Verführt um Mitternacht

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So sah Abbys Plan nicht aus:19:00 Uhr: Verlasse die exklusive Weihnachtsfeier, die du organisiert hast, und begib dich auf die Suche nach deinem attraktiven neuen Kunden Leo Cartwright, der leider seiner eigenen Party fern bleibt.19:10 Uhr: Finde Leo schlafend und halbnackt in seiner luxuriösen Hotelsuite. Und wecke ihn … mit einem Kuss!19:30 - 23:59 Uhr: Versuche gar nicht erst, das erotische Intermezzo zu vergessen. Es funktioniert sowieso nicht!Mitternacht: Brich all deine Vorsätze, als Event-Planerin Beruf und Vergnügen strikt zu trennen. Eine ganze Nacht lang …


  • Erscheinungstag 08.12.2015
  • Bandnummer 0025
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707248
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als sich die Türen des Fahrstuhls mit einem leisen Summen öffneten, schüttelte Abby kurz den Kopf, um das leichte Schwindelgefühl loszuwerden, das sie bei dem rasanten Aufstieg erfasst hatte – dreißig Stockwerke in drei Sekunden. Dann betrat sie das Foyer der luxuriösen Penthouse-Suite in Londons neuestem Hotel am Themse-Ufer.

„Hallo?“, rief sie, wobei ihre Stimme in der Stille des Apartments ungewöhnlich laut klang. Als sie keine Antwort bekam, versuchte sie es noch einmal. „Mr Cartwright? … Leo? … Irgendjemand zu Hause?“

Immer noch nichts.

Sie runzelte leicht die Stirn, durchquerte das Foyer und registrierte auf ihrem Weg ins Wohnzimmer kaum den flauschig dicken Teppich, in dem ihre Absätze versanken, oder die eleganten taubengrauen Wände zu beiden Seiten. Ein kurzer Blick genügte, um festzustellen, dass auch das riesige, schick eingerichtete Wohnzimmer leer war – genauso wie die Küche, der Wäscheraum, die Bibliothek, das Homekino, das Fitnessstudio und das Arbeitszimmer.

Wenn es nicht ihre Mission gewesen wäre, den Mann aufzutreiben, der sich hier befinden sollte, und ihn daran zu erinnern, dass unten eine Party in vollem Gange war – eine Party, auf der er anwesend sein sollte –, dann hätte Abby sich vermutlich von der Eleganz und dem Luxus dieses Penthouse blenden lassen.

Doch so hatte sie weder Zeit noch Muße, die Einrichtung zu bewundern oder sich große Gedanken um die halb leere Flasche Whisky zu machen, die samt umgekipptem Glas auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer stand. Wichtig war einzig und allein, dass Leo Cartwright in diesem Augenblick unten sein sollte. Sie war hier, um ihn zu holen.

Wenn sie ihn denn fand.

Noch immer im Arbeitszimmer, legte Abby ihr Klemmbrett ab und stellte aus Gewohnheit das Glas auf einem Untersetzer ab, der unter einem Buch hervorlugte. Dann schob sie die auf dem Tisch verstreuten Papiere zu einem ordentlichen Stapel zusammen.

Trotz Jakes Versicherung, dass sein Bruder definitiv hier oben sei, ließ die Stille daran zweifeln.

Also gut, sie hatte noch nicht im Schlaf-und Badbereich der Wohnung nachgeschaut, aber das würde sie auch ganz sicher nicht tun. Es war schon unangenehm genug, dass sie unaufgefordert Leos Apartment betreten hatte, und auch wenn Jake behauptete, für alle Konsequenzen die Verantwortung zu übernehmen, zog sie doch eine Grenze, wenn es um die Schlafzimmer ging. Die würde sie nicht ohne Erlaubnis betreten.

Sie setzte sich auf die Schreibtischkante, holte ihr Handy aus der diskreten kleinen Tasche hervor, die in ihren Gürtel eingenäht war, und scrollte so weit hinunter, bis sie Jakes Nummer gefunden hatte. Dann drückte sie den Anruf-Knopf, wartete ein paar Sekunden und sagte, nachdem er sich gemeldet hatte: „Jake, hier ist weit und breit nichts von ihm zu sehen.“

„Was, nirgendwo?“, entgegnete die tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Nicht dass ich sehen könnte. Sind Sie sicher, dass er hier oben ist?“

„Zu neunundneunzig Prozent. Er war dort, als ich zuletzt mit ihm gesprochen habe. Wo haben Sie nachgeschaut?“

„Überall …“, erwiderte sie und fügte nach einer Sekunde hinzu, „nun ja, zumindest überall bis auf die Schlafzimmer.“

Es entstand eine Pause, während er jemandem frohe Weihnachten wünschte und ihn anwies, sich ein Glas Champagner zu nehmen, dann war er wieder zurück. „Warum haben Sie nicht in den Schlafzimmern nachgesehen?“

„Weil es mir wie ein Eindringen in die Privatsphäre Ihres Bruders vorkommt“, versetzte sie wie aus der Pistole geschossen.

„Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass Sie irgendetwas unterbrechen würden“, entgegnete Jake nun hörbar ungeduldig. „Es ist sieben Uhr abends, und außerdem hat Leo schon seit Jahren keine Frau mehr im Bett gehabt.“

Was wesentlich mehr Information war, als sie brauchte – schon gar nicht in Bezug auf einen Kunden. „Trotzdem finde ich, dass …“

„Hören Sie, Abby“, unterbrach Jake ihren Protest im besten Ich-bin-der-Kunde-und-kann-verlangen-dass-Sie-tun-was-ich-sage-Tonfall, „ich muss diese Rede halten, und die Leute fragen sich bereits, wo Leo steckt. Also würden Sie jetzt bitte nachschauen, ob Sie ihn finden?“

Abby erkannte, dass sie diese Schlacht nicht gewinnen würde, und gab nach. Immerhin war es nicht das Schlimmste, was in den zehn Jahren, die sie nun als Event-Planerin arbeitete, von ihr verlangt wurde. Die Cartwright-Brüder zahlten ihr eine Menge Geld, um sicherzustellen, dass der Abend glatt verlief, und wenn das hieß, dass Leo Cartwright aufgestöbert werden musste, würde sie genau das tun. Egal wo er war und was er gerade tat.

Was war schon dabei, dass er den Ruf genoss, einschüchternd, rücksichtslos und völlig emotionslos zu sein? Er konnte auch nicht schwieriger zu handhaben sein als so manch anderer Kunde, den sie bereits gehabt hatte.

„Sicher“, erwiderte sie kurz. „Kein Problem.“

„Danke“, sagte Jake und beendete das Gespräch.

Abby verstaute das Handy wieder im Gürtel und stieß sich von der Schreibtischkante ab. Rasch glättete sie ihr Kleid, richtete den Gürtel so, dass die Tasche exakt über ihrem linken Hüftknochen saß, griff nach ihrem Klemmbrett und machte sich auf den Weg. Wenn sie ihr Auftauchen nur laut genug ankündigte, würde sie sicher in keine unangenehme Situation hineingeraten.

„Hallo, hallo“, rief sie betont fröhlich und steckte den Kopf zur Tür des ersten makellosen, aber leeren Schlafzimmers hinein, ehe sie zum nächsten ging. „Irgendjemand zu Hause?“, zwitscherte sie, doch Leo Cartwright war auch im nächsten Raum nicht zu finden.

Genauso wenig wie in dem umwerfenden Badezimmer, das mindestens so groß wie das Erdgeschoss in ihrem Haus war. Vermutlich war das ganz gut so.

Damit blieb nur noch ein Zimmer übrig.

Als sie vor der Tür stand, die vermutlich zum Haupt-Schlafzimmer führte, zögerte sie und lauschte erst einmal nach irgendwelchen Geräuschen, die darauf schließen ließen, dass er gerade mit etwas beschäftigt war, was sie lieber nicht stören sollte.

Zum Glück hörte sie nichts. Also klopfte sie an die leicht geöffnete Tür und trat, nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hatte, ein.

Und dort war er.

Gott sei Dank allein. Er lag flach auf dem Rücken, quer über dem Bett, nackt bis auf ein dünnes weißes Laken, das gefährlich weit heruntergerutscht war und ihn nur noch von der Taille bis zur Mitte der Oberschenkel bedeckte. Die Nachttischlampe tauchte ihn in ein sanftes Licht.

Im ersten Moment wusste Abby nicht, was sie tun sollte. Was schon komisch war, denn sie hatte normalerweise immer einen Plan. Schließlich musste sie in ihrem Job auf alles gefasst sein.

Doch als sie ihn jetzt ansah, konnte sie aus irgendeinem Grund ihren Blick nicht von ihm losreißen. Sie bekam einen ganz trockenen Mund, ihr Herz klopfte viel zu schnell, und sie schien keinen klaren Gedanken fassen zu können.

Vage war sie sich bewusst, dass sie zu ihm gehen, ihn wach rütteln und ihm sagen sollte, dass er zu spät zur Party kam. Da sie aber selbst manchmal unter Schlaflosigkeit litt, wollte sie ihn am liebsten schlummern lassen. Und die Frau in ihr – die seit sechs Monaten keinem Mann mehr nahegekommen war und sich jetzt deutlich bemerkbar machte – genoss es, einfach nur dazustehen und ihn nach Herzenslust betrachten zu können. Denn mit seinen breiten Schultern, dem muskulösen Oberkörper und den wohlgeformten Beinen war Leo Cartwright ein überaus verführerischer Anblick.

Doch während sie ihn bewunderte, bemerkte sie, dass er beunruhigend still war. Der starke Geruch nach abgestandenem Alkohol drang zu ihr herüber, und seine Brust schien sich überhaupt nicht zu heben und zu senken.

Da machte ihr Gehirn endlich klick. Oh Gott, was wenn er aus irgendeinem schrecklichen Grund gar nicht schlief?

Abby eilte auf das Bett zu, sank auf die Knie und beugte sich über ihn. Mit rasendem Herzen starrte sie auf seinen Mund. Strengte ihre Ohren an. Wartete. Lauschte …

Und nach ein paar quälenden Sekunden hörte sie das leise Einatmen. Sie blickte nach unten und sah den schwachen Puls am Übergang von Hals und Nacken.

Er war nicht tot. Natürlich nicht. Er war nur völlig weggetreten. Dem Himmel sei Dank! Abby schaute zwar für ihr Leben gern Krankenhausserien, aber sie hatte keine Ahnung von Erster Hilfe. Nur dass man keine Mund-zu-Mund-Beatmung mehr machte, wusste sie.

Was eine Schande war, denn jetzt, wo sie ihn nach Lebenszeichen untersucht hatte, sah sie, dass er einen verdammt verführerischen Mund hatte. Sinnlich. Sexy.

Genauso wie der Rest seines Gesichts, dachte sie und ließ den Blick über seine Züge wandern. Es war ein charakterstarkes Gesicht. Umwerfend. Und im Schlaf hatte er nichts Kaltes, Emotions- oder Rücksichtsloses an sich. Er sah warm aus. Sanft. Verlockend. Wie zum Küssen geschaffen.

Ob es daran lag, dass sie gerade einen Heidenschrecken bekommen hatte, oder daran, dass sie schon so lange mit keinem Mann mehr zusammen gewesen war, konnte sie nicht sagen. Auf jeden Fall wünschte sie sich in diesem Moment mit aller Macht, sich vorzubeugen und ihn zu küssen.

Sie hätte es vermutlich auch getan, wenn sie in diesem Augenblick nicht zur Besinnung gekommen wäre. Abby zuckte zurück, als hätte jemand sie mit einem glühend heißen Eisen berührt. Oh Gott, sie hatte tatsächlich angefangen, sich vorzubeugen!

Was zur Hölle war nur los mit ihr? War sie etwa komplett verrückt geworden?

Leo Cartwright war ein Kunde. Sogar einer ihrer größten bis jetzt. Was, wenn er aufgewacht wäre und bemerkt hätte, wie sie sich über ihn beugte, um ihn zu küssen? Er wäre entsetzt gewesen. Aufgebracht. Und zu Recht. Vermutlich hätte er sie gefeuert. Ihr Ruf wäre dahin gewesen, ihre Karriere ruiniert. Schweiß, Blut und Tränen, die sie investiert hatte, völlig umsonst.

Abby schauderte. Mein Gott, sie wagte gar nicht, daran zu denken! Alles, wofür sie gearbeitet hatte. Perdu. Wegen einer Nanosekunde völligen Wahnsinns.

Doch es war noch einmal gut gegangen, beruhigte sie sich und holte tief Luft, um die jäh aufgetretene Übelkeit zu vertreiben. Es war knapp gewesen, aber sie hatte sich noch rechtzeitig zusammengerissen, ehe er aufwachte.

Abby sammelte sich, straffte die Schultern und suchte seinen Oberkörper nach einer guten Stelle ab, an der sie ihn anstoßen konnte. Sie dachte nicht darüber nach, wie es sich anfühlen würde, ihre Finger über seine Brust gleiten zu lassen, seinen Bauch. Vielleicht ihren Mund der Spur folgen zu lassen, hinunter zum Laken und dann tiefer …

Sie blinzelte und riss ihren Blick ruckartig nach oben. Sein Arm war okay. Genau. Sie spreizte die Finger, beugte sich vor und tippte seinen Bizeps kurz an.

„Mr Cartwright“, murmelte sie, wobei ihre Stimme ungewohnt heiser und seltsam verführerisch klang. „Leo.“

Er grummelte und bewegte sich leicht, wachte aber nicht auf. Abby erinnerte sich an die Whiskyflasche im Arbeitszimmer und fragte sich, wie viel er getrunken hatte. Sie räusperte sich, legte ihre Hand flach auf seine Schulter, ignorierte die Hitze seiner Haut, die festen Muskeln – und wiederholte seinen Namen. Diesmal laut und kein bisschen verführerisch. Dann schüttelte sie ihn so heftig, dass ein Elefant davon wach geworden wäre.

Es funktionierte. Leo Cartwright stieß ein so heftiges Knurren aus, dass sie beinahe auf den Po gefallen wäre. Erst schlug er um sich, dann schoss er ruckartig in die Höhe.

Als Abby gerade glaubte, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte, rutschte das Laken zur Seite.

Ganz automatisch wanderte ihr Blick zu seinen halb entblößten und – oh Himmel! – sehr erregten Lenden. Sie kreischte entsetzt, schlug eine Hand vor die Augen und dachte nur: Keine unangenehme Situation? Von wegen!

Vor einer Sekunde hatte Leo noch geschlafen. Das wusste er. Jetzt war er wach. Das wusste er auch. Was an sich schon eine Schande war, denn er hatte diesen absolut fantastischen Traum gehabt, in dem eine verführerische Frau, die nach Blumen duftete und die sich über ihn beugte, seinen Namen hauchte und sich anschickte, ihn zu küssen.

Doch etwas hatte ihn gestört. Hatte dafür gesorgt, dass er sich kerzengerade aufrichtete, während sein Puls raste und das Adrenalin durch seine Adern schoss.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. Was zur Hölle war passiert?

Leo blinzelte einmal, zweimal, rieb sich mit dem Handrücken die Augen und versuchte, zu sich zu kommen. Im nächsten Moment erstarrte er. Er strengte die Ohren an, denn, warte mal, was war das?

Es klang wie ein Ausatmen. Zu seiner Linken. Leise, verhalten, so als wolle die Person nicht, dass er es hörte. Es endete in einem Seufzer, einem Wimmern oder vielleicht auch in einem Stöhnen.

Leo ließ die Hände sinken und drehte den Kopf blitzschnell herum. Beinahe hätte er einen Fuß in die Luft gereckt, denn neben dem Bett saß eine Frau – die eine Hand vor die Augen geschlagen, die andere an die Brust gepresst. Sie war schlank, rotblond und trug ein dunkelblaues Kleid mit einem silbernen Gürtel um die Taille. Unbekannt, ungebeten und offensichtlich genauso schockiert wie er.

Als er an sich herabblickte und sah, welch dramatischen Effekt sein Traum auf ihn gehabt hatte – was vermutlich der Grund war, warum sie die Augen bedeckte –, schnappte sich Leo das Laken und zog es blitzschnell über seinen Schritt.

„Wer in aller Welt sind Sie?“, fauchte er.

„Abby Summers“, antwortete sie rasch, heiser.

Der Name sagte ihm gar nichts, aber das war vermutlich nicht verwunderlich, denn im Moment konnte er ohnehin nur daran denken, dass er nackt war und nicht allein. „Was machen Sie in meinem Schlafzimmer?“

„Ich suche nach Ihnen.“

„Auf den Knien?“

„Lange Geschichte“, erwiderte sie. „Nicht wichtig.“

Ach nein? Wer weiß. Leo konnte im Moment nicht klar denken, geschweige denn entscheiden, was in dieser Situation vielleicht wichtig war oder nicht. Er musste noch verarbeiten, dass sich eine fremde Frau in seinem Schlafzimmer aufhielt. Sie hockte auf dem Boden, die Augen bedeckt, keuchte sie leise, und er fragte sich unvermittelt, in was sich das Keuchen verwandeln würde, wenn er ihr vorschlug, sich zu ihm ins Bett zu gesellen, anstatt daneben zu knien. Was so völlig untypisch für ihn war, so absolut unpassend und verrückt, vor allem angesichts seiner sonstigen Selbstbeherrschung, dass es jeder, der ihn kannte, nicht geglaubt hätte.

„Wie sind Sie reingekommen?“, fragte er. Es schockierte ihn, wie sehr er sich wünschte, sie zu packen und unter sich zu begraben, wo er doch nicht mal wusste, wer sie war oder warum sie sich in seinem Zimmer befand. Verdammt, dieser Traum musste sich für einiges verantworten.

„Mit dem Fahrstuhl.“

„Der ist gesperrt.“

„Ihr Bruder hat mir seine Schlüsselkarte gegeben.“

Sein Bruder? Was? Jetzt verstand er gar nichts mehr. Leo rieb sich mit der Hand über das Gesicht. „Jake hat Ihnen die Karte gegeben?“

„Ja.“ Sie nickte, worauf das Licht ihr Haar golden aufleuchten ließ – nein, kupfern; nein, golden – und er sich unwillkürlich fragte, wie es sich anfühlen würde, seine Finger durch die dicken Strähnen gleiten zu lassen. Waren sie so seidig und weich, wie sie aussahen? Wie viele Wörter gab es, um ihre Farbe zu beschreiben?

Schnell rief Leo sich zur Ordnung. „Warum?“

„Damit ich hochfahren und nach Ihnen suchen kann, natürlich“, sagte sie, als wäre damit alles klar. Was es nicht war.

Doch bei der Erwähnung seines Bruders erinnerte er sich an etwas aus ihrer letzten Unterhaltung. Langsam lichtete sich der Schleier der Verwirrung, und alles wurde klar.

Die Jahreszeit.

Seine Stimmung.

Sein Bruder hatte etwas von einem Geschenk für ihn gemurmelt.

Offensichtlich hatte Jake sein Versprechen gehalten, und deshalb wusste Leo ganz genau, wer Abby Wer-auch-immer war und weshalb sie sich in seinem Schlafzimmer befand.

„Richtig“, murmelte er. Ihm war noch nicht ganz klar, was er von der Idee seines Bruders halten sollte. „Ich verstehe. Sie sind hier, um mich aufzuheitern.“

Es entstand eine Pause, in der er beobachtete, wie sich ihr Mund öffnete, dann schloss und schließlich wieder öffnete, um ein konsterniertes „Was?“ auszustoßen.

„Jake sagte mir, dass er mir etwas raufschicken würde, was dafür sorgen würde, dass ich mich besser fühle“, erklärte er knapp. „Und hier sind Sie – verpackt wie ein Geschenk. In meinem Schlafzimmer. Förmlich in meinem Bett. Also, wer sind Sie? Jemand, der ihm einen Gefallen schuldet? Eine seiner Exfreundinnen, die alles für ihn tun würde? Oder eine Professionelle?“

2. KAPITEL

Im ersten Moment konnte Abby nichts sagen. Nichts tun. Sie war völlig sprachlos.

Hatte er wirklich gerade gesagt, was sie glaubte, dass er gesagt hatte? Angedeutet, was sie glaubte, dass er angedeutet hatte? Meinte er tatsächlich, dass sie hergeschickt worden war, um ihn zu verführen? Auf professionelle Weise? Beauftragt von seinem Bruder?

Sie war absolut schockiert. Also gut, er wusste nicht, wer sie war – zu den Meetings war immer nur Jake erschienen, der das Gesicht der Firma darstellte, während Leo sich bewusst im Hintergrund hielt, und soweit sie wusste, war er viel unterwegs gewesen – aber mal ganz ernsthaft? Kannte er ihren Namen nicht? Hatte er keine ihrer E-Mails gelesen? Und war das generell die Art und Weise, wie sein rasiermesserscharfer Verstand arbeitete?

Abby vergaß, weshalb sie ihre Augen bedeckt hatte und ließ die Hand sinken.

Und wünschte sich sofort, sie hätte es nicht getan. Wenn er schon in völlig weggetretenem Zustand beeindruckend war, so raubte er ihr jetzt schier den Atem. Leo Cartwright strahlte so viel Energie und Anspannung, so viel Präsenz aus.

Nicht dass er wirklich auf eine Antwort gewartet hätte. Nein. Er machte das Ganze noch schlimmer, indem er sie nun auch noch zu mustern schien. Langsam ließ er seinen Blick über sie gleiten – von den Augen über ihren Mund zu den Brüsten und tiefer. Jeden Zentimeter ihres Körpers schien er mit Blicken abzutasten.

Und sie sollte verdammt sein, aber ihr Körper reagierte doch tatsächlich darauf! Tief im Inneren spürte sie, wie Verlangen in ihr erwachte – heiß, berauschend und in so vielerlei Hinsicht völlig unpassend, dass sie nicht wusste, wen sie abstoßender fand: sich selbst oder ihn.

„Nun?“, hakte er schließlich nach und hob dabei eine Augenbraue.

„Ich bin nichts von alledem“, erwiderte sie scharf und fügte in Gedanken ein Du widerlicher Vollidiot! hinzu. Ihre Achtung für ihn, die angesichts der Erfolge, die er und sein Bruder erzielt hatten, verdammt hoch gewesen war, sank ins Bodenlose.

„Nein?“

„Definitiv nicht.“

„Nun, wer immer Sie sind“, erklärte er knapp, „Sie sind umsonst hierhergekommen, denn ich bin nicht interessiert.“

Und peng, eine weitere Beleidigung!

Abby schluckte schwer. Was war das, was sie da fühlte? Enttäuschung? Das konnte nicht sein. Schmerz? Auf keinen Fall! Wut? Ja, definitiv. Das war es.

Sie biss die Zähne zusammen, versuchte eine Antwort zu formulieren, die sie nicht ihren Job kostete, griff nach ihrem Klemmbrett und stand auf.

„Genau genommen“, sagte sie und setzte dabei ein kühles Lächeln auf, „bin ich hier in professioneller Funktion. Nur nicht in der, die Sie meinen.“

„Oh?“

„Ich bin Event-Planerin“, betonte sie. Dann fügte sie hinzu: „Ihre Event-Planerin. Und Sie bezahlen mir eine Menge Geld für dieses Privileg. Insofern hat das Ganze rein gar nichts mit einem ‚Geschenk‘ zu tun.“

„Meine Event-Planerin“, wiederholte er mit einem leichten Stirnrunzeln, so als wäre es verdammt schwer, diese Information zu verarbeiten.

„Ihre und die von Jake“, stellte sie klar. Ihre nächsten Worte hätten die Sahara gefrieren lassen können. „Und nur für den Fall, dass wir uns immer noch nicht verstehen: Die Veranstaltung, die ich organisiert habe, ist Ihre Weihnachts-Schrägstrich-Zehnjähriges-Firmenbestehen-Party, die gerade unten stattfindet. Die Party, bei der Sie anwesend sein sollten. Um Ihren Mitarbeitern für die harte Arbeit zu danken, die sie in diesem Jahr geleistet haben. Um Ihren Erfolg zu feiern. Und um generelle Feierlaune zu verbreiten.“

Sein Kiefer spannte sich an, die Augen verengten sich, und sie fand, dass sie noch nie jemanden gesehen hatte, der weniger in Feierlaune zu sein schien als er, aber das war nicht ihr Problem.

„Wie spät ist es?“, fragte er.

„Sieben.“

Laut fluchend fuhr er sich durchs Haar. Abby richtete ihren Blick ganz bewusst auf sein Gesicht, um das Muskelspiel seines Oberkörpers nicht mal für eine Sekunde zu beobachten. „Ich habe verschlafen“, murmelte er und runzelte dabei die Stirn.

Wenn er es so formulieren wollte, bitte schön. Es war seine Sache, wenn er es in Ordnung fand, sich zu betrinken und darüber seine Pflichten zu vergessen. „Ganz offensichtlich“, sagte sie.

„Es war eine lange Nacht“, erwiderte er mit einem schwachen entschuldigenden Lächeln, das sie in keiner Weise besänftigte. „Und ein noch längerer Tag. Plus ein ziemlich schlimmer Jetlag.“

„Das geht mich nichts an“, versetzte sie. „Was mich allerdings etwas angeht, ist die Tatsache, dass in einer halben Stunde das Dinner serviert wird und die Gäste sich bereits fragen, wo Sie stecken, weshalb mich Jake ja auch hochgeschickt hat, um Sie zu suchen.“

Er nickte und rieb sich mit der Hand über das Kinn. „Ich verstehe.“

„Tun Sie das?“, fragte sie ein wenig spitz, denn es gab eine Menge Dinge, die er in den vergangenen zehn Minuten nicht verstanden hatte. „Nun, das ist großartig. Und jetzt, wo ich Sie gefunden habe, mache ich mich auf den Weg.“

Sie warf ihm ein knappes, professionelles Lächeln zu und drehte sich um. Sie musste hier wirklich raus, ehe sie noch etwas sagte oder tat, was sie später bereuen würde. Allerdings blieb sie wie angewurzelt stehen, als er „Warten Sie!“ rief.

„Was?“ Abby wirbelte herum. Sein Lächeln war so gefährlich attraktiv, dass ihr ganz heiß wurde. Erneut konnte sie nur daran denken, wie gern sie ihn küssen würde.

„Ich schätze, ich bin Ihnen eine Entschuldigung schuldig.“

Sie blinzelte, weil diese Kehrtwende sie völlig überrumpelte, dennoch gelang es ihr, das Lächeln aufrechtzuerhalten. „Angenommen.“

„Ich war völlig daneben. Habe nicht klar denken können. Habe noch halb geschlafen.“

„In Ordnung“, sagte sie. „Vergessen Sie’s. Ich habe es schon. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden – ich muss zurück zur Party. Jake sage ich, dass Sie in – was, zehn Minuten – unten sein werden?“

Leo fuhr sich erneut durchs Haar und zog dabei eine Grimasse. „Aus irgendeinem Grund scheine ich wie eine Destillerie zu riechen“, bemerkte er trocken. „Sagen Sie lieber in zwanzig Minuten.“

Zwanzig Minuten mochten reichen, um den abgestandenen Whisky-Geschmack aus dem Mund zu spülen und das Verlangen, das Abby in ihm entfacht hatte, zu ersticken, aber sie reichten nicht aus, um herauszufinden, was zur Hölle in seinem Schlafzimmer mit ihm los gewesen war.

Leo zog die Ärmel seines Hemds unter dem Jackett glatt, straffte die Schultern und betrat den Fahrstuhl, während ihn erneut die Erinnerungen an die vergangene halbe Stunde überfielen.

Hatte er ihr wirklich vorgeworfen, eine Prostituierte zu sein? Hatte er tatsächlich geglaubt, dass Jake so etwas organisieren würde? Und hatte er sie nicht nur von oben bis unten begutachtet, sondern sogar für einen verrückten, völlig wahnwitzigen Moment, in dem ihn diese unerklärliche Lust übermannte, in Erwägung gezogen, ein Angebot anzunehmen, das gar nicht bestand?

Was war nur los mit ihm?

Leo wünschte sich, die ganze peinliche Szene aus seinem Gedächtnis löschen zu können. Wenn er bei halbwegs klarem Verstand gewesen wäre, dann hätte er ihre Erklärung abgewartet, hätte ihr zumindest die Möglichkeit gegeben, etwas zu sagen, ehe er voreilige Schlüsse zog. Er hätte ihr Klemmbrett früher bemerkt und wäre vermutlich zu einer ganz anderen Schlussfolgerung gekommen.

Aber er hatte nicht klar gedacht. Oder rational. Genau genommen hatte er überhaupt nicht nachgedacht. Zumindest nicht mit dem Kopf. Den Großteil ihrer Begegnung hatte er mit einem ganz anderen Körperteil gedacht.

Wenn er sich jetzt an das Bild von Abby erinnerte, wie sie dagestanden hatte, mit wunderschönen, funkelnden blauen Augen, herrlich anzuschauen in ihrer Empörung, dann breitete sich erneut Hitze in ihm aus, sein Puls beschleunigte sich, und er wurde hart.

Deshalb verbannte Leo das Bild resolut und dachte an die eiskalte Dusche, die er gerade genommen hatte. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, beschloss er, auch den Rest der Episode in seinem Schlafzimmer zu vergessen, denn wie in aller Welt sollte er den Abend überstehen, wenn er sich ständig daran erinnerte, wie sehr er sie in sein Bett zerren wollte?

Er knöpfte sein Dinnerjackett zu und ging in die Richtung, aus der die Partygeräusche kamen, während er sich um die eiserne Kontrolle bemühte, die er normalerweise für selbstverständlich hielt.

Dann trat er durch die Flügeltür, die in den Partyraum führte, in dem Drinks und Fingerfood serviert wurden.

Bei dem Geräuschpegel, der ihm entgegenschlug, zuckte er beinahe zusammen. Als ein Kellner an ihm vorbeiging, schnappte er sich ein Glas Champagner vom Tablett und beabsichtigte, es in einem Zug zu leeren, um die demütigende Begebenheit in seinem Schlafzimmer zu vergessen.

„Schön, dass du es doch noch geschafft hast“, ertönte eine amüsierte Stimme zu seiner Linken, worauf er sich an seinem Champagner verschluckte.

„Vielen Dank dafür“, hustete Leo, während sein Bruder ihm kräftig auf den Rücken klopfte.

„Tut mir leid“, sagte Jake, klang dabei jedoch keineswegs reumütig. „Was hat dich aufgehalten?“

„Jetlag“, murmelte er. „Hat mich regelrecht ausgeknockt.“

„Ah, ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Dachte, du würdest der Party absichtlich fernbleiben.“

„Warum sollte ich das tun?“

„Du hasst Partys.“

Das stimmte zwar, aber: „Das hier ist keine Party“, entgegnete er, „es gehört zum Job.“

„Versuch mal, das den Gästen zu erzählen.“

Leo, der die Hälfte des Champagners verschüttet hatte, tauschte sein Glas gegen ein neues, nahm einen langen Schluck und versuchte, sich zu fokussieren. „Wie läuft es?“, fragte er und ließ seinen Blick über die unzähligen Leute schweifen, die aßen und tranken und ganz von der Weihnachtsstimmung beseelt waren, die er so schwer aufbringen konnte. Er erkannte Mitarbeiter, Kunden, Architekten, Bauplaner und Finanziers unter den Gästen. Ganz bewusst suchte er nicht nach einer gewissen schlanken rotblonden Event-Planerin.

„Ziemlich gut so weit.“ Jake griff nach einem Mini-Yorkshirepudding. „Dank Abby“, fügte er hinzu. „Die du kennengelernt hast, wie ich vermute.“

„Ja, das habe ich“, erwiderte Leo, der sich darüber ärgerte, dass er doch nach ihr Ausschau hielt. Eigentlich sollte sie ihm nicht mal in den Sinn kommen.

„Was hältst du von ihr?“

Er hielt sie für atemberaubend. Sexy. Heiß, sehr heiß. „Dazu kann ich nichts sagen. Wir haben uns nur ganz kurz getroffen“, antwortete er fest. „Warum?“

Jake wischte sich die Finger an einer Serviette ab und grinste. „Nur so.“

„Was hältst du denn von ihr?“, fragte Leo, ehe er sich davon abhalten konnte.

„Sie ist fantastisch. Extrem kompetent. Sie weiß genau, was benötigt wird, hat ein unglaubliches Talent, Probleme zu lösen, ohne großes Trara zu machen, und besitzt auch noch die Fähigkeit, das Budget nicht zu überziehen. Außerdem ist sie Single und wahnsinnig heiß.“

Leo spürte, wie er sich verspannte, doch nach außen zeigte er eine Nonchalance, die er nicht fühlte. „Ist sie das? Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Eine weitere Lüge. Und wie es ihm aufgefallen war!

Jake grinste. „Nein, natürlich nicht. Ein Dutzend nackte Frauen könnte vor dir herumstolzieren, und dich würde es kaltlassen, nicht wahr?“

„Ich bin subtiler.“

„Im Gegensatz zu mir, weshalb ich sie nachher fragen werde, ob sie mit mir tanzen möchte.“

„Tu das“, erwiderte Leo, der es gerade so schaffte, nicht mit den Zähnen zu knirschen.

„Auch wenn es mich nicht wundern würde, wenn sie Nein sagen würde.“

„Warum?“

Als Jake nicht gleich antwortete, schaute Leo zu ihm herüber und stellte fest, dass sein Bruder ihn forschend musterte. „Was zur Hölle ist da oben passiert?“

Autor

Lucy King
Lucy King lebte schon immer am liebsten in ihrer eigenen Welt, inmitten der bunten Liebesgeschichten von Mills & Boon. Bereits in der Schule schrieb sie lieber über glorreiche Helden und die Magie der Liebe, anstatt Mathematikaufgaben zu lösen. Ihrem ganz persönlichen Helden begegnete sie eines Morgens während eines einsamen Spaziergangs...
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