Verführung auf Burg Kells

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"Nehmt mich und verschont meinen Sohn!" Entschlossen baut sich die aufreizende Lady Ebony vor dem Ritter Sir Alex auf. Gemeinsam mit seinen Plünderern hat er Burg Kells eingenommen - und eine rassige Geliebte wie sie kommt ihm gerade recht. Fortan frönen sie Nacht für Nacht der Leidenschaft und schon bald schlägt Alex‘ Herz nur noch für die schöne Lady. Doch wird er für sie je mehr als ein ruchloser Eroberer sein?


  • Erscheinungstag 15.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758769
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Galloway, Schottland 1319

Der weiche Waldboden dämpfte das Klappern der Hufschläge, als sich die Reiterschar bei Sonnenaufgang der Burg näherte, die Sir Alex Somers und seine Soldaten am Abend vom anderen Seeufer her entdeckt hatten. Castle Kells’ trutzige Mauern auf einem hohen Felsen, rosig schimmernd im Abendrot, hatten sich im glatten Wasser des Sees gespiegelt. Durch ihre vortreffliche Lage war die Burg an zwei Seiten durch senkrechte Felswände unbezwingbar, an der Rückseite wurde die Anlage von hohen bewaldeten Bergen gegen Wind und Wetter geschützt. Die schmale Talsenke unterhalb der Festung säumten saftige Weiden, wo dunkle Ponys grasten. Aus den strohgedeckten, dicht gedrängten Holzhäusern des Dorfes stieg blauer Rauch in den Morgenhimmel. Bereits in Rufweite zur Siedlung, aber gut versteckt hinter hohen Fichten und dichtem Unterholz, hatten die Männer Posten an einem Wildbach bezogen, der über Gesteinsbrocken plätscherte und sich in einiger Entfernung rauschend in ein ausgewaschenes Felsbecken ergoss.

„Hier warten wir“, sagte Alex zu seinem Gefährten, „und verstecken uns unter den Bäumen. Er wird vermutlich bald zurück sein.“ Durch seinen weichen Dialekt des schottischen Tieflands klangen seine Worte wie eine harmlose Feststellung, nicht wie eine Drohung.

Sein Gefährte, Hugh of Leyland, nicht ganz so hoch gewachsen und breitschultrig, aber geschmeidig wie eine Wildkatze, wischte sich Tannennadeln von dem verwaschenen braunen Wams und hakte den ledernen Wasserbeutel vom Gürtel. Er war mit dem Vorschlag einverstanden, wollte jedoch vor dem Einsatz noch ein paar Einzelheiten klären.

Er nahm einen Schluck Wasser und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Er hat einen Sohn, sagst du?“

„Hatte“, antwortete Alex knapp. „Er kam bei einem Überfall vor ein paar Jahren ums Leben. Aber er hat einen kleinen Enkelsohn.“

„Und dieser Enkel lebt hier bei Sir Joseph?“

„Soviel ich weiß, ja.“ Alex’ Blick wanderte zum Burgtor und suchte den einsamen Weg davor ab, der sich im dichten Wald verlor.

Die Freunde waren ein eindrucksvolles Paar, zwei bärenstarke Männer, die einander sehr gut kannten, Kampfgefährten, die sich gelegentlich in freundschaftlichen Balgereien derbe Knüffe versetzten, den anderen freilich auch bis zum letzten Blutstropfen verteidigt hätten – nicht anders als ihre Gefolgsleute, die stumm hinter ihnen warteten. Sir Alex Somers, mit einunddreißig Jahren im besten Mannesalter, war von kraftvoller Statur, breitschultrig, mit mächtigem Oberkörper und markanten Gesichtszügen, ein Ritter, der mancher schönen Maid in ihren heimlichen Träumen sehnsüchtige Seufzer entlockte. Dichte, haselnussbraune Locken fielen ihm in die hohe, kühne Stirn und kringelten sich an seinem sehnigen Nacken. Seine Augen leuchteten blau wie der Sommerhimmel, wenn auch weniger unschuldig.

„Das könnte uns nützlich sein“, meinte Hugh sinnend. „Wir nehmen den Kleinen als Köder oder um Lösegeld zu fordern. Jeder Großvater ist in seinen krähenden Enkel verschossen. Hat der Junge eine Mutter?“

„Gewöhnlich haben Kinder eine Mutter, Hugh.“

„Ich finde es heraus. Überlasse das getrost mir.“

Alex konnte sich für die Überlegungen des Freundes nicht recht erwärmen, da er, nach allem, was er über den Burgherrn in Erfahrung gebracht hatte, befürchtete, Sir Joseph Moffat of Castle Kells in Galloway gehöre zu der Sorte Männer, die ohne Gewissensbisse ihr eigen Fleisch und Blut opferten, um ihre Ziele durchzusetzen. Er war der Friedensrichter in dieser Region, Besitzer ausgedehnter Ländereien, Pferdezüchter und ein Plünderer, Gauner und Dieb, wobei diese Liste nur seine harmloseren Charakterzüge aufzählte. Jedenfalls war Sir Joseph kein Mann, den sein Gewissen schlecht schlafen ließ. „Ich fürchte, darauf sollten wir uns nicht zu sehr verlassen“, entgegnete Alex skeptisch. „Ein Kerl wie Moffat lässt sich nicht so schnell einschüchtern, er ist ein alter Fuchs und mit allen Wassern gewaschen.“

Hugh stand gegen einen Baumstamm gelehnt und beobachtete den Freund, der am Ufer des Wildbachs entlang schlenderte. Ein Mann, der sich in der Wildnis undurchdringlicher Wälder ebenso zu Hause fühlte wie an den vornehmen Fürstenhöfen Europas. Hugh war seit neun Jahren bei ihm, ebenso lange wie jeder andere der hundert Mann starken Kampftruppe. Er war zwei Jahre jünger als Alex, mit hellbraunem Lockenkopf, athletisch gebaut, mit lustig blitzenden Augen, und er war sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst; auch ihm konnte keine widerstehen.

Alex ging in die Hocke und spähte in den Abgrund, dann gab er Hugh ein Zeichen, sich gleichfalls anzuschleichen und still zu sein.

Hugh kroch neben ihn. „Was gibt’s?“, flüsterte er neugierig.

Der Wildbach plätscherte zwischen bemoosten Steinen und bildete im weiteren Verlauf einen rauschenden Wasserfall, weiß aufsprühend, der sich in ein Felsbecken ergoss. Auf dem gegenüberliegenden felsigen Ufer lagen sorgsam gefaltete Kleiderbündel. Helles Frauenlachen übertönte das Tosen des Wasserfalls und zauberte ein verwegenes Lächeln in die Gesichter der beiden Männer.

„Ein Mädchen!“, sagte Alex.

„Zwei Mädchen. Sieh nur … Wir haben Glück.“

Während Hugh sprach, hangelten sich glänzende rosige Arme an der flachen Felsplatte hoch, dann erschienen zwei dunkle Köpfe, an denen Haare wie glänzende Helme klebten, gefolgt von nassen Schultern, Rücken und langen Beinen. Zwei Frauengestalten zogen sich am Fels hoch, schüttelten sich wie nasse Hunde, und die Tropfen sprühten glitzernd in der Morgensonne. Sie setzten sich, ließen die Füße ins Wasser hängen und drehten ihre Haare, wrangen das Wasser aus und warfen die dicken Stränge über die Schultern. Zwei Frauengestalten, die den heimlichen Betrachtern ein märchenhaft schönes Bild ihrer Nacktheit boten. Wassertropfen perlten von makellos junger heller Haut, funkelnd wie Diamanten in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Zwei goldene Seejungfrauen in ihrem verwunschenen Versteck.

„Nun sieh dir das an“, raunte Alex. „Allein dieser Anblick hat den anstrengenden Ritt gelohnt. Ob sie in der Burg wohnen?“

„Mit Sicherheit“, antwortete Hugh. „Verdammt, Alex. Bleibt uns so viel Zeit?“

„Dummkopf. Du weißt genau, dass dazu keine Zeit ist. Niemand darf uns sehen. Sieh dir nur die Schwarzhaarige an. Atemberaubend!“ Er pfiff leise durch die Zähne. „Was für eine Figur. Und das Gesicht, schön wie ein Engel.“

„Ich bin mehr für die Kleinere, sie ist wie eine reife Kirsche. Für Bauernmädchen oder Wäscherinnen aus dem Dorf sind sie zu hübsch und unbeschwert, es könnten Näherinnen sein, die auf der Burg leben.“ Die Freunde verfielen in andachtsvolles Schweigen und verfolgten, getarnt hinter den ausladenden Fächern eines Farnstrauches, gebannt jede Einzelheit der prachtvollen Szene. Als sie eine Bewegung hinter sich spürten, stellten sie fest, dass ein paar ihrer Gefolgsleute gleichfalls nach vorne gekrochen waren, denen bei dem herrlichen Anblick beinahe die Augen aus den Höhlen traten.

Bald standen die jungen Frauen auf, um ihre Kleider zu holen. Hätte eine den Blick zum Felsvorsprung über dem Wasserfall erhoben, hätte sie ihr andächtig staunendes Publikum entdeckt. Wie auf ein stummes Kommando suchten die Zuschauer Deckung und huschten lautlos wie die Schatten zu ihren Pferden zurück. Es dauerte eine Weile, ehe ein Wort gesprochen wurde.

„Das nenne ich einen Tagesbeginn so recht nach meinem Sinn“, sagte Alex schließlich. „Hoffentlich bist du nach diesem Erlebnis noch fähig, deine Pflichten ordentlich zu erfüllen.“

Hugh schmunzelte. „Vielleicht treffen wir die zwei auf der Burg wieder.“

„Dafür bleibt uns keine Zeit, mein Freund. Die Männer verstecken ihre Frauen bei einem Überfall. Aber die Schwarzhaarige hätte ich mir gern ein bisschen näher angesehen, angezogen oder nackt. Nun ja, wir werden sehen.“ Er spähte in die schräg einfallenden Lichtbündel der höher steigenden Sonne. „Lass die Männer aufsitzen und versteckt euch tiefer im Wald, Hugh. Ein Mann soll den Weg zum Burgtor im Auge behalten. Es wird nicht mehr lange dauern. Wir alle wissen, was wir zu tun haben, wie?“

„Und ob“, entgegnete Hugh und stellte den Fuß in den Steigbügel. „Was für ein herrlicher Morgen, um eine Burg zu erstürmen.“

Von Lady Ebony Moffats Gemach im obersten Stockwerk von Castle Kells hatte man einen weiten Blick über den See, obgleich die Öffnungen in den meterdicken Steinmauern kaum breiter waren als Schießscharten. Die Ausgucke an drei Wänden bildeten keilförmige Fensterbänke, die mit weichen Polstern belegt waren. Eine andere Nische war durch einen Vorhang zu einer Kleiderkammer abgeteilt. In einer weiteren Einbuchtung war eine Tür eingelassen, die zu einer steilen Wendeltreppe in die unteren Stockwerke führte.

Die weichen Polster waren selbstverständlich nicht dazu gedacht, dass der kleine Sam Moffat darauf herumhüpfte, ebenso wenig wie die schmalen Fensteröffnungen dazu geeignet waren, den Kopf hindurchzuzwängen, um mit gerecktem Hals zum Burgtor und dem Weg dahinter zu spähen. Nachdem der Ruf des Wächters die Rückkehr des Großvaters angekündigt hatte, stellte Sam zu seinem Leidwesen fest, dass es schwieriger war, den Kopf wieder einzuziehen als ihn durch die Öffnung zu stecken. Der kleine Junge bekam es mit der Angst zu tun. „Mama!“, quietschte er. „Ich stecke schon wieder fest!“

Seufzend beschloss Lady Ebony, ihrem Söhnchen diesmal eine Lehre zu erteilen und ihn zappeln zu lassen, nachdem sie ihm schon hundertmal verboten hatte, den Kopf aus der Maueröffnung zu stecken. Sie nahm ihr blaues wollenes Schlupfkleid vom Bett, streifte es über den Kopf und zog es über dem langen Untergewand aus Leinen zurecht. Ihre Schwägerin Meg war bereits an der Tür. „Ich komme gleich nach, wenn ich den Kleinen befreit habe“, rief Ebony ihr zu. „Geh du schon voraus.“

„Hoffentlich kommst du allein zurecht“, meinte Meg schmunzelnd. Sams große Ohren brachten ihn immer wieder in diese Zwangslage.

Lächelnd verschnürte Ebony den Schlitz ihres Gewandes am Ausschnitt. „Du bist schließlich Sir Josephs Tochter und musst ihn begrüßen, sonst fragt er gleich wieder, was geschehen ist. Geh hinunter und zeige dich interessiert. Ich bringe Sam dann nach.“

Diesmal dauerte die Befreiung nicht so lange wie sonst. Mittlerweile hatte der Kleine gelernt, den Kopf in die beste Richtung zu drehen, um sich aus der engen Öffnung zu winden. Er verzichtete nun auch darauf, sich von seiner Mutter trösten zu lassen, da Großvater Moffat ihm gewiss etwas von seinem nächtlichen Raubzug mitgebracht hatte, in dem Sam in seiner kindlichen Unschuld so etwas wie einen Ausflug zum Jahrmarkt sah. Mit roten Ohren sprang er von der Fensterbank, und seine grauen Augen strahlten abenteuerlustig im rosigen Gesicht unter dem blonden Wuschelkopf. Drei Jahre nach dem Tod seines Vaters, dem er so verblüffend ähnlich sah, fragte Sam nur noch selten nach ihm.

Ebony hatte es aufgegeben, Sir Joseph Vorhaltungen wegen der vielen nutzlosen Geschenke für seinen einzigen Enkelsohn zu machen. Ein Pony, das er nicht reiten konnte, weil ihm niemand das Reiten beibrachte, Münzen, für die er keine Verwendung hatte, Kleidung und Spielsachen, die Kindern wohlhabender Eltern entwendet worden waren. Ihre Einwände hatte Sir Joseph mit einer unwirschen Handbewegung abgetan, und sie brachte es nicht über sich, ihrem Sohn zu gestehen, dass sein Großvater sich den Besitz anderer Leute gewaltsam aneignete. Dessen nächtliche Raubzüge führten ihn entlang der schottisch-englischen Grenze, wobei er Häuser niederbrannte, Männer tötete, das Vieh der Bauern entwendete und auf seine schottischen Weiden trieb. Sie konnte nicht erwarten, dass ein sechsjähriges Kind dieses Tun verwerflich fand, und solange sie gezwungen waren, im Haus von Sir Joseph unter seinem Schutz zu leben, war sie darauf bedacht, ihrem Sohn Respekt vor den Erwachsenen zu lehren.

Sams kindliche Schreie hallten durchs Stiegenhaus und durch die langen Flure und verloren sich bald in der großen Halle der Burganlage, die nicht nur seine Welt war, sondern auch die seiner Mutter und Tante. Es war zu gefährlich, die Mauern der Burg zu verlassen, da die Grenzregion zu beiden Seiten von Räubern und Plünderern heimgesucht wurde. In den fünf Jahren seit dem schottischen Sieg in der Schlacht von Bannockburn hatten die kriegerischen Grenzübergriffe in erschreckendem Maße zugenommen. Es gab wohl kein Gehöft, keine Kate und auch keine Wehrburg, wo nicht die Angst vor feindlichen Überfällen umging, die jetzt im Sommer, wenn die Tage länger und die Nächte kürzer wurden, allerdings seltener zu befürchten waren. Vielleicht war dies der letzte Raubzug von Sir Joseph bis zum Herbst, in dem hoffentlich ruhigere Zeiten anbrechen würden.

Ebony fühlte sich nicht gedrängt, ihren Schwiegervater zu begrüßen, ließ sich in der gepolsterten Fensternische nieder, lehnte den Kopf gegen den Fensterladen und richtete den Blick ins schwere Dachgebälk. Die Einrichtung, bestehend aus einem Tisch, zwei Stühlen mit hohen Lehnen, zwei geschnitzten Truhen und einem Baldachinbett, schuf Behaglichkeit, die Wandbehänge gaben der Kemenate Wärme und Farbe. Im offenen Kamin knisterte ein Feuer, der Rauch wurde durch einen gemauerten Vorsprung abgezogen, in dem das Wappen der Moffats eingemeißelt war. Die meisten anderen Räume der Burg waren das ganze Jahr über kalt und feucht. Ebony liebte es, sich in die behagliche Abgeschiedenheit ihres kleinen Reiches vom Lärm der Bewohner zurückzuziehen. Nein, über mangelnde Bequemlichkeit konnte sie sich nicht beklagen und wäre lieber hier oben geblieben, statt sich unten zu zeigen und gezwungen zu sein, ihre Missbilligung über das schändliche Treiben ihres Schwiegervaters hinter einem starren Lächeln zu verbergen.

Andererseits wollte sie Sam nicht allzu lange unbeaufsichtigt lassen, mahnte sich an ihre Pflicht und stand seufzend auf. Sie schüttelte die Grashalme aus einem achtlos hingeworfenen nassen Tuch und breitete es auf einer Truhe zum Trocknen aus. Dann drehte sie ihr feuchtes Haar zu einem Knoten und steckte ihn in ein golden durchwirktes Netz, das sie ohne große Sorgfalt mit Nadeln am Hinterkopf befestigte. Auf Castle Kells legte niemand viel Wert auf gepflegtes Erscheinen. Wer, abgesehen von ein paar Damen des schottischen Hochadels, kümmerte sich in diesen Krisenzeiten schon um so nichtige Dinge wie Eleganz und modischen Firlefanz? Nach einem letzten prüfenden Blick durch ihre Kemenate raffte sie die Röcke und stieg die steilen Stufen der Wendeltreppe nach unten.

Auf ihrem Weg durch die langen, schmalen Flure, nur von ein paar Fackeln in Wandhaltern erleuchtet, sah sie niemanden, und sie beschleunigte bangen Herzens ihre Schritte. Obwohl Sir Joseph mit etwa dreißig Männern losgezogen war, hätten ihr auf dem Weg zur Halle zumindest ein paar Mägde und Diener begegnen müssen. In der Fensternische, die den Burghof überblickte, stand nicht wie üblich ein Wachtposten. Sie spähte durch die Schießscharte, die so hoch angebracht war, dass sie nur den Wachturm über dem Burgtor sehen konnte, wo ein Bogenschütze im Begriff war, auf ein Ziel unten im Hof anzulegen. Bevor er den Pfeil abschießen konnte, riss er die Arme hoch und fiel hintenüber. Aus seiner Kehle ragte ein Pfeil.

„Ein Überfall!“, hauchte Ebony tonlos. „Räuber! Gott steh uns bei.“ Plünderer. Aufständische Grenzrebellen. Diebe und Mörder. Gnadenlose Zerstörer. Wie waren sie in den Burghof gedrungen? Und wo war Sam, ihr geliebter Sohn? Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Plünderer hatten ihren Robbie vor drei Jahren getötet. Sie durfte nicht zulassen, dass sie ihr nun auch den Sohn nahmen.

Mit gerafften Röcken rannte sie los, stürmte durch offene Torbögen und Treppen hinunter, bis sie die große Halle im ersten Geschoss erreichte. Atemlos, mit klopfendem Herzen stieß sie die Tür neben dem Podest mit der Hochtafel auf, die mit Silbertabletts, Löffeln und Messern zum Mahl gedeckt war. In Gruppen zusammengedrängt standen die verängstigten Burgbewohner da, bewacht von schwer bewaffneten Männern mit drohenden Mienen.

Ebony drängte sich durch die Menge, denn sie hatte nur ein Ziel vor Augen. „Lasst mich durch!“, schrie sie. „Lasst mich durch! Wo ist mein Kind? Sam!“ Ihre Schreie gellten durch die totenstille Halle. Sie kämpfte sich an Männern vorbei, die sich ihr in den Weg stellten, stieß sie mit ungeahnter Kraft beiseite, suchte verzweifelt nach Sams Kindermädchen Biddie, und ihr wilder Blick irrte über fremde und bekannte Gestalten gleichermaßen.

Am entfernten Ende der Halle in der Nähe des mannshohen Kamins, abseits von der Menge, stand eine Gruppe fremder Männer, die beim Ansturm der schreienden Frau die Köpfe wandten. Ebony entdeckte Biddies weiße Haube, dann ihr verzerrtes Gesicht. In ihrem Aufschrei lag all ihre Angst und ihr Entsetzen, ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt zu haben. „Herrin!“

Jäh wurde Ebony aufgehalten, als eine starke Männerhand ihren Arm umfing und sie herumriss. Bevor der Mann wusste, wie ihm geschah, holte sie aus und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht, ein Schlag, der in der lähmenden Stille hallte wie ein Peitschenhieb. „Lass mich los, du Grobian!“, rief sie. „Mein Kind … wo ist mein Kind?“

Die Männer traten beiseite und ließen Biddie durch. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann folgte ihr auf den Fersen, dessen Augen sich einen flüchtigen Moment vor Erstaunen weiteten. „Diesen Empfang haben wir eigentlich nicht erwartet, Hugh“, sagte er seelenruhig zu dem Mann, auf dessen linker Gesichtshälfte sich Ebonys Fingerabdrücke rot abzeichneten. „Aber ein interessanter Auftakt, wie?“

Ebony, die seine Worte nicht hörte, nahm Biddie bei den drallen Oberarmen und schüttelte sie. „Wo ist er?“, fragte sie tränenerstickt. „Was haben sie ihm angetan? Und wo ist Meg?“

Biddies Kinn bebte. Sie war noch keine zwanzig und vergötterte ihren kleinen Schützling. „Nichts … soweit ich weiß“, flüsterte sie und blickte mit großen tränenfeuchten Augen zur Tür. „Sie haben ihn in den Hof gebracht. Er ist unversehrt, Herrin.“

Doch Ebony, die wie eine Löwenmutter raste, wollte sich damit nicht zufriedengeben und rannte in blinder Hast gegen die Mauer der Männer an, die ihr den Weg zum Hof versperrten. Ihr kam nicht einmal der Gedanke zu fragen, zu bitten, sie wollte nur zu Sam, ihn beschützen, bevor ihm etwas angetan wurde.

In ihrer Verblüffung, in der schwarzhaarigen Furie eine der schönen Flussnixen zu erkennen, die ihnen seit Sonnenaufgang nicht aus dem Sinn gegangen waren, ließen Alex und Hugh sie bis zum Wachtposten an der Tür kommen, wo sie herumfuhr wie eine in die Enge getriebene Wildkatze, mit grau funkelnden Augen, als wolle sie jedem, der ihr zu nahe kam, die Augen auskratzen. „Ich will zu meinem Kind“, krächzte sie heiser. „Lasst mich sofort zu ihm.“ Die Stimme drohte ihr zu versagen.

„Der kleine Blondschopf gehört zu Euch?“, fragte der Fremde verdutzt. „Und Ihr seid …?“

„Ich bin Sir Joseph Moffats Schwiegertochter“, entgegnete sie mit schneidender Stimme. „Und wer seid Ihr, Sir? Oder ist es zu viel verlangt, Plünderer nach ihrem Namen zu fragen? Feiglinge, die sich an Frauen und Kindern vergreifen!“

„Ihr seid Engländerin!“, erwiderte er, ohne auf ihre Fragen einzugehen. „Das wird ja immer interessanter. Was hat eine Engländerin in dieser Räuberhöhle verloren?“

„Erspart Euch die Höflichkeiten und bringt mir mein Kind, und zwar sofort, wenn ich bitten darf. Was habt Ihr ihm angetan?“

„Nichts. Noch nicht.“

Die Tür zum Hof wurde aufgestoßen, und zwei Gestalten traten ein, einer auf den Schultern des anderen, wobei der oben Sitzende den kleinen Kopf einzog, um nicht gegen den Torbogen zu stoßen. Die kleinen Hände klammerten sich in dem schlohweißen Haar eines hageren Mannes fest, der ein gestepptes Wams trug; an seinem Gürtel hingen Schwert und Dolch. Sam saß rittlings auf den Schultern des Mannes, ließ die Beine über seine Schultern baumeln und lachte.

Beim Anblick seiner Mutter verstärkte sich seine Begeisterung. „Mama!“, jauchzte er. „Ich reite auf Josh. Schau nur! Ich will ihm mein Pony zeigen.“

Sie wollte zu ihm laufen und ihn von den Schultern des Weißhaarigen in ihre Arme reißen, konnte sich aber nicht aus dem Eisengriff des hochgewachsenen Mannes befreien, und Sam schenkte ihr in seiner kindlichen Begeisterung keine weitere Beachtung. Sie wusste nicht, was der Bandit neben ihr sagte, verstand nur, dass sie Sam ihre Besorgnis und Angst nicht zeigen durfte. „Ja, Liebling“, rief sie. „Bleib nicht zu lange, hörst du?“

Lachend winkte Sam ihr zu und wurde schaukelnd durch die Menge getragen zu der Tür, die zum Hof vor den Ställen führte. Ebony kämpfte mit den Tränen. „Bringt ihn nicht fort“, flehte sie mit erstickter Stimme. „Lasst mich zu ihm.“ Wieder versuchte sie, die Hand des Fremden abzuschütteln. Vergeblich. Und dann fiel die Tür nach draußen mit einem dumpfen endgültigen Schlag ins Schloss, nachdem Sam den Kopf erneut eingezogen hatte.

„Nun, Mylady. Ihr habt eine Antwort bekommen. Es ist an der Zeit, dass ich welche bekomme.“ Der Fremde, der den Blick kaum von ihr abgewandt hatte, gab sie nun frei. Sie wich zurück, scheu wie ein wildes Tier. „Sagt mir Euren Namen“, befahl er schroff.

„Ich bin Lady Ebony Moffat“, antwortete sie herrisch und wischte sich verärgert eine Träne vom Kinn. „Plünderer stellen normalerweise keine …“

„Und Euer Gemahl? Wo ist er?“

„Mein Gemahl wurde von Gesindel, wie Ihr es seid, getötet.“

„Wann?“

„Vor drei Jahren“, sagte sie leise und ließ den Kopf hängen.

Ihr schwarz glänzender Haarknoten, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten, war ihr tief in den Nacken gerutscht. Sie blickte verängstigt aus grauen Mandelaugen zu ihm auf. Ihre vollen bleichen Lippen im makellosen Oval ihres fein geschnittenen Gesichts bebten. Sie ist wunderschön, wie ein Geschöpf aus dem Elfenreich, dachte Alex fasziniert.

„Mein Schwiegervater hat uns bei sich aufgenommen. Wo ist er? Wo ist Meg?“ Nachdem der Fremde einen Blick mit dem Mann getauscht hatte, den sie geschlagen hatte, wandte er sich ihr wieder zu. Seine blauen Augen glitzerten kalt wie Eis. Er war offenbar der Anführer dieser Bande, benahm sich allerdings einigermaßen ritterlich, und seine Soldaten verhielten sich diszipliniert, nicht wie die Mordbande, die ihr Haus vor Jahren geplündert und niedergebrannt hatte. Aber das waren lediglich Äußerlichkeiten, in denen sich Banditen voneinander unterschieden, ihre mörderischen Absichten waren die gleichen.

„Sir Joseph ist verwundet“, antwortete er ungerührt, „und Eure Schwägerin kümmert sich um ihn.“ Ebony wollte zur Treppe, aber er versperrte ihr den Weg. „In seinem Gemach findet Ihr ihn nicht. Und die Frau ist unversehrt.“

Wütend versuchte Ebony ihn zur Seite zu stoßen. „Ihr habt ihm etwas angetan? Wer soll der Nächste sein? Verfluchtes Räuberpack … nehmt Euch, was Ihr wollt und zieht ab! Lasst uns in Frieden! Was wollt Ihr … unsere Vorräte … unser Vieh?“

Wieder hielt er sie mühelos in Schach. „Nicht so hastig“, entgegnete er. „Niemand verlässt die Burg, um Hilfe zu holen. Jeder Widerstand ist zwecklos. Sir Joseph ist für eine Weile außer Gefecht gesetzt. Die Burg ist in unserer Hand, die Bewohner sind unsere Gefangenen. Wir bleiben, solange es uns gefällt, dann ziehen wir mit den Geiseln ab.“

„Wollt Ihr etwa meinen Sohn als Geisel nehmen? Nicht meinen Sohn“, flehte sie.

Der Mann, den sie geschlagen hatte, zeigte keinerlei Einsicht. „Er ist der Enkel des alten Mannes“, hörte sie seine barsche Stimme hinter sich. „Enkelsöhne eignen sich hervorragend als Geiseln. Der alte Teufel wird entgegenkommender sein, wenn er weiß, dass wir den Jungen in unserer Gewalt haben, habe ich recht?“

Ebony wirbelte herum und stürzte sich auf ihn. „Schurke!“, kreischte sie. „Elender mörderischer Bandit!“

Bevor sie ihm das Gesicht zerkratzen konnte, wurde sie grob von hinten gepackt, hochgehoben und über eine breite Schulter geworfen. Der Anführer trug die wutschnaubende, wild um sich schlagende Frau wie einen Sack voll Getreide zum Podium, wo die Tafel immer noch zum Mahl gedeckt war. Einer seiner Männer hielt ihm feixend eine schmale Tür rechts daneben auf und schloss sie hinter ihm. Mit dem dumpfen Geräusch der zufallenden Tür wusste Ebony, dass ihre schlimmsten Albträume Wirklichkeit geworden waren.

In namenloser Angst, ihr Kind zu verlieren, schlug sie blindwütig um sich, biss und kratzte und trommelte mit den Fäusten auf den Rücken ihres Peinigers ein. Das Grauen verlieh ihr die Kräfte einer Irrsinnigen. Doch ihr wahnsinniger Zorn konnte dem muskulösen Körper des Mannes wenig anhaben, der sie mit Händen, Brustkorb und Schenkeln grob gegen die Steinmauer im dämmrigen Flur stieß und gefangen hielt, lediglich darauf bedacht, sein Gesicht nicht zu nahe an ihre Zähne zu bringen.

Er wartete ab, bis ihre Kräfte erlahmten und sie schließlich aufhörte, sich verbissen zu wehren. Irgendwann sah sie ein, dass ihr Widerstand zwecklos war. Tränen strömten ihr übers Gesicht, ihr Kopf fiel kraftlos nach vorn, und sie lehnte erschöpft die Stirn an sein wattiertes Wams. „Mein Sohn … mein Sohn“, stammelte sie schluchzend. „Ihr dürft ihn mir nicht wegnehmen.“

Erst jetzt bemerkte sie, dass sein muskelgestählter Körper sich an sie presste. Vielleicht war das der Grund, warum ihr plötzlich zu Bewusstsein kam, dass sie diesen Mann kaum angesehen hatte, ihn vermutlich nicht wieder erkennen würde, wenn sie ihm noch einmal begegnen würde. Mühsam hob sie den Kopf und blickte, durch ihren Tränenschleier behindert, in sein glatt rasiertes Gesicht. Er beobachtete sie gleichmütig, und als er sprach, zeigte er ebenmäßig weiße Zähne.

„Beruhigt Euch“, sagte er. „Eurem Sohn wird nichts geschehen. Aber ich brauche ihn als Geisel. Irgendwann werdet Ihr ihn wieder sehen.“

Heftig schüttelte sie den Kopf. „Nein, nicht mein Kind! Sam ist alles, was ich habe.“

„Ist er Sir Josephs einziger Enkelsohn?“

„Ja“, schluchzte sie, „und mein einziges Kind. Wenn Ihr ihn entführt, dann nehmt mich mit. Ohne mich kann er nicht sein, und ich nicht ohne ihn.“

„Ich nehme keine Frauen als Geiseln.“ Seine Stimme klang kalt und abweisend.

Was sollte sie nur tun? Der Waffenmeister hatte sie nach der Tragödie in der Handhabung eines Dolches unterwiesen, doch heute hatte sie keinen Grund gesehen, ihn bei sich zu tragen. Konnte sie den Eindringling bestechen? Ihr erfahrener Lehrmeister hatte ihr damals auch geraten, Räubern in einer ausweglosen Lage alles anzubieten, was sie besaß, um Zeit zu gewinnen, um ihr Leben zu retten. Er hatte ihr eingeschärft, jedes Mittel einzusetzen, denn das Leben sei das höchste Gut, das ein Mensch besaß. Sie hatte begriffen, wovon er sprach, ohne eine nähere Erklärung zu fordern. Sein Ratschlag war ihr damals als männliche Sicht der Dinge erschienen, nun aber empfand sie das Angebot, zu dem sie sich gezwungen sah, belanglos im Vergleich zu dem, was für sie auf dem Spiel stand. „Ich flehe Euch an … bitte. Ihr müsst es tun“, flüsterte sie und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen, um ihm begreiflich zu machen, wovon sie sprach.

„Ich muss?“, fragte er, allem Anschein nach ahnungslos. „Worauf wollt Ihr hinaus?“

„Ich will sagen“, begann sie erneut und wandte den Blick ab. „Ihr könnt …“

„Was kann ich?“

„Ihr … könnt alles von mir haben … alles, wenn Ihr mir erlaubt, bei meinem Kind zu bleiben. Ich flehe Euch an, ihn mir nicht wegzunehmen.“ Die Worte klangen fremd in ihren Ohren, als würde eine andere Person sie aussprechen. Und er schwieg so lange, dass sie daran zu zweifeln begann, ob sie die Bitte tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Es kostete sie große Überwindung, ihm wieder in die Augen zu schauen. „Es sei denn … es sei denn, Ihr wollt etwas anderes?“ Was für eine absurde Frage. Was besaß sie sonst noch, an dem ein solcher Unhold Interesse haben könnte?

Der Druck um ihre Handgelenke löste sich unvermutet, und ihre blutleeren Arme sanken kraftlos nach unten. Auch der lähmende Druck an ihrem Körper wich, als er sich aufrichtete und seine flachen Hände links und rechts von ihrem Gesicht an die Mauer legte und eine unüberwindliche Schranke bildete. Aber vermutlich hatte ihr unerhörtes Angebot ohnehin jeden Fluchtversuch unmöglich gemacht.

Ebony bemerkte die feinen Linien um seine Mundwinkel, Spuren eines harten Lebens, geprägt von Kampf und Blutvergießen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er ihr angedeutetes Angebot genau verstanden hatte, denn in seinen Augen ahnte sie seine Erfahrung mit Frauen, als er den Blick gemächlich über ihr Gesicht und ihre Gestalt wandern ließ. Falls ihn ihre Worte mit Triumph oder Verlangen erfüllten, so verbarg er diese Empfindungen meisterhaft. Aber sein Zögern bereitete ihr unerträgliche Qualen.

„Verstehe“, sagte schließlich gedehnt. „Ihr wollt also einen Handel mit mir eingehen?“ Der Blick seiner blauen Augen heftete sich schließlich auf die ihren, als suche er etwas hinter ihrem Tränenschleier.

Mutlos schalt Ebony sich töricht, auf den unsinnigen Rat des Waffenmeisters gehört und sich damit in diese überaus peinliche Situation gebracht zu haben. „Ja“, flüsterte sie bang und wandte den Blick ab. „Etwas anderes besitze ich nicht. Ich gehöre Euch, wenn Ihr mich haben wollt. Mein Leben ist wertlos ohne mein Kind. Wie Ihr seht, habe ich jede Scham verloren.“ Sie hoffte inständig, dass er diese Lüge nicht durchschaute.

„Das Leben Eures Sohnes ist nicht in Gefahr, Lady. Er dient uns nur als Druckmittel gegen Vergeltungsschläge. Ein verlockendes Angebot. Ihr seid also daran gewöhnt, Eure Gunst zu verschen…“ Weiter kam er nicht, da ihre Fingernägel seinen Augen plötzlich bedrohlich nah waren. Blitzschnell wich er zurück, packte ihre Handgelenke und drehte ihr die Arme auf den Rücken. „… an Räuber zu verschenken?“, beendete er seinen Satz seelenruhig.

„Nein, Sir!“, fauchte sie und funkelte ihn wütend an, tief gekränkt und entrüstet über seine Beleidigung. „Ich habe meinem Gemahl auch nach seinem Tod die Treue gehalten. Ihr seid der Erste, dem ich dieses Angebot mache, das ich zurückziehe, da Ihr an meiner Tugend zweifelt. Ihr seid ein ehrloser Schurke, ein nichtswürdiger Bandit, der nicht ahnt, welche Überwindung es mich kostet, mich anzubieten wie eine Ware. Ihr seid den Atem nicht wert, den ich an Euch verschwende. Vergesst meine Worte! Ich hätte es für mein Kind getan, nicht zu Eurem Vergnügen.“

„Ihr macht mir ein Angebot und widerruft es im nächsten Atemzug?“ Lächelnd presste er sich an sie. „Wie darf ich das verstehen?“

„Ein Mann Eures Schlages wird den Unterschied zwischen Wert und Preis niemals verstehen.“

„Mag sein. Allerdings bin ich nicht abgeneigt, Euer Angebot zu akzeptieren. Steht Ihr noch dazu?“

Ebony verschlug es die Sprache, als die Ungeheuerlichkeit dieses Handels in ihren Gedanken Form annahm und sie mit Grauen erfüllte. Sie wäre gezwungen, mit diesem Fremden das Bett zu teilen, möglicherweise würde er sie nötigen, ihm hier im dämmrigen Flur zu Willen zu sein, ihm unaussprechlich intime Freiheiten zu gewähren, etwas Ungeheuerliches mit verheerenden Folgen, an die sie gar nicht denken durfte. Sie hatte sich niemals einem anderen Mann als Robbie hingegeben, hatte sich drei Jahre nicht nach den Zärtlichkeiten eines Mannes gesehnt, nur in dunklen Nachtstunden, wenn sie in ihr Kissen weinte. Dieser Bandit würde sich nicht um ihren geschändeten Ruf scheren, nicht um ihre Schmach.

„Nun?“, hakte er nach.

Sie holte tief Luft, verwarf alle Bedenken und ließ nur ihrem Wunsch Raum, bei ihrem Kind bleiben zu dürfen. „Versprecht Ihr mir, dass Sam und ich zusammenbleiben? Was auch geschieht? Wohin Ihr uns auch bringt?“

„Die Sicherheit Eures Kindes und Euer Zugang zu ihm hängt ausschließlich von Eurer Bereitschaft ab, mir zu Willen zu sein. Wann immer mir der Sinn danach steht. Habt Ihr mich verstanden, Mylady?“

Schockiert blickte sie auf, suchte nach einer Spur von Belustigung in seinen Gesichtszügen, die seine Forderung erklären würde. Aber sie fand keine Spur von Heiterkeit, nur diesen harten, eisblauen Blick. „Wann immer? Nicht nur … einmal?“, stammelte sie fassungslos.

„Nein, nicht nur einmal. Solange ich Euch begehre. Ist Euch Euer Sohn das wert?“

Ein Beben durchlief sie, und stockend zog sie den Atem ein. Eisige Kälte breitete sich in ihr aus, lähmte sie. Wenn sie Sam nicht verlieren wollte, blieb ihre keine Wahl. Sie musste die Nähe dieses Mannes erdulden. „Ja, er ist es mir wert“, antwortete sie mit fester Stimme. „Und Ihr, Sir, seid ein Teufel!“

„Dann sind wir uns also einig?“

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie, sich aus seiner Umarmung zu befreien, als das Bild ihres geliebten Mannes vor ihrem inneren Auge auftauchte wie ein Vorwurf. „Ja, wir sind uns einig. Kann ich jetzt endlich den Namen des Mannes erfahren, an den ich mich verkauft habe?“

Statt zu antworten, schloss er die Arme enger um sie, seine Hand grub sich in ihr Haar im Nacken und zwang sie, den Kopf seitlich in seine Schulterbeuge zu legen. Als sein Mund sich dem ihren näherte, um den Handel zu besiegeln, machte Ebony sich auf einen groben Überfall gefasst, auf lüsterne Gier, die sie gelegentlich in Männerblicken wahrgenommen hatte. In Erwartung, dass er ihr Schmerzen zufügen würde, hielt sie den Atem an bei der ersten Berührung seines Mundes, einer behutsamen Erforschung, einer sanften Besitznahme, bis sie begriff, dass er nicht die Absicht hatte, ihr wehzutun. Auch ihre Hoffnung, dass er es bei einer flüchtigen intimen Begegnung belassen würde, bestätigte sich nicht. Sein Kuss war bedächtig und keineswegs oberflächlich, aber auch nicht zu vergleichen mit den zarten Küssen, die sie von Robbie gewohnt war. Und erst als seine Lippen sich endlich von den ihren lösten, bemerkte sie, dass sie die Augen geschlossen hatte. Wieder stiegen Tränen in ihr hoch.

„Mein Name“, sagte er seelenruhig, „ist Somers. Alex Somers, Mylady.“ In seiner Stimme schwang keine Spur von Spott.

„Master Somers“, brachte sie hervor, verwundert, dass ihre Stimme ihr gehorchte. „Ihr seid …“

Sir Alex“, verbesserte er sie.

„Verstehe. Und dies war vermutlich nur ein Auftakt. Wollt Ihr mich hier gegen die Mauer gelehnt nehmen, oder müssen wir …?“

Sein tiefes melodisches Lachen schnitt ihr das Wort ab. Er zog sie wieder an sich, schien ihre Befürchtung wahr zu machen, bevor sie sich besann. „Hier? Jetzt gleich? Ist es das, was Ihr wollt, Lady?“

Dieser Flegel! Dieser Schuft! „Ich will nichts von Euch, Sir. Ich will nur zu meinem Kind“, zischte sie empört.

„Und ich ziehe einen behaglicheren Rahmen vor“, raunte er, und sein Atem strich warm über ihre Wange, „wo wir uns der Sache mit Genuss widmen können. In Eurem Gemach, wenn die Aufregung sich gelegt hat.“

„Wie zuvorkommend. Wie ritterlich. Ich hätte es wissen müssen.“

„Dass ich mich nicht mit Halbheiten zufriedengebe, wenn ich den Genuss bis zur Neige auskosten kann? Ja, Lady, das solltet Ihr wissen. Sei es drum, mit der Zeit lernt Ihr mich besser kennen. Nun aber rate ich Euch, wenigstens einen Anflug von Fürsorge für Euren verwundeten Schwiegervater zu zeigen.“ Er löste sich von ihr und wies mit einer höflichen Geste den Flur entlang. „Die zweite Türe links.“

„Aber das ist die Schreibstube des Verwalters“, entgegnete sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

„Richtig. Er hätte es nicht überlebt, wenn wir ihn nach oben in sein Gemach gebracht hätten.“

„Und das wolltet Ihr vermeiden?“

„Eigentlich ja. Er hat Informationen, die ich brauche.“

„Und warum habt Ihr ihn verwundet?“

„Er kam mit diesen Verletzungen von seinem Raubzug zurück, Lady.“

„Ihr lügt!“

„Nein. Überzeugt Euch selbst. Seine Wunden sind einige Stunden alt.“

Ebony starrte ihn ungläubig an. „Und was ist mit meinem Kind?“

„Der Kleine amüsiert sich königlich. Ihm geschieht nichts.“

„Wie kann ich dessen sicher sein?“

Völlig unerwartet löste er mit geschickten Fingern das Netz in ihrem Nacken, und ihre schwarze Haarpracht ergoss sich feucht glänzend über ihre Schultern. Seine Augen verdunkelten sich, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, lag sie wieder in seinen Armen. Vor Schreck brachte sie kein Wort des Protests über die Lippen. Seine Finger gruben sich tief in ihre Haarfülle, als er seinen Besitzanspruch erneut geltend machte, diesmal so heftig, dass ihr der Atem stockte, ihr die Knie schwach wurden und sie sich Halt suchend an ihn klammerte.

Seine Stimme klang heiser und ein wenig atemlos, als habe er Mühe, sich zu beherrschen. „Bevor unser Handel nicht wirklich besiegelt ist, könnt Ihr nicht sicher sein, Mylady. Ich rate Euch also, Euch nicht zu weit von mir zu entfernen, damit ich Euch jederzeit finden kann.“

2. KAPITEL

Nachdem die Tür zur Halle hinter ihm ins Schloss gefallen war, stiegen Zweifel in Ebony hoch, ob ihre Entscheidung, sich mit dem Fremden auf diesen ungeheuerlichen Handel einzulassen, nicht dem verwirrten Geist einer Wahnsinnigen entsprungen war. Nie zuvor in ihrem Leben war sie einer so erniedrigenden Situation ausgesetzt gewesen. Anderseits hatte sie nur ein Ziel vor Augen und dafür war sie bereit, jeden Preis zu bezahlen. Als ihr nun die Bedeutung ihrer Zusage klar wurde, sich auf Forderungen einzulassen, die sie an diesen furchterregenden Mann binden würden, breitete sich eine kalte Angst in ihr aus, legte sich über sie wie der gefürchtete schottische Nebel. Sie musste dringend handeln, um sich und ihren Sohn in Sicherheit zu bringen. Flucht? Ja, es gab geheime Gänge in der Burg. Sie war gewiss nicht einer Bande von Schurken entflohen, um sich nun in die Hände eines andern, weitaus verruchteren Banditen zu begeben. Auch nach neun Jahren kannte sie noch den Weg in die Heimat.

Im Alter von vierzehn war Ebony begeistert gewesen, ein neues Leben in Schottland zu beginnen. Carlisle, die englische Stadt an der Grenze zu verlassen und in das wild romantische Bergland von Galloway mit seinen verwunschenen Seen im Norden zu ziehen, hatte die endgültige Trennung von ihrer verwitweten Mutter Lady Jean Nevillestowe zur Folge gehabt, die nur zu bereitwillig den Olivenzweig des Friedens von einem schottischen Edelmann entgegengenommen hatte, der ihr verwandtschaftliche Beziehungen zu einer angesehenen schottischen Adelsfamilie einbrachte. Auch Sir Joseph hatte keine Einwände gehabt, dass sein einziger, vor Kurzem zum Ritter geschlagener Sohn Robert eine englische Aristokratin heiratete. Im Jahr 1310 war es trotz ständiger Querelen zwischen den beiden Königshäusern nicht unüblich, dass englische und schottische Adelsfamilien sich durch Heirat verbanden, da sie sich Wohlstand und Einfluss durch Landgewinn versprachen. Und Sir Joseph war es mühelos gelungen, Kritiker an seiner Entscheidung mit dem stechenden Blick seiner hellen Augen zum Schweigen zu bringen.

Ebony war also bereitwillig nach Castle Kells gereist, um sich dort auf ihre Heirat vorzubereiten. Mit siebzehn wurde sie mit Sir Robert vermählt, dem sie nach angemessener Zeit einen Sohn gebar. Ein tragisches Schicksal beendete die glückliche Ehe bereits nach drei Jahren an jenem furchtbaren Tag, als ihr Haus von englischen Plünderern überfallen und niedergebrannt wurde. Das letzte Bild ihres geliebten Ehemannes, das sich in Ebonys Gedächtnis eingeprägt hatte, war seine dunkle Silhouette vor der tosenden Feuersbrunst, als er sie mit dem Säugling im Arm und Biddie zwang, aus dem Fenster im ersten Stock zu springen. Robert konnte sich nicht mehr retten, er war in den Flammen umgekommen. Die drei Überlebenden waren in den Wald geflohen und hatten sich im dichten Unterholz verborgen. Bei Tagesanbruch hatten sie sich, frierend vor Schock und Kälte, auf den Weg zur Burg gemacht. Sir Joseph hatte sie gefunden, jener Mann, der nicht nur letzte Nacht anderen unschuldigen Menschen ein ähnlich grauenhaftes Schicksal beschieden hatte. Hatte er endlich Rache an den Mördern seines Sohnes geübt? War er bei diesem Vergeltungsschlag gegen seine Feinde verwundet worden?

Seit jenem grauenvollen Schicksalsschlag bemühte Ebony sich darum, ihren kleinen Sohn die tragischen Ereignisse vergessen zu machen und gab ihm ausweichende Antworten, wenn er Fragen nach seinem geliebten Vater stellte. Seit einiger Zeit fragte er nur noch selten nach ihm, die Schreckensbilder verfolgten ihn aber immer noch in seinen Albträumen. Seine Ängste aber wurden vom Großvater genährt, dem jedes Einfühlungsvermögen in die zarte Kinderseele fehlte, und der ihm damit drohte, Räuber würden ihn nachts holen, wenn er nicht schleunigst einschlief. Damit erreichte der herzlose Mann allerdings genau das Gegenteil, und der Junge weigerte sich, allein zu schlafen. Und nun befand sich Sam in den Händen von Unholden, die sich als seine Freunde ausgaben. Obwohl Ebony sich auf einen schändlichen Handel mit den Banditen eingelassen hatte, sah sie nichts Ehrenrühriges darin, diesen Sir Alex, der sie zweifellos an ihre Zusage binden würde, zu überlisten.

Castle Kells war nie zuvor überfallen worden, und sie hätte nie damit gerechnet, dass so etwas geschehen könnte. Die wehrhafte Burg thronte hoch auf einem Felsen über dem See und war von hohen Bergen dahinter geschützt. Außerdem unternahm Sir Joseph selbst Raubzüge und versetzte die ganze Region in Angst und Schrecken. Nun aber war er durch seine Verletzungen außer Gefecht gesetzt, und Ebony hatte sich seit drei Jahren nicht so schutzlos und ratlos gefühlt.

Sie nahm das verrutschte Netz von ihrem Haar, steckte es in den Beutel an ihrem Gürtel und zwang sich, obgleich sie zitterte, den dunklen Flur entlangzugehen, um nach Sir Joseph zu sehen. In der Annahme, Sir Alex habe das Ausmaß seiner Verletzungen übertrieben, war sie nicht auf den Anblick des zerschundenen Mannes gefasst, der reglos auf dem Tisch in der Schreibstube des Verwalters lag. Die Pergamentrollen waren achtlos zu Boden geworfen und von verkohlten Stofffetzen zerknittert und beschmutzt worden.

„Meg … ach Meg!“, flüsterte sie tonlos. „Es tut mir so leid.“

Megs junges, hübsches Gesicht war beinahe so bleich wie das ihres Vaters, der Blick ihrer blauen Augen tief bekümmert über die grässlichen Verstümmelungen ihres Vaters und Beschützers. „Heute ist der erste Mai“, sagte sie leise. „Ein Tag, der uns Glück bringen sollte. Wer hätte gedacht, dass dieser Tag so endet, als wir heute Morgen …?“ Ihre Stimme brach, sie breitete die Arme aus und ließ sie hilflos sinken. Die sonst so lebendige, lebenstüchtige junge Frau, die so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte, wirkte völlig verstört. Unter der Zucht eines strengen Vaters aufgewachsen, der seiner Tochter keinerlei Freiheiten gestattete, und durch die unruhigen Zeiten zu einem Leben innerhalb der Burgmauern gezwungen, hatte die vierundzwanzigjährige Meg sich einen Panzer unerschütterlicher Selbstbeherrschung zugelegt. Nun aber erlebte Ebony ihre Schwägerin zum ersten Mal in völliger Verzweiflung.

Sie legte ihre Arme um Meg und streichelte sie. „Beruhige dich, meine Liebe“, sagte sie leise tröstend. „Still. Es wird alles wieder gut. Wir stehen das gemeinsam durch.“ Über Megs Schulter hinweg gewahrte sie Bruder Walters mürrisches Gesicht, der den Kopf zweifelnd hin und her wiegte, eine Gewohnheit, die er sich angeeignet hatte, ob Grund dafür bestand oder nicht. Er war Sir Josephs Priester und Leibarzt, und dies war vermutlich das erste Mal, dass er seinen eigensinnigen Herrn verarztete, ohne mit ihm in Streit zu geraten.

Seine Schwarzseherei hatte die sonst so zuversichtliche Meg offensichtlich angesteckt. „Mag sein“, sagte sie mutlos. „Aber Vater wird es nicht überstehen. Sieh ihn dir nur an.“

Der bewusstlose Sir Joseph wies am ganzen Körper furchtbare Verbrennungen auf, und Ebony begriff erst jetzt, warum Sir Alex befürchtet hatte, der Verletzte würde den Transport über die steilen Stufen in sein Gemach nicht überstehen.

Bruder Walter untersuchte den wuchtigen, behaarten Köper mit skeptischen Blicken und sprach das Urteil. „Er ist schlimm zugerichtet, Mylady. Es steht schlecht um ihn, sehr schlecht. Als wäre ihm der Teufel in den Rücken gesprungen. Er wurde beinahe davon erschlagen.“

„Wovon denn?“, fragte Ebony.

„Brennende Holzbalken. Sein Rücken sieht noch schlimmer aus.“

Gegen ihren Willen schoss Ebony die bittere Ironie hinter den Worten des Priesters in den Sinn. Sie hatte Sir Joseph unzählige Male zum Teufel gewünscht, ohne die leiseste Hoffnung, er würde ihr diesen Gefallen tun.

„Aber ich begreife nicht“, brummte Bruder Walter weiter, während er behutsam die verkohlten Reste eines Ärmels entfernte, „warum diese Banditen ausgerechnet zu uns gekommen sind. Ich weiß zwar, dass Schotten ihre eigenen Landsleute überfallen und ausplündern, wenn es ihnen in den Kram passt, aber wer reitet schon den beschwerlichen Weg in die unwegsamen Berge? Wenn die Kerle darauf aus waren, unserem Herrn das Handwerk zu legen, dann haben sie ganze Arbeit geleistet.“

„Ich glaube nicht, dass dies der Grund für den Überfall war“, sagte Ebony und krempelte die Ärmel hoch. „Die Banditen wollen etwas herausfinden. Sie brauchen irgendwelche Auskünfte.“

Aus einer dunklen Ecke wurde unterdrücktes Schluchzen laut, wo Megs Zofe, Jungfer Janet, in einem Topf mit Salbe rührte und es nicht einmal jetzt wagte, sich dem Mann zu nähern, der kaum ein weibliches Wesen in seiner Umgebung duldete.

Meg, die Ebony zum ersten Mal ansah, bemerkte erst jetzt die Tränenspuren an ihren Wangen, ihr zerzaustes Haar, die geschwollenen Lippen. „Ebbie! Du hast geweint! Oh Gott … was ist passiert? Haben sie dir etwas angetan?“ Sie ergriff die Hände ihrer Schwägerin. „Sag es mir!“

„Nein, sie haben mir nichts getan“, antwortete Ebony. „Ich war nur wegen Sam in Sorge.“

„Hast du ihn gefunden? Ist er unversehrt? Und was ist mit Biddie?“

„Beiden geht es gut.“

Ihr unsteter Blick zeigte Meg jedoch etwas anderes. „Aber du hast Angst um ihn, nicht wahr, Ebbie? Sag es mir. Wollen die Schurken ihn etwa mitnehmen?“ Sie drückte Ebonys Hände.

Tränen stiegen wieder in ihr auf, und sie presste die Worte mühsam hervor. „Sam und mich. Ich habe dem Anführer das Versprechen abgenommen, ihn nicht ohne mich mitzunehmen. Ich denke, sie wollen bis morgen bleiben in der Hoffnung, Sir Joseph zum Sprechen zu bringen.“ Ihr Blick wanderte wieder zu dem Schwerverletzten, dessen verbrannte Haut Blasen warf, und weiter zu den blutgetränkten, versengten Kleidungsresten, und sie wagte nicht auszusprechen, was ihr das Herz schwer machte. „Nur Gott weiß, wohin sie uns verschleppen werden.“

„Du musst Sam in Sicherheit bringen“, drängte Meg entschlossen. „Jetzt, sofort.“

„Wie stellst du dir das vor? Ich kann dich doch nicht im Stich lassen, so völlig schutzlos. Nicht auszudenken, was sie dir antun, wenn ich mit Sam fliehe. Sie werden dich töten.“

„Das werden sie nicht!“ Meg drückte die Hände der Freundin fester, ihre Stimme entschlossener denn je. „Nie und nimmer. Im Übrigen kann ich selbst auf mich aufpassen. Wenn die Banditen die Burg ausplündern und niederbrennen und alle Männer töten wollten, hätten sie es längst getan und das Weite gesucht. Aber du musst fort, Ebbie. Du musst Sam in Sicherheit bringen, dich irgendwo im Wald mit ihm verstecken. Du weißt, was mein Vater sagen würde, wenn er uns hören könnte.“

Beide Frauen machten einen erschrockenen Satz, als Sir Joseph die Hand hob und seine verbrannten Finger in Megs Rock krallte. Sie beugte sich über ihn. „Vater“, flüsterte sie. „Was ist?“

Die aufgeplatzten Lippen des Schwerverletzten bewegten sich mühsam. „Bring … Sam … fort.“

„Ja, Vater. Ebony bringt ihn fort, das verspreche ich dir.“ Die Anstrengung war zu viel für ihn, seine Finger lösten sich, und er versank wieder in das dumpfe Dunkel der Besinnungslosigkeit.

Meg richtete sich auf. „Er hat uns gehört“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Du musst fort. Ich habe es ihm versprochen.“

„Wenn es dunkel wird“, antwortete Ebony, „fliehen wir. Jungfer Janet, haben wir noch etwas von der Farnwurzelsalbe für seine Wunden? Was ist in dem Topf?“

Jungfer Janet reichte ihr das Gefäß. „Zerriebene Farnwurzel mit Butter vermischt“, sagte sie. „Die beste Medizin für Brandwunden. Aber wir brauchen Verbandzeug.“ Sie schüttelte traurig den Kopf.

„Ich hole frisches Leinen“, bot Meg an.

„Nein“, widersprach Ebony. „Ich weiß, wo die alten Laken sind. Bleib hier und trage die Salbe auf.“ Bleibe hier in Sicherheit, das war es, was sie eigentlich sagen wollte.

Jammerschade, dachte sie, als sie die Tür hinter sich zuzog, dass Megs Mutter nicht mehr lebte. Sie wäre eine große Hilfe gewesen. Im Unglücksjahr 1317, wenige Monate nach Robbies tragischer Ermordung, verstarb Sir Josephs Gemahlin an gebrochenem Herzen. Wer konnte es ihr verdenken? Das Leben an der Seite ihres herrschsüchtigen Ehemannes war ihr unerträglich geworden, ohne den Beistand ihres geliebten Sohnes, der sie in Schutz genommen hatte. Sir Robert Moffat hatte das gesetzlose Treiben seines Vaters stets missbilligt, ohne ihn zur Vernunft bringen zu können in diesen unruhigen Zeiten, da beinahe jeder Burgherr, jeder Landeigentümer, Verwalter, Pächter, ja selbst die vom König eingesetzten Lehnsherren und Lords offen für Erpressung, Bestechung und dunkle Geschäfte aller Art waren. In den Jahren nach der Schlacht von Bannockburn wurde nicht nur Schottland von Hungersnöten heimgesucht, die ihren Grund in Überschwemmungen, Missernten und Seuchen hatten. Raub und Plünderungen waren an der Tagesordnung, um sich und die seinen am Leben zu erhalten. Robert aber hätte nie ein Kind entführt oder um die Ehre einer Frau gefeilscht.

Ebony hatte eine sehr glückliche Ehe mit ihm geführt, in der es nie Zank gegeben hatte, nie ein hartes Wort gefallen war. Nur Biddie und Meg wussten um die bitteren Tränen, die sie nachts vergoss, wenn sie sich nach dem Trost und der Geborgenheit von Roberts Armen sehnte. An diesem Morgen bei Tagesanbruch war sie mit Meg zum Wasserfall spaziert, um im Teich zu baden, da ihre Schwägerin fest an die alte Legende glaubte, wonach eine junge Frau am ersten Mai in ein stilles Wasser schauen müsse, um im Spiegelbild den Mann zu erkennen, den sie bald heiraten würde. Doch die kräuselnden Wellen unter dem Wasserfall hatten kein klares Bild zugelassen. Und schließlich hatten die beiden jungen Frauen ihr Vorhaben aufgegeben und über ihre eigenen verzerrten Spiegelbilder gelacht. Und Ebony war im Stillen froh gewesen, nichts zu sehen in der Befürchtung, der Teich könnte ihr möglicherweise das Bild von Megs Vetter Davy Moffat zeigen.

Im Bemühen, Sir Alex nicht zu begegnen, nahm Ebony einen Umweg, um durch das Gewirr von Fluren und Stiegen durch eine Tür in der Mauer des Gemüsegartens in den Hof vor den Stallungen zu gelangen, ein Weg, den Meg und sie benutzten, wenn sie sich heimlich aus der Burg zum Wasserfall schlichen. Sie nahm einen Korb mit Rüben und Kohl an sich, den der Gärtnergehilfe bei dem Sturm auf die Burg in seinem Entsetzen hatte stehen lassen, und betrat den Hof, wo Knechte sich um die Pferde kümmerten. Sam, unter Biddies Aufsicht, winkte seiner Mutter zwar flüchtig zu, wollte sich aber nicht ablenken lassen, da der gutmütige Joshua ihm zeigte, wie man die Hufe seines Ponys säuberte und die Köten bürstete.

Biddie beeilte sich, ihre Herrin zu beschwichtigen und flüsterte ihr zu, Sam halte die Banditen für Truppen des Königs, die gekommen waren, um Sir Josephs Bewaffnete für eine Schlacht gegen die Engländer zu rekrutieren. Sie wollten die Männer zur Musterung nach Newcastle-upon-Tyne bringen, behaupteten sie. „Deshalb machen die Männer so grimmige Gesichter“, sagte sie mit großen runden Augen.

„Pah! Truppen des Königs“, schnaubte Ebony verächtlich. „Und der Kleine glaubt ihnen natürlich.“ Sie nahm Biddie beiseite, damit Joshua sie nicht belauschen konnte.

Biddie wandte den Kopf unter dem weißen Schleier, der auch Wangen und Hals bedeckte, zum Burgtor. „Gerade haben sie die Männer, die mit Sir Joseph letzte Nacht auf Raubzug waren, und noch ein paar andere weggebracht. Sam hat ihren Abmarsch beobachtet.“ Und bei Ebonys verächtlicher Miene fügte sie zaghaft hinzu: „Es ist doch besser, Sam glaubt die Geschichte als die Wahrheit zu erfahren, meint Ihr nicht auch? Dadurch würden sich seine Albträume nur verschlimmern. Und seht nur, wie begeistert er ist. Keiner hat sich je die Mühe gemacht, ihm zu zeigen, wie er mit dem Pony umgehen soll.“

Autor

Juliet Landon
Juliet Landon hat Anleitungen für Stickarbeiten veröffentlicht. Die Umstellung ins Romangenre war für sie kein großer Wechsel, die Anforderungen sind ähnlich: große Fantasie, einen Sinn für Design, ein Auge fürs Detail, genauso wie Liebe zu Farben, Szenen und Recherche. Und ganz wichtig, bei beidem muss man bereit sein, innere Gedanken...
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