich dir zu den aus deiner Klinik gestohlenen Medikamenten stellen muss.“

2. KAPITEL

Mari brauchte einen Moment, um zu verarbeiten, was Bryce gerade gesagt hatte. Noch vor wenigen Sekunden hatte sie geglaubt, dass er sie küssen wollte.

„Ich soll was?“, fragte sie empört.

„Hör zu, Mari …“, begann er.

„Und was ist mit meinen Patientinnen? Ich habe Termine und Verpflichtungen. Ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen, nur weil du mit den Fingern schnippst.“

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, und an der Wange zuckte ein Muskel. „Es tut mir leid, aber ich bin schon viel zu lange hier.“ Er richtete den Zeigefinger auf sie. „Du hast die Wahl. Entweder du bittest jemanden, dich zu vertreten, oder du verschiebst deine Termine. Ich habe lange genug auf dich gewartet. Du wirst mitkommen.“

Ihr war, als hätte er ihr eine Schlinge um den Hals gelegt. Ihr stockte der Atem. Sie konnte kaum sprechen.

„Bin ich etwa festgenommen?“, krächzte sie. Sie hätte es vorhersehen und sich bei einem Anwalt über ihre Rechte informieren sollen.

Wie konnte Bryce sich so schnell aus einem menschlichen Wesen in einen Robocop verwandeln? Warum hatte er sie erst getröstet, um sie dann in Handschellen abzuführen?

Er sah aus, als hätte ihre Frage ihn tatsächlich überrascht. „Nein, ich nehme dich nicht fest. Ich möchte dich nur ungestört vernehmen.“

Wie aufs Stichwort läutete das Telefon. Aus Gewohnheit wollte sie nach dem Hörer greifen, hielt jedoch inne. „Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet“, sagte sie. „Mich zu befragen wäre reine Zeitverschwendung. Ich habe dir bereits erklärt, dass ich nichts über die verschwundenen Medikamente weiß. Warum glaubst du mir nicht?“

„Vielleicht weißt du mehr, als du ahnst.“ Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, aber er hatte es immer verstanden, seine Gefühle vor ihr zu verbergen.

„Sollte ich meinen Anwalt anrufen?“, fragte sie und legte ihre zitternden Hände in den Schoß, damit er sie nicht sehen konnte.

Er beugte sich vor. „Brauchst du denn einen Anwalt?“

Mari zog die Schublade auf und nahm ihre Handtasche heraus. Dann starrte sie auf das Telefon. Würde er es als Eingeständnis von Schuld werten, wenn sie seine Frage bejahte?

„Ich habe nichts zu verbergen.“

„Natürlich nicht.“

„Ich muss dafür sorgen, dass jemand mich vertritt.“ Sie würde Milla anrufen. Auf deren Diskretion konnte sie sich verlassen.

Er nickte. „Sag einfach, dass du uns ein paar Hintergrundinformationen über Orcadol liefern sollst.“

Mari ließ die Hebamme ausrufen und trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch, während sie wartete.

„Wie geht es Mr. und Mrs. Jenkins?“, fragte sie, als Milla sich endlich meldete.

„Der Krankenhausgeistliche ist jetzt bei ihnen.“

„Das ist gut.“ Rasch erklärte Mari, was Milla für sie tun sollte.

„Ist es, weil du mit Dr. Phillipe befreundet bist? Können sie ihn denn nicht einfach testen, wenn sie nicht glauben, dass er keine Drogen mehr nimmt?“

Ricardo Phillipe war ein Mediziner, der bei der Entwicklung von Orcadol mitgewirkt hatte. Außerdem half er ihr bei der Planung des neuen Forschungszentrums.

Nach einem Autounfall, bei dem er schwer verletzt wurde und seine Frau und kleine Tochter umgekommen waren, hatte er ein Drogenproblem gehabt und schließlich die Zulassung als Arzt verloren.

Mari drehte sich von Bryce’ bohrendem Blick fort. „Ich bin sicher, darum geht es nicht.“ Sie senkte die Stimme noch weiter. „Ich kann jetzt nicht darüber sprechen.“

„Natürlich nicht“, sagte Milla. „Kann ich sonst noch etwas tun? Soll ich jemanden anrufen?“

„Nein, nicht nötig. Wir reden später.“ Mari wusste, dass Milla loyal war. Beim Rest des Personals war sie sich da nicht so sicher. Nicht mehr.

Und was sollten ihre Patienten denken, wenn sich herumsprach, dass man sie zum Verhör abgeführt hatte? Was war mit den wenigen Investoren, die sich noch nicht vom Forschungsprojekt zurückgezogen hatten? Würde sie das Geld dafür noch auftreiben können?

Mari hatte erst kürzlich eine PR-Direktorin aus New York eingestellt, um den Ruf der Klinik zu verbessern. Lily Cunningham würde einen Anfall bekommen, wenn sie davon erfuhr! Auch die Tatsache, dass sie zufällig in Maris Vater verliebt war, würde sie nicht gnädiger stimmen. Lily gehörte zu den Besten ihrer Branche, aber selbst sie konnte keine Wunder vollbringen.

Mari legte auf, nahm die Handtasche, schob den Sessel zurück und hoffte inständig, dass ihre wackligen Beine sie tragen würden.

„Wir können gehen“, sagte sie zu Bryce.

Auf der Fahrt zur Polizeistation, die im Gerichtsgebäude von Merlyn County untergebracht war, versuchte Bryce gar nicht erst, mit Mari zu plaudern. Und als er davor hielt, stieg sie aus, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und ging die Stufen zum Eingang hinauf. Seine Beine waren länger als ihre, also holte er sie rechtzeitig ein, um ihr die schwere Glastür zu öffnen.

Dann legte er eine Hand um ihren Ellbogen. Sie erstarrte, ließ es jedoch geschehen. Vielleicht hatte sie mehr Angst, als sie zeigte. Die meisten Menschen waren in einer solchen Situation nervös, mit ihrer Schuld oder Unschuld hatte das nichts zu tun.

Autor

Pamela Toth
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